Rupert Hirschenauer: Oskar Loerke: Der Silberdistelwald Mein Haus, es steht nun mitten Im Silberdistelwald. Pan ist vorbeigeschritten. Was stritt, hat ausgestritten In seiner Nachtgestalt. Die bleichen Disteln starren Im Schwarz, ein wilder Putz. Verborgne Wurzeln knarren: Wenn wir Pans Schlaf verscharren, Nimmt niemand ihn in Schutz. Vielleicht, daß eine Blüte Zu tiefer Kommunion Ihm nachfiel und verglühte: Mein Vater du, ich hüte, Ich hüte dich, mein Sohn. Der Ort liegt waldinmitten, Von stillstem Licht gefleckt. Mein Herz – nichts kam geritten, Kein Einhorn kam geschritten – Mein Herz nur schlug erweckt. Das Gedicht ist im gleichnamigen Gedichtband enthalten, der 1934 als sechster der sieben Gedichtbände erschien, die Loerke seit 1916 in Abständen von je vier bis fünf Jahren im S. Fischer Verlag Berlin veröffentlichte, in dem er während des ersten Weltkrieges den Posten eines Lektors übernahm, den er bis zu seinem Tode am 24. 2. 1941 innehatte. Die anderen Gedichtbände heißen: Wanderschaft (1911), Pansmusik (1916), Die heimliche Stadt (1921), Der längste Tag (1926), Atem der Erde (1930), Wald der Welt (1936). Den lyrischen Nachlaß aus den letzten Lebensjahren Loerkes veröffentlichte Hermann Kasack im Juni 1949 unter dem Titel „Die Abschiedshand“. Er hat auch Loerkes „Tagebücher 1903–1939“ herausgegeben. In diesem Gesamtwerk, in dem uns die deutsche Lyrik nach Rilke anspricht, erscheint eine Ausdruckswelt, die die zerstörenden Kräfte des Expressionismus überwindet und ihn im Aufruf der Kräfte dieser Erde und Mächte der Natur zugleich weiterbildet. Das geschieht in der Bindung an feste Formen, Figuren und Strukturen auf der Ebene des Spruches und Gleichnisses, in denen „einfache Dinge und Wesenheiten zuströmen, die keine Bedingungen zu ihrem Eintritt in das Gedicht mitbrachten, außer daß sie darauf drangen, ihre volle Wirklichkeit zu behalten. Viele schienen mir ihre Wirklichkeit erst drüben im Vers zu enthüllen, die hüben dumpf und getrübt gewesen war“. (Loerke, Nachwort zum „Silberdistelwald“. Vgl. Clemens Heselhaus: Oskar Loerke und Konrad Weiß. Zum Problem des literarischen Nachexpressionismus. DU. 1954/Heft 6, S. 28-55. Dieser aufschlußreichen Darstellung ist die hier versuchte Deutung dankbar verpflichtet.) Durch die fünf ersten Gedichtbände Loerkes flutet und fließt die dionysische Fülle der Natur. Nur bisweilen zeichnen sich die dunklen Schatten des Leides der Weit ab, das im „Silberdistelwald“ in der ganzen Weite und Tiefe durchschritten wird. „Der himmelfüllende Wermutbaum dieses Buches rauscht nicht meine Schwermut, sondern bewegt die Schwermut der Welt in seiner Krone.“ (Loerke, a. a. O.). Der Mensch ist aus dem Sinnbereich der Welt herausgefallen und hat sich in den Widerspruch von Zeit und Sein verstrickt. Es ist der Dichtung aufgegeben, diese Wunde zu heilen und den Menschen heimzuholen in den rechten Bezug zu Erde, Natur und Kosmos und so den Widerspruch zwischen Sein und Zeit aufzuheben. „Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache. In ihr wird keine begnadungslüsterne Beichte angenommen, ebensowenig wie in den musikalischen Formen. Und auch keine Technik schafft Existenz. Wie wenig oder viel ich in dieser Hinsicht erkannte, lernte und wie ich es verwaltete, wird keinem verborgen bleiben, der meine Gedichte inwendig laut, das heißt, wer sie überhaupt liest.“ (Loerke, a. a. O.). Der Zugang zu Loerkes Dichtung ist wegen der notwendig neuen Stilgesetze steil. Unsere Blicke sind Blicke, die, wenn nicht abstrakte, so doch verschlüsselte Wortkunst enträtseln müssen. Gerade die Entschlüsselung und Erhellung dieser Wort-Bild- und Gleichnisfiguren ist der Kunstzweck des Gedichtes. Von der Form her können wir die Schichten des Seins aufdecken und zum Sinn erkennend vordringen. „In der Lyrik zeigen sich alle Lebensfragen als Fragen der Form... Die Form ist das einzige Organ, mit dem sich die Lyrik ihrer Inhalte bemächtigt. Das Organ kann tauglich oder untauglich sein: ohne dieses Organ aber würden die Inhalte bleiben, was sie vorher waren: Vorwurf und Vorgang der Erfahrung.“ (Loerke: Das alte Wagnis des Gedichts, in: Deutscher Geist, ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten.) Wir lesen also das Gedicht inwendig laut. Die Worte, die gebraucht werden, liegen nicht in der Ebene unseres täglichen Umgangs, sie sind hart, eigenwillig, sinnschwer, rätselhaft. Die Sätze bewegen sich straff gegliedert in klarem Plan. Ohne Verstellung, Verrenkung und Trennung sind sie in eine Verszeile gebettet, schwingen bisweilen in zwei Verszeilen aus und strömen hin über drei Verse im Gebrauch des Enjambements, wobei der so gleichmäßige rhythmische Fall einen Gehalt erzeugt, der die Maße des jambisch klassischen Metrums ganz nach innen saugt. Der ganze Sprachsinn ist wie der Titel des Gedichtes gleichnishaft, schwer und dunkel. Eine metaphorische Sprechweise gibt uns wie eine Sphinx Rätsel auf. Die kunstvolle Fügung des Gedichtes aber wird mit jedem Lesen der Strophen durchsichtiger: Vier gleichgebaute Strophengebilde stehen in einem feingeknüpften Netz der Beziehungen von Metrum, Rhythmus, Melodie und Reim. Wie der Musiker seine Formen weiß und setzt, so wirkt hier der Baumeister bis in die Vokale und Konsonanten hinein und ihren Zusammenprall, nie ästhetisierend. Aller Prunk wird vermieden. Die einleitende Strophe gibt den Lagebericht: „Mein Haus, es steht nun mitten Im Silberdistelwald.“ Sie erscheint in der Schlußstrophe als Conclusio in der Form: „Der Ort liegt waldinmitten, Von stillstem Licht gefleckt.“ Unter diesem straff gespannten Bogen begegnen sich kontrapunktisch die zwei Mittelstrophen, die erste als Erfahrungsgleichnis des geschichtlich-zeitlichen Raums: „Die bleichen Disteln starren“, die zweite als magische Wendung nach innen, in den mythisch-zeitlosen Raum gestellt: „Vielleicht, daß eine Blüte Zu tiefer Kommunion Ihm nachfiel und verglühte:“ Es klärt sich wohl schon in diesen Hinweisen Loerkes Wort über seine Dichtung: „Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache.“ Die in der einleitenden Strophe gegebene Metapher will nicht etwa nur Bild sein. Die gesehene und erfahrene Wirklichkeit, der „Silberdistelwald“, das ist nach Loerkes eigener Erklärung der nächtliche Sternenhimmel. Er geht, in der Form der Sprache geistig bewältigt, als neue Existenz als die Wirklichkeit in das Gedicht ein, als verrätselte Gleichnisform so verdinglicht, daß sie nicht einem Bilde bloß äußerlich anhaftet, sondern innerlich zugegen ist und wirkt. So ist denn auch Pan nicht der Hirtengott der Antike oder der Gott des Alls, sondern der Grüne Gott, der Blühende, der Glühende, „kühler und weniger bestimmt gesagt, die Natur, der währende Vollzug ewiger Gesetze, das mildeste und härteste Gericht.“ (Loerke, a. a. O.). Er ist aus dem Tag in die Nacht geschritten. Im Gedicht „Pansmusik“ aus dem gleichnamigen Gedichtband wird dieses Schreiten stimmungsvoll als Entgrenzung des Daseins gezeichnet, da der Hirtengott, einer im Abendlicht segelnden Wolke gleich, auf dem Floß der Töne alle Bereiche beseelend, dahinfährt. In dieser verzückten Stimmung zeichnen sich deutlich die „schwebenden Übergänge“ ab von Stufe zu Stufe, von Himmel zu Himmel, von Traumschöpfung zu Traumschöpfung, immer weiter weg aus dem Raum der Zeit in die entgrenzten Horizonte der Unendlichkeit. Diese metaphorische Sprechweise, die über das bloße Bildsein hinaus drängt zu selbständiger Wirklichkeitsform, zieht durch das ganze Werk Loerkes. Die Art der Aussage aber wird immer bestimmter geformt: straff, knapp, karg, nüchtern, in Wort, Satz, Klang, Melodie. Diese Form wird gewählt, um dem Stoff die letztmögliche Klarheit und Grenze zu geben. In der einleitenden Strophe der Dichtung „Silberdistelwald“ nimmt die Metapher als mythische Überhöhung der Natur jenes Eigenleben an, in dem der Widerspruch von Zeit und Sein verstummt: alles Seiende hat sich in der Kraft der Nachtgestalt Pans eingeordnet in die ewigen Gesetze des Kosmos, in Ordnung und Recht. „Pan ist vorbeigeschritten. Was stritt, hat ausgestritten In seiner Nachtgestalt.“ Umso überraschender und bestürzender bricht die Aussage der folgenden Strophe des Gedichtes herein, in der die Metapher den Charakter des bloßen Bildes spürbar abweist, sich verselbständigt und aus eigener Lebensfülle heraus die These aufwirft, die fortschreitend Sinn und Zweck des Kunstwerkes enthüllt: Geht Macht vor Recht? Nur durch den Rhythmus und den Reim ist noch eine Verbindung mit der vorausgehenden Strophe gegeben. Aber die Reimwörter sind scharf und spitz (Putz, Schutz), hart und rauh (starren, knarren, verscharren), erregt und verdeckt zugleich strömt der Rhythmus dahin. Alle Formen erwecken den Eindruck des Frostigen und Unbeweglichen, des Unfreundlichen und Harten, des Klirrenden und Erbarmungslosen. Diese Nacht ist nicht gut, die Sterne leuchten nicht, sie starren stachlig. Das ist nicht friedlicher Glanz und freundliche Stille, sondern wilder Putz fahler Nacht, in der „das Gezücht, das der Engel verstieß“, aus verborgenen Tiefen dräuend heraufkriecht gegen die Ordnung des Grünen Gottes. Heisere Stimmen des Umsturzes knarren gegen das Recht, das Gesetz, gegen Pan, gerade in dem Augenblick der erhabenen Klarheit und Einheit. „Die Stachelkugeln grinsen manchmal wie Menschenköpfe, Messer, Speere gieren herab von den Stielen, Ungestüm stechen und hacken sie, ohne zu zielen.“ (Der Traum von den Disteln, aus: „Wald und Welt“) In den Erscheinungen der Natur sind dem Menschen Zeichen aufgehoben, in deren Wesen gerade der Dichter mit unbestechlichem Blick schaut. Sein Ohr unterscheidet untrüglich mit feinstem Gespür die Töne. Er erkennt und hört aus den Zeichen und Stimmen dieser Nacht das dumpfe Grollen des aufgepeitschten Begehrens der Masse. Am Pfingsfest des Jahres 1933 schrieb Loerke das Gedicht „Silberdistelwald“ nieder, in dem nicht seine Schwermut rauscht, sondern die Schwermut der Welt in der Krone des Wermutbaumes. Was er aus diesen unheimlichen Tagen in verrätselter Gleichnisform verkündet, lesen wir heute in seinen Tagebüchern: „Freitag, 3. März 1933: In der Nacht des 28. ist der Reichstag angezündet worden. Folge: Aufhebung der verfassungsmäßigen Grundrechte ... – 14. 2. 33: ... Viel Entsetzliches hat sich ereignet. Es hat keinen Zweck, Chronist zu sein. Am 30.: Regierungsbildung mit Herrn Hitler als Reichskanzler, wir begraben die deutsche Kultur … Alles bricht zusammen.