Kurt Pinthus (1886-1975) Nachklang (Berlin, April 1922) Dies Buch, im Herbst 1919 zusammengefügt, fand rasch die Anteilnahme der Zeit, deren Ausgeburt es darstellt. Schnell mußten die Auflagen aufeinander folgen..., und jetzt, fast drei Jahre später, im Frühling 1922, da es gilt, das zwanzigste Tausend der vorzubereiten, erhebt sich die Frage, ob ich das Werk umarbeiten soll: Vermodertes herausstoßen, Später-Entstandenes einkomponieren, neue Motive erklingen machen, andere Gruppierung, anderen Aufbau anstreben. Ich entschloß mich, das Werk unverändert zu lassen. Nicht nur, weil die Beurteiler aller Gesinnungen und Richtungen äußerten, daß der Hauptwert dieses Buches in seiner Einheitlichkeit, in seiner symphonischen Wirkung bestünde; nicht nur, weil man - was beabsichtigt war - fühlte, daß hier ein geschlossenes Dokument für das aufgewühlte Gefühl und die dichterische Ausdrucksform einer zeitgenössischen Generation vorlag. Sondern, unsere Zeit und Dichtung kritisch betrachtend, muß ich einsehen, daß die nicht nur ein geschlossenes, sondern ein abgeschlossenes, abschließendes Dokument dieser Epoche ist. Klar herausgesagt: es ist, nach Abschluß dieser lyrischen Symphonie nichts gedichtet worden, was zwingenderweise noch in sie hätte eingefügt werden müssen. Wer, abstreifend den revolutionären Furor, offenäugig in die Gegenwart blickt, weiß, daß diese Jahre bedeutsamer sind im Zusammenbruch des Alten als im Erwachen des Neuen, gleichviel ob wir von den Geschehnissen im Politischen, im Gemeinschaftsleben, im Wirtschaftlichen oder in der Kunst sprechen. Freilich: Es geschieht viel..., aber was geschieht, sind nur die Auflösungsvorgänge der langsam, aber unaufhaltsam zusammenstürzenden Vergangenheit Europas. Was uns als neu und verwirrend gilt, sind stets nur die konzentriert und übersteigert sich zu Tode hastenden Elemente des Alten. Die Fundamente der wirklichen Zukunft sind noch nicht ersichtlich. Das gilt auch im Bezirk der Kunst. Was hier so neuartig und trächtig schien, waren im wesentlichen Zerstörungsformen des Alten, vom gestaltauflösenden Kubismus der Malerei bis zur ekstatischen Ein-Wort-Lyrik. Mochten die Künstler selbst fühlen, daß ihr Werk mehr oppositionell als schöpferisch war, oder geschah es, daß ihre Kraft nicht ausreichte, Reifes, Zukunftswertiges zu schaffen - es ist bereits zehn Jahre nach dem gewaltigen und gewaltsamen Aufbruch dieser Jugend eine allgemeine Stagnation in den Gefilden der Kunst festzustellen. Von den dreiundzwanzig Dichtern dieses Buches sind sieben nicht mehr unter den Lebenden. Die anderen haben in den letzten Jahren entweder überhaupt nichts Wesentliches mehr geschaffen, oder jedenfalls nichts, was über das bisher Geleistete als neu oder qualitativ besser emporragt. Sie wiederholen sich oder tasten qualvoll weiter. Selbst wenn man, nüchtern-sachlich gesprochen, die unheilvollen Zustände in Betracht zieht, die dem Dichter und dem Verleger die Produktion unendlich erschweren, muß man den Mut haben, zu sagen, daß die junge Dichtung unserer Zeit fruchtlos und unfruchtbar zu werden droht. Was von der kleinen Schar dieses Buches zu sagen ist, das gilt in verstärktem Maße von der großen Menge der mitlebenden Dichter. Viele sind gestorben..., viele sind im bürgerlichen Leben verschollen, aufgesaugt vom praktischen Beruf oder skeptischen Müßiggang..., und die Unzahl der anderen begnügt sich damit - bald blasser, bald überreizter -, das zum tausendsten Male zu stöhnen, zu stammeln, zu schreien, was