Klett Die Generation der expressionistischen Lyriker A J. M 1 Wilhelm Klemm Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv Marbach © < L Alfred Lichtenstein Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv Marbach Oskar Loerke Schiller-Nationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv Marbach Jakob van Hoddis Arche Archiv, Hamburg Georg Trakl Süddeutscher Bilderdienst, München m Klett Die Generation der expressionistischen Lyriker A J. M 2 Aufbruch der Jugend (1913) Die flammenden Gärten des Sommers, Winde, tief und voll Samen, Wolken, dunkel gebogen, und Häuser, zerschnitten vom Licht. Müdigkeiten, die aus verwüsteten Nächten über uns kamen, Köstlich gepflegte, verwelkten wie Blumen, die man sich bricht. Also zu neuen Tagen erstarkt wir spannen die Arme, Unbegreiflichen Lachens erschüttert, wie Kraft, die sich staut, Wie Truppenkolonnen, unruhig nach Ruf der Alarme, Wenn hoch und erwartet der Tag überm Osten blaut. Grell wehen die Fahnen, wir haben uns heftig entschlossen, Ein Stoß ging durch uns, Not schrie, wir rollen geschwellt, Wie Sturmflut haben wir uns in die Straßen der Städte ergossen Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt. Wir fegen die Macht und stürzen die Throne der Alten, Vermoderte Kronen bieten wir lachend zu Kauf, Wir haben die Türen zu wimmernden Kasematten zerspalten Und stoßen die Tore verruchter Gefängnisse auf. Nun kommen die Scharen Verbannter, sie strammen die Rücken, Wir pflanzen Waffen in ihre Hand, die sich fürchterlich krampft, Von roten Tribünen lodert erzürntes Entzücken, Und türmt Barrikaden, von glühenden Rufen umdampft. Beglänzt von Morgen, wir sind die verheißnen Erhellten, Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt, Aus unsern Stirnen springen leuchtende, neue Welten, Erfüllung und Künftiges, Tage, Sturmüberflaggt! Ernst Wilhelm Lotz aus: Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdammerung. rororo 55/56/56a. Hamburg 1959, S. 225. © < MiiraiM Die Generation M 3 Rudolf Kurtz: „Der junge Dichter" (1913) Der junge Dichter muss demolieren: und wenn kein Objekt des Angriffs da ist, wird - eine Tradition seit Jahrhunderten — eine Normalfigur des Bürgers erfunden, der zerfetzt und verhöhnt wird (Beispiel aus letzter Zeit: die jüngste Lyrik erfindet violenhafte Gefühle, blaue Sentiments um Stoff für ihre Attacken zu haben). Der junge Dichter hat nur eine Mission: ruhestörenden Lärm zu verursachen. Die Hochspannungen seiner Seele schwungvoll in die Menschheit zu schleudern — unbekümmert um das Schwanken und Krachen vermorschter Gebeine. (...) Die Stunde ist unwiederbringlich, in der der Dichter jung ist. Was an ihm Defekt ist, macht seine Sendung historisch. Ein brausender Strom, nur um seiner Selbst willen strömend, durch nichts Ungeistiges abgelenkt. Er ersehnt nur die Bewegung in der Welt, in der er den Herzschlag seines eigenen Seins erfühlt. Getragen von dem guten Hass gegen alles, was starr ist: voll brennender Verachtung dessen, was aus Prinzip starr erhalten wird. Hier öffnet sich der Kreis seines Daseins zur weitesten, kräftigsten, notwendigsten Wirkung. Nie wird der Zorn des jungen Dichters strahlender, sichtbar leuchtender, als wenn sein reiner Wille gegen Privilegien prallt: der expressionistischen Lyriker A J. weil das Privileg das Ungeistige in seiner reinsten Gestalt ist, das seinen Sinn nur daher hat, dass es nicht in Bewegung, in Fluss zu bringen ist. (Undenkbar, dass der junge Dichter nicht ein Feind privilegisier-ter Gesellschaftsformen ist.) Es liegt eine höchste Gewähr, eine ewige Versicherung in diesem wundervollen Hass junger Menschen: eine ideale Parole, die weithin in die Welt der Gutgesinnten schwingt. Der junge Dichter bemisst den Wert seines Daseins an der Tiefe des Abscheus, der Erbitterung, die um ihn brodelt und keine Pflicht