“ „Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache. Nicht selten wollte ich mich in meinen Versen beklagen, wenn der Frost oder Strahl der Ungerechtigkeit mich verletzt hatte. Es gelang mir nicht, ich quälte mich und andere mit meiner Schwäche, indessen das Gedicht löste sich erst, als ich mich seinem Willen ergeben hatte.“ (Loerke, Nachwort zu „Der Silberdistelwald“). Dieses Gesetz nehmen wir wahr in der überraschenden Verwandlung, die das Leben der Metapher in Spruch und Gleichnis der dritten Strophe des Gedichtes nimmt, in der das Thema, in der magischen Wirkung nach innen, aus dem klirrenden Frost des Herzlosen und des Geistlosen in den Zauber des Geistigen weist. Hinter dieser Form und Abfolge der Strophen steht ein bewußtes Gesetz: „Vielmehr glaube ich, daß mein Gedicht das ist, was man in der Musik eine Fuge nennt. Es weist zwei Themen auf, einen Dux und Comes, und ohne einige Beherrschung des strengen Kontrapunktes für die Durchführungen geht es nicht.“ (Die Neue Rundschau 1936, S. 1268). So zeigt die Zeichensprache das Machwerk der Menschen vor der unvergänglichen und unzerstörbaren Ordnung dieser Erde und Natur als albern und eitel. Architektonisch ist diese antithetische Strophe der vorangehenden genauestens verwoben. Sie zerreißt aber durch die Gesetze der Form die Bande der dunklen Mächte. Kälte, Frost und Härte sind durch das gewählte Wort, die fließende Weite des Satzes, den bewegten Rhythmus, durch „einwärtsglühende Versunkenheit“ gelöst. Gegen die „verborgenen Wurzeln“ steht das Verglühen der offenen Blüte, gegen das Verscharren Pans die tiefe Kommunion mit Pan, gegen den Verrat an ewigen Ordnungen die Treue zum Ursprung im Lieben und Opfern, das die blutigen Hände entwaffnet und reinigt. Das Zeichen eines unzerstörbaren Bundes steht auf zwischen Sein und Zeit. „Mein Vater Du, ich hüte, Ich hüte Dich, mein Sohn.“ Die Stellung der Worte verschlingt gütig und innig Urworte. Das Du und Ich schauen sich unmittelbar an, versinken zu einander, ohne sich ineinander zu verlieren. Ihr Ort ist übereinander. Es bleibt als selige Bestätigung ihrer Verbindung nur der Ausruf: „Mein Vater – mein Sohn“ am Anfang und Schluß, „ich hüte“ am Schluß und am Anfang der beiden Verszeilen, in ihrem diagonalen Schnittpunkt liegt das „Du“. Das kleine, sich opfernde Ich darf in das nie sterbende Du des Kosmos hinüberverlöschen und treibt aus dem kosmischen Du überpersönliche Frucht voll heiler Welt. „So tauschen Gesamt- und Einzelleben von ihrer Aura manchmal ein Weniges aus, ohne mit dem Erfahren des Geheimnisses Welt jemals einen Schritt weiter, geschweige denn zu Ende zu gelangen.“ (Loerke: Meine sieben Gedichtbücher, Die Neue Rundschau 1936, S. 1252). Der gestörte Bezug des Menschen zur Erde und Welt ist im Bild des Geheimnisses der Natur, Pans, in einem wunderbaren Seinsvollzug wiederhergestellt, der in den Raum des Glaubens führt: „Alles ist an ein Jenseits nur Glauben, Und Du bist Ich, gewiß und rein.“ („Strom“ in: Pansmusik). Form und Stoff schaffen so in rechtem Einklang das Kunstwerk aus Leben und Geist, in seinem Strahl schauen wir die reinste Gegenwart des Göttlichen und Menschlichen. Diese Einheit ist Sieg gegen Willkür und Chaos, gegen die Barbarei dunkler Mächte, gegen den nihilistischen Ungeist. Der Sieg liegt in dieser Kommunion DU : ICH, in der die Gegensätze Zeit und Sein sich aufheben. Hier gewinnt das Ich, der Mensch, die Stimme der „naturischen Einheit“: „Die Sonne geht in ihm auf und ab, die Meere rauschen in ihm, die Ströme geben Gedanken und die Liebe ergreift ihn, er hört die Musik, die ein Stück der Musik der Welt ist – in ihm ist die ganze Welt vollkommen, die mag ich erhalten wollen: das wäre Opfer, die eigene Welt dafür auszulöschen, aber nichts anderes.“ (Loerke: Gedanken über den Krieg, in: Die Neue Rundschau 1951, S. 52). Im Dichter begeben sich diese Geheimnisse, er ist durch die geschichtliche Erfahrung angerufen, das wahre Sein gegen das falsche Sein zu schirmen, stellvertretend für den ganzen Kosmos, mitten im Silberdistelwald bleicher, wilder Sterne. Loerkes Tagebücher erhellen vielfach dieses Gesetz der überpersönlichen Fruchtbarkeit in jenen Menschen, die das wahre Leben leisten: „Freude, daß es Menschen ab und zu gibt, die die Welt in der Gerechtigkeit halten.“ (Tagebuch, 16. 7. 1922). - „Gestern Stifters ,Nachsommer´ zu Ende gelesen. Dieses Buch ist ein großes Ereignis in meinem Leben. Ich weiß mich nicht zu entsinnen, wann ich mit derselben Erschütterung geschriebene Worte in mich aufnahm.“ (Tagebuch, 26. 5. 1925). „Gestern nachts und heute früh den Helena-Akt, Faust II mit ungemeiner Bezauberung gelesen.“ (Tagebuch, 14. 9. 1917). - Zu diesen Äußerungen muß man noch Loerkes Beziehung zur Musik stellen: „Die Musik setzt sich rhythmisch in meinem Körper um und läßt die Seele dann auch in meinem eigenen Gebiet produktiv werden … Diese Kunst, immer neue Quellen meines Wesens öffnend. Ohne sie wären meine Phantasien wahrscheinlich ärmer, schlechter, belangloser für das verborgene Wesen der Dinge.“ (Tagebuch, 3. 12. 1913). „ … ich weiß genau, daß die Musik Bachs die größte auf Erden ist; ich weiß genau, daß ich die Musik Bruckners zeitlebens am meisten geliebt habe.“ (Letztwillige Bitten für den Fall meines Todes vom 6. 2. 1940). – „Man freut sich, daß schwarz nicht zugleich weiß sein kann, daß also niemand zugleich Mozart und den Teufel verehren kann.“ (Gedanken und Bemerkungen, undatiert, 193 3-1938). Aus diesen Stellen, die sich vermehren ließen, strahlt zwischen den bleichen starrenden Disteln jene Blüte, die, Pan zu tiefer Kommunion nachfallend, verglüht. Da war dem Ich der geheimnisvolle Ort gegeben, von dem, als Conclusio der ganzen Aussage, die letzte Strophe des Gedichts in mystischer Naturerfahrung spricht: „Mein Ort liegt waldinmitten Von stillstem Licht gefleckt.“ In dieser Strophe wird das Prinzip der Aussage durch Form in besonderer Weise erhellt. Sie fällt bis zum Wort und zur Silbe in die erste Strophe ein, wiederholt Klang, Melodie und Reim: „Mein Haus, es steht nun mitten Im Silberdistelwald.“ Mit dieser in sich ruhenden und doch deutlich zurückverweisenden Form wird ein bewußtes Gesetz der Kongruenz aufgestellt: „Ich weiß, daß dieselben Reime selten mehrmals verwendet werden, außer wo sie die seelische Kongruenz innerhalb meines lyrischen Gesamtbaus betonen, wobei man allerdings zugeben muß, daß sich nicht Silben reimen, sondern durch sie Dinge und Gedanken, daß aber die Reime nicht erst in ihren Gleichklängen entstehen, sondern früher.“ (Meine sieben Gedichtbücher, a. a. O. S. 1257). In der Conclusio, dem Schlußstein des ganzen Baues, erfährt der Gleichnischarakter des Gedichtes seine Vollendung, die Metapher ihre Sinngebung. Über das Traumgesicht hinaus findet der Entsetzte und Gehetzte seinen Ort, seine Zuflucht. Der Ort ist den Empörern und Verfolgern unsichtbar, verwehrt, sie fallen wie ein Blitz ins Nichts, im Herzen des Verfolgten aber glüht das stille Licht. Der Ort des Bundes ist das Herz, dem durch die erfahrene und erlittene Wirklichkeit die Einsicht in die ewigen Zusammenhänge des Seins gegeben ward, so daß es unter diesem Sternenhimmel, an dem Zeit und Sein im Kampfe sich begegnen, erweckt schlägt. So letztlich ist die geistige Bewältigung der Erfahrung durch das Wort, daß der Ausdruck „Herz“ zweimal genannt werden darf, einen Schaltsatz umschließend, der eine plötzliche Sinnestäuschung ausgeschlossen haben will: „nichts kam geritten“, wie auch den Zauber irgendeiner Märchenwelt: „kein Einhorn kam geschritten –“. Die Wirklichkeit ist Traum und der Traum die Wirklichkeit. So hat der Dichter sein Erleben heimgeleitet in die Form der Existenz durch Sprache, im Vers es aus der trüben Dumpfheit gerettet und in die helle Wahrheit erhoben: Macht geht nicht vor Recht, unzerstörbar bleiben Recht und Gesetz dieser Erde und Natur. Das ist eine Botschaft, von der Loerke glaubt sagen zu dürfen: „Ich muß nun die Überzeugung behalten, daß meine Verse nicht untergehen werden, bevor sie ihre Wirkung getan haben.“ (1. April 1934). „ … Und würden sie vernichtet, sie haben ihren Raum in der geistigen Welt.“ (14. Sept. 1933). Thomas Mann schrieb zu Loerkes Gedichtband „Atem der Erde“: „ …manches darin scheine schwerfällig–melancholisch–dunkel, aber man müsse nur genau hinsehen, dann öffne sich eine klare Tiefe“. Dazu schreibt Loerke: „Auf diese Klarheit, die von der Verklärung und Verdüsterung durch Klüfte getrennt ist, kam es mir immer an.“ Ob gehört, ob nie gelesen, Hat nichts über uns entschieden; Doch wir halfen mit am Frieden Nur durch Dasein, nur durch Wesen. Und wir wollen nichts vermehren Oder gar für uns es rauben, Wollen bloß, was gut ist, glauben, Um die Erde so zu ehren. (Oskar Loerke: Meine alten Verse) Rupert Hirschenauer Hirschenauer, Rupert Weber, Albrecht (Hg.) . Wege zum Gedicht. München Zürich: Schnell und Steiner, 1965. S. 317–325. Dieter Hoffmann: Oskar Loerke Der Silberdistelwald Mein Haus, es steht nun mitten Im Silberdistelwald. Pan ist vorbeigeschritten. Was stritt, hat ausgestritten In seiner Nachtgestalt. Die bleichen Disteln starren Im Schwarz, ein wilder Putz. Verborgne Wurzeln knarren: Wenn wir Pans Schlaf verscharren, Nimmt niemand ihn in Schutz. Vielleicht, daß eine Blüte Zu tiefer Kommunion Ihm nachfiel und verglühte: Mein Vater du, ich hüte, Ich hüte dich, mein Sohn. Der Ort liegt waldinmitten, Von stillstem Licht gefleckt. Mein Herz - nichts kam geritten, Kein Einhorn kam geschritten – Mein Herz nur schlug erweckt. (e juni 1933) V. 19: Einhorn: Fabelwesen, das durch ungenaue Übersetzung von hebr. re´em (´Wildbüffel/-ochse´) Eingang in die Welt des christlichen Glaubens fand; darin u.a. Symbol für die Weltherrschaft Christi sowie - als Sinnbild der Reinheit und Keuschheit - der Jungfrau Maria; von daher auch Zuschreibung von reinigenden Kräften Überlegen Sie zunächst, was unter der Metapher ´Silberdistelwald´ zu verstehen sein könnte. Berücksichtigen Sie hierfür auch, die folgenden Ausschnitte aus dem Gedicht Der Traum von den Disteln (a) sowie aus dem 23. Psalm des Buchs der Preisungen (Psalter) (b), den Loerke sich - in der Übersetzung des mit ihm befreundeten jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) - über seinen Schreibtisch gehängt hatte: a) Ich jäte nachts ein Feld voll Disteln und Nesseln. Gespenstisch mehrt sichs, ich weiß nicht, wie ichs erschöpfe. Schlingen wollen mich an den Füßen fesseln, Die Stachelkugeln grinsen manchmal wie Menschenköpfe, Messer, Speere gieren herab von den Stielen, Ungestüm stechen und hacken sie, ohne zu zielen.