Abbildungsnachweis: Hamann, Richard —Hermand, Jost. Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart. Bd. 5. Expressionismus. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch, 1977. S. 67 Hans H. Hiebel: August Stramm (1874-1915) Stramm ist einer der vielen Dichter und Maler der anbrechenden Moderne, die im Ersten Weltkrieg umkamen. Einige seiner - wenigen - Texte sind aus dem unmittelbaren Erleben des Front- und Grabenkriegs entstanden und artikulieren diese Erfahrung; sie sind - wie die übrigen Werke - in einem gewissermaßen individuellen Idiom, auf das sie den expressionistischen Stil zuspitzen, verfaßt. Es war dieser kreative, erfinderische und alle orthographische und grammatische Konvention zerbrechende, extrem deviante Stil, der Arno Schmidt, dessen Prosa ähnlich zu charakterisieren ist und durch Stramm inspiriert wurde, veranlaßte, den Lyriker als großen Neuerer zu bezeichnen.^50 Patrouille (e: 1915, d: 1915) Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig Gellen Tod. Das Gedicht provoziert auf Anhieb - wie Gottfried Benns nüchterne und unbeteiligt scheinende Prosa in der Sammlung Morgue von 1912: Kein Reim, kein Metrum, kein klangvoller Rhythmus; keine Naturschönheit, keine romantikbeladenen Vokabeln (wie „Nacht“, „Traum“, „hold“, „Mond“, „Stern“, „Himmel“, „Rauschen“, „Wald“, „Bach“). Aber während Benns trockene Prosa in Morgue aus der Alltagssprache bzw. Gebrauchsprosa genommen ist, keinerlei Artifizialität aufweist, ist Stramms Sprache, auch dies ist auf Anhieb erkennbar, extrem ,gesucht´, extrem künstlich, stark „überstrukturiert“. Und obwohl keinerlei Melodie aufkommt, ergeben die blockartig fallenden Kurzzeilen und Parallelismen letztlich doch einen Rhythmus, dies aber im Sinn von Stakkato, Dissonanz, dramatischer Hektik, konsonantischer Herbheit, nüchternem Aufzählungsgestus und greller Lautmalerei; es ist ein hastiger Rhythmus, der am Ende in einen Aufschrei mündet, genauer: in zwei Schreie, den zweisilbigen Aufschrei: „Gellen“ -und den einsilbigen Entsetzensschrei „Tod“. Die Trichter-Form des Gedichts führt zu einer Pointe, einer .Spitze´ im Wortsinn; dem entspricht auf inhaltlicher Ebene das abrupte Eintreten des Todes, das Fazit und Resümee der „Patrouille“. Schon der Rhythmus verrät, daß die Welt nicht in Ordnung ist, daß hier Chaos und Gefahr herrschen. Stramms Kreativität gebiert sozusagen permanent Neologismen; die Neubildungen sind nicht wie bei den meisten anderen Expressionisten vereinzelt in den Text gestreut, sondern häufen sich in barocker Manier. Der Titel spricht Klartext, nennt in mimetischer, gegenständlicher Absicht eine Situation: den - sehr wahrscheinlich nächtlichen - Kontrollgang, die Patrouille, an der Front. Da der Patrouillierende sich besonders exponieren muß, ist er auch besonders gefährdet, so daß es nicht verwundert, daß der Text mit „Tod“ endet: Das Ende der Patrouille ist gekommen. Nun ist diese Idee nicht mit Bestimmtheit dem .Gedicht´ zu entnehmen; es ist eine der Implikationen, so müssen wir zugeben, wenn es uns um eine belegbare Interpretation geht. „Richtig“ ist es zu sagen, daß ein polysemischer Ausdruck, eine vielbezügliche Aussage - wie „Tod“ - eben polyvalent ist, d. h. mehrere Implikationen in sich birgt. So kann die - ohne Verbum und ohne nähere Bestimmungen dastehende - Einwortzeile „Tod“ den Tod des oder der Patrouillierenden signalisieren, sie kann aber auch den Tod anderer Soldaten im Schützengraben bzw. an der Front meinen oder kann letztlich auch als nicht näher bestimmte Abstraktion oder Personifikation gelesen werden: Der „Tod“ steht am Ende des Gedichts - am Ende der Patrouille, am Ende eines Angriffs oder am Ende des Krieges. Ein „Gellen“ - kündigt ihn an; das substantivierte Verb bringt onomatopoetisch den Aufschrei von Erschrockenen oder Getroffenen oder das laute Ertönen von Schußwaffen zum Ausdruck. Die Reduktion der Sprache auf einige Silben ohne Verb und Adjektiv bedingt an sich schon ein Maß an Offenheit und Polysemie. Ihren Sinn hat diese Vieldeutigkeit im Durcheinander der Phänomene und Wahrnehmungen. „Gellen“ kann als Substantiv und auch als Verb gelesen werden, d. h., das „Gellen“ kann als Einwortsatz, der für sich steht, verstanden werden, kann aber auch als Verb und Prädikat („gellen“) auf die „Berge“, die sozusagen gellend widerhallen, bezogen werden. (Die Großschreibung am Zeilenanfang wäre dann als lyrische Konvention zu sehen, derzufolge alle Zeilen mit Majuskeln beginnen.) Das „Gellen“ kann auf Schreie und auch auf Waffen bezogen werden, da sich die Laute in Wirklichkeit ja vermischen. Die Polysemie dient also der Mimesis, der Vergegenwärtigung des Realen. Auf das „Gellen“ folgt, konsequent, der „Tod“. Die Plazierung des nackt und unbeschönigt dastehenden Wortes „Tod“ ist folgerichtig und treffend. Eine Bilanz wird hier formuliert, eine Bilanz des Kriegsgeschehens überhaupt, aber wohl auch das Resultat des Patrouillengangs. Wenn man nicht vom Tod des oder der Patrouillierenden ausgeht, verspielt man nämlich eine Pointe des Textes, die eben darin bestehen dürfte, daß die im Titel genannte „Patrouille“ nicht weit führt und - im Sinne einer bitteren Ironie, die schlicht und einfach die Logik des Kriegs offenlegt - rasch und abrupt ihr Ende findet. Zunächst wird jedoch eine Art „Impression“ dargestellt, und zwar aus der Perspektive der Patrouille. Diese „Impression“ ist jedoch nicht impressionistisch-heiter und - trotz ihrer perspektivischen Anlage - auch nicht impressionistisch in dem Sinne, daß hier die Oberfläche des Wahrgenommenen naturalistisch wiedergegeben wäre. Die in gewissem Sinn .outrierten´ Aussagen sind expressionistisch, insofern sie das „Wesen“ der Phänomene, nicht ihr äußeres Erscheinungsbild zu treffen suchen und insofern dies nicht in durchsichtiger, .glasklarer´ Prosa, sondern in gewaltsamen lyrischen „Entstellungen“ geschieht, d. h. in extremen Zuschreibungen und gesuchten Metaphern, mit anderen Worten: expressiv. Aber es wird auch - wie es typisch ist für den Subjektivitätsanteil in der expressionistischen Dichtung - die Subjektivität der Wahrnehmung mit zum Ausdruck gebracht. Die Angst und die Vermutung, hinter allem verberge sich der unsichtbare Feind, prägen die Wahrnehmungen und machen so aus Impressionen Expression. (Den Anteil an Subjektivität versuchen ja die objektivistischen Verfahren von Impressionismus und Naturalismus auszuklammern bzw. zu minimieren.) Drei Aussagen sprechen drei Objekten („Steine“, „Fenster“, „Äste“) ein Tun zu („feinden“, „grinst“, „würgen“); es sind anthropomorphisierende Verben, die hier eingesetzt werden, um die .Quasi-Belebtheit´ der Objekte auszudrücken; hinter allem lauert - so ist anzunehmen - der Feind. Die erste Zeile des parataktischen Textes, der wieder im „Reihungsstil“ komponiert ist, „Die Steine feinden“, drückt mehr als das äußere Geschehen das „Innere“ des Betrachters, die subjektive Sicht auf die „Steine“ aus, die als „Feinde“ erscheinen oder als gefährliche Objekte, hinter denen der „Feind“ lauert. Die Neuschöpfung des Verbums „feinden“, in extremer oder, wenn man will, .outrierter´ Weise gegen Grammatik bzw. Sprachkonvention verstoßend, evoziert jedenfalls mit einem Schlag die Atmosphäre von Gefahr und Feindes-Nähe, sei nun gemeint, daß die Steine den Feind verbergen, sei es, daß die Steine selbst wie Feinde erscheinen. Beide Bedeutungen sind in der Personifikation begründet, die den Steinen ein (intransitives) Verbum (abgeleitet vielleicht von „anfeinden“) beiordnet, d. h. eine Aktivität zuspricht. Eine ähnliche Personifikation wird in der zweiten Zeile durch eine Verbal-Metapher bzw. die Zuschreibung einer Aktivität, einer Mimik, bewerkstelligt: „Fenster grinst Verrat“. Das vermutlich nachtdunkle „Fenster“ erscheint in angsterregender Plötzlichkeit, ihm wird das „Grinsen“ zugesprochen; der Kontext definiert dieses Grinsen nicht als humorvolle Mimik, sondern als fratzenhaft-böses und stummes Grinsen, das gewissermaßen mit Freude auf den „Verrat“, den Überfall aus dem Hinterhalt, wartet und ihn somit prophezeit. Doch wieder ist es weniger die Oberfläche des beschriebenen Gegenstands als vielmehr das „Innere“ der Wahrnehmenden, das auf diese Weise extrapoliert wird und zur Anschauung kommt: die Angst vor dem „Verrat“, der hinter dem Fenster lauern kann, vor dem überraschenden Auftauchen des „Feindes“ (also ganz gewöhnlicher Menschen, die nur durch die systemische Struktur des Krieges, veranlaßt durch die Verantwortlichen, zu „Feinden“ werden). Expressionistisch ist demnach der Subjektanteil, aber auch die Tatsache, daß nicht die Oberfläche des dunklen Glasfensters impressionistisch wiedergegeben wird, sondern das „Wesen“ des Fensters (seine Funktion, Blicke zu gewähren, auch ungesehene Blicke eines lauernden Feindes). Alle Substantive des Gedichts (bis auf „Die Steine“) stehen nackt ohne Artikel da, was den bezeichneten Dingen jede Vertrautheit nimmt und Plötzlichkeit und Wucht suggeriert. Gerade die Kargheit der Nennungen wirkt suggestiv, so daß die Kurz-Sätze und Einwort-Zeilen wie Hammer- oder Donnerschläge fallen: gipfelnd in „Gellen“ und „Tod“. „Fenster grinst Verrat.“ Die zweite Zeile ist auffallend parallel zur ersten gearbeitet. Auch das Verbum „grinst“ ist ein Neologismus - wie das vorangegangene „feinden“; es wird nämlich seiner üblichen Verwendung entwunden und agrammatisch, gegen alle Konvention eingesetzt, indem es vom intransitiven Verbum zum transitiven (mit Objektbezug) gemacht wird: „grinst Verrat“ (= .verkündet - höhnend - Verrat´). In der dritten Zeile kehren wir zur intransitiven Verbform zurück: „Aste würgen“. Die Technik ist die umgekehrte: Ein transitives Verb („jemanden würgen“) wird zum intransitiven umfunktioniert. (In den 70- und 80er Jahren des 20. Jhs. wird dann Paul Wühr in seinen Großpoemen REDE und SAGE diese beiden Verfahren zu seinen wichtigsten Methoden erheben.^52) Zwar existiert eine intransitive Form des Verbs „würgen“ (an einem Bissen „würgen“), aber auf Grund des Kontextes erwarten wir doch eher die transitive Form „etwas hinunter- oder hervorwürgen“, „jemanden würgen“. Und genau diese Erwartung wird bewußt enttäuscht. Auf jeden Fall haben wir wieder einen Neologismus bzw. eine extreme, erneut personifizierend wirkende Metapher vor uns. Menschliches „Würgen“ wird auf die gewundenen, knorrigen, Verdickungen wie .Kehlköpfe´ zeigenden Äste eines Baums übertragen, der dem/den Patrouillierenden nach den feindlichen „Steinen“ und dem grinsenden „Fenster“ begegnet. Der vor Angst „würgende“ oder die Angst „hinunterwürgende“ Patrouillierende projiziert - anthropomorphisierend - seine Vorstellungen auf die Welt gegenüber. Wieder ist die Zeile parallel zu den ersten beiden gearbeitet; daraus resultiert der Reihungscharakter des Textes. Die nächste Parallele - wieder ein extrem kurzer Satz mit artikellosem Subjekt und kargem Prädikat (samt Adverb in diesem Fall) - nennt die vierte Wahrnehmung: „Berge Sträucher blättern raschlig“. ,,[B]lättern“ nur die Sträucher oder auch die „Berge“? Muß man sich also in der ungrammatikalischen Kombination „Berge Sträucher“ ein Komma bzw. „und“ hinzudenken? Oder ist nach „Berge“ - als einem Einwortsatz - ein Punkt, ein Innehalten zu denken? Wir dürfen nicht vereindeutigen, wo Zweideutigkeit vorliegt. Die zweite Möglichkeit (mit einem Punkt nach „Berge“) sähe in der Zeile einen Einwortsatz, wie er dem Leser auch in der vorletzten und letzten Zeile des Gedichts entgegentritt: „Gellen“ - „Tod“. Das Verb „blättern“ würde sich dann ausschließlich auf die „Sträucher“ beziehen. Die dritte Möglichkeit bestünde darin, daß man die Abwesenheit von Komma oder Punkt als gewollt und zielgerichtet interpretiert, als Verfahren, das vergegenwärtigen möchte, wie die Wahrnehmung von „Bergen“ unmittelbar in die von „Sträuchern“ übergeht, von „Sträuchern“, die sich vermutlich auf die „Berge“ hinaufziehen. In dieser Lesart wären die ersten beiden Möglichkeiten natürlich nicht ausgeschlossen, sondern inkludiert: Berge erscheinen (mit Punkt) - Sträucher erscheinen - ,,[B] lauern“ wird hörbar - und just in diesem Augenblick wird dieses ,,[B]lättern“ auf die „Sträucher“ und zugleich auf die „Berge“ (mit Komma) bezogen, auf die Einheit von Bergen und Sträuchern: „Berge Sträucher“. Mit kleinsten semantischen oder grammatikalischen Veränderungen, Entstellungen, werden - und das trifft für den Expressionismus und den Dadaismus insgesamt zu - große Effekte erzielt: Wahrnehmungen werden evoziert, Reflexionen induziert. Verb und Adverb („blättern raschlig“) sind auch hier wieder Neologismen: Zwar existiert das transitive Verb „blättern“ (in einem Buch), doch hier wird es wieder ins Intransitive gewendet. Man kann auch - und mit gleichem Recht - annehmen, daß „blättern“ schlicht vom Substantiv „Blätter“ abgeleitet ist: Das ,Tun´ der Blätter ist ihre Bewegung bei Luftzug oder Wind. Konventioneller Erwartung entspräche etwa: Es „rascheln“ die Blätter der Sträucher. Doch genau diese Erwartung enttäuscht Stramm. Er zerbricht die Konventionen der Sprache und transformiert ein Substantiv in ein Verb („blättern“) und ein Verb in ein neologistisches Adverb: „raschlig“. Auf diese Weise vereint er eine optische mit einer akustischen (lautmalerisch vergegenwärtigten) Wahrnehmung. Zwar fehlt hier - wie in der dritten Zeile („Aste würgen“) die Erwähnung des Feindes bzw. die Andeutung von Feindlichem, doch läßt sich auch hier die Gefahr hinter den raschelnden „Sträuchern“ erahnen, sie ist dem Satz als Konnotation mitgegeben; das „raschlige Blättern“ kann sogar von Schritten des Feindes herrühren. Die hier von Stramm praktizierte Methode der Verfremdung (durch Neologismen) steht nicht nur im Dienste phano-, melo- und logopoietischer