als diese tritt an ihn heran, jung zu sein, in einer Atmosphäre von Glut und Schauer zu leben, bereit seine bürgerliche Existenz preiszugeben: denn allein die Bewegung ist es, die den Geist zu immer neuen Formen antreibt, die Bewegung ist es, an der der junge Dichter seine Jugend allein erfühlt — den höchst aktiven vorwärts drängenden Wunsch, ruhestörenden Lärm zu verursachen. aus: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Hg. von Thomas Anz und Michael Stark. Metzler Verlag. Stuttgart 1982. S. 361f. Zuerst erschienen in: Die neue Kunst 1. Heft. 25. Juli 1913. S. 1-3. H3 Klett Die Generation der expressionistischen Lyriker Al M4 © < Auszüge aus den Tagebüchern Georg Heyms 23. 4. 1905 (Berlin) Ein Bekannter meines Freundes Ernst Balcke, mir auch gut bekannt, beging Selbstmord. Er war einer der klügsten Menschen, die ich kenne. Er erfand in einsamen Nächten schon ganze mathematische Sätze. Dafür war er in der Schule durchaus ungenügend, trotzdem er seine Mitschüler an Schärfe des Verstandes weit überragte. Ich glaube, diese Schule ist der Verderb jeden Genies. Was wollte ich wohl arbeiten, wenn ich mir meine Lehrer zu allem Guten und Schönen selbst wählen könnte. 6. 7. 1910 (Berlin) Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das Gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nicht, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterlässt. Wenn ich mich frage, warum ich bis jetzt gelebt habe. Ich wüsste keine Antwort. Nichts wie Quälerei, Leid und Misere aller Art. (...) Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der Erste, der sich daraufstellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen. 9. 10. 1911 (Berlin) Eine solche Mischung wie ich ist sicher noch nirgends da gewesen, von rechts wegen müsste das unmittelbar zum Wahnsinn führen. Am liebsten wäre ich, man denke sich, Kürassierleutnant, — heute — und morgen wäre ich am liebsten Terrorist. Und nun denke man sich das nicht etwa fein säuberlich getrennt, sondern wie ein wirrer Knäuel durcheinander. Es hätte für mich nur einen Platz gegeben, wo ich mich wohlgefühlt hätte, ich hätte ein Kaiser sein müssen. Ich habe Talent zur fröhlichsten Kameradschaft, zur dollsten Sauferei, zum Geschwätz mit Weibern, und 5Minuten daraufbin ich totunglücklich, leer, hohl, verlassen — und dann bin ich auf einmal wieder Künstler. - Und nun soll ich mir aus mir ein Bild machen, was für mich das Beste ist. 3. 11. 1911 (Berlin) Einem Literaturhistoriker muss es von großem Interesse sein, später einmal meinen Wegen nachzugehen. Ich glaube, er wird da viel Interessantes finden. Nur eines: Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte. In einer Zeit, wo mir verständige Pflege notwendig war, musste ich alle Kraft aufwenden, um diesen Schuft von mir fern zu halten. Wenn man mir nicht glaubt, so frage man meine Mutter nach meiner Jugend. CD E 3 ŕ d o ^ -Q CD CD j; ■00 o l > iE -*: !- ü JZ CD O CD C ü o CO Q «p X _ ■00 CO O * CD c C3 O 15 BO CD X Q Klett Das Lebensgefühl der Expressionisten A 2 M 1 © < Ludwig Meidner: Ich und die Stadt Ludwig-Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt Klett Das Lebensgefühl der Expressionisten A2 © < M 2 Kurt Pinthus: Die Überfülle des Erlebens (1925) Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder! Trotz sicherlich erhöhter Reizbarkeit sind durch diese täglichen Sensationen unsere Nerven trainiert und abgehärtet wie die Muskulatur eines Boxers gegen die schärfsten Schläge. Wie erregte früher ein Mordprozess [...] die Welt, wie wurde das Schicksal jedes Raubmörders oder Räuberhauptmanns mit fiebernder Spannung von ganzen Nationen verfolgt — während wir heute in einer ganz kurzen Zeitspanne gleich eine Serie von Massenmördern erleben, deren jeder in aller Ruhe mitten in der Öffentlichkeit ein paar Dutzend Menschen