^16 b) Er* ist mein Hirt, mir mangelts nicht. Auf Grastriften lagert er mich, zu Wassern der Ruh führt er mich. Die Seele mir bringt er zurück, er leitet mich in wahrhaftigen Gleisen um seines Namens willen. - Auch wenn ich gehn muß durch die Todschattenschlucht, fürchte ich nichts Böses, denn du bist bei mir, dein Stab, deine Stütze, die trösten mich. (...) ich kehre zurück zu DEINEM Haus für die Länge der Tage.^17 2. Der griechische Fruchtbarkeitsgott Pan spielte schon früher eine wichtige Rolle in der Lyrik Oskar Loerkes, insbesondere in dem 1916 erstmals veröffentlichten Gedicht Pansmusik, dessen zweite und werte Strophe lauten: *Er: ´der Herr´; die direkte Erwähnung Gottes ist im jüdischen Glauben streng untersagt (und damit auch im Originaltext der Bibel nicht anzutreffen) Es ist, wie wenn den weiten Horizonten Die Seele übergeht, Der Himmel auf den Ebnen, den besonnten, Aufhorcht wie ein Prophet. (...) Heut fährt der Gott der Welt auf einem Floße, Er sitzt auf Schilf und Rohr, Und spielt die sanfte, abendliche, große, Und spielt die Welt sich vor.^18 Erläutern Sie vor dem Hintergrund dieser Verse die Bedeutung des Gottes Pan in dem Gedicht und seine Stellung zum ´Silberdistelwald´. Berücksichtigen Sie dabei auch den oben zitierten Psalm, Loerkes Ausführungen zum ´Grünen Gott´ (vgl. S. 107f.) sowie die Bedeutung der Musik für Oskar Loerke, wie sie u.a. aus folgenden Ausschnitten aus seinem Tagebuch hervorgeht: Trübes Wetter, Fünf Grad Wanne. Der tiefe Schnee ist fast weggetaut. Nur noch weiße Flecken im Naßbraunen. Ich pflückte Gänseblümchen, mehr als dreißig, uns den ´minderten in unserem frisch grünen Rasen. In der Bedrohung treibt das Leben - sei es ein Zeichen. Und ich spielte heute vormittag Bachs Wohltemperiertes Klavier, wieder nacheinander die Präludien und Pagen des Anfangs, aufgeschlossen der tönenden Herrlichkeit der Welt, Gesunder Menschenverstand: man freut sich, daß schwarz nicht zugleich -weiß sein kann, daß also niemand zugleich Mozart und den Teufel verehren kann. In seinem Tagebuch hat Loerke die Aufzeichnungen zu den Jahren 1933 und 1934 mit der Überschrift „Jahre des Unheils“ versehen. Den NS-Staat bezeichnet er einmal als „Narrenhans“, Hitler als „Herrn Dschingis oder Götze mit Glotzangen“, die Nazis als „Popel“ und „Drecktreter“. ^21 In späteren Aufzeichnungen heißt es u.a.: Welcher Zusammenhang ergibt sich zwischen der Bezugnahme auf Pan und der Kritik des Nationalsozialismus in Loerkes Tagebuchaufzeichnungen? 4. Im Zusammenhang mit Notizen zur Arbeit an den später zum Gedichtband Der Silberdistelwald zusammengefassten Gedichten schreibt Loerke in seinem Tagebuch, es sei „sehr schwer, dem riesigen Strom ins Dunkle Widerstand entgegenzusetzen „,^24 Im Nachwort zu dem Gedichtband bekennt er: Nicht selten wollte ich mich in meinen Versen beklagen, wenn der Frost oder Strahl der Ungerechtigkeit mich verletzt hatte. Es gelang mir nicht, ich quälte mich und andere in meiner Schwäche, indessen das Gedicht löste sich erst, als ich mich seinem Willen ergeben hatte.´ In welcher Beziehung stehen die Ausführungen Silberdistelwald? Konnte dieses dazu beitragen, „den Dunkle Widerstand entgegenzusetzen „? 5. Unter dem Datum vom 18. Mai 1935 bezeichnet: Loerke die „geistige Welt“ als seine „Heimat“.*^6 In diesem Sinne heißt es auch über die Gedichte des Bandes Der Silberdistelwald in seinem Tagebuch, sie hätten, selbst wenn sie vernichtet würden, „ihren Raum in der geistigen Welt“.^27 Auf der anderen Seite beklagt sich Loerke häufig über die „trübe Stimmung des Verstoßenseins“, in der er und seine Gesinnungsgenossen sich in Deutschland befänden.^28 - Wie erklären Sie sich diesen Zwiespalt? Kommt er auch in Der Silberdistelwald zum Ausdruck? 6. Erläutern Sie - unter Berücksichtigung obiger Zitate – die folgenden Aspekte des Gedichts in ihrer bedeutungsunterastützenden Funktion: • die antithetische Struktur von Strophe 1 und 2; • den Chiasmus´ in Strophe 3 (V. 14/15); • den Einschub in Strophe 4 (V. 18/19); • die semantische Differenz zwischen „mitten im Silberdistelwald“ und „waldinmitten“ (V. 16) Oskar Loerke Der Silberdistelwald Das Gedicht erscheint als Auseinandersetzung Loerkes mit der nationalsozialistischen Machtergreifung und den veränderten Lebensbedingungen, die sich daraus für ihn ergaben. So lässt sich insbesondere die für das Gedicht zentrale Metapher des ´Silberdistelwalds´ auf das Dritte Reich beziehen - zumal dann, wenn man andere von Loerke selbst geschriebene oder von ihm rezipierte Werke in die Analyse mit einbezieht. Auffallend ist die Parallele zu dem 1936 veröffentlichten Gedicht Der Traum von den Disteln, in dem diese als menschengestaltige Ungetüme dargestellt werden, die „ungestüm „ und blindwütig („ohne zu zielen „) auf alles ´einstechen´ bzw. ´-hacken´, was ihnen zu nahe kommt (s. Aufgabe 1). Aufschlussreiche Analogien ergeben sich darüber hinaus auch zum Bild der „Todschattenschlucht“ (als die der ´finstere Wald´ aus der Luther-Bibel in der Übersetzung Martin Bubers erscheint) in dem von Loerke besonders geschätzten Psalm Nr. 23 (s. ebd.). Dass das Haus des lyrischen Ichs im „Silberdistelwald“ steht, lässt sich vor diesem Hintergrund im Sinne eines Lebens in einer feindlichen Umwelt verstehen. Wenn es von „Fan“ heißt, er sei „vorbeigeschritten“ (V. 3), so scheint dies demnach zunächst darauf hinzudeuten, dass dieser nicht bei dem lyrischen Ich eingekehrt (´vorübergeschritten´) ist, da für ihn in dieser Umgebung kein Platz ist. Denn der Naturgott „Pan“ ist bei Loerke - wie insbesondere sein Gedicht Pansmusik aus dem Jahr 1916 zeigt - eine Chiffre für das mit sich selbst im Einklang befindliche Leben bzw. für die Klang gewordene Einheit des Seins, deren ´tönende Herrlichkeit´ der „Gott der Welt“ sich auf seiner Flöte ´vorspielt´ (s. Aufgabe 2). Dies scheint im „Silberdistelwald“, in dem das lyrische Ich leben muss, ausgeschlossen zu sein. Dieser Deutung widersprechen allerdings Vers 4 und 5, die - über die Wendung ´ausgestritten haben´ - in ähnlicher Weise auf eine Versöhnung der Welt mit sich selbst verweisen wie das Bild des abendlichen Flötenspielers in Pansmusik. Vom Schluss der Strophe aus betrachtet, erhält auch Vers 3 eine andere Bedeutung und wäre dann eher im Sinne eines ´Vorbeikommens´ von „Pan „ beim lyrischen Ich zu verstehen. Die zweite Strophe ähnelt von ihrem Aufbau her der ersten Strophe. Auch hier vermittelt das Bild der im Dunkeln (´Schwarzen´) ´bleich´ ´starrenden´ Disteln (V. 6/7) den Eindruck einer Bedrohung, so dass der dritte Vers der Strophe - analog zur ersten Strophe - zunächst auf das Ausgesetztsein (im doppelten Sinne von ´Verstoßensein´ und ´einer Gefahr ausgesetzt sein´) hinzudeuten scheint. Die ´verborgen knarrenden´ Wurzeln verweisen aus dieser Perspektive auf den unsichtbaren bzw. diffusen Charakter der drohenden Gefahr. Ferner wecken sie Assoziationen an im Dickicht lauernde oder sich im Schutz der Dunkelheit an das Haus des lyrischen Ichs anschleichende Räuber und heben so auch die Unheimlichkeit des isolierten Lebens im „Silberdistelwald“hervor. Der Doppelpunkt am Ende von Vers 8 bezieht diesen allerdings stärker auf die beiden nachfolgenden Verse, in denen die Notwendigkeit, das Bewusstsein von „Pans Schlaf wach zu halten (ihn nicht zu ´verscharren^7) betont wird. Vor diesem Hintergrund deuten dann die ´verborgnen Wurzeln´ eher auf den ´verscharrten´ „Schlaf des Gottes hin, der dem lyrischen Ich nachts zum Bewusstsein kommt. Damit ergeben sich für die beiden ersten Strophen jeweils zwei komplementär zueinander stehende Deutungsmöglichkeiten. Einerseits lässt sich der „Silberdistelwald“ (bzw. das Leben darin) im Sinne einer ´geistigen Nacht´ (einer „Todschattenschlucht“) verstehen, in der jeder Gedanke an eine übergreifende Einheit und Harmonie des Seins ausgeschlossen erscheint {´verscharrt^7 worden ist). Andererseits kann man die nächtliche Szenerie aber auch auf den heimlichen Versuch des lyrischen Ichs, „dem riesigen Strom ins Dunkle Widerstand entgegenzusetzen „ (s. Aufgabe 4), beziehen. Analog zu dem Traum von den Disteln, in dem das lyrische Ich „nachts“ das ´sich gespenstisch mehrende´ „Feld voll Disteln und Nesseln“ zu ´jäten´ versucht, entspräche dann der nächtlich-heimliche Hinweis auf das ´Unheil´ (im Sinne von ´fehlendem Heil´; vgl. Aufgabe 3) bzw. den Verlust der geistigen Mitte des Lebens („Pans Schlaf) dem Versuch, den Gedanken des mit sich selbst versöhnten Seins wenigstens als Utopie am Leben zu erhalten (d.h. ihn gegen seinen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Alltag „in Schutz“ zu nehmen; vgl. V. 10). „Pan“ und lyrisches Ich sind damit wechselseitig aufeinander angewiesen: Das lyrische Ich braucht „Pan“, um sich in den Jahren des Unheils´ (bzw. bei seinem Gang durch die „Todschattenschlucht“) die Kraft zum Leben zu bewahren, und „Pan“ bleibt nur dann als Realität unter den Menschen gegenwärtig, wenn Einzelne das Bewusstsein seiner Existenz wach halten. (Dem trägt der Chiasmus in Vers 14/15 Rechnung, in dem „Vater“ und „Sohn“ einander gegenseitig ´hüten´). Dieser Gedanke impliziert die Annahme einer unabhängig vom Tagesgeschehen existierenden „geistigen Welt“ (s. Aufgabe 5), die dem Einzelnen ggf. Zuflucht bieten kann vor den inhumanen Strukturen des Alltags, in dem er leben muss. So folgt auf die Deutung der aus dem tauenden Schnee aufblühenden Gänseblümchen im Sinne des ´in der Bedrohung treibenden Lebens´ in Loerkes Tagebuch auch nicht zufällig ein Hinweis auf Bachs „Wohltemperiertes Klavier“, das ihm die ´tönende Herrlichkeit der Welt´ ´aufschließt´ (s. Aufgabe 2). Analog hierzu schlägt das „Herz“ des lyrischen Ichs im Silberdistelwald „erweckt“ (V. 20), nachdem es sich seinem Gott zugewandt hat (der insofern sein „Vater“ ist, als er mit ihm in der Einheit der geistigen Welt - die damit als seine eigentliche „Heimat“ erscheint -verbunden ist ). Im Unterschied zu anderen Werken der inneren Emigration, in denen der Rückzug in die ´Welt des Geistes´ selbst schon als Akt des Widerstands gegen das inhumane Regime der Nationalsozialisten erscheint (vgl. etwa Reinhold Schneiders Gedicht Allein den Betern), wird allerdings bei Loerke der eigene Beitrag zur Überwindung desselben auffallend bescheiden eingeschätzt. So wird zunächst - durch die Einleitung der dritten Strophe mit dem Adverb „vielleicht“ - die Ungewissheit darüber betont, ob unter den gegebenen Bedingungen überhaupt eine Vereinigung mit Gott - bzw. ein vollständiger Übertritt in die Welt des Geistigen - möglich ist. Daraus folgt - als zweite Deutungsperspektive von Vers 11 bis 13 - auch die Unklarheit darüber, ob aus der „Blüte“ der dichterischen Meditation die ´Frucht´ eines Gedichts werden und jene