Absichten, sondern auch im Dienst der (vom Russischen Formalismus propagierten) „Entautomatisierung der Wahrnehmung“. Das Befürchtete wird wahr, aus der Gefahr wird Wirklichkeit, Krieg: „Gellen“. Übergangslos und plötzlich erscheint das „Gellen“, die sprachliche Darstellung imitiert das Dargestellte, das Übergangslose des. Geschehens, das Überraschtsein der Patrouille. Das Schlagartige des Geschosses oder Geschoßeinschlags wird durch die - verb- und artikellose - Einwortzeile akustisch und logisch-reflexiv bzw. logopoeietisch vergegenwärtigt. Auch hier handelt es sich wieder um eine Entstellung der üblichen Wortverwendung bzw. eine drastische Metapher, die das „Gellen“ vom Schrei auf das Geschoß oder mehrere Ge-schoße überträgt. („Gellen“ kann als Substantiv gemeint sein oder als Verb mit Pluralendung.) Es kann aber zugleich auch wörtlich genommen und auf das Gellen lauter Schreie bezogen werden. Das Gellen von Schreien (als Schreien Getroffener) setzt das Gellen von Geschossen, die es verursachen, voraus; aber es können hier auch, wie schon angedeutet, Erschreckens- und Warnschreie gemeint bzw. mitgemeint sein. Der Zusammenfall der verschiedenen Bedeutungen spiegelt das unmittelbare Zusammentreffen von Schuß und Schreien bzw. das plötzliche Durcheinander aller gellenden Laute. Lakonisch, extrem reduziert bringt dann die einsilbige Einwortzeile des Schlusses, „Tod“, das Resultat der Patrouille - oder des Krieges überhaupt - zur Sprache. Aus der Perspektive der Patrouillierenden gesehen, können es Kriegskameraden sein, die getroffen wurden, aus einer Perspektive, die von außen auf die Patrouille blickt, kann diese selbst ihr abruptes Ende gefunden haben - was, wie gesagt, dem Kurzgedicht eine scharfe Pointe geben würde. Die Schlußzeile impliziert auf jeden Fall einen Perspektivenwechsel: Alle zuvor genannten Wahrnehmungen können dem/den Patrouillierenden zugeordnet werden (als handle es sich um eine personale Perspektive in Er-Form). Mit der Schlußzeile bzw. dem „Tod“ weitet sich diese Perspektive zu einem auktorialen und olympischen Blick aus weiter Ferne. Auffallend an Stramms Text ist vor allem die extreme Reduziertheit der im kargen Reihungsstil aufgezählten Sprachelemente und das extreme, gewaltsame Zerbrechen der Sprachkonventionen, d. h. die fast outrierten Neubildungen und fast überspannten Metaphern, Obwohl stark „phanopoeietisch“ und auch „melopoeietisch“ (natürlich im Sinne nicht-melodiöser akustischer Mimesis oder Lautmalerei) angelegt, liegt die Hauptkraft des ,Gedichts´ doch in seinen „logopoeietischen“ Kreationen, im „Tanz des Geistes unter den Worten“ (Ezra Pound)^53. Ein weiteres Gedicht Stramms, wie Patrouille erschienen in der Expressionisten-Zeitschrift Der Sturm, weist die gleichen Stilprinzipien wie jenes auf; seine Analyse soll die oben angestellten Beobachtungen bestätigen und erhärten. Sturmangriff^54 (e: 1914, d: 1915) Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen Kreisch Peitscht Das Leben Vor Sich Her Den keuchen Tod Die Himmel fetzen Blind schlachten wildum das Entsetzen Auch hier nennt der Titel die mimetisch, gegenständlich, aber nicht impressionistisch vergegenwärtigte Situation: „Sturmangriff“. Auch hier endet das Ganze im „Tod“, im entsetzlichen „Schlächtern“. Durch Reduktionen, Entstellungen und Neologismen entstehen erneut eindrückliche Anschaulichkeit und Mehrdeutigkeit. Wieder „gellen“ Waffen und Schreie; wenngleich das Verbum auf eine bloß innerliche Empfindung, die „Furcht“, bezogen ist, muß auf Grund eben dieser Kombination („gellen Fürchte“) das Lautwerden dieser Furcht, die im neologistischen Plural „Fürchte“ (oder im Imperativ „Fürchte!“) erscheint, impliziert sein. Agrammatisch, ohne Komma, wird dem Plural ein Singular, das „Wollen“, beigesellt; grammatisch dissonant ist dies auch deshalb, weil „gellen“ mit seiner Pluralendung sich offenbar auch auf „Wollen“ beziehen soll (das damit wie „Fürchte“ eine Spur Pluralcharakter erhält). Wie in der Kombination „Berge Sträucher“ mag hier aber auch „logopoeietisch“ ein logischer Zusammenhang impliziert sein: Das eiserne „Wollen“ des Sturmangriffs erscheint wie eine Flucht nach vorn aus „Furcht“; „Wollen“ und „Fürchte(n)“ bilden eine Einheit. Der Plural „Fürchte“ deutet darauf hin, daß es um ein kollektives, kein individuelles Geschehen geht, in welchem sich die vielen „Fürchte“ zu einem einzigen „Wollen“ (in dem gleichwohl viele „Wollen“ stecken) vereinen. Die folgenden Einwortzeilen beginnen mit einer weiteren Neubildung: Das onomatopoetische „Kreisch“, das sich auch durch Assonanz mit „Peitscht“ verbindet, klingt treffender, schlagartiger als es ein „Kreischen“ oder ein „es kreischt/ es kreischen“ je sein könnten. Man kann das „Kreisch“ als neologistisches Adverb („kreischend“) auf „gellen“ beziehen, kann es als Objektergänzung zu „gellen“ lesen („Fürchte Wollen“ gellen ein „Kreisch“, stoßen hervor ein: „Kreisch“), auch als dritten Nominativ (es ertönen „Fürchte Wollen/ Kreisch“ -zuletzt auch wieder als Einwortsatz ohne Verbum (und ohne grammatikalischen Bezug zur ersten Zeile), zumal die Majuskel „K“ Kennzeichen des Substantivs sein könnte. Die Deutung dieser Majuskel muß jedoch offen bleiben, weil alle Zeilenanfänge (nach der althergebrachten Lyrik-Konvention, der man noch in Impressionismus und Expressionismus immer wieder folgt) in Majuskeln stehen. Wieder ungrammatisch und uneindeutig ist der Singular der dritten Zeile: „Peitscht“, wenn man ihn auf den Plural „Fürchte“ beziehen möchte. Peitscht das „Wollen“ (als Singular gelesen) oder das „Kreisch“ das „Leben“ vor sich her? Der „logopoeietische“ Sinn der Abweichung von Konvention und Norm könnte hier die intendierte Implikation sein, daß alle geäußerten Momente sozusagen zusammenfallen in eins, in einen einzigen Laut (des plötzlichen und gemeinsamen Sturmangriffs); die Angst der Vielen („Fürchte“) vereint sich zu einem einzigen „Wollen“ und einem einzigen Schrei („Kreisch“): All dies „Peitscht“ die Soldaten vor sich her, jagt sie im „Sturmangriff“ hin zum Gegner. Im „Kreisch“ -das alles „Gellen“ zusammenfaßt - ist die Idee des Zusammenfallens aller Aktionen bereits ein erstes Mal ausgedrückt. Weniger das „Leben“ des gegenüberstehenden Feindes als das „Leben“ der eigenen Truppe scheint vorangepeitscht zu werden; diese Vorstellung ergäbe schon deshalb einen Sinn, weil bereits deutlich wurde, daß der Gewaltvorstoß letztlich aus der „Furcht“ hervorgeht. Sie (zu der natürlich auch die Furcht vor der Todesstrafe bei Desertion gehört) ist es, die den kollektiven Angriff hervortreibt; August Stramm erkennt hier die Situation in hellsichtiger Weise. Aber nicht allein das „Leben“, auch der „Tod“ - im Akkusativ genannt („Den keuchen Tod“) - wird vorangepeitscht (wenn man sich ein „Und“ bzw. ein Komma vor „Den keuchen Tod“ vorstellt). Liest man kein Komma, so muß „Das Leben“ als