abgeschlachtet hat. Man male sich zum Vergleich aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich durchzukämpfen hat, mit der Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von Verkehrsmitteln wimmelnden Straßen, mit Telefon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. Wer heute zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist, hat noch gesehen, wie die ersten elektrischen Bahnen zu fahren begannen, hat die ersten Autos erblickt, hat die jahrtausendelang für unmöglich gehaltene Eroberung der Luft in rascher Folge mitgemacht, hat die sich rapid übersteigenden Schnelligkeitsrekorde all dieser Entfernungsüberwinder, Eisenbahnen, Riesendampfer, Luftschiffe, Aeroplane miterlebt [...]. Wie ungeheuer hat sich der Bewusstseinskreis jedes Einzelnen erweitert durch die Erschließung der Erdoberfläche und die neuen Mitteilungsmöglichkeiten: Schnellpresse, Kino, Radio, Grammofon, Funktelegrafie. Stimmen längst Verstorbener erklingen; Länder, die wir kaum dem Namen nach kennen, rauschen an uns vorbei, als ob wir selbst sie durchschweiften. [...] Vor kurzem noch ungeahnte Möglichkeiten der Elektrizitätsausnutzung, unheilbare Krankheiten, Diphterie, Syphillis, Zuckerkrankheit durch neue Mittel heilbar geworden, das unsichtbare Innere unseres Körpers durch die Röntgenstrahlen klar vor Augen gelegt, all die „Wunder" sind Alltäglichkeiten geworden [...] Was haben wir noch zu erwarten, zu erleben? Vermögen wir uns noch zu wundern? aus: Kurt Pinthus, Die Überfülle des Erlebens. 10 Jahre ununterbrochener Sensationen. In: Friedrich Luft (Hrsg.): Facsimile - Querschnitt durch die Berliner Illustrierte. Scherz Verlag, München, Bern, Wien 1965. Klett Abgrenzungen Impressionismus/ Expressionismus A3 M 1 Claude Monet: Auf der Wiese AKG, Berlin ^ I Jit www.tdett-verlag.de ldett-kundenservice@ldett-mail.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2000. Als Kopiervorlage freigegeben. 1 N) > CT -^ CD N 0"Q CD 3 CD C/> (J) O (f) 3 c: c/> x TD CD C/> (J) O (f) 3 c/> > 00 iy( www.ktett-vertag.de © Ernst K|ett Verlag GmbH, Stuttgart 2000. lieitLndemenrke@klett-tnal.de Als Kopiervorlage freigegeben. M 3 Impressionism us Malerei Expressionismus helle, sanfie Töne Farbe grelle Farben keine Umrisse, verschwommen, Dunstschleier Umrisse starke, plakative Grenzen zahlreiche Details Details wenige, nur grob skizzierte Einzelheiten räumliche Perspektive Raumwirkung nicht perspektivisch, flächig intensive, genaue Wiedergabe des subjektiven Eindrucks Verhältnis Künstler — Objekt der Künstler projiziert sein Gefühl auf das Objekt Eindruck vorgegeben Inhalt/Bedeutung der Betrachter muss den Sinn selbst erschließen harmonisch und beruhigend Wirkung auf den Betrachter/Emotionen wild, unruhig, aufgewühlt Klett Abgrenzungen Impressionismus/Expressionismus A3 M4 Vorfrühling (1892) Es läuft der Frühhngswind Durch kahle Alleen. Seltsame Dinge sind In seinem Wehn. Er hat sich gewiegt, Wo Weinen war, Und hat sich geschmiegt In zerrüttetes Haar. Er ghtt durch die Flöte Als schluchzender Schrei, 1 An dämmernder Röte ü Flog er vorbei. CO Er flog mit Schweigen CO Durch flüsternde Zimmer ■d Und löschte im Neigen Der Ampel Schimmer. Er schüttelte nieder Akazienblüten Und kühlte die Glieder, Die atmend glühten. Es läuft der Frühhngswind Durch kahle Alleen. Seltsame Dinge sind In seinem Wehn. 0) CD C3 Lippen im Lachen Hat er berührt, Die weichen und wachen Fluren durchspürt. Und den Duft, Den er gebracht, Von wo er gekommen Seit gestern Nacht. Durch die glatten Kahlen Alleen Treibt sein Wehn Blasse Schatten. Hugo von Hofmannsthal £ CO o . X O) I-- c O) O tH ■>g M5 Vorfrühling (1914/15) © < Pralle Wolken jagen sich in Pfützen Aus frischen Leibesbrüchen schreien Halme Ströme Die Schatten stehn erschöpft. Auf kreischt die Luft Im Kreisen, weht und heult und wälzt sich Und Risse schlitzen jähhngs sich Und narben Am grauen Leib. Das Schweigen tappet schwer herab Und lastet! Da rollt das Licht sich auf Jäh gelb und springt Und Flecken spritzen — Verbleicht Und Pralle Wolken tummeln sich in Pfützen. August Stramm CD . E *-E ^ ü ^ CD XM) ■oi i CO (c ^ CD CO co I & £ cool Lß ť Iß = Lß I Jit www.tdett-verlag.de ldett-kundenservice@ldett-mail.