die Führenden bereits im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in ihren Büchern niedergelegt haben. Schon muß ich mit Bewußtsein feierlich sagen «niedergelegt haben», denn schneller als jede andere Generation ist diese in die Literaturgeschichte eingegangen, ist historisch geworden; zum Paradigma, zum Schema sind für die Nachfolgenden ihre Gedichte erstarrt. Frühzeitig erstarb die Dichtung dieser Jugend, denn weder die voranschreitenden noch die nachrückenden Dichter vermochten dies Werk weiterzuführen. Es scheint für Deutschland ein geistiges Gesetz zu sein, daß jede künstlerische Bewegung alsbald eine Reaktionsbewegung wachruft, denn schon beginnen Bestrebungen zu triumphieren, die klassischen und romantischen Vorbildern folgen. Manchem Leser wird dies Buch, dessen Dichtung als Fanfare und Fanal gewollt war und für kurze Zeit auch so wirken konnte, bereits als ein Herbarium erscheinen. Es ist wahr: manches ist für immer tot..., manches zündet nicht mehr..., manches ist Übergang und Wirrsal..., einiges jedoch ist so vollendet und schön, wie es nur einmal gedichtet werden kann..., manches Gute ist schon in die Lesebücher übergegangen. Alles aber ist Zeugnis für die Glut einer inneren und äußeren Bewegung, die fast gänzlich wieder erloschen ist. Die Glut dieser Generation hatte sich aus Opposition gegen das Gewesene, Verwesende entzündet und konnte für Augenblicke in die Zukunft leuchten, aber nicht die Menschheit zur großen Tat oder zum großen Gefühl entflammen. So ist, nochmals sei es gesagt, dies Buch, mehr als ich beim Zusammenfügen ahnen konnte, ein abschließendes Werk geworden - und deshalb soll es bleiben, wie es damals war: ein Zeugnis von tiefstem Leid und tiefstem Glück einer Generation, die fanatisch glaubte und glauben machen wollte, daß aus den Trümmern durch den Willen aller sofort das Paradies erblühen müsse. Die Peinigungen der Nachkriegszeit haben diesen Glauben zerblasen, wenn auch noch der Wille in vielen lebt. Von der kleinen lyrischen Schar dieses Buches blieb nichts als der gemeinsame Ruf von Untergang und Zukunftsglück. Und dennoch beginnen schon einige, wie, neben Däubler und Else Lasker-Schüler, der tote Heym und der lebende Werfel über die Zeit hinauszuragen. Mächtig, doch nicht allmächtig haben die Ereignisse eines Jahrzehnts die Seelen, Geister und die äußeren Lebensumstände der Zeitgenossen zerpflügt. Aber die große allgemeine neue Dichtung, von vielen als Stab und Weiser ersehnt, ist nicht entsprossen, weder den Nachkommen des alten Bürgertums, noch den anrückenden Massen der Proletarier, weder dem Glanz der über die Erdoberfläche hemmungslos schweifenden Neubeglückten, noch der Qual des neugewordenen Proletariats. Im Dunkel der Jugend, die jetzt aufwächst, sind kaum einige Lichtlein für die Dichtung zu erblicken. Lasset uns deshalb verehrende Erinnerung der Dichterschar wahren, die Großes und Zukunft enthusiastisch zumindest gewollt hat und zuversichtlich glaubte, Erste einer neuen Menschheitsepoche zu sein. Man verhöhne sie nicht und beschuldige sie nicht, daß sie nur aufrührerische Letzte gewesen seien, die sich von der Untergangsdämmerung hinweg zum Glühen vermeintlicher Morgendämmerung wandten, aber erlahmen mußten, bevor sie an der Spitze ihrer Zeitgenossen gereinigt ins Licht treten konnten. Aus: Menschheitsdämmerung, Reinbek 1959 Schuhmann, Klaus. Lyrik des 20. Jahrhunderts: Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995. ISBN 3 499 555506. S. 116–118. Walter Höller