so auch anderen Menschen zugute kommen kann. Folgerichtig wandelt sich zwar das Bild des im „Silberdistelwald“ stehenden Hauses´ aus Strophe 1 in der vierten Strophe in einen „waldinmitten“ stehenden, unbestimmten „Ort“, der nun - statt von „bleichen Disteln“ ´umstarrt´ (V. 6) zu sein - „von stillstem Licht gefleckt“ (V. 17) ist. Dem lyrischen Ich selbst ist es also offenbar gelungen, in die Sphäre der geistigen Welt überzutreten, deren „Licht“ seinem Denken jetzt eine andere, ruhevollere Färbung verleiht und die an die Stelle des Gefühls des Bedrohtseins von allen Seiten die Gewissheit des Eingebettetseins ´inmitten´ einer unzerstörbaren Ordnung treten lässt. Dabei wird jedoch zugleich betont, dass es „nur“ das „Herz“ des lyrischen Ichs - im Doppelsinn von „nur“ sein „Herz“ und „nur“ sein „Herz“ - ist, das hier zum Bewusstsein seiner Beheimatung in der ´geistigen Welt´ „erweckt“ worden ist. Den damit angedeuteten Gedanken, dass der Rückzug in die Innerlichkeit zwar dem Einzelnen Trost spenden kann, dies aber - zumal, wenn er mit seiner Konzentration auf die ewig-geistigen Werte allein steht - an den Strukturen des ´Silberdistelwalds´ selbst nichts ändert, bringt das Gedicht explizit in dem Einschub in Vers 18/19 zum Ausdruck: Eine umfassende, die allgemeinen Lebensbedingungen ändernde Läuterung ist durch das Erweckungserlebnis des lyrischen Ichs nicht eingetreten bzw. - wenn man das „Einhorn“ (vor dem Hintergrund der religiösen Sprache in Strophe 3) auf Gottes „Sohn“ beziehen will) - Christus hat seine Herrschaft als ´Friedensfürst´ noch nicht wieder angetreten. Die Utopie des Friedens wurzelt zwar auch bei Loerke - wie bei den meisten anderen Vertretern der inneren Emigration - in dem Glauben an ein unabhängig vom Tagesgeschehen existierendes Reich des Geistes. Anders als bei jenen, geht sie jedoch bei ihm nicht mit einer ´Flucht in die Innerlichkeit´ einher: Während in Lehmanns Signale am Ende des Gedichts eine Abkehr vom realen Grauen des Krieges steht und eben hieraus die heilende Kraft des Geistes abgeleitet wird, schließt Loerkes Gedicht mit dem Hinweis auf die fortgesetzte Existenz des ´Silberdistelwalds´. Dies impliziert, dass die Hinwendung zur „geistigen Welt“ hier keine eskapistischen Züge trägt, sondern dem Einzelnen den Mut und die Kraft vermitteln soll, „dem riesigen Strom ins Dunkle Widerstand entgegenzusetzen „. Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1916-1945 : vom Dadaismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. . Tübingen ; Basel: Francke, 2001 ISBN 3-8252-2200-4 (UTB), ISBN 3-7720-2975-2 (Francke). S. 165-168, 409-414. Oskar Loerke (1884-1949) Strophenform – Horst Joachim Frank: Läßt man in dieser Strophe die vierte Zeile weg, so erkennt man die zweithäufigste Strophenform der deutschen Dichtung, den Vierzeiler aus jambischen Dreihebern mit weiblich/männlicher Kadenz 4.20. Wo nun in diesem seit altersher landläufigen Maß die dritte Zeile in Metrum und Reim wiederholt wurde (zuweilen sogar wörtlich wie von Goethe in seinem Altersgedicht »März«), sei es ergänzend, verstärkend oder innehaltend, da entstand der hier betrachtete Fünfzeiler. Aus dem Kreuzreim abab wurde dann die fünfzeilige Reimordnung abaab, und aus einem unterbrochenen Reim xaxa ergab sich durch Reimgleichheit der eingeschobenen Verse mit dem vorausgehenden die fünfzeilige Ordnung xabba. Die so erweiterte Form findet sich bereits im Volkslied des 15. und 16. Jahrhunderts, nämlich in dem historischen Lied von der Eroberung der Feste Delmenhorst 1482 »Frisch frolich wille wi singen« (LI161), in den Liedern von der Liebesjagd »Wol uf wir wellind jagen gohn« (EB1434) und »Ich schuß nach einer Taube« (EB 441) sowie in der niederdeutschen Volksballade von den neun Landsknechten »It weren negen Landsknechte« (EB65a) aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Die Strophe lebte in der Überlieferung des Volkes weiter, so etwa (um 1800) in dem Küchenlied »Es war eine reiche Jüdin«, das dann unter dem Titel »Die Judentochter« von Arnim und Brentano in die Sammlung »Des Knaben Wunderhorn« (1805) aufgenommen wurde und dort zusammen mit der Volksballade »Das Lied vom Ringe« (»Es waren drei Soldaten«) den Fünfzeiler dem literarischen Publikum wieder vorstellte. Indessen war die Strophenform schon im ausgehenden 18. Jahrhundert gelegentlich für Lieder und Erzählungen im volkstümlichen Ton verwendet worden: Voß »Das Landmädchen«, Schubart »Der kalte Michel«, Pfeffel »Therese Paradies«. Nun aber griffen die schwäbischen Romantiker den Fünfzeiler auf, und zwar insbesondere für Romanzen und Lieder im Ton der Klage und Wehmut. Am bekanntesten wurde von Uhland »Der gute Kamerad« (»Ich hart einen Kameraden« 1809, im selben Maß später F.W. Weber »Uhlands Tod«). Es folgten von Uhland »Traum«, von Kerner »Der Gärtner auf der Höhe« und »Der Riß durchs Herz«, Eichendorff »Der Gärtner«, ähnliche Versinnbildlichungen durch Gestalten bei Hebbel »Der junge Schiffer«, »Zwei Wanderer« und »Das Haus am Meer«. Allerdings fand die kleine Strophe nun auch Verwendung für frohe Lieder: Hebbel »Frühlingslied«, Weerth »Das ist ein lustiges Springen«. Hoffmann v. Fallersleben erneuerte, vielleicht in Erinnerung an die niederdeutsche Volksballade, den Ton der »Landsknechtslieder« in »Das treue Roß« und »Der alte Landsknecht in seiner Heimat«, übertrug den Fünfzeiler auch auf das Kinderlied: »Der kleine Seemann«, »Hab Dank, du lieber Wind«. Doch dieser unbefangene Ton setzte sich nicht durch. In ihrer Schlichtheit neigte die Strophe mehr zum Ausdruck verzagender, wehmütiger, schmerzlicher Empfindungen, zumal bei Abschied und Trennung: Storm »Es liegen Wald und Heide« und »Verirrt«, Liliencron »Trennung«, Kurz »Nein, Liebe kann nicht sterben«, Hesse »Abschied«, Schoenaich-Carolath »Valet«, Kinau »Wedder een bleben«. Die Form ist auch in der neueren Lyrik lebendig geblieben: Weinheber »Mutter mit dem Kind«, Loerke »Der Silberdistelwald«, Langgässer »Samenzug«, Linke »Holztrift«, Schaefer »Mitternacht«, Härtling »Olmütz 1942—1945«, Biermann »Ermutigung«. Rang: 56 Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen—Basel: Francke, 1993^2. ISBN 3-8252-1732-9 (UTB). S 321–327. Nachwort zu «Silberdistelwald» LIEBER WILHELM LEHMANN, - ich folge einer altertümlichen Sitte, wenn ich Dir diese Gabe mit einem Nachwort überreiche. Es hat sich viermal gefügt, daß während der Reifezeit eines meiner Gedichtbände (fast regelmäßig gingen fünf Jahre darüber hin) ein Freund sein fünfzigstes Lebensjahr vollendete und daß ich ihm durch Zueignung des frisch Entstandenen danken durfte. Die sechste Sammlung, die vierte Widmung gehört Dir aus gleichem Anlaß und aus gleicher Kameradschaft. Jetzt stehe ich selbst dicht vor meinem fünfzigsten Geburtstage, und ich habe das Bedürfnis, mich in Deiner Wärme zu spüren, während ich mich umwende und mich um die hinter mir liegenden Dichtungen befrage. Brüderliche Menschen gewannen sie mir - gegrüßt alle, deren Geist in diesen Blättern mitweht, auch ohne daß ihr bürgerlicher Name auf ihnen zu lesen ist! Sie halfen meinem Leben, sie betreuten es mit ihrer Tapferkeit in dem ihren, meist von meinen tastenden Anfängen an. Wie Du! Der erste Gedichtkreis dieses Buches huldigt ausdrücklich Deinem Werk. Ich lernte bei Dir das immer geschehende Jüngste Gericht gewahren. Ich lernte bei Dir: Im Dasein des Grünen Gottes (kühler und weniger bestimmt gesagt: der Natur) - in seinem bloßen Dasein als dem währenden Vollzug seiner Gesetze liegt dieses Gericht: das mildeste und härteste, das denkbar ist. Im Niederfall eines Borkestücks von der hundertjährigen Platane ergeht sein Spruch, im unsichtbaren Altern aller Blätter und aller Adern in den Blättern, im Flug und Schritt der vieltausenderlei Zeiten auf Erden: durch unser Trauern und Freuen scheint das Endgültige. Und was der Spielzeugschnitzer seinen Holztieren einkerbt, genau das schneidet der große Geist, in dem er haust, ihm selbst ein. - Aber, verzeih mir, klingt das nicht nach Deutung des Dir Deutlichen von Anbeginn? Ich wollte wie in vertrautem Gespräch nur zurückblicken auf einiges Verbindende und Gemeinsame im Grunde meiner Arbeit. Einer unserer größten Erzähler, ein Mann von höchstem Ruhm, in seiner Wesensart mir nicht verwandt, schrieb mir zum «Atem der Erde», «manches darin scheine schwerfällig-melancholisch-dunkel, aber man müsse nur genauer hinsehen, dann öffne sich eine klare Tiefe». Auf diese Klarheit, die von Verklärung und Verdüsterung durch Klüfte getrennt ist, kam es mir immer an. Das Elend wohl, doch nicht das Leid der Welt läßt sich mehren oder mindern. Das Maß aller Dinge, wie es in jedem Leben verwahrt ist, läßt sich nicht längen und kürzen. Darum ist Weltschmerz ein Irresein des Einzelnen. Die Freude der Welt ebenso nimmt nicht ab oder zu, wiewohl sie sich in Deiner und meiner Seele manchmal verdichtet und manchmal sie verläßt. Der Einzelne hat ihr nichts an, weder auf den Wegen der Leidenschaft, noch auf denen der Weisheit oder gar der Bescheidung und des Verzichts. Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache. In ihr wird keine begnadungslüsterne Beichte angenommen, ebensowenig wie in den musikalischen Formen. Und auch keine Technik schafft Existenz. So habe ich über die technischen Voraussetzungen hier nichts auszusprechen. Wie wenig oder viel ich in dieser Hinsicht erkannte, lernte und wie ich es verwaltete, wird keinem verborgen bleiben, der meine Gedichte inwendig laut, das heißt, wer sie überhaupt liest. Ich stand vielmehr in einem Zustrom der einfachen Dinge und Wesenheiten, die keine Bedingungen für ihren Eintritt in das Gedicht mitbrachten, außer daß sie darauf drangen, ihre volle Wirklichkeit zu behalten. Viele schienen mir diese Wirklichkeit erst drüben im Vers zu enthüllen, die hüben dumpf und getrübt gewesen war. Jene vorhin erwähnten Spielzeugtiere stehen auf meinem Bücherschranke, und die oft über ihnen vernommene Stimme ihres Schnitzers hat sich nun mit der meinen vereinigt. Der kleine Osiris aus Erz ruht oft in meiner Hand, Geschenk eines Freundes, und raunt mir zu: warum wäre das unwirklicher als die Forsythienblüte draußen? Der schicksalverstoßenen Dichter aus dem Dreißigjährigen Kriege gedenke ich nicht anders als der toten Künstlerfreunde aus einer Tafelrunde, in der ich selbst saß, und ich beuge mich vor ihnen in Liebe um so tiefer, als ich weiß, daß Vollkommenere und Bevorzugtere neben ihnen atmeten, und daß späterhin der deutsche Genius nicht so ergreifend reich und frei gesungen hätte, hätten sie ihn nicht vorher in ihrem armen Wandel und Verhängnis betreut. Simon Dach und Johann Rist wachten wie ältere Zeitgenossen darüber, daß ich ihrer persönlich-irdischen Verhältnisse treulich eingedenk blieb. Nur daß Dach, der Annke von Tharau, die fremde Braut eines Fremden, um Sold besungen hatte, schwieg, als ich ihm im Sterben ein Kind mit dem Namen Annke gesellte. Solcherweise mögen meine Verse keine Gestalt der Vorzeit, gleichviel, ob verweslich geboren oder aus dem Geiste, aufnehmen, die nicht auch in meinem Alltag zum Vorrat meiner Gegenwart zählte. Wenn in dem Gedichte «Aufrichtung» ein fernes Getümmel mythischer Väter unter einem heiligen dreitausendjährigen Baum anhebt und noch über seine Reichweite hinaus, von den Äsen und Buddha bis zu der noch jungen Stimme eines romantischen Dichters, so bin ich daran nicht anders beteiligt als an dem Blitz, der mein Auge blendet, oder an der Rose, die meine Hand bricht. Wie sollte das auch anders sein? Ich habe «höchste» Arbeit tun dürfen und, jahrzehntelang, «niedrigste» neben dem Beruf tun müssen, die erste, um des Lebens von Herzen inne zu werden, die zweite, um es zu fristen. Aber die eine tat kein Herr und die andere kein Knecht. Die Hand, die eben den Haderlumpen ausgewunden hatte, hat sich nie gesträubt, alsbald festliche Verse aufzuzeichnen. Darum bin ich nicht eitel genug, «hinabzusteigen», und ich bin nicht anmaßend genug, von anderen zu fordern, sie sollten «hinaufsteigen». Ich bin nicht oben irgendwo, und die anderen sind nicht unten. Ich bin auf keiner Schweißspur eines Wildes für Tische der Hochgeborenen und jage keinem Sinne nach, der nur wenige anginge. Du und ich, lieber Freund, und die anderen Gefährten, wir wollen in keiner von zeitlichem Wissen umschnürten Zeit eingepreßt sein mit dem, was ihren Bindungen nie gehören kann. Der Strom meiner westpreußischen Heimat, wie er aus dem Horizont kommt und gegenüber wieder in den Horizont eingeht, zählt mir in allen Bänden die Zeit mit, und Du wirst ihn auch im neuen Buche gefunden haben, wiewohl er nicht bei Namen genannt ist. Der weite Sternhimmel über der Ebene meiner Kindheit, derselbe, der jetzt über meinem Dache leuchtet, hat diesem Buche die Überschrift gegeben, doch wäre es natürlich falsch, zu sagen, der Silberdistelwald sei ein Denkbild dieses Himmels. Du weißt, daß ich, was ich sichtbar und hörbar zu machen suchte, niemals nur vergleichsweise meinte. Geht das Spiel des Vergleichens nicht allzuoft gerade um die Reize aus dem Ungleichen ? Jede Rede ist Gleichnisrede oder keine. Die Versuchung auszuschweifen nahm ich in Zucht. Ich mag nicht die Allegorie, die - wem zu nutz? - das eine für das andere setzt, die da tauscht und rätselt. Vielmehr: die Nähe der Ferne und die Ferne der Nähe sind tägliche Erfahrung; sie haben Macht über den Traum und das Wachen. Wem sie Traum und Wachen erdrücken, wem sie die nüchterne Tätigkeit zermalmen, der hat sie schon mißkannt. Und so glaube ich an Deine und meine Tage, die uns gegönnt waren und noch gegönnt sind. - Mögen sie uns bald wieder zusammenführen an der Bucht von Eckernförde oder in den Eichengängen des Tegeler Forstes. Leb wohl. Silvester 1933 Dein Oskar Loerke Aus: Silberdistelwald, Berlin 1934 Schuhmann, Klaus. Lyrik des 20. Jahrhunderts: Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995. ISBN 3 499 555506. S. 182-185. Albrecht Lehmann: Der deutsche Wald Glaubt man journalistischen «Recherchen»^1, so steht der Wald bei den Deutschen bis heute unter den Massensymbolen noch immer in der vordersten Reihe. Ihr «zweitliebstes Kind» soll er sein, unmittelbar hinter dem Auto. Gegenüber diesem Gebrauchs- und Prestigegegenstand muß es der Wald schon aus «kulturbiographischen» Gründen schwer haben. Schließlich ist «Auto» bei uns das häufigste «erste Wort» der Kinder. Nimmt man hingegen die Themen, über die Erwachsene am liebsten reden, zum Maßstab, dann wird vermutlich der Fußballsport zum «Leitstern» unserer Kultur.^2 Bei dieser imaginären Popularitätsskala ist es zunächst merkwürdig, daß so unterschiedliche Sachgebiete zum Massensymbol einer Kultur werden sollen, eine Sportart, ein Fahrzeug und ein Landschaftstyp. Aber es ist bereits ein Zeichen allgemeiner kultureller Veränderungen, wenn gegenwärtig andere Themen überhaupt eine Chance haben, mit dem Wald auf einer «Hitliste» der deutschen Kollektivsymbole um den ersten Platz zu konkurrieren. Vor 50 oder 60 Jahren dürfte es keinen Zweifel gegeben haben, daß das Massensymbol der Deutschen ihr Wald war. Heute werden Wälder wegen ihrer Schönheit geliebt, als Freizeitpark von Spaziergängern, Wanderern und Mountainbikern genutzt. Doch als kulturelles oder gar als politisches Symbol ist der Wald fragwürdig geworden, nicht anders als die «deutsche Eiche». Diese Abneigung bei gleichzeitiger Sympathie ist zweifellos das mentalitätsgeschichtliche Ergebnis deutscher Politikgeschichte. Dazu gehört es, kein positives - Optimismus, Zuverlässigkeit und Stärke ausdrückendes - Nationalsymbol für die Deutschen zu akzeptieren, ja bereits die Suche danach in dunkle Epochen unserer Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zu verweisen. 1. Romantisches Waldgefühl Der «Wald» ist bis heute eine wichtige Naturmetapher geblieben, für viele ist er das Synonym für Natur. Das trifft etwa für den Publizisten Horst Stern zu. Als Stern 1996 auf einer ökologischen Reise die neuen Bundesländer besuchte, bewegte er sich dort nach bewährtem Konzept durch die Landschaften: «Als erstes, wie immer, seit die Natur mein Denken bestimmt, ein Gang in den Wald. An keinem anderen organischen Ensemble läßt sich die Naturgesinnung einer Gesellschaft besser ablesen: Wie sie es mit ihm hält, ob sie ihn schont oder schändet, so hält sie es mit der Gesamtnatur.» ^3 Mit seiner Vorliebe für den Wald steht Stern in der Tradition deutscher Dichter und Naturschriftsteller seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Wie diese schreibt er nicht ausdrücklich über die Deutschen, sondern erhebt die richtige Naturgesinnung - das Waldbewußtsein - kurzentschlossen zu einer übernational gültigen Idee, zur Vorstellung einer Gesamtnatur. In Sachen Natursehnsucht und Waldliebe hatte bereits die romantische Tradition den Ton vorgegeben. Ludwig Tieck kreierte in einem ^l797 veröffentlichten «Volksmärchen» das Wort «Waldeinsamkeit». Wie das Grimmsche Wörterbuch mitteilt, wurde es zum «schlagwort der romantik».^4 Zu diesem kulturellen Muster, wie es in romantischer Literatur, Malerei und Musik vermittelt wird, gehört von Anfang an die Erfahrung des Verlustes. Natürliche Wälder gab es damals längst nicht mehr.^5 Die romantische Natursehnsucht war eine Erfindung von Stadtbewohnern, von Dichtern und Malern, die zu den wirtschaftlich intensiv genutzten, schon damals sorgfältig hergerichteten Waldlandschaften räumlich und emotional auf Distanz gegangen waren. Das war die Voraussetzung dafür, die harmonische Geschlossenheit und geordnete Wildheit der Wälder wahrzunehmen und zu preisen. So zeigt sich romantisch-weltflüchtig eine unpolitische Waldsymbolik. Diese wurde nicht allein durch die belletristische Literatur vermittelt, sondern auch über die Wissenschaften, etwa die Schriften der Mythenforscher. In den Bäumen des Waldes, in Bergen und Felsen sollten nach dem Glauben unserer heidnischen Vorfahren Geister und Dämonen hausen. Diese Vorstellung hatten die Forscher aus mündlich tradierten, von Sammlern aufgezeichneten Volkserzählungen, speziell aus regionalen Sagen und weltweit verbreiteten Mythen entnommen. «Noch heute guckt fast aus jeder Ecke und aus jedem Baumstumpf ein Spukgesicht heraus und erschreckt die armen Leute, die dort Leseholz suchen», hieß es in den berühmten Wald- und Feldkulten des Germanisten und Mythologen Wilhelm Mannhardt.^6 Solche philologischen Spekulationen verfolgten das Ziel, animistische Glaubensvorstellungen auch in den Kulturen Mittel- und Osteuropas nachzuweisen. Die Mythologen wollten ein untergründig über die Jahrhunderte des Christentums hinweg wirkendes vorchristliches «kollektives Gedächtnis» rekonstruieren, eine bis in die Gegenwart hineinreichende heidnische Vorwelt. Als abgelegte wissenschaftliche Auffassungen leben solche Ideen heute im Baumkult der Esoterik-Szene weiter, wo sie sich als Alternative zur Nüchternheit des religiösen, medizinischen und rituellen Angebots der Moderne empfehlen. Diese zunächst unpolitischen Entwicklungen der romantischen Dichtung und Wissenschaft können nicht hermetisch von der politischen Symbolik einer nationalistischen Waldideologie abgegrenzt werden. Denn die politische Instrumentalisierung hatte bereits kurz nach dem Ende der romantischen Bewegung eingesetzt. In dieser Zeit des aufkommenden Nationalismus sollte die Identifikation mit den Wäldern exklusiv zu etwas Deutschem werden. Anders als bei den Nachbarvölkern, so hieß es, wirke jenes typisch germanisch-deutsche Waldbewußtsein von der Vorzeit her kontinuierlich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Hatte doch bereits der römische Geschichtsautor und «Ethnograph» Tacitus in seiner Germania (98 n. Chr.) von dem Glauben der germanischen Stämme an ihren eigenen Ursprung aus dem Dunkel der Wälder berichtet, seine Landsleute über heilige Haine und tabuierte Waldbezirke der germanischen Stämme informiert (wobei der historische Quellenwert allerdings umstritten ist). Die politische Wirkung der Germania bis in unsere Tage ergibt sich aus der von Philologen als Tatsache vorausgesetzten Auffassung, ein germanisch-deutscher Nationalcharakter wirke kontinuierlich über die Jahrhunderte hinweg noch in die Welt einer Industriegesellschaft hinein. Ein Germanist brachte es 1918 auf den Punkt: «Wir erfahren von Tacitus, mit welch heiliger Scheu die Germanen ihre Wälder betraten. Noch heute wirkt die Stille oder das Rauschen der Bäume tief auf das Gefühl unseres Volkes ein.» ^7 2. Die nationalistische Waldideologie Am Anfang einer systematisch entwickelten nationalistischen Waldideologie steht der Kulturhistoriker, Volkskundler und Novellenautor Wilhelm Heinrich Riehl. Seine Schriften erschienen in vielen Auflagen und fanden über die Volksschullehrerschaft Eingang in den Unterricht und die Schulbücher. Bis heute läßt sich ihr Einfluß in erfolgreichen biologischen und ökologischen Schriften nachweisen. Riehl leitete die Mentalität - den Nationalcharakter -der einzelnen europäischen Völker aus der Typik der Bodenbeschaffenheit ihrer Landschaften ab. Den mentalitätsprägenden Gegensatz für die europäischen Völker fand er in der Dichotomie «Wald und Feld». Der wilden unberührten Natur des Waldes stellte er das gezähmte, sorgfältig von Menschen gehegte Feld gegenüber. Überall, wo die Waldwildnis bereits früh in agrarisch genutztes Kulturland umgewandelt worden war, in Italien, Frankreich oder England, habe eine Gesellschaft dadurch ihre historische Zukunft verspielt. Denn aus der Weite ihrer Wälder wachse einer Kultur immer wieder natürliche Energie und Kraft zu. In den englischen und französischen Provinzen seien die «echten Wälder» längst gerodet. Deshalb vegetiere dort ein «halbwegs ausgelebtes Volkstum».