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2000. Als Kopiervorlage freigegeben. M6 Impressionismus Dichtung Expressionismus lyrisch klagende Sprache Sprache bilderreiche, krasse Sprache Wortneuschöpfungen ruhige, sanfte Bildfolgen Bilder Aneinanderreihung extremer Bilder teilweise unverständliche Verbindungen Weg des Windes durch die menschliche Welt und die Natur Inhalt Ausbruch eines Unwetters der Dichter verfolgt den Weg des Windes, macht Momentaufnahmen Verhältnis Dichter — Objekt der Dichter nimmt Natur geschehen zum Anlass, über Gefühle zu sprechen ausgeglichen, harmonisch, ruhig Emotionen sehr emotional, aggressiv, brutal > CT -^ CD z N z 0"Q CD z CD C/> C/> o' z tri 3 a c/> X TD —■* CD C/> C/> o' z tri 3 c/> > CO Klett Weltende A4 M 1 Johannes R. Becher: Über Jakob van Hoddis Meine poetische Kraft reicht nicht aus, um die Wirkung jenes Gedichtes wiederherzustellen, von dem ich jetzt sprechen will. Auch die kühnste Phantasie meiner Leser würde ich überanstrengen bei dem Versuch, ihnen die Zauberhaftigkeit zu schildern, wie sie dieses Gedicht „Weltende" von Jakob van Hoddis für uns in sich barg. Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wussten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. [...] Aber wir waren durch diese acht Zeilen verwandelt, gewandelt, mehr noch, diese Welt der Abgestumpft- heit und Widerwärtigkeit schien plötzlich von uns — zu erobern, bezwingbar zu sein. Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren. Wir fühlten uns wie neue Menschen, wie Menschen am ersten geschichtlichen Schöpfungstag, eine neue Welt sollte mit uns beginnen, und eine Unruhe, schworen wir uns, zu stiften, dass den Bürgern Hören und Sehen vergehen sollte [...] wir waren auch körperlich gewachsen, spürten wir, um einiges über uns selbst hinaus r...i aus: Zur Literatur unserer Epoche. Kunst. Berlin 1962, S. 167. In: Uber Literatur und ä? M 2a Weltende (1911) Dackdecker stürzen ab und gehn entzwei Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. Und an den Küsten — liest man — steigt die Flut. An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. © < Jakob van Hoddis aus: Jakob van Hoddis, Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. © 1987 by Arche Verlag AG, Raabe + Vitali, Zürich. Klett Weltende A 4 M 2 b Weltende (1911) Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dackdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten — liest man — steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. Jakob van Hoddis aus: Jakob van Hoddis, Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nortemann. © 1987 by Arche Verlag AG, Raabe + Vitali, Zürich. M 3 Weltende (1905) Es ist ein Weinen in der Welt, Als ob der liebe Gott gestorben war, Und der bleierne Schatten, der niederfällt, Lastet grabesschwer. Komm, wir wollen uns näher verbergen... Das Leben liegt in aller Herzen Wie in Särgen. Du! wir wollen uns tief küssen -Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, An der wir sterben müssen. Else Lasker-Schüler aus: Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke. Hrsg. von HiedheIm Kemp. Kosel-Verlag, München 1959. I *& www.tdett-verlag.de ldett-kundenservjce@ldett-mail.