Satz-Subjekt verstanden werden: Es peitscht „kreisch[end]“ vor sich her „Den keuchen Tod“. Der Lebenswille peitscht den „Tod“ voran. Damit ist der andere Gedanke nicht ausgeschlossen, daß die Furcht das „Leben“ - und zugleich den „Tod“ - vor sich her peitscht. Dieses „Leben“ ist von vornherein todgeweiht. Nur ein wenig aufgeschoben kann er werden, der unvermeidbare „Tod“. „Leben“ und „Tod“ werden von Stramm mit Hilfe grammatischer Vieldeutigkeit miteinander identifiziert. Die Verkehrung des Gedankengangs in eine Paradoxie trifft exakt die Paradoxie der Wirklichkeit: Sei es die sogenannte „Niederlage“, sei es der sogenannte „Sieg“, der immer ein Pyrrhus-Sieg ist, sie werden beide den Tod - vieler - bringen. Der Krieg treibt, „peitscht“, die Kämpfer in den „Tod“. In der Schlacht bei Verdun, 1916, „fielen“, wie es üblicherweise euphemistisch heißt, 700.000 Soldaten auf beiden Seiten. Insgesamt forderte der Erste Weltkrieg ca. 8,5 Millionen Tote, 21 Millionen Verwundete, 7,8 Millionen Kriegsgefangene und Vermißte. Die Neubildung des Adjektivs „keuch“ aus dem Verbum oder Substantiv „Keuchen“ läßt sich direkt auf den „Tod“, d. h. das Sterben der Verwundeten, beziehen; aber natürlich - hier wiederholt sich die Paradoxie - auch auf das „Leben“, d. h. das Keuchen der stürmenden Soldaten, deren „Leben“ - aus der Perspektive Stramms - ja ein .Sein zum Tode* ist. Die „Furcht“ und das eiserne „Wollen“ des „Sturmangriffs“ treiben - als „Kreisch“ - das „Leben“ und den „Tod“ vor sich her, den „Tod“, der nur noch eine kurze Zeit hinausgeschoben werden kann (vor „Den keuchen Tod“ kann man sich ein Komma denken). Liest man das „Kreisch“ als (vorgestelltes) Adverb, dann ergibt sich die Lesart „kreisch(end) peitscht das Leben vor sich her den keuchen Tod“ (ohne Komma vor „Den keuchen Tod“). Die fünf Einwortzeilen geben mit ihrem Stakkato die Wucht des - m ehr oder weniger erzwungenen - „Sturmangriffs“ wieder, der Wortrhythmus spiegelt die Realität. Das .Gedicht in trockener, harter Prosa endet mit einem frappierenden Reim („fetzen/Entsetzen“), der die Wahrnehmung des höllischen Chaos, des unbegreiflichen Wahnsinns durch onomatopoetische Effekte zum Ausdruck bringt. Die Zeile „Die Himmel fetzen“ ist doppelt verfremdet und mehrdeutig: Der Plural von „Himmel“ veranschaulicht die Weite des Schlachtfeldes und des Himmels über ihm, aber zugleich auch die .Vervielfachung´ des Himmels durch die ständig wiederholte Erleuchtung durch Explosionen oder Leuchtraketen. „Fetzen“ ist stark verdichtet, polysemisch aufgeladen: Die „logopoeietische“ Neuschöpfung des Verbs aus dem Substantiv „Fetzen“ (schmutziger Streifen Stoffs) vergegenwärtigt „phanopoeietisch“ den auf Grund von Explosionen fahl aufleuchtenden Himmel, den durch Waffen „zerfetzten“, in „Fetzen“ gerissenen Himmel. Eine extreme Entstellung ergibt sich daraus, daß das hier intransitiv gebrauchte Verb „fetzen“ eben nicht den Waffen zugesprochen wird, sondern dem „Himmel“, als sei er selbsttätig. Diese Konstruktion entspricht wieder exakt der Wahrnehmung der Situation, in welcher der Feind als der die Waffen lenkende Akteur eben nicht direkt sichtbar ist. „Fetzen“ hat aber auch noch die Nebenbedeutung „rasen“, „dahinjagen“; auch dies ist auf die durch den Himmel jagenden Geschosse zu beziehen; es vergegenwärtigt zudem durch seine Lautung auf onomatopoetische Weise den Lärm der Geschütze (wie Ernst Jandls schtzngrmm: „schtzn/ schtzn/ t-t-t-t/ t-t-t-t“, das ebenfalls mit dem Tod endet: „t-tt“^55). Verfremdung und maximale Verdichtung prägen die letzten Vokabeln des Gedichts. Die Schlußzeile „Blind schlächtert wildum das Entsetzen“ faßt die Gesamtheit des Geschehens bilanzierend zusammen: in einem .Entsetzensschrei´. Das „Entsetzen“ wird allegorisch personifiziert und ist sowohl auf das Entsetzen der Kämpfenden als auch auf das Entsetzliche der Kampfes bezogen; in der Personifikation steckt auch die Wahrnehmung des Kollektiven und Ubi-quitären des Geschehens, was auch durch die geniale Neuprägung „wildum“ zum Ausdruck kommt. Als Präposition ist „wildum“ (aus rund-um, rundher-um, umher usw. gewonnen) dem Satz-Subjekt „Entsetzen“ und dem Prädikat „schlächtert“ zugeordnet; vor allem die Wortstellung erklärt die Kontamination „wildum“ zur Präposition („Blind schlächtert wildum ...“). Andererseits erhält der Neologismus durch die Komponente „wild“ adverbiellen Charakter (wie das „Blind“: „wild“ „schlächtert“ das Entsetzen), und das „um“ in „wildum“ läßt sich auch als Adverbsuffix (wie in „rundum“, „kurzum“) lesen. In der Verdichtung sind beide Aspekte enthalten. Last but not least ist zu erwähnen, daß die expressive Neubildung des Verbs „Schlächtern“, aus dem Substantiv „Schlächter“ bezogen und auf „Schlachtfeld“ gemünzt, dem „Entsetzen“ seinen Inhalt gibt: Der „Sturmangriff“ führt zu einem Sich-gegenseitig-Abschlachten, einer Schlächterei. Im Abstraktum „Entsetzen“ schwingt auch die Bedeutung des Unfaßbaren mit: des alle Rationalität übersteigenden Gefühls des Entsetzens und des irrationalen, unbegreiflichen, eben entsetzlichen Kampfgeschehens. Der Sprecher kapituliert gewissermaßen vor dem Unbegreiflichen, es ist sein .letztes Wort´ in der Sache. Daher wird auch die Charakterisierung „Bund“ eingesetzt. „Blind“ ist diese wildgewordene, entsetzliche Schlächterei rundum; in .blinder Wut´, in .blindem Drauflosschlagen´ und in „wildem“ Töten äußert sich das „Entsetzen“. Die Kämpfenden sind von den Ursachen und Zielen des Krieges eigentlich abgeschnitten, sind „blind“, der Kampf hat sich verselbständigt. Oder waren die Tode für Militärs und Politiker Mittel zu einem Zweck? 8,5 Millionen Tote? Handelt es sich nicht um aus der Kontrolle geratene Folgeerscheinungen geschichtlichen Handelns? Der Biologe, Anthropologe und Evolutionstheoretiker Lyall Watson meint, daß Krieg und Mord - rational angebbare - Ursachen haben.^56 Das sind keine .guten und schönen´ Gründe, sondern .Entsetzen´ hervorrufende Gründe, aber es sind Gründe. Spart Stramm also in ideologischer Weise, in .blindem´ Pazifismus die wahren Motive des Kriegs und die ihm zugrunde liegenden Machtkonstellationen aus? Meines Erachtens läßt sich die Annahme vom „Blinden Schlächtern“ auch dann sinnvoll erklären, wenn man nicht davon ausgeht, daß der Weltkrieg ein rundum außer Kontrolle geratenes Handeln war, sondern sich, was absurd genug wäre, durchaus politisch-militärischen Absichten verdankte. Stramm spart nämlich in seiner unteleologischen Perspektive absichtlich Ursachen und Ziele des Krieges aus, daher die „Blindheit“ des „Schlächterns“ im Hier und Jetzt; auf Grund dieser Aussparung wirken die Aussagen polemischer, vernichtender. Jedes instrumentalistische Erklären würde das Leid der Opfer verharmlosen. Eine solche Perspektive hat ihre Berechtigung insofern, als den Opfern Ursachen und Ziele gleichgültig sein können; Stramm betrachtet sie nicht als „Mittel“ zum „Zweck“, sondern sieht ihr Leid als existenziell und unauslöschlich an. In ähnlicher Weise hat Georg Büchner in Dantons Tod das Selbstzerfleischungs-Stadium der Französischen Revolution vor Augen geführt, ohne es durch Angabe von Ursachen und Zielen zu entschärfen; Büchner hat sich auch als Philosoph und Biologe gegen teleologisches Denken gewandt: „Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt.“^57 Jeder Moment des Seins ist, nicht-instrumentalistisch und existenziell gesehen, im Augenblick des Geschehens ein Sein für sich. (Die moderne Evolutionstheorie bestätigt diese Sicht in gewissem Sinn durch ihr Konzept der „Selektion“.^58) „Blind schlächtert wildum das Entsetzen“ - ob wir es nun als unkontrolliert, ziel- und zwecklos sehen oder als .zweckvoll (was im Augenblick des Kämpfens und Sterbens irrelevant und absurd erscheinen muß). In der letzten Zeile verkehrt Stramm gewissermaßen Ursache und Wirkung: Nicht die Schlächterei führt zum Entsetzen, das Entsetzen führt zur Schlächterei. Darin wirkt noch die Idee nach, daß der „Sturmangriff“ aus der „Furcht“ hervorgeht, eine erzwungene Flucht nach vorn darstellt. Entsetzen und Schlächterei sind eins. ^50 Vgl. z. B. Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns, Frankfurt a. M. 1977, (= Fischertaschenbuch 1366), S. 96: „Wieland ist mein größtes formales Erlebnis neben August Stramm!“, so bekennt der autornahe Icherzähler. Zwei Stilproben: „Die Chaussee (zum Bahnhof) mit Silberstreifen belegt; am Rande mit Rauhschnee hochzementiert, diamond-diamond (macadamisiert; - warn Schwager Coopers nebenbei). Die Bäume standen riesenstramm und mein Schritt rührte sich dienstfertig unter mir [...] Auch der Mond mußte mir noch im Rücken hantieren, denn manchmal zwitschten merkwürdig scharfe Strahlen durchs Nadelschwarz. Weit vorn stach ein kleines Auto die aufgeschwollenen Augen in die Morgennacht [...]“, ebd., S. 9. Noch näher an Stramm: „Münder stolpern Wortprothesen Waden letzen Hüften schämen kasse Rufe Stummelaugen Zähne gaffen schnappen gattern Nasen fortzen hirnig aus“, ebd., S. 98 ^51 August Stramm: Patrouille. In: Pinthus, Menschheitsdämmerung, S. 87 ^52Vgl. Volker Hoffmann: Paul Wühr. In: KLG. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. [In fortgesetzten Lieferungen], München 1978 ff. 55. Nachlieferung (1.1.1997), S. 1-17, bes. S. 15 („intransitive Verben werden gewaltsam transitiv gemacht und ins Passiv gewendet, transitive Verben erhalten durch Refle-xivierung Selbständigkeit und Automatik“) ^53 Pound, Wort und Weise, S. 32 ^54August Stramm: Sturmangriff. In: Pinthus, Menschheitsdämmerung, S. 87 ^55 Ernst Jandl: schtzngrmm. In: Laut und Luise, Freiburg 1966, S. 45 ^56 Lyall Watson: Die Nachtseite des Lebens. Eine Naturgeschichte des Bösen, Frankfurt a. M. 1997 ^57 Georg Büchner: Ueber Schädelnerven. Probevorlesung. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hamburger Ausgabe, 2 Bde, Hamburg 1971, Bd. 2, S. 291-301, Zit. S. 291 ^58 Vgl. Watson, Die Nachtseite des Lebens, S. 80 f., 106 f. u. passim. Vgl. auch: Richard Daw-kins: Und es entsprang ein Fluß in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 1998, (= Goldmann Taschenbuch 12784), S. 9, 148 u. passim Hiebel, Hans H. Das Spektrum der modernen Poesie: Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil 1(1900-1945). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 131–141. Ivo Braak: Den absoluten Gegenpol zu Stadlers Langzeilen-Lyrik bildet die Wortblock-Kunst von Stramm. Der „Schrei“ des Expressionismus löst sich bei ihm in einzelne herausgestoßene Worte. Der studierte Postbeamte ging von Holz´ naturalistischer Sprachtheorie aus (—> 6.3.3), versuchte sich in verschiedenen Stilarten, fand aber seine eigentliche Form erst seit seiner Verbindung mit dem Kreis des expressionistischen Theoretikers Herwarth Walden, in dem er auch die Sprachprogramme des ital. Futuristen Marinetti kennenlernte (Vereinfachung und Konzentrierung der Sprache). Die persönliche Begegnung mit Marinetti im November 1913 wirkte so einschneidend, daß der 39jährige Stramm seine bisherige lyr. Produktion vernichtete. Was nun bis zu seinem Tode an der Ostfront im September 1915 entstand, veröffentlichte Walden in seiner programmatischen Zschr. „Der Sturm“ -zusammengefaßt dann in den Slgg. „Du. Liebesgedichte“ von 1915 und „Tropfblut“ (Kriegsgedichte) von 1919. Hatte Stadler die Befreiung aus dem Zwang der Form in der überlangen Verszeile gefunden, so suchte Stramm sie in der extremen Komprimierung auf das einzelne Wort- „Stramm, der bedeutendste Lyriker des ,Sturm´-Kreises, will die empirische Wirklichkeit durchbrechen, indem er den Kausalzusammenhang der Syntax zerstört und im Wo/t den reinen Klang, die Einheit von Sinn und Lautgestalt sucht.“ (Ruf, 160) Im folgenden Gedicht aus der Slg. „Du“ vollzieht sich, wie sich Lehnen (161) ausdrückt, „ein Minidrama, das in sprachlich reduzierten Andeutungen dargeboten wird“: Untreu Dein Lächeln weint in meiner Brust Die glutverbissnen Lippen eisen Im Atem wittert Laubwelk! Dein Blick versargt Und Hastet polternd Worte drauf. Vergessen Bröckeln nach die Hände! Frei Buhlt dein Kleidsaum Schlenkrig Drüber rüber! (1914) Zur Arbeit an diesem Gedicht schrieb Stramm an Walden: „Anbei schicke ich Ihnen das gewünschte Gedicht und zwar in doppelter Ausführung. Beide unterscheiden sich nur durch ein einziges Wort. Mir scheint die angekreuzte [hier vorstehend abgedruckte] Fassung stärker und besser. ,Welkes Laub´ klingt zwar weicher und melodischer, aber meinem Empfinden nach auch unbestimmter, während ,Laubwelk´ mehr den Begriff des Duftes enthält, auf den es mir ankommt. Auch fällt dadurch der doppelte aufeinanderfolgende Wortanfang mit W fort, den ich gerade deshalb vermeiden möchte, weil ich die Vorsilbe ,ver´ als Gefühlswecker des Vergehens, des Verlassens absichtlich gehäuft habe. Endlich erweckt in mir die Häufung des T mit nachfolgendem L auch eine Vorstellung desi Gleitens, des Vorbeiwehens des Atems! Also alles Gründe, weshalb ich die letzte Fassung bevorzuge; doch will ich mich noch nicht endgültig festlegen, da ich noch zu tief drin stecke und überlasse Ihrem Gefühl daher die Wahl.. .!“ (162)] Von Stramms Kriegsgedichten ist eines der gelungensten: Patrouille Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen berge Sträucher blättern raschlig gellen Tod. (1915) Die ganze Härte und Grausamkeit des Krieges wird in den kargen Worten, die geradezu herausgeschleudert werden, unglaublich geballt; dazu stimmen Pinthus´ Worte: „Stramm löste seine Leidenschaft vom Trugbild der Erscheinungen und Assoziationen los und ballte reines Gefühl zu donnernden Ein-Worten, gewitternden Ein-´ Schlägen.