er (geb. 1922) Nach der Menschheitsdämmerung Notizen zur zeitgenössischen Lyrik Mit Trakl und mit den Dichtern um 1910 ist eine dichterische Konzeption erschienen, die dem, was man bislang von einem Gedicht erwartete, widerspricht. Diese schockierende Sprachbewegung hatte sich aber in der abendländischen Literatur schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt: in den Jahren 1856 und 1857, den Erscheinungsjahren des von Walt Whitman und der von Baudelaire. Die Literaturen des Abendlandes, einschließlich der slavischen, nord- und ibero-amerikanischen rücken seitdem eng zusammen. Die , diese von Kurt Pinthus 1920 herausgegebene zusammenfassende Gedichtsammlung der Generation des ersten Weltkrieges, zeigt, wie jene Generation, als sie ihre eigene Gegenwart selbständig aussprach, mitten in dieser abendländischen Bewegung stand. Zwar finden sich bereits im Vorwort der zweiten Auflage, 1923, Sätze, welche die Epoche dieser Gedichte, «den Expressionismus», als etwas Abgeschlossenes bezeichnen. Heute sehen wir aber, daß der Expressionismus, wie die anderen -ismen des 20. Jahrhunderts, keine isoliert dastehende Kabine, die kein verriegelnder Abschluß war. Alle diese durch Programme und Manifeste verschieden benannten Gruppen versuchten das Gedicht zu schaffen, dem andere Erfahrungen und ein anderer Kristallisationsvorgang zugrunde liegen als die poetischrealistische Umwandlung, oder «Verinnerung» eines Erlebnisses, d.h. einer für selbstverständlich hingenommenen Wirklichkeit. Die Staatsverskunst des Dritten Reiches konnte diesen Vorgang äußerlich wohl hemmen, ihn aber nicht überholen. Ist es wahr, daß die Lyrik unserer Tage beim Expressionismus anknüpft? - Insofern wohl, als sie weiterhin in der seit Baudelaire lebendigen abendländischen Bewegung steht und damit auch durch die Sprache der hindurchgegangen ist. Bestimmte Wesenszüge dieser Gedichtsammlung gehören zu den Merkmalen der neuen abendländischen Lyrik seit ihrem Beginn. Dazu zählt das scharfe Anblenden der Nähe, das zu einer offenen Ferne hinreißt, und das Aushalten von Spannungen. Gerade diese Merkmale gaben sich nicht als abrupt Neues, sondern ruhten auf der großen Dichtung der Vergangenheit auf. So beantwortet sich die Frage, wie eine Anknüpfung daran in der veränderten Situation möglich und berechtigt sei. - Andere Züge hingegen, und zwar die programmatischen, das Pathos der Weltverbesserung, Sturz und Schrei, Aufruf und Empörung erscheinen entweder als Relikte des Pathos hohen Stils oder im Thema zeitgebunden. Ein Gedicht, in dem programmatische und andere inhaltlich leicht faßbare direkte Aussagen nicht gemacht werden, ist für den Leser noch schwerer nachzuvollziehen. Der Verruf der Unverständlichkeit mußte sich also nach der verstärken, der Vorwurf der Disharmonie ist geblieben. Die Vorwürfe richten sich nicht gegen eine bestimmte Generation. Sie treffen die Dichtung sowohl der älteren als auch der jungen Dichter unserer Zeit. Es könnte selbst die eifrigsten Reformatoren vorsichtig machen, daß die modernen Gedichte nicht Zufallsprodukte einzelner sind, sondern daß sie in der europäischen Literatur seit nunmehr hundert, in der deutschen seit guten fünf zig Jahren sich immer wieder mit diesen «negativen» Merkmalen zeigen; daß die künstlerisch gelungenen Gedichte diese Merkmale tragen; daß dort, wo mit Willensanstrengung versucht wurde, sie hinwegzureglementieren, wesentliche Kunstwerke nicht entstanden. Die abendländische Lyrik seit Baudelaire scheint die