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2000. Als Kopiervorlage freigegeben. ÍS S: £o I > I* P CO < to to to CO CD i—h CD Q. CD > Klett Der weibliche Expressionismus A 5 Ml © < AKG, Berlin, VG Bild-Kunst 1999 H Klett Der weibliche Expressionismus A 5 M 2 Die fremde Stadt (1919) Ging mir die ewige Seligkeit verloren. — Oh Engelstimmen, oh Gesang der Harfen, Gebetshauch, Palmenduft, oh Flügelwehn! — Der Himmel ist aus viel Zement gemauert, Sehr nah. Und grell mit Tünche übermalt Von jenem Blau, das Litfasssäule strahlt; Aus Winkeln, dumpf und schwer, Verhängnis lauert, Ich stoße mich an fest verrammten Toren, Ich starre rings in tausend Schreckenslarven, Ich bin so müd, und darf nicht schlafen gehn. Und Ecken starren, oh so todumschauert, — Klippen, — ich Woge, jähhngs dran zerschellt, Bis mich die Flut zerschmettert weiterwellt. In diesem Autopfiff, der Nächte überdauert, ->«S Die fremde Stadt (1919) Der Himmel ist aus viel Zement gemauert, Sehr nah. Und grell mit Tünche übermalt Von jenem Blau, das Litfasssäule strahlt; Aus Winkeln, dumpf und schwer, Verhängnis lauert, Und Ecken starren, oh so todumschauert, — Klippen, — ich Woge, jählings dran zerschellt, Bis mich die Flut zerschmettert weiterwellt. In diesem Autopfiff, der Nächte überdauert, Ging mir die ewige Sehgkeit verloren. — Oh Engelstimmen, oh Gesang der Harfen, Gebetshauch, Palmenduft, oh Flügelwehn! — Ich stoße mich an fest verrammten Toren, Ich starre rings in tausend Schreckenslarven, Ich bin so müd, und darf nicht schlafen gehn. Maria Luise Weissmann Maria Luise Weissmann © < Geb. 20. August 1 899 in Schweinfurt, gest. 7. November 1929 in München. Tochter eines Gymnasialprofessors. Während des Ersten Weltkriegs Übersiedlung nach Nürnberg. 1918 erste dichterische Publikationen im Fränkischen Kurier, Sekretärin des Nürnberger literarischen Bundes', Mitarbeiterin des Verlags Oskar Schloss in München. Veröffentlichte 1919-1922 Gedichte in den Zeitschriften Der Weg, Die Sichel, Der Anbruch und Die Flöte. Heiratete im Juni 1922 den Verleger Heinrich RS. Bach-mair, mit dem sie in Pasing b. München, Dresden und München lebte. Starb an den Folgen einer schweren Angina. Bibliografie: Das frühe Fest. Gedichte. Pasing b. München 1922; Robinson. Eine Dichtung. Pasing b. München 1924; Mit einer kleinen Sammlung von Kakteen. Sechs Sonette. Hamburg, München 1926; Paul Verlaine: Les Amies. Sonnets/Paul Verlaine: Freundinnen. Midillü (München) 1927; Pierre Louys: Mytilenische Elegien. Nachdichtungen. München 1931; Gesammelte Dichtungen. Pasing 1932; Imago. Ausgewählte Gedichte. Starnberg 1946; Gartennovelle. Sacking 1949 In: Der Weg, 1919, H. 10, S. 10 aus: ,,ln roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod". Lyrik expressionistischer Dichterinnen. Hrsg. v. Hartmut Vollmer. Zürich: Arche Verlag 1993. M 3 Die erste Freude (1919) (Für J.C.) Schenkel platzen aufgepeitscht Durch Nächte. In sich zusammen. Sie liegen Wollust in Wollust Und leuchten Mit nie erwachten Augen. Musik flüstert. Sie jauchzen an Körpern entlang Streicheln in Geilheit Tanz. rieben sich blühend Vorbei Zum Tod. Sylvia von Harden In: Die Rote Erde, Jg. 1, H. 4/5, September/Oktober 1919, S. 132 Text und Lebensdaten aus: ,,ln roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod". Lyrik expressionistischer Dichterinnen. Hrsg. v. Hartmut Vollmer. Zürich: Arche Verlag 1993. Sylvia von Harden Geb. 28. März 1894 in Hamburg (Rotherbaum), gest. 4. Juni 1963 in Croxney Green, Rickmansworth/England. Mädchenname: Sylvia von Halle. Tochter einer Holländerin und eines Hamburger Kaufmanns. Lebte nach Aufenthalten in München und Zürich in Berlin, wo sie journalistisch tätig war. 1915-1921 enge Freundschaft mit Ferdinand Hardekopf. Heiratete 1922 J.C. Lehr. Zählte zu den Künstlerkreisen des ,Romanischen Cafes' (berühmtes Porträt von Otto Dix 1926). Floh in den dreißiger Jahren in die Schweiz, emigrierte dann über Italien nach England. Bibliografie: Verworrene Städte. Gedichte. Dresden 1920; Die italienische Gondel. Gedichte. Berlin-Charlottenburg 1927; Das