^8 Wer in revolutionärer Absicht nun auch den Volkscharakter der Deutschen zerstören wolle, der brauche nur ihre Waldregionen abzuholzen. In den Wäldern - «Trümmern germanischer Waldfreiheit»^9 - ruhe nicht nur ihre Vergangenheit, dort liege auch die zähe «Verjüngungskraft» ihrer Zukunft verborgen. Der Waldideologe Riehl war mit seiner 1854 erschienenen Schrift Land und Leute indes nicht allein ein Wegbereiter des deutschen Nationalismus, sondern als Kenner der unterschiedlichen Formen des Waldes in den deutschen Landschaften ein Vorläufer heutiger Umweltschützer: Der Gedanke, «jeden Flecken Erde von Menschenhänden umgewühlt zu sehen, hat für die Phantasie jedes natürlichen Menschen etwas grauenhaft Unheimliches; ganz besonders ist er aber dem deutschen Geiste zuwider.»^10 Als die «Waldsterbens-Apokalyptik» in den 1980er Jahren die Massenmedien in Deutschland beherrschte, staunten unsere französischen und englischen Nachbarn über diesen neuerlichen Ausbruch deutschen «Wald-Geistes». Daß ein großes Industrievolk seine Vitalität aus seinen Wäldern beziehen soll, wurde mit Erstaunen und Heiterkeit zur Kenntnis genommen. Unsentimental beschreibt der französische Historiker Fernand Braudel das andersartige Verhältnis seiner Landsleute zu ihren Wäldern: «Der Wald wirft nur dann Gewinn ab, wenn er durch vielfältige Nutzung ins Wirtschaftsleben einbezogen ist», jede Gelegenheit, ihm Ackerboden abzugewinnen, werde in Frankreich seit dem Altertum genutzt.^11 Eines Wirbelsturms, der im Jahre 1519 in einem Bezirk über 50000 Bäume entwurzelte, wird dankbar gedacht. Hatte er den Bauern doch die Mühsal des Rodens abgenommen. In dieser romanischen Tradition ist der wilde, unzugängliche Wald als europäische Urlandschaft ein gefährlicher Ort, Rückzugsgebiet der wilden Tiere und der von der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen: der Räuber und wilden Männer. Erst durch Rodung der Wälder entsteht Zivilisation, wachsen Siedlungen und die Kultur der Städte. Es ist nicht verwunderlich, daß unsere Nachbarn die historisch gewachsene Landschaftsform ihrer eigenen Lebenswelt in ähnlicher Weise privilegieren, wie es die Deutschen mit ihren Wäldern praktizieren. So favorisiert die populäre Landschaftsbewertung in England die offene parkartige Landschaft, die den Blick auf Wiesen, Felder, Wege und kleine Baumgruppen freigibt. Es ist eine mit Tieren und Menschen ausgestattete Kulturlandschaft, wie sie das berühmte Kornfeld John Constables aus dem Jahre 1826 festgehalten hat. Zweifellos vermittelt dieses Bild nicht nur eine spezifisch englische, sondern eine «allgemein-europäische» Seelenlandschaft, eine Welt also, mit der sich auch Deutsche seit dem 19. Jahrhundert identifizieren können. Engländern ergeht es beim Betrachten der Bilder Caspar David Friedrichs nicht anders. Die romantische Bewegung blieb ja nicht auf Deutschland beschränkt, sondern erreichte überall in Europa ihre literarische und künstlerische Wirkung. Vor allem in Frankreich entwickelte sich jedoch zugleich mit der Romantik eine antiromantische Gegenbewegung, die gerade die deutsche Waldliebe aufs Korn nahm. In dieser Tradition steht heute Michel Tournier, der Autor des berühmten Romans Der Erlkönig. In einem für die deutsche Kulturszene verfaßten Beitrag zeigt sich seine Phantasie besonders lebhaft. Der deutsche Wald ist für ihn eine Massenansammlung von Bäumen, die gegen ihren Willen dort zusammenleben müssen und ohne Unterlaß in diesem trüben Milieu um Licht und Sonne, um ihr Überleben gegeneinander kämpfen. Die Bäume seien von ihrer Natur aus Individuen und deshalb mit einem großen Freiheitsdrang ausgezeichnet. Der dichte deutsche Wald sei eine «Zwangsgemeinschaft», er symbolisiere die «aufgezwungene Promiskuität eines Konzentrationslagers». Die Bäume darin «leiden und hassen sich». «Die Waldluft ist gesättigt vom Haß der Pflanzen.» Der Text Tourniers ist kurz, provozierend und ohne eine Spur von Ironie.^12 3. Die Eiche als Symbol Denkt man an Wald, so fällt sicherlich jedem von uns sofort die «deutsche Eiche» ein. Die Zuschreibung der Stieleiche (Quercus robur) als Nationalsymbol bleibt freilich nicht auf Deutschland beschränkt. Dieser Prachtbaum diente bereits in der Französischen Revolution als Freiheitssymbol, und als «König der Bäume» gilt die Eiche wegen ihrer Kraft, Ausdauer und Unzerstörbarkeit (als Baumaterial für Häuser und Schiffe) seit dem 16. Jahrhundert in England. In Deutschland ist die Stieleiche als «deutsche Eiche» seit dem Kaiserreich über die Zeit des Nationalsozialismus bis hinein in die «symbolängstliche» Bundesrepublik ein beliebtes Motiv geblieben. Die Kriegerdenkmäler nach dem Ersten Weltkrieg waren mit Eichenlaub und Eicheln dekoriert. Meist standen sie selbst im Schatten einer Eiche oder einer Linde, des anderen deut- sehen Symbolbaums. In vielen Kleinstädten und Dörfern wurden in dieser Tradition schon 1933 die ersten Hitlerlinden und Hitlereichen gepflanzt. Und obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg positive Nationalsymbole bei den Deutschen in denkbar schlechtem Ansehen standen, wollte die Bundesrepublik nicht auf das Eichblatt verzichten, als sie mit der D-Mark ein neues Nationalsymbol etablierte. Das Eichblatt ziert jede Münze, vom Ein-Pfennig- bis zum Mark-Stück. Was vierzig Jahre später Jürgen Habermas in einem philosophischen Bonmot als «D-Mark-Nationalismus» karikierte, gedieh von Anfang an im Zeichen international-europäischer Symboltradition, im Schatten der englisch-deutsch-französischen Stieleiche. 4. Völkische Wälder Die Nationalsozialisten konnten die Traditionen deutscher Waldsymbolik für ihr völkisch-ideologisches Programm ausgezeichnet nutzen. Um den Wald als exklusiv deutsches Kulturmuster zu instrumentalisieren, ließ sich trefflich beim Waldideologen Riehl ansetzen. Dessen Dichotomien Wildnis-Wald und Zivilisation-Feld wurden wieder aufgegriffen. Aus den Urwäldern Deutschlands sei gesundes Volkstum entstanden, eine höherwertige Rasse, während der entwaldete Boden Frankreichs dessen Urbanisierung ermöglicht und unübersehbar eine Dekadenz der Moral und schließlich eine allgemeine Kraftlosigkeit der Kultur nach sich gezogen habe.^13 In solch ideologischen Konstruktionen artikulierte sich zunächst - mentalitätsgeschichtlich pointiert -eine außenpolitische Abgrenzung. Die aus der Romantik übernommenen Mystifizierungen und die spätere Ideologisierung des Waldes sollten darüber hinaus aber auch auf die inneren Zustände im Reich einwirken. 1934 erschien von einem Autor namens Franz von Mammen ein programmatisches Buch mit dem umständlichen Titel Der Wald als Erzieher. Eine volkswirtschaftlich-ethische Parallele zwischen Baum und Mensch und zwischen Wald und Volk. Die «Nationalsozialistische Kulturgemeinde» produzierte als «Gesamtkunstwerk» die «Filmdichtung» Ewiger Wald. Der Wald sollte darin zum Vorbild für ein Tausendjähriges Reich werden. Doch dem Werk, an dem 1200 Statisten mitwirkten, war kein großer Erfolg beschieden. Der Aufbau des Films war zu kompliziert, die Bilder, Verse und musikalischen Untermalungen waren symbolisch zu überfrachtet, ein Film für völkisch-nationale Intellektuelle. Immerhin: Hermann Göring hielt im Jahre 1936 als Reichsforstmeister vor Forstleuten einen Vortrag zum Thema «Ewiger Wald - ewiges Volk».^14 Dabei verkündete er: «Wald und Volk in nationalsozialistischer Auffassung haben viel Wesensverwandtes. Auch das Volk ist eine Lebensgemeinschaft, ein großes, organisches ewiges Wesen, dessen letzte Glieder die einzelnen Volksgenossen sind. [...] Ewiger Wald und ewiges Volk gehören zusammen.»^15 Briefmarke10 Jahre Schutzgemeinschaft Deutscher Wald 50 JAHRE SCHUTZGEMEIN SO H ÄFT DEUTSCHER WALD Geringe Mühe bereitete die Gleichschaltung der regionalen Wander-, Gebirgs- und Waldvereine. Diese Institutionen hatten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Pflege der Natur zum Ziel gesetzt, z. B. die Ausstattung des Waldes mit Wegen, das Aufstellen von Bänken und Tischen als Ruheplätze für Spaziergänger und Wanderer. 1904 war als Dachverband der Deutsche Bund Heimatschutz gegründet worden. In den regionalen Waldvereinen riefen sich die Mitglieder traditionell den Gruß «Mit Waldheil» zu. Nach der Gleichschaltung wurde auch ihnen der «deutsche Gruß» vorgeschrieben. Sie kombinierten das Alte mit dem Neuen und riefen sich nun den Doppelgruß zu: «Mit Waldheil und Heil Hitler».^16 j. Nachkriegszeit Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Wälder für die Lebenssicherung der Familien große wirtschaftliche Bedeutung. Das Sammeln von Pilzen, von Bucheckern (für die Gewinnung von Speiseöl) und Beeren war nicht allein willkommene Ergänzung des Speiseangebots, sondern besonders für die Familien der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge eine wichtige Nahrungsgrundlage. In den Jahren 1945 bis 1947, als ein harter Winter mit dem zeitbedingten Mangel an Heizmaterial zusammenfiel, beließ es die Bevölkerung in den großen Städten nicht beim Kohlediebstahl auf Bahnhöfen und Gleisanlagen und bei den nächtlichen, die Straßen- und Parkbäume dezimierenden Fällaktionen. Familien und Nachbarn versorgten sich durch «wilden Holzeinschlag» aus den Wäldern. Ganze Revierbereiche fielen in wenigen Nächten der Axt zum Opfer. Aus den Wäldern des Hamburger Umlandes sollen damals ca. 50000 Festmeter gestohlen worden sein.