gewohnte Wirklichkeit abtragend zu deformieren. Damit dringt das Erschreckende und das Häßliche, die Disharmonie ins Gedicht ein. Warum aber dichten die Dichter nicht harmonisch? Warum geben sie nicht geschlossene Synthesen und kehren nicht zurück zu einer Dichtungsart, in der doch unbestreitbar große Meisterwerke geschaffen worden sind ? Hugo von Hofmannsthal hat in mehreren Aufsätzen zwischen den Jahren 1901 (Ein Brief) und 1917 (Raoul Richter) über Voraussetzungen und Merkmale dieser Wandlung in der Lyrik gesprochen. Eine bisher zusammenhängende Wirklichkeit erscheint zersplittert in unzählige Einzelheiten: «Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.» An der Zersplitterung aber entzündet sich ein anderer Erlebnisvorgang. Ein belangloser Einzelgegenstand, eine Bruchstelle der Scherben gleichsam, kann einen Augenblick wachrufen, der die gewohnten Grenzen sprengt. Es wird spürbar, daß etwas über die geläufigen Ausdrucksformeln hinaus vorhanden ist. Es sind Ausblicke aus einer geschlossenen, eng begrenzten Zelle wie durch Ritzen auf etwas Ganzes und Ungetrenntes hin. Ist dieses direkt nicht Formulierbare einem anderen, dem Leser überhaupt verständlich zu machen? Nur dann wird es ihm verständlich, wenn er selbst diesem Erlebnisvorgang nahesteht. Jeder wird ein solches Gedicht in sich selbst neu vollziehen müssen. - Diese Augenblicke mit den geläufigen Mitteln zu beschreiben ist nicht möglich. Es werden Zeichen aufgerichtet für diesen Moment . Die Zeichen dürfen nicht in einem Verhältnis von vordergründiger Erscheinung und hintergründiger Bedeutung aufgefaßt werden; sie dieser Augenblick. Durch solche Vorgänge wird die Entfernung der lyrischen Sprache von der Sprache des Gedichtes im 19. Jahrhundert verständlich. Sie beruht auf anderen «Erlebnis»-Voraussetzungen und auf einem anderen lyrischen Schaffensprozeß. Daß die Lyrik im 20. Jahrhundert höchstens auf diesem Wege noch sagen konnte, was ist, bestätigte sich an den Dichtern der , deren Gedichte nur dort gelangen, wo Erlebnis und Sprache in dieses unmittelbare Verhältnis zueinander traten. Das bestätigte sich auch in der Situation von 1945, wo sich die Wirklichkeit der Übereinkunft und der Programme und ihre Wichtigkeit als Unwirklichkeit erwiesen. Damit wurde die Nichtigkeit jeder lyrischen Aussage, die in diesem Karussell verstellender Formulierungen verharrt, offenbar. Was je wieder abfallen konnte an Hüllen und ungültigen Gespinsten: Verbrämungen, Beschwichtigungen, Verniedlichungen[,] Scheintrosten, Scheinmonumentalität, Scheinpathetik wollte man aus dem Gedicht fernhalten. Das notwendige Gedicht beschränkt sich auf die engste Materie und sucht dort, ohne programmatische Verkündigung, etwas zu sein, als Dichte und erfüllte Gestalt. Das verlangt einen konzisen, seismographisch reagierenden Ausdruck, ein «Treffen» mit knappen Mitteln. Es verlangt die nächste Nähe zu den Dingen, das Vergessen der Dinge und das Wiederheraufholen. (Nicht mehr zu übersehen ist eine Correspondance mit chinesischen und japanischen Versen.) Die sprachliche Einstellung auf den lyrischen Augenblick zeigt sich in Erscheinungen, von denen ich im folgenden nur wenige herausgreife: die Überkreuzung von Nächstem und Abstraktem im Wechsel der Perspektiven; das Abstimmen von Worten und Bildern durch ihre Nachbarschaften; den Ausschnitt; befremdliches Ausweiten, Einengen oder Umwerten grammatischer Beziehungen. - Diese Verfremdungen durchbrechen die gewohnte Sprache in der Intention auf den