Leuchtturmmädchen von Longshine. Erzählung. Kassel 1958. Der weibliche Expressionismus A 5 M 4 Bitte (1919) Kleine Kerze, dein schwaches Licht, Gib es verstehend In rieselnden Klagen. Wund kriechen die Sorgen Um meine Füße, Die Not umlagert Fenster und Türen — Kleine Kerze, du zartes Lichtlein, Lösche, o, lösche nicht aus. Freundlos stehe ich wartend Im zitternden Neigen brechender Wünsche, Ins All geworfen, In Todeseinsamkeit — frierend und bangend — Fass' ich dein Licht, kleine Kerze, Schmelzend verringert dein winziges Stümpflein — O, kleine Kerze, mein letztes Fassen Greift in dein Licht. Der Raubtierrachen der Dunkelheit Lauert vor meinen Fenstern Will mich fassen — mich — mich — mich fassen O, kleine Kerze, lösche, lösche nicht aus. Dein Licht ist die letzte Freundestat, Die schützend mich streift Ich trink' deine Flamme, Verschmachtend, verdurstet — Gib Licht mir, Kraft und Vergessen. Die Dunkelheit frisst mich mit Raub tie rz ahnen Die Schmerzen wachsen ins Uferlose — Erna Gerlach In: Die Rote Erde, Jg. 1, H. 6, November 1919, S. 174ff. Text und Lebensdaten aus: ,,ln roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod". Lyrik expressionistischer Dichterinnen. Hrsg. v. Hartmut Vollmer. Zürich: Arche Verlag 1993. Erna Gerlach Lebensdaten nicht bekannt. Zählte zum Kreis des Hamburger Expressionismus; veröffentlichte ab 1919 Lyrik und Prosa in den Zeitschriften Die Rote Erde, Die Sichel, Das junge Deutschland und Kündung. HC Klett Kinostil A6 M 1 Vorschlag für eine Phantasiereise © < Es ist ein angenehmer Spätsommernachmittag. Du bist übers Wochenende in die nächste Großstadt gefahren, um Freunde zu besuchen. Du hast sie aber nicht angetroffen; irgendetwas ist dazwischen gekommen. Du weißt nichts Rechtes mit dir anzufangen, langweilst dich, willst aber auch nicht wieder zurückfahren. Ein plötzlicher Regenschauer zwingt dich ins Trockene. Kein Café ist in Sicht, für die Kneipe ist es dir noch zu früh. Da entdeckst du an der Straßenecke ein kleines Kino, in das einige Leute gehen — der Film scheint gerade erst anzufangen. Du überlegst nicht lange, folgst ihnen und merkst erst an der Kasse, auf was du dich eingelassen hast: ein steinalter Film aus der Stummfilmära. Schon willst du wieder aus dem Kino flüchten, weil dich das nun wirklich nicht reizt. Aber besser, als draußen nass zu werden, ist es allemal. Außerdem gibt es Live-Musik, ein Pianist spielt die Begleitmusik zum Film. Du setzt dich also in den nur mäßig besuchten Kinosaal. Die Sitze sind weich, es riecht nach Staub und verbrauchter Luft, du wirst angenehm schläfrig, versinkst langsam in deinen Platz und lässt deiner Phantasie freien Lauf. Das Licht geht aus, und du fühlst dich in der Welt um die Jahrhundertwende zu Hause. Du kannst die Menschen um dich verstehen, die auf eine Sensation lauern: den thrill bewegter Bilder, fremder Welten, unerhörten Geschehens. Alles ist neu für dich, gespannt wartest du darauf, was dir begegnen wird. Es beginnt abenteuerlich: Offensichtlich spielt der Film irgendwo in Südost-Asien, Indien vielleicht — das Land der Maharadschas, von Elefanten und Krokodilen, Palmen, Brahmas und heiligen Flüssen... Vor dieser exotischen Kulisse aber spielt sich eigentümlich Bekanntes ab. Du kennst es von den Fünf-Groschen-Romanen, die du auf dem Weg zur Arbeit verschlingst, um die Zeit tot zu schlagen: ein Familiendrama voll Eifersucht, Verführung junger Mädchen, Maskenbällen... Auf dem Höhepunkt ein Duell, in dem es um Kopf und Kragen geht. Der Pianist gibt sein Bestes, um die Leidenschaften seines Publikums anzuheizen: harte Töne vor dem Duell, romantische Melodien bei den Liebesszenen. Er spielt sein ganzes Register herunter. Ein harter Schnitt zum zweiten Film; nach der Unterhaltung das Bildungsprogramm: ein Dokumentarfilm. Er zeigt die Welt der Alpen, das