^17 Ähnlich wie bei Schwarzhandel und Kohlediebstahl konnte niemand von der notleidenden Bevölkerung ein Schuldgefühl wegen des Holzdiebstahls erwarten. Im Mittelpunkt stand in dieser Zeit der moralischen und wirtschaftlichen Krise das Überleben der eigenen Familie. Angesichts dessen hatte -wie heute in Ländern der Dritten Welt - der Naturschutzgedanke keine Chance. Die Waldschäden der Nachkriegsjahre führten 1947 zur Gründung der «Schutzgemeinschaft Deutscher Wald». Dieser bis heute sehr erfolgreiche Verband entwickelte bereits qualifizierte Programme über die Pflege des Waldes als eines schützenswerten Erholungsraumes für die Bevölkerung und als ökologischer Ressource, als außerhalb der Forstwissenschaft und -praxis noch kaum jemand systematisch über die Funktionen der Wälder für die Umwelt nachdachte. Aus den legalen und illegalen Sammelaktionen der Nachkriegsjahre, einer Zeit ohne Urlaubsreisen und Fernsehen, ist bei den Nachkriegskindern bis in die Gegenwart hinein ein besonders enges Verhältnis zur Natur und zum Wald erhalten geblieben. Damals war für viele Jungen und Mädchen der Wald hinter dem Dorf ein natürlicher Abenteuer Spielplatz. Zum Geheimnis und zum Abenteuer trugen auch die Bombentrichter, Bunkerlöcher und die Ruinen gesprengter Munitionsfabriken und -lager bei. Wie auf den städtischen Ruinenfeldern war den Kindern das Spielen an solchen Plätzen untersagt, und teilweise war der Aufenthalt dort allein wegen der herumliegenden Munitionsreste tatsächlich gefährlich. Das wußten alle. Doch in diesen Zeiten, da die Schrecken des Bombenkrieges noch gegenwärtig waren, hielt Lebensgefahr niemanden vom Spielen in einem «Bunkerwald» ab. Die Bestrebungen der Jugend gingen bald - der «typisch deutsche» Weg -in Richtung einer Beamtenkarriere mit institutionalisierter Chance zu Naturerlebnis und Abenteuer. Denn der Beruf des Försters war in den 1950er Jahren der Traumberuf der Jungen. Wer sich heute die Heimatfilme dieser Jahre, etwa den Förster vom Silberwald im Fernsehen anschaut, bekommt einen Eindruck vom popularisierten Naturgefühl jener Jahre. Walt Disneys Bambi, ein Film des Jahres 1942, erreichte damals das deutsche Kino - ein kulturelles Schlüsselereignis für die Nachkriegsgesellschaft. Das Naturgefühl und das biologische Wissen der Bevölkerung sind gegenwärtig - anders als in den 1950er und 1960er Jahren - wenig differenziert. Es sind vornehmlich Ansichten, die auf Informationen aus zweiter Hand, speziell auf Fernsehsendungen und Zeitungslektüre zurückgehen. Erfahrungen und Beobachtungen prägen hingegen nur das Waldbewußtsein einer Minderheit von Pilzsammlern, Ornithologen, Fotoamateuren und den Mitgliedern der Wandervereine. Unter diesen erfahrenen Waldkennern sind viele aus der Generation der Nachkriegskinder. Wie entsagungsvoll ihre Jugendjahre auch immer waren: Die gemeinsam in der Familie erlebte Natur ist ihnen positiv in Erinnerung geblieben. 5. Heutiges Waldbewußtsein Sind die Deutschen heute tatsächlich noch das Waldvolk, als das sie seit dem 19. Jahrhundert fortwährend bezeichnet werden? Elias Canetti konnte uns noch im Jahre i960 in seinem Buch Masse und Macht den Wald, und zwar den «marschierenden Wald», als Vorbild des Heeres als unser zentrales Massensymbol zuschreiben. Er vollzog dabei noch einen Schritt aus der Ethnologie ins praktische Alltagsleben: «Die Deutschen suchen den Wald, in dem ihre Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlen sich eins mit den Bäumen.»^18 Inzwischen sieht die Realität nüchterner aus. Denn unsere Wälder bleiben selbst an sonnigen Wochenenden weithin «einsam». An einem beliebigen Wochentag sind sie nahezu «menschenleer». Mehr als drei bis vier Baumarten kennt nur eine Minderheit. Jeder Nadelbaum ist für die meisten eine Tanne, auch die Fichte, die zu Weihnachten im Wohnzimmer steht. Das Wissen über Tiere des Waldes artikuliert sich in zeittypischer Weise primär von ökologischen Auffassungen und Befürchtungen her. Denn das ist der Aspekt, der auch in den Fernsehfilmen den Ton bestimmt. Die Waldtiere gelten insgesamt als gefährdete Lebewesen, von denen viele unserer Zeitgenossen vermuten, ihre Kinder oder Enkel würden sie später nur noch im Zoo vorfinden. Der Blick unserer Zeitgenossen in den Wald als «Lebensgemeinschaft» ist weithin mit einer Kritik an der Gesellschaft und ihrem zerstörerischen Umgang mit der Natur verbunden. Fast alle, die sich in einer Befragung zum Waldbewußtsein der Bevölkerung äußerten, verwiesen auf die abträglichen Folgen der Nadelholz-Monokulturen und der Trockenlegung der Feuchtgebiete für die Lebensgemeinschaft des Waldes, speziell für die Lebensbedingungen der Tiere.^19 Meistens werden die Sorgen und die Erfahrungen eines Verlustes von «Natur» ganz in der Tradition der Romantik mit einem Rückblick in eine heile Welt kombiniert, mit mutmaßlich tierliebenderen, naturnäheren Zeiten, glücklichen Tagen, da der Mensch noch mit der Natur und ihren Lebewesen harmonierte - der Wald als Arche Noah und Garten Eden, als ein Paradies, wie es uns in der bildenden Kunst seit dem Mittelalter präsentiert wird. Es ist eine Vorstellungswelt, auf die sich auch die Ikonologie des Sachbuchs und des Tierfilms gern beruft. Fernsehfilme über die Galapagosinseln, wo sich die Tiere unterschiedlichster Art und Lebensweise regelrecht auf die Füße treten, werden manchmal für eine realistische Darstellung der Verhältnisse auch in unseren Breiten gehalten. Und selbst im Sachbuch sind Waldbilder zu sehen, die dem Betrachter gemeinsam und massenhaft Tiere vor Augen führen, die sich draußen sorgfältig aus dem Wege gehen oder fliegen: Rehe, Füchse, Igel, Eulen und Singvögel. Solch eine Manifestation aus dem Fundus einer Ikonologie des Alltags haftet offenbar über die verschiedenen Lebensabschnitte von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinweg sehr nachdrücklich im Gedächtnis. Auf diesem Wege tradieren sich Waldbilder, die in Mitteleuropa zu keiner Zeit die Wirklichkeit realistisch abbildeten. Wer nach dem kulturprägenden Erfolg des Medienwirbels fragt, der sich in den 1980er Jahren um das «Waldsterben» entwickelte, muß sowohl die Wirkung romantischer Bewußtseinsvorgaben wie das geringe Wald-Wissen aus erster Hand - aus Beobachtung und Erfahrung - in Betracht ziehen. Je naturfern-städtischer die Bevölkerung lebte, desto sicherer war sie sich des Verlusts ihrer Wälder und gelegentlich des Untergangs der ganzen Welt. Die Medienberichterstattung erreichte in den städtischen Milieus ihre größte Wirkung. In den «waldnahen» kleinstädtisch-dörflichen Gegenden reagierte die Bevölkerung gelassener. Durch eigene Beobachtung der Natur konnte sie die gängige Prophetie - «Schauen Sie ihn noch einmal an, bald gibt es diesen Wald nicht mehr» - nicht ernst nehmen. Offensichtlich wirkt sich ein Stadt-Land-Unterschied des Bewußtseins in besonderem Maße auf das Naturgefühl aus. Wer den Wandel der Landschaften seiner Umwelt seit seiner Kindheit täglich vor Augen hat, nimmt ihn als einen Teil des eigenen Alltags wahr, das heißt auch, er sieht Landschaft unromantisch als Aufenthaltsort und als Wirtschaftsressource. Wer so lebt, gibt sich selten einer ungebremsten Naturschwärmerei hin und auch nicht der panischen Angst vor dem Verlust des Waldes und anderer Landschaftsformen. Die Waldromantik von ihren Anfängen bis heute ist ein Kind der Stadt geblieben, die Reaktion auf eine naturferne Lebensweise. 6. Schönheitsvorstellungen Ästhetische Vorstellungen zeigen sich als Ausdruck ihrer Zeit. Die Forstästhetik, die als praktische Kulturwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts entstand, berief sich ausdrücklich auf die Schönheitsauffassungen, die aus der Malerei und Dichtung überliefert und durch die Interpretationen von Schriftstellern und Wissenschaftlern verbreitet worden waren. Der Natur- und der Kunstgenuß wurden von Heinrich von Salisch, einem ihrer Begründer, als zwei Aspekte eines allgemeinen ästhetischen Bedürfnisses dargestellt. Der Wald sei den Forstleuten und anderen vielbeschäftigten Zeitgenossen in der Phase der Industrialisierung zugleich Kunstausstellung, Theater und Bibliothek.^20 Der Naturgenuß sollte deshalb gleichberechtigt neben den Kunstgenuß treten. Zum Wald als natürlichem Kunstwerk gehörten nach dieser Auffassung nicht allein die äußerlich sichtbaren Reize, sondern ebenso die Vielfalt der Gerüche und Stimmen, vom Vogelgesang bis zur Eigenmusik; denn der Wald selbst mache sich zum «Stimmorgan des Windes». Um Wälder als Gesamtkunstwerk zu genießen, bedurfte es eines mentalitätsgeschichtlichen Prozesses. Der Wald, der seit dem Mittelalter bis ins ausgehende 18. Jahrhundert als unwirtlich erlebt und als beängstigend gemieden wurde, mußte erst in seiner ästhetischen Qualität entdeckt werden: «Die dichterische Schönheit des Waldes haben die mittelaltrigen Dichter tief genug empfunden; aber ein landschaftliches Auge für denselben gewannen die Menschen erst, als sie aus dem Walde herausgekommen, als sie ihm fremder geworden waren und er selber zu schwinden begann», schrieb Riehl 1850. Was er in einem anschaulichen Bild das «landschaftliche Auge» nannte, war ihm Metapher für den Wandel des ästhetischen Verhältnisses zur Landschaft. «Denn jedes Jahrhundert hat nicht nur seine eigene Weltanschauung, sondern auch seine eigene Landschaftsanschauung.»^21 Die forstästhetischen Prinzipien, die damals entstanden, beeinflussen noch heute den staatlichen und privaten Waldbau, etwa die sorgfältig gestaltete Stufung der Waldaußenränder. Strauch- und Baumarten sollen hier ökologisch und ästhetisch aufeinander abgestimmt sein. Verkehrswege sollen nicht nur wirtschaftlich nutzbar, sondern - als Wander- und «Sonntagswege» - für Familien geeignet sein. Ästhetische Ziele, die den Nutz- und Erholungsfunktionen des Waldes gelten, werden gegenwärtig als gesellschaftlich-politische Vorgaben durchaus gleichrangig neben die wirtschaftlichen und ökologischen Funktionen des Waldes für die Gesellschaft gestellt. Schönheitsvorstellungen sind indes nicht allein Ausdruck ihrer Zeit. Sie unterliegen je nach Lebensalter und Milieu unterschiedlichen Auffassungen. Ein «schöner» Wald sieht für einen Förster, Waldbesitzer, Mountainbiker oder Wanderer jeweils anders aus. Der professionelle Blick der Förster oder Waldbesitzer beurteilt den Wald trotz aller Forstästhetik immer noch primär unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Selbst am Urlaubsort, so gaben Angehörige dieser Gruppen zu Protokoll, interessiere sie an einem Waldstück zunächst einmal die Qualität und Menge des anfallenden Holzes sowie die Infrastruktur für den Holztransport: «Der Besitzer geht in den Wald anders rein. [...] Der hat einen bestimmten Blick für den Wald. Das ist Geschäft. [...] Wann kann ich schlagen? Sind die Wege gut? Kann es abtransportiert werden?», erzählte eine Waldbesitzerin.