offenen lyrischen Augenblick hin. Mehr und mehr läßt sich dabei die Lyrik durch knapp und straff gegliederte Formen ähnlicher Art im Roman und im Drama bestätigen. Im Gedicht finden sich Bildelemente, die untereinander in Spannungen stehen. Diese Spannungen scheinen wichtiger zu sein als das bloße Bildermachen. Sie bewirken das In-die-Mitte-Treffen, viel mehr als die Bilder es vermögen. In den Strängen der Stille hängen die Glocken (Bachmann); Meere -Eros der Ferne (Benn); Der Vogel meiner Sehnsucht sitzt auf deiner Schulter (Bender); Soviel Himmel hat Baal unterm Lid (Brecht); Schwarze Milch der Frühe (Celan); Nun glänzen die Türme im Morgenglück (Britting); Hab ich die Einsamkeit, die lauernde, im Visier (Eich); Meine Lust ist verteilt an blaue Falter (Goll); Dazwischen das weiße Entsetzen des Augenblicks,/das aus einer schirmlosen Glühlampe brach (Holthusen); Amboß der Nacht (Huchel); Begrünung, von Vergessen schwer (Krolow); Kein Messer schneidet den Schlaf der Erde (Lehmann); Ihrer großen klugen Ohren/Schlaf durchhallt das Meergebraus (Loerke); Herzschlag der Furcht (Piontek); Im Urwald aus Schlaf (Sachs). Soviel diese Überkreuzungen von Gegenständlichstem und Abstraktestem, diese supranaturalistischen Versuche, nicht nur eine gegebene Wirklichkeit zu deformieren, sondern in dieser Ballung Überhöhung und Offenheit zu erreichen, im Grunde miteinander zu tun haben, so verschieden und so bezeichnend für jeden der Dichter sind sie im einzelnen. In kleinsten Elementen zeigt sich Wesentliches der Gesamtkonzeption, nicht etwa nur dem Stoff nach, sondern in der Art, wie diese Überkreuzungen nun dastehen. - Alle diese offenen Formen aber können zu Formeln erstarren, dann nämlich, wenn sie dem dekorativen Arrangement und dem bloßen Spiel um Interessantheit dienen. Sie fallen dann einem Pseudo-Avantgardismus anheim, der «hinter den Linien wild um sich schießt». Es ist ja nicht getan mit der Interessantheit. Immer ist irgendein Unheil in dem Winkel, das bereit ist, langsam hervorzukriechen; immer das unbefreite Glück hinter den Gittern. Jenes müßte anhalten und dieses sich zeigen, wenn das Gedicht den Augenblick bestünde. Nicht, daß das Gedicht so ohne weiteres in diese Welt der «Härte des Realen» eingriffe; aber diese Bewegung wohnt seit Anfangszeiten und auch heute noch in ihm. Wir leben nicht in kurzen Bogen von Epochen. Es gibt einige wenige menschliche Erfahrungen, die im lyrischen Augenblick zusammenkommen, gleichsam in einem Vorgang überindividueller Erinnerung (in jedem Wort schlummert sie); die zu allen Zeiten, immer unter veränderten Bedingungen, von Rhythmen und Versen umkreist werden; die immer neu erfüllt sein wollen. Die Augenblicke, von denen Hofmannsthal spricht, und der Vorgang der Gedichtentstehung selbst sind nahe zusammengerückt und nicht mehr zu trennen. - Diese offenen Figuren, auch die «Wortschnüre», die Katachresen sind aufs engste verbunden mit dem Pathos und mit dem Ton, in dem sie vorgebracht werden, und überhaupt mit ihrer syntaktischen und bildlichen Umgebung. Ein falscher und leerer Ton läßt sich auf die Dauer nicht überspielen. Bei so differenzierten Gebilden, die unmöglich in den «Zutaten» berechnet werden können, erweist sich Hohlheit alsbald als Hohlheit, setzt sich das Befremdlichste durch, wenn es notwendig so und nicht anders erscheinen mußte. […] Aus: Akzente 5/1954 Schuhmann, Klaus. Lyrik des 20. Jahrhunderts: Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995. ISBN 3 499 555506. S. 244-248.