karge, mühsame Leben einer Almbäuerin, die durch einen Hochwald ins Gebirge steigt. Unter ihr in der Tiefe liegen Kartoffeläcker, weiden Kühe. Nichts verbindet den ersten mit dem zweiten Film; Szene auf Szene folgt unvermittelt — der Sinn des Ganzen bleibt dir verborgen. Trotzdem bist du fasziniert, richtig geil auf den nächsten Film - vielleicht am kommenden Wochenende, wenn das Geld reicht? Nur die Luft — gähnend stehst du auf, als das Licht langsam wieder angeht. Du brauchst einige Sekunden, um dich aus deiner Verwirrung zu lösen und in der eigenen Gegenwart zurecht zu finden. Stolpernd verlässt du den Kinoraum und gehst an die frische Luft. Immerhin: es regnet nicht mehr. Klett Kinostil A6 M 2 Kinematograph (1910) Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. Man zückt Revolver. Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf, Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Alplerin auf mächtig steilem Wege. Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder. Und in den dunklen Raum — mir ins Gesicht — Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht — Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie. Jakob van Hoddis aus: Jakob van Hoddis, Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. © 1987 by Arche Verlag AG, Raabe + Vitali, Zürich. M 3 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker (1912) © < Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit und Präzision hat ,die Fülle der Gesichte' vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz; man erzählt nicht, sondern baut. Der Erzähler hat eine bäurische Vertraulichkeit. Knappheit, Sparsamkeit der Worte ist nötig; frische Wendungen. Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe, Durcheinander in bloßen Stichworten; wie überhaupt an allen Stellen die höchste Exaktheit in suggestiven Wendungen zu erreichen gesucht werden muss. Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen, sondern wie vorhanden. Die Wortkunst muss sich negativ zeigen in dem, was sie vermeidet, ein fehlender Schmuck: im Fehlen der Absicht, im Fehlen des bloß sprachlich Schönen oder Schwunghaften, im Fernhalten der Manieriertheit. Bilder sind gefährlich und nur gelegentlich anzuwenden; man muss sich an die Einzigartigkeit jedes Vorgangs he- ranspüren, die Physiognomie und das besondere Wachstum eines Ereignisses begreifen und scharf und sachlich geben; Bilder sind bequem. Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden. Oder der Fanatismus der Entäußerung: ich bin nicht ich, sondern die Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis, weiter nichts. Das ist es, was ich den steinernen Stil nenne. Der Naturalismus ist kein historischer Ismus, sondern das Sturzbad, das immer wieder über die Kunst hereinbricht und hereinbrechen muss. Der Psychologismus, der Erotis-mus muss fortgeschwemmt werden; Entselbstung, Entäußerung des Autors, Depersonation. Die Erde muss wieder dampfen. Los vom Menschen! Mut zur kinetischen Phantasie und zum Erkennen der unglaublichen realen Konturen! Tatsachenphantasie! Der Roman muss seine Wiedergeburt erleben als Kunstwerk und modernes Epos. aus: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Ausgewählte Werke in Einzelbänden, in Verbindung mit den Söhnen des Dichters hrsg. von Walter Muschg. © 1963 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich, S.15-19. Klett Zusammenfassung A7 M 1 Expressionistische Lyrik - Zusammenfassung Anti-bourgeois schockierende Bilder Vatermord Sprach-zertrüm merung Bedrohung Überlegen- Protest Aufruhr Reihungs-stil „Ästhetik des Einsam- Hässlichen" keit Arbeit/ Technik Weltende Angst Arroganz Ich-Orientierungs- Dissozia-losigkeit tionen teilweise Wort-Neu-schöpfungenj Auflösung der Syntax Krieg Revolution Großstadt/ „Hure Babylon" starke Metaphern Chiffren Farbsymbolik