“ Die zeitgenössische Kritik im „Sturm“-Kreis nahm Stramms Lyrik begeiistert auf: „August Stramm ist das lyrische Genie unserer Zeit. Er hat der deutschen Dichtung! neue Wege gewiesen, indem er eine neue Wortkunst geschaffen hat. Was für den Maler Farbe und Form, für den Komponisten Ton und Rhythmus, das ist dem Dich? ter Wort und Rhythmus. Für August Stramm ist das Wort immer eine Neuschöpl fung, und jedes Kunstwerk gibt sich selbst seinen Rhythmus. Gegenstand, Stoff des´ Gedichtes ist der gesamte künstlerische Ausdruck, der kein äusseres Erleben wiedergibt, sondern aus einer inneren Vision hervorgeht. August Stramm gibt weder Stimmung noch psychologische Charakteristik oder Entwicklung. Seine Lyrik ent-[;] hält keine Gedanken, seine Dramen keine Handlung in gewohntem Sinne.“ (164), Und Döblin schrieb, als er die Nachricht vom Tode Stramms erhalten hat-; te, am 21. September 1915 an Walden: „Stramm hatte etwas Fermentatives; er regte nicht nur Menschen an; er versetzte, wenn sich so sagen läßt, den Sprachbrei in Gärung. Er brachte im wörtlichen Sinnealles in Fluß, was er sagte, es verschwand die logische Isolierung von Substantiv Verb Adjektiv, er graduiert jedes nach Bewegungsimpulsen ... Ich weiß keinen,der so, ohne zu spielen und Faxen zu machen, mit der deutschen Sprache gewaltsamumgesprungen wäre, als mit einem Stoff, den er bezwang und der nicht ihn bezwang. Niemand war von so vorgetriebenem Expressionismus in der Literatur; er drehte hobelte bohrte die Sprache, bis sie ihm gerecht wurde.“ (165) Aber es verwundert nicht, daß eine Lyrik, die in so starkem Maße einem Extrem verfiel, bereits zu ihrer Zeit, mehr noch später, auch harte Kritik herausforderte: „Alles ist darauf angelegt, nicht schablonenhaft zu sein und durch Ungewöhnlichkeit sich abzuheben. Der Ausdruck ist stilisiert aufs Krasse und Steile, aufs Grelle und Harte hin; die Worte sind herausgetrieben mit spürbarer Lust am Zackigen und Zerhackten. Es muß jedoch kaum gesagt werden, daß der Eindruck entsteht nicht von echter Ursprünglichkeit, sondern von bloßer Neusucht: nur Mangel an Gestaltungskraft kann so krampfhaft bemüht sein, überdurchschnittliche Intensität des Erlebens durch aufplusternde Darstellung vorzuspiegeln.“ (Pfeiffer, 166) Im Zusammenhang mit so herber und sicher über das Ziel hinausschießender Kritik sei aber auf folgendes hingewiesen: Der Lächerlichkeit preisgegeben wird die konstruktivistische STRAMMsche Lyrik in der Regel durch falsches Sprechen. Wenn über die Wortblöcke undifferenziert hinweggerast wird, muß das Resultat immer Komik sein. Wenn aber die Pause bedacht und bis zur Zerreißprobe eingehalten wird und sich das Wort, wenn gefordert, in einem Schrei löst, dann wird begreiflich, was dieser Dichter gewollt hat. Die extreme Verkürzung der lyr. Sprache in der Wortblock-Lyrik fand -sieht man vom Dadaismus ab - keine Nachfolge. Die radikale Einschränkung der Sprache mußte letztlich zu ihrer Verarmung führen. Trotzdem war Stramms Anliegen im Sinne expressionistischer Neufindung des Menschen ein positives gewesen; aber es war Illusion zu glauben, daß ins Extrem geführte Sprachrevolution auch zur Änderung des Menschen führen müsse. GATTUNGSGESCHICHTE DEUTSCHSPRACHIGER DICHTUNG IN STICHWORTEN. Teil II c Lyrik.Vom Biedermeier bis zum Expressionismus. Kiel: Ferdinand Hirt, 1981. ISBN 3 554803904. S. 189-191. Dieter Hoffmann: „August Stramm Patrouille / Sturmangriff Die beiden Gedichte entstammen der Sammlung Tropfblut, die während des Krieges entstandene Werke Stramms enthält und 1919 von Stramms Freund Herwarth Waiden herausgegeben wurde. Dessen Theorie der Wortkunst hat beide Gedichte auch erkennbar beeinflusst. So lässt sich sowohl in Sturmangriff A% auch in Patrouille eine eindeutige Konzentration auf die bedeutungstragenden Wortarten - hauptsächlich Substantive und Verben, auf die von den 14 Worten des Gedichts Patrouille allein 11 (7 bzw. 4) entfallen -feststellen, die in den Gedichten durchgehend asyndetisch nebeneinander gestellt werden. Dies entspricht der Forderung Waldens, die einzelnen Worte allein „durch ihre Bewegung zueinander, aufeinander, nacheinander“ (siehe Darstellungsteil) aufeinander zu beziehen. In beiden Gedichten wird die Konzentration auf das Einzelwort stellenweise noch dadurch verstärkt, dass manche Verse nur aus einem einzigen Wort bestehen. Inhaltlich kommt dieser Technik im gegebenen Zusammenhang u.a. die Funktion zu, das - das Fassungs- und Reaktionsvermögen des Einzelnen tendenziell überfordernde - Chaos der Kriegshandlungen vor Augen zu führen. Hier wie dort fügen sich die Ein-Wort-Verse dementsprechend auch in eine klimaxhafte Dynamik ein, die jeweils auf ein tödliches Ende zuläuft: Im einen Fall bilden sie den „Sturmangriff“ als solchen in sich ab, dessen Tod bringende Auswirkungen dann in den letzten drei Versen evoziert werden; im anderen Fall geben sie die Plötzlichkeit wieder, mit der bei dem Patrouillengang die tödlichen Schüsse abgegeben werden, stehen also am Ende der Klimax. Die durch die Ein-Wort-Verse bewirkten Pausen im Sprechrhythmus spiegeln so in Sturmangriff den stoßweisen Atem der vorstürmenden Soldaten - der zusätzlich durch die abnehmende Länge der Worte zum Ausdruck gebracht wird - wider, während sie in Patrouille die Zusammenziehun´g aus ´jäher Tod´ und ´gellender Schrei´, die die Fügung ´geller / Tod´ (V. 5/6) in lexikalischer Hinsicht darstellt, in ihrer Bedeutung und prosodischen* Wirkung unterstützen. Letztere beruht dabei auch auf dem Gegensatz zu den vorangehenden Versen, die in ihrer zunehmenden Länge und der relativ ruhigen bzw. langsamen Sprechweise, die sie erfordern, als Äquivalent zu dem Lauern des Feindes (bzw. der sich steigernden Spannung auf beiden Seiten) erscheinen. In beiden Gedichten werden die Ein-Wort-Verse damit auch dazu genutzt, den Sprechrhythmus zu dynamisieren. So folgen in Sturmangriff auf den längeren - die (innere wie äußere) ´Sammlung´ der Soldaten und deren Anspannung in sich abbildenden - Anfangsvers zwei Ein-Wort-Verse, die in dem zweimaligen ´ei´-Laut auf das Signal zum Angriff (und die Schreie, von denen dieses begleitet ist) hindeuten. Nach einer kurzen Verzögerung des Sprechrhythmus, der wie in einem sekundenhaften Nachdenken „das Leben“ (V. 4) in seiner nicht nur konkreten, sondern auch allgemeinen Infragestellung durch die Kriegshandlungen vor Augen führt, beschleunigt sich das Sprechtempo in den folgenden Versen wieder und bringt so die alles Nachdenken abtötende, ´blinde´ (V. 10) Zerstörungswut zum Ausdruck, die der Sturmangriff in seiner Eigendynamik entfaltet. Der erneuten Verlangsamung des Sprechrhythmus in Vers 8 entspricht inhaltlich das ´Aus-Keuchen´ des Lebens, das sich real vielleicht mit einem Getroffenwerden in vollem Lauf (oder auch mit dem Getötetwerden durch einen vor Anstrengung ´keuchenden´ Gegner) assoziieren lässt. Während die Plosive* in Vers 8 („den keuchen Tod“) noch ein stoßweises, rasches Atmen implizieren, deutet der folgende Vers bereits auf ein Verpuffen des Angriffs