^22 Förster sind heute zugleich Landschaftspfleger, Ökologen und Ökonomen und erst zuletzt Jäger. Ihr Handeln wird von der Öffentlichkeit beim politisch überlasteten Thema «Wald» sorgfältig beobachtet. Deswegen erscheint die Jagd in ihrem Berufsbild ambivalent. Daß ein Nutzwald neben all seinen Angeboten auch genügend jagdbares Wild enthalten soll, ist öffentlich fast tabuiert. Förster sprechen deshalb mit «Waldlaien» ungern von der Jagd, statt dessen gelegentlich von «roter Arbeit». Und daß die Waldwanderer durch ihre Anwesenheit nicht nur das Wild, sondern manchmal auch den Forstbeamten bei der Jagd stören, ist ebenfalls heikel. Die Erwartungen der Öffentlichkeit hinsichtlich der Erholungsfunktion des Waldes lassen sich mit den herkömmlichen Berufsauffassungen des Forstamtes oft nur schwer vereinbaren. Ein schöner Wald sieht für den «typischen» Spaziergänger und Wanderer wie ein Wohnzimmerbild aus. Jeder kritisiert eine Monokultur aus Fichten, den Forst vom Typ der Heideggerschen «Stangengärtnerei».^23 Immerhin sieht heute noch ungefähr die Hälfte des deutschen Waldes so aus. Als ideal gilt im «durchschnittlichen Waldbewußtsein» ein Mischwald aus Laub- und Nadelhölzern unterschiedlicher Baumgenerationen und Altersklassen, ein Wald nach dem Vorbild einer harmonischen «Lebensgemeinschaft». Dem Muster einer funktionierenden Familie soll er entsprechen, wo Vater, Mutter und Kind einträchtig zusammenleben. In dieser populären Forstästhetik wird also keineswegs der dichte Wald privilegiert, wie er in der Volksliteratur der Sagen geschildert wird, sondern eine offene Landschaft nach den ästhetischen Vorgaben der romantischen Malerei und ihrer Trivialisierung. Eine Waldlandschaft dieses Charakters soll möglichst immer wieder vom Wege aus den Blick freigeben auf ein ansprechendes Panorama. Von zentraler Bedeutung sind in dieser Ikonologie des Alltags die Wege. Denn es ist tatsächlich nur eine Minderheit, etwa Tierbeobachter oder Pilzsammler, die von ihnen abweicht und sich in den tiefen «uferlosen» Wald hineinbegibt. Dieses populäre Bild vom Waldweg ist nicht frei von Paradoxien. Einerseits wird ein romantischer Pfad, garniert mit Moos und blühenden Pflanzen, gepriesen, andererseits werden gerade diese Wege auf einer Wanderung sorgfältig gemieden. Denn es sind Pfade, auf denen man sich allzu leicht verlaufen kann. Die breiten, oft rechtwinklig geordneten Schotterwege, die dem gängigen ästhetischen Wunschbild keineswegs entsprechen, sind es, die bei einem Waldbesuch tatsächlich bevorzugt werden. Denn niemand möchte draußen die Orientierung verlieren. Schließlich wollen die meisten abends wieder zu Hause sein. 8. Symbolwandel Allein die öffentlichen Reaktionen auf das mutmaßliche «Waldsterben» zeigten, daß Wald und Bäume zu den ästhetisch und politisch überlasteten Kulturthemen zählen. Die Schönheit des Waldes hat bis heute ihre Bedeutung als Natursymbol behalten. Wie Meer und Hochgebirge zählt der Wald zu den privilegierten und gepriesenen Landschaftsausschnitten. Das Politische dieses Symbols, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit abenteuerlichen Spekulationen und Identifikationsprozessen verbunden war, beschränkt sich heute fast ausschließlich auf den Aspekt der Umweltpolitik. Waldschäden werden als Verlust von Natur, mithin als Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen wahrgenommen. Diese ökologisch-politische Dimension des aktuellen Waldbewußtseins muß hervorgehoben werden, weil sie mit einer Veränderung der Symbolqualität des Waldes einhergeht. Der militärisch in Reihen ausgerichtete Wald, wie er von Elias Canetti zum Nationalsymbol der Deutschen deklariert worden war, hat gegenwärtig in der Bevölkerung jeglichen Reiz verloren. Fichtenmonokulturen dieses Typs sind ästhetisch und Naturschutzplakat von Robin Wood und dem Satiremagazin Titanic ökologisch eine Zumutung. Nur ein abwechslungs- und artenreicher Mischwald wird gesellschaftlich akzeptiert. Ein «militärischer Wald» kann nach den historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland genausowenig Identifikationssymbol sein wie das Militär. Der Forsthistoriker Hansjörg Küster berichtet von einem Gespräch, das ein Hamburger Buchhändler kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem englischen Verbindungsoffizier führte. Es ging um die Qualität einer Literatur, die bei der fälligen Umerziehung der Deutschen zu Demokraten hilfreich sein könne. Der Buchhändler nannte unter anderem die Märchen der Brüder Grimm und bekam zu hören: «Oh no, that's too much wood.»^24 Das Symbol «deutscher Wald» hat, so läßt sich sagen, seine ästhetische Bedeutung behalten und seine politische Bedeutung verloren. Der Wald ist aufgrund des Mißbrauchs, der mit Symbolen im vergangenen Jahrhundert in Deutschland getrieben wurde, verdächtig geworden. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Eine liberale Gesellschaft mag sich nicht mit einem Naturausschnitt identifizieren, in dem eine Forstbürokratie «selbstherrlich» über das Schicksal von Baumindividuen vom Tage der Pflanzung bis zur Ernte entscheiden kann. Sie identifiziert sich statt dessen vorzugsweise mit anderen Individuen. Der von der Sozialwissenschaft beschriebene Prozeß der Individualisierung als Strukturmerkmal unserer Gesellschaft geht offenbar mit einer Abwertung des Symbols «Wald» und einer Aufwertung der Bäume als Einzelwesen einher. Ein Individuum findet sich lieber in anderen Individuen wieder als in der Masse. In der Esoterik-Szene nimmt diese Sehnsucht gelegentlich extreme Züge an. Was auf unser Thema bezogen als eine Symbolverschiebung - weg vom Massensymbol Wald zu den Individuen hin - zu beobachten ist, kennzeichnet so betrachtet eine allgemeine Entwicklung unserer Gesellschaft. Eines ihrer zentralen Motive ist die Selbstverwirklichung der freien Individuen, ein Leben ohne feste Bindung. Militärische oder bürokratische Ordnung gehören deshalb zu den Horrorvorstellungen. Dieses individualistische Wald- und Baumverständnis ist gewiß auch ein Teilaspekt des Urbanisierungsprozesses, d. h. der räumlichen Entfernung und sozialen Entfremdung von der «Natur». Markante Baumgruppen und -individuen verbinden im städtischen Wohnquartier die subjektive Lebensgeschichte mit der Geschichte der Stadt. In diesem individualistischen Wald-und Baumverständnis kommt außerdem auch ein Aspekt der Internationalisierung unserer Gesellschaft und ihrer politischen Symbolik zum Ausdruck. «Too much wood» hatte der englische Pädagogikoffizier ausgerufen. Dabei konnte er sich auf die Symbolqualität individuell wachsender Bäume in den Kulturen Englands und Frankreichs berufen, auf die kulturspezifische Abneigung vor den dunklen und unzugänglichen Wäldern bei diesen Völkern. Die Internationalisierung unseres Landschaftsverständnisses wird nicht zuletzt durch den Massen-Fern-Tourismus gefördert, der zweifellos auch auf die politische Symbolik zurückwirkt. Das Meer und die Gebirge sind im Wertesystem «jüngerer Leute» modern, der Wald «altdeutsch», «altmodisch». So steht denn auch das Wandern als eine typisch deutsche Form der Fortbewegung bei der Jugend in geringem Ansehen. Der Waldlauf ist heute fast zu einer vergessenen Sportart geworden. Wer das Jogging auf Waldwegen betreibt, bringt das nicht mit dem von Carl Diehm im Jahre 1908 als Sportart eingeführten «Waldlauf» in Verbindung. Gegen neue prestigeträchtige Sportarten mit internationalem Flair, gegen das Beachvolleyball-Spiel und das Surfen im Wasser und auf Schneebrettern haben das «deutsche Wandern» und der «Waldlauf» keine Chance. Albrecht Lehmann Der deutsche Wald Anmerkungen 1 Paper news. Nachrichten und Meinungen zum Thema Papier (Magazin von «Bunte», «Der Spiegel», «Hör zu», «Stern», «TV Hören und Sehen»), Juni 1996, S. 5 f. 2 Dirk Schümer, Das Stadion. Die Bundesliga zwischen Kommerz und dionysischem Ereignis, in: FAZ, 10. 6. 1995. 3 Horst Stern, Am Ende ein Amen, in: Die Zeit, 21.6. 1996. 4 Stichwort «Waldeinsamkeit», in: Jacob und Wilhelm Grimm (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 27, Leipzig 1922, Sp. 1108-1109. 5 Hansjörg Küster, Die Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 1998. 6 Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte, 1. Teil: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme, Berlin 1875, S. 43. Eugen Mogk, Germanische Religionsgeschichte und Mythologie, Berlin/Leipzig ^2i921, S. 31. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, Stuttgart '1894, S. 49. Ebd., S. 57. Ebd., S. 50. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Alltag, München 1985, S. 390-396. Michel Tournier, Der Baum und der Wald, in: Akademie der Künste (Hrsg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987, S. 26 f. Adolf Helbok, Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs, 2 Bde., Berlin/Leipzig 1937, S. 680-691. Anmerkungen und Litemturhinweise 14 Heinrich Rubner, Deutsche Forschungsgeschichte 1933-1945, St. Katharinen 1985, S. 87. 15 Zit. n. Irene Seling, Die Dauerwandbewegung in den Jahren zwischen 1880 und 1930, Freiburg 1997, S. 89. 16 Völker Dahm, Traditionale Einheit und partikulare Vielfalt. Zur Frage der kulturpolitischen Gleichschaltung im Dritten Reich, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 221-265; Jörg Haller, «Wald Heil!» Der Bayerische Waldverein und die kulturelle Entwicklung der ostbayerischen Grenzregion 1883 bis 1945, Grafenau 1995. 17 Hans Waiden, Forstgeschichte der Stadt Hamburg, Hamburg 1995. 18 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg i960, S. 195 f. 19 Albrecht Lehmann, Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek 1999, S. 50-55. 20 Heinrich von Salisch, Forstästhetik, Berlin 1902, S. 58. 21 Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, in: Kulturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart '1896, S. 65-91. 22 Lehmann, Von Menschen und Bäumen (wie Anm. 19), S. 50-55. 23 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 1980. 24 Küster, Die Geschichte des Waldes (wie Anm. 6), S. 8. Literaturhinweise Hansjörg Küster, Die Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München Albrecht Lehmann, Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek 1999. Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000. Deutsche Erinnerungsorte. Herausgegeben von Etienne Francis und Hagen Schulze. München: Beck, 2003. S. 187-200. PUPAVOVý LES Můj dům teď stojí v lese pupav a bodláků. Pan v dálce stéblem třese. Co potýká a pře se, tmou srovná v čabraku. Pupavy trnou bledé, vroubí je černý lem. V kořenech šepot přede: Pan spí a neodejde, když my jej zavinem. Možná, že jeden z květů k čistému spojení mu spadl na rty v letu: můj otče, s tebou jsme tu, spi, synku, v zeleni. To místo leží v lese a vábí světlo k hrám. Tam jezdec nemihne se na jednorožci vřesem — mé srdce bije tam. Loerke Oskar Panova hudba. Výbor z básní Z německých originálů vybral, přeložil a doslov napsal Josef Suchý. Praha: Odeon, 1975. str. 98-99.