bzw. auf den Übergang in eine erneute Phase des allgemeinen Schlachtgetümmels hin, das dann im letzten Vers vollends die Oberhand gewinnt. Das Gedicht legt damit den Rhythmus der Kriegshandlungen in seiner ´keuchend´ von einer zur nächsten Phase des gegenseitigen Abschlachtens ´peitschenden´ Hast in seiner ganzen Sinnlosigkeit bloß. Auf der semantischen Ebene bewirkt die Konzentration auf das Einzelwort zum einen eine Verstärkung von dessen jeweiliger semantischer Valenz und zum anderen einen engeren Bezug zu den jeweiligen Nachbarbegriffen. So werden etwa in Vers 1 von Sturmangriff die unverbunden aufeinander treffenden Begriffe „Fürchte“ und „Wollen“ sowohl in ihrer eigenen Bedeutung betont als auch eng miteinander verbunden. Dies entspricht der Gleichzeitigkeit von Todesfurcht und Furcht vor dem Töten bzw. von Leben- und Tötenwollen, wie sie für kriegerische Handlungen charakteristisch ist. In Patrouille lässt die unvermittelte Aufeinanderfolge der Substantive „Berge“ und „Sträucher“ an die angstvoll-raschen, die Gliederung des Sichtfeldes durcheinander bringenden Suchbewegungen des Auges denken, mit denen der die Gefahr witternde Soldat den Gegner zu orten und so dem Tod zu entgehen versucht. Der das Einzelwort betonende Stil der beiden Gedichte führt daneben auch dazu, dass die darin enthaltenen Neologismen besonders stark zur Geltung kommen; er erleichtert es Stramm zudem, die Worte in neuartiger, syntaktisch ungewöhnlicher Weise aufeinander zu beziehen. Auch dies trägt zunächst dazu bei, die Bedeutungsmöglichkeiten der Sprache zu erweitern und erscheint somit als Mittel, das ´´andere Sehen´, das Stramm als Voraussetzung für eine adäquate Erfassung der Wirklichkeit ansah, mit sprachlichen Mitteln zu unterstützen. Im konkreten Fall dient dies dazu, die Realität des Krieges in ihrem chaotischen und destruktiven Charakter vor Augen zu führen. So lässt sich der Satz „Die Himmel fetzen“ (Sturmangriff, V. 9) ebenso auf die konkrete Schlachtsituation - mit der ´zerfetzenden´Wirkung der über die Soldaten hinwegschießenden und neben ihnen einschlagenden Geschosse - als auch auf die durch den Himmel angedeutete Trias aus ´Glaube´, ´Liebe´ un ´Hoffnung´ beziehen, die durch den Krieg zerstört wird. Eine ähnliche Bedeutungsvielfalt ergibt sich auch im Falle des folgenden Verses, der in seiner sowohl aktivisch (´das Entsetzen schlachten blind<-wütig>´) als auch passivisch (die Soldaten werden durch das Entsetzen ´zu Blinden´ gemacht, d.h. zu blindwütigem Zerstören getrieben) zu lesenden Struktur die prinzipielle Austauschbarkeit von Tätern und Opfern im Krieg abbildet. Auch dies lässt sich zunächst auf die konkrete Kriegssituation beziehen, in der ein jeder potenziell zugleich Mörder und Ermordeter ist. Darüber hinaus klingt hierin jedoch auch die - im Ersten Weltkrieg, der in einem vorher unbekannten Ausmaß auf der Zerstörungskraft der modernen Technik beruhte, besonders augenfälligen - Anony-misierung und Mechanisierung der Kriegshandlungen an, in deren Rahmen der einzelne Soldat mehr als Opfer eines abstrakten ´schlächtern-den Entsetzens´ denn als ein das Kriegsgeschehen steuerndes bzw. beeinflussendes Subjekt erschien. Die gilt analog auch für die drei ersten Verse von Patrouille, in denen es jeweils Dinge (statt Menschen) sind, von denen die tödliche Bedrohung auszugehen scheint. (Zusätzlich drückt sich hierin natürlich auch die Unsichtbarkeit des Feindes für die patrouillierenden Soldaten aus.) Hierzu passt auch, dass in beiden Gedichten nicht von einzelnen Menschen die Rede ist, sondern jeweils nur das Kriegsgeschehen in seiner Gesamtheit in den Blick rückt. Wie in Abendgang, werden die Menschen somit auch Sturmangriff und Patrouille von einer anonymen, irrationalen Kraft überwältigt, die sich als stärker erweist als ihr bewusstes Wollen. Während dies jedoch in Abendgang als Voraussetzung dafür erscheint, dass die Vereinzelung überwunden wird und eine neue, auf Liebe gründende Gemeinschaft entstehen kann, hat die Übermacht des Irrationalen in den Kriegsgedichten das Zusammenschmelzen der Menschen zu einer amorphen Masse zur Folge, in der mit der Würde des Einzelnen auch die Achtung vor dem Leben - das die Soldaten wie einen Feind ´vor sich her peitschen´ (bzw. in denen das Leben selbst wie ein blindwütig um sich peitschendes Ungeheuer erscheint) - verloren geht. Hierin deutet sich die Gefahr einer einseitigen Betonung der Kraft des Irrationalen an, wie sie sich später auch in der Befürwortung des ebenfalls auf irrationalen Gemeinschaftskonzepten aufbauenden Nationalsozialismus durch manche Expressionisten (wie u.a. - wenn auch nur für kurze Zeit - durch Gottfried Benn) offenbarte. Inwieweit der Wandel in der dichterischen Darstellung des Irrationalen bei Stramm langfristig auch Folgen für seine Dichtungstheorie und seine sozialen Ideale gehabt hätte, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, da er kurz nach dem Abfassen der beiden Gedichte gefallen ist und ihm somit für eine programmatische Neuorientierung keine Zeit mehr blieb. Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1880-1916 : vom Naturalismus bis zum Expressionismus. Tübingen ; Basel: Francke, 2001 ISBN 3-8252-2199-7 (UTB), ISBN 3-7720-2974-4 (Francke). S. 392-395. Richard Brinkmann: Patrouille Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig Gellen Tod. Von Metaphern kann man in diesem Gedicht kaum sprechen. Nicht auf dem Weg über das Bild versucht dieser Dichter der präjudizierten Deutung der Welt in der Sprache zu entkommen, sondern in einem Versuch, die Sprache zu unmittelbarer Vergegenwärtigung zu zwingen. Technisch erinnert in den Gedichten Stramms einiges an den „Sekundenstil“ von Arno Holz. Man hat darauf hingewiesen. Aber bei Stramm ist nicht im gleichen Sinn verkrampfter Wille zur „Verwortung“ der Welt am Werk. Vielmehr gilt es, dem Wort seine „Ur-Bedeutung“ zurückzugeben, wie es ein früher Apologet Stramms ausgedrückt hat^31. Jede begriffliche Aussage drängt Stramm aufs äußerste zurück, um mit den Wörtern auf der Grundlage rhythmischer Form neue Bezüge und einen neuen Zusammenhang zu schaffen. Die Wörter und grammatischen Formen verändert er dabei; Bewegungen, Bezüge, Modalitäten bringt er in die Sprache, die ein linguistischer Strukturalist als unmöglich im Deutschen bezeichnen müßte. Das Wort soll reden, bevor es in den grammatischen Zusammenhängen Vehikel einer darin gebotenen Weltauslegung wird. Es soll den Reichtum seiner Assoziationsmöglichkeiten behalten, seinen „inneren Klang“ erspüren lassen, der „Wesensanschauung“ gewährt, ehe er gestört oder verdeckt ist vom Aussagesystem der Grammatik, das bei aller Freiheit denn doch das Wort in seine vorbestimmte Botmäßigkeit nimmt. So werden Substantive zu Verben, Verben zu Substantiven, intransitive Verben werden transitiv, bei anderen Wörtern in unserem Beispiel, etwa „berge“, bleibt überhaupt fraglich, welcher Art sie sind und in welcher grammatischen Funktion sie stehen. Während etwa in dem Wort „feinden“ mindestens ein ganzer Satz oder mehrere Sätze zusammengezogen sind, gibt es andere Gedichte, in denen ein Wort vielfach wiederholt, nach allen möglichen Formen seines Stamms variiert und ausgefaltet wird. Das Gedicht „Wankelmut“ gibt dafür ein Beispiel: Wankelmut Mein Suchen sucht! Viel tausend wandeln Ich! Ich taste Ich Und fasse Du Und halte Dich! Versehne Ich! Und Du und Du und Du Viel tausend Du Und immer Du Allwege Du Wirr Wirren Wirrer Immer wirrer Durch Die Wirrnis Du Dich Ich! „Konzentration“ und „Dezentration“ haben die Theoretiker in seinem Umkreis das Verfahren genannt, nach dem Wörter und Aussagen behandelt sind, damit sie zur unmittelbaren Selbstaussprache kommen, ohne die Vermittlung von begrifflich zuordnenden Sätzen. Die subjektive Bedingtheit der Erlebnislyrik und gesellschaftlicher Rollendichtung soll überwunden werden. Eine Sammlung von sogenannten „Liebesgedichten“, zu denen auch „Wankelmut“ gehört, ist „Du“ überschrieben. Ein früher Deuter Stramms hat dazu gesagt: „Du ist nicht Leonore, Friederike, Charlotte von Stein. Nicht Laura am Klavier. Nicht Daphne, nicht Chloe, nicht Nymphe, nicht Bacchantin, auch nicht pomphaft Venus Excelsior, Venus Urania, Venus Heroica. — Du ist das Geschlecht selbst, schwingt die Kurve des tiefsten Wissens über die Liebe, die wir in der Venus von Archipenko wiederfinden. Trieb-Rhythmen kreisen und pulsen.“^35 Damit ist zugleich etwas von dem gewissermaßen „Vegetativen“ dieser Dichtung nicht schlecht angedeutet. Ein Rhythmus soll die Wörter verbinden, der von dem äußeren Klang und der Gestalt der Wörter ebenso gebildet wird wie vom „inneren Klang“, von ihrem assoziativen Inhalt, den sie aus der Muttersprache und der traditionellen Dichtung mitbringen. Gegenständliches ist auch hier nur Element der Struktur, bei aller „Verdinglichung“ der „psychisch-sensuellen Erfahrungen“, die manche veranlaßt haben, Stramms Dichtung „konkrete Dichtung“ zu nennen^36. Ein neuerer Monograph der modernen deutschen Lyrik, den ich gerade zitiert habe, hat gemeint, Stramms Gedichte seien nur eine „Verlautung von Gebärden“^37. „Gebärde“ — das scheint mir recht treffend; nur kann „Verlautung von Gebärden“ nicht heißen, zuerst sei die Gebärde da und werde dann in Worte umgesetzt. Vielmehr geschieht diese Gebärde selbst im Medium des Worts. Damit bekommt die Tendenz zum Unmittelbaren, von der ich gesprochen habe, einen neuen Aspekt; denn diese Aussagen wollen sich gewissermaßen selbst nicht mehr begreifen. Sie wollen sich nur noch vollziehen in einer Paradoxie von Reden und Stummheit. „In diesen Gedichten verstummt nicht nur der Geist, sondern auch die Musik“, sagt der eben Genannte^38. Das ist vollkommen richtig. Viel rückhaltloser als Trakl, dessen Sprache noch das Vermittelnde der Metapher behält, hat sich Stramm in die Undefinierte und undefinierbare Beschränktheit des eigenen „Sprachspiels“ verbohrt, wenn ich diesen Ausdruck Wittgensteins hier abwandelnd nennen darf. Stramms Sprache vollzieht nur noch „pantomimisch“ ^30 ihr Sprechen, aber sie hat kein Subjekt mehr, das sagen will und kann: „Das ist“, „Das ist dies“, oder „Das ist so.“ Stramm ist einer, der als Dichter getan hat, was Wittgenstein — es sei erlaubt, noch einmal eine Formulierung von ihm aus dem Zusammenhang zu reißen — vom Adepten seiner Philosophie fordert: Er hat „gewissermaßen“ die Leiter weggeworfen, auf der er hinaufgestiegen ist; er hat die gliedernde und aussagende Sprache gewissermaßen vergessen, um Sprache nur noch als Gestus zu gebrauchen; er verwirft das Aussagen, um nur noch auszudrücken. Der „Geist“ ist in dieser Distanzlosigkeit in der Tat „verstummt“. Damit ist aber wohl auch der Bereich der Vermittlung verschwenden, in dem das Symbol und symbolische Rede angesiedelt sind. „Wo ist hier — wieder mit Goethe zu reden — „die Erscheinung in Idee verwandelt, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt“^40? Hier scheint kein Raum für die Paradoxie der Identität und Geschiedenheit von Sache und Bild, die Goethe als Wesenszug des Symbols sieht. „A symbol is always a form of re-presentation, not of presentation“, hat ein amerikanischer Forscher, wie ich glaube sehr richtig, gesagt^41. In Stramms Dichtung aber ist „presentation“, nicht „re-presentation“. Hier gibt es keinen doppelten Bezug zu zwei „contexts of discourse“. „Analogical predication“, die der gleiche Forscher als „the very essence of the symbolic function“ bezeichnet hat^42, ist da keine relevante Kategorie. Doppelten Bezug gibt es bei Stramm nur insofern, als jedes Wort von seiner Stelle in der Sprache und in traditionellen Bildfeldern einerseits, im Kompositionszusammenhang des Gedichts anderseits determiniert ist. Von „symbolisch“ kann man auch hier nur dann reden, wenn man dem Ganzen der Komposition Symbolcharakter zugestehen will. Novalis hätte dagegen vermutlich nichts einzuwenden gehabt; denn er hat den Begriff so ausgedehnt, daß er jede Spielart von Gestalt mit umfaßt. Die Diskussion seit der Romantik hat mindestens die Fragwürdigkeit solcher Weitherzigkeit bekundet. Richard Brinkmann. „Abstrakte“ Lyrik im Expressionismus und die Möglichkeit symbolischer Aussage. In: Hans Steffen (Hg.). DER DEUTSCHE EXPRESSIONISMUS. Formen und Gestalten. GÖTTINGEN: VANDENHOECK & RUPRECHT, 1965. S. 102-105. Ludvík Kundera: August Stramm Patrola Kameny sočí Okna šklebí zradu Větve škrtí Hory keře šustivě listují Ječí Smrt. Haló, je tady vichr – vichřice. Expresionismus. Ausgew. u. übers. v. Ludvík Kundera. Praha: Čs. spisovatel, 1969. Radek malý: Patrola Kameny nevraživí Okna šklebí zrad Větve dáví Kopce keře šustivě listují Vřeští Smrt. Radek Malý (Hg.). Držíce v drzých držkách cigarety. Malá antologie poezie německého expresionismu. Praha: BB/art, 2007, ISBN 978-80-7381-074-0. S. 95. Parodie: HANS HEINRICH VON TWARDOWSKI Nach August Stramm Die Schlacht Munde stöhnen ächzen kreiseln winseln weinen wispern hispern lispern kispern knispern knispern klappen pappen schnappen happen in das um ihn in das um ihn in das um ihn um ihn um ihn in das um ihn in das von ihm in das für ihn vor ihm von ihm in das für ihn in das von ihm in das von ihm von ihm von ihm in die Nacht. Schmerzen glohsen glotzen glühen gleisen gleißen reißen reißen reißen reißen quälen funken blinken histen blisten blisten schnellen schwellen quellen quellen in das um ihn in das um ihn in das um ihn um ihn um ihn in den Tod. Schreie gellen sinken fließen enden enden enden enden steigen jauchzen jubeln singen in das Leben leben leben in das Werden Werden Werden in den Tag in den Tag in den Tag Leben glüht der Tag. Verweyen, Theodor—Witting, Günther (Hg.). Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart: Reclam, 1983. ISBN 3-15-007975-6. S. 112–114.