»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17 ... Was müssen Sie noch wissen?« Am Beispiel des arbeitslosen Germanisten Jakob Fabian beschreibt Erich Kästner bissig und schonungslos den Niedergang der Weimarer Republik und ihrer politischen und gesellschaftlichen Ideale. Die Welt steht kopf, moralische Normen haben ihre Gültigkeit verloren, politische Extreme befehden einander — und inmitten dieses Durcheinanders steht Fabian, der Moralist, als Beobachter und studiert das Leben ... »Der Moralist«, schrieb Kästner in einem späteren Vorwort, »pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nichts hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr...« Erich Kästner Fabian. Die Geschichte eines Moralisten Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dresden, studierte nach dem Ersten Weltkrieg Germanistik, Geschichte und Philosophie. 1925 Promotion. Neben schriftstellerischer Tätigkeit Theaterkritiker und freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen. Während der Nazizeit Publikationsverbot. Von 1945 bis zu seinem Tode am 29. Juli 1974 lebte Kästner in München und war dort u. a. Feuilletonchef der >Neuen Zeitung< und Mitarbeiter der Kabarett-Ensembles >Die Schaubude< und >Die kleine Freiheit< Ungekürzte Ausgabe Nach dem Text der >Gesammelten Schriften< (Atrium Verlag, Zürich 1959) unter Hinzuziehung der Erstausgabe von 1931 Februar 1989 16. Auflage Februar 2000 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Cecilie Dressler Verlags, Hamburg © 1985 Atrium Verlag, Zürich Erstveröffentlichung: Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart • Berlin 1931 Inhalt Vorwort des Verfassers............... 9 1. Kapitel: Ein Kellner als Orakel. Der andere geht trotzdem hin. Ein Institut für geistige Annäherung..............…………... 11 2. Kapitel: Es gibt sehr aufdringliche Damen. Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen. Betteln verdirbt den Charakter...…......... 19 3. Kapitel: Vierzehn Tote in Kalkutta. Es ist richtig, das Falsche zu tun. Die Schnecken kriechen im Kreis................ 28 4. Kapitel: Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom. Frau Hohlfeld ist neugierig. Ein möblierter Herr liest Descartes .......... 41 5. Kapitel: Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett. Fräulein Paula ist insgeheim rasiert. Frau Moll wirft mit Gläsern................ 52 6. Kapitel: Der Zweikampf am Märkischen Museum. Wann findet der nächste Krieg statt? Ein Arzt versteht sich auf Diagnose... 60 7. Kapitel: Verrückte auf dem Podium. Die Todesfahrt von Paul Müller. Ein Fabrikant in Badewannen.................. 68 8. Kapitel: Studenten treiben Politik. Labude sen. liebt das Leben. Die Ohrfeige an der Außenalster...................... 77 9. Kapitel: Sonderbare junge Mädchen. Ein Todeskandidat wird lebendig. Das Lokal heißt »Cousine« ................... 87 10. Kapitel: Topographie der Unmoral. Die Liebe höret nimmer auf! Es lebe der kleine Unterschied! ..................... 97 11. Kapitel: Die Überraschung in der Fabrik. Der Kreuzberg und ein Sonderling. Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit.........106 12. Kapitel: Der Erfinder im Schrank. Nicht arbeiten ist eine Schande. Die Mutter gibt ein Gastspiel.................... 120 13. Kapitel: Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer. Das reziproke Bordell. Die zwei Zwanzigmarkscheine.............. 133 14. Kapitel: Der Weg ohne Tür. Fräulein Selows Zunge. Die Treppe mit den Taschendieben. ……. 146 15. Kapitel: Ein junger Mann, wie er sein soll. Vom Sinn der Bahnhöfe. Cornelia schreibt einen Brief................... 155 16. Kapitel: Fabian fährt auf Abenteuer. Schüsse am Wedding. Onkel Pelles Nordpark.....163 17. Kapitel: Kalbsleber, aber ohne Flechsen. Er sagt ihr die Meinung. Ein Reisender verliert die Geduld................... 173 18. Kapitel: Er geht aus Verzweiflung nach Hause. Was mag die Polizei wollen? Ein trauriger Anblick..................... 182 19. Kapitel: Fabian verteidigt den Freund. Ein Lessingporträt geht entzwei. Einsamkeit in Halensee.................... 191 20. Kapitel: Cornelia im Privatauto. Der Geheimrat weiß von nichts. Frau Labude wird ohnmächtig ..................... 199 21. Kapitel: Juristin wird Filmstar. Eine alte Bekannte. Die Mutter verkauft Schmierseife 207 22. Kapitel: Besuch in der Kinderkaserne. Kegelschieben im Park. Die Vergangenheit biegt um die Ecke................... 216 23. Kapitel: Pilsner Bier und Patriotismus. Türkisches Biedermeier. Fabian wird gratis behandelt ....................... 224 24. Kapitel: Herr Knorr hat Hühneraugen. Die >Tagespost< braucht tüchtige Leute. Lernt schwimmen!.................. 231 Anhang Fabian und die Sittenrichter........... 239 Der Herr ohne Blinddarm............ 242 Sechstes Kapitel Der Zweikampf am Märkischen Museum • Wann findet der nächste Krieg statt? • Ein Arzt versteht sich auf Diagnose Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: »Hast du mit dieser Verrückten etwas gehabt?« »Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich.« »Warum nahmst du die Schlüssel mit?« »Weil die Haustür verschlossen war.« »Ein schauderhaftes Weib«, sagte Labude. »Sie hing besoffen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche.« »Sie hat dir nicht gefallen?« fragte Fabian. »Sie ist doch sehr eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend.« »Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim Portier abgegeben.« Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt brannte der Himmel. »Lieber Stephan«, sagte Fabian leise, »es ist rührend, wie du dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht 60 unglücklicher als unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen Direktorenposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen.« Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck, trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des Freundes. »Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir es taten oder unterließen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahlzeit.« Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian ging erregt hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. »Erinnerst du dich?« fragte er. »Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft hatte den Entschluß gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. 61 Was sollte ich bis dahin tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen? Geld verdienen? Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fährt der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr und was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!« »Zum Donnerwetter!« rief Labude, »wenn alle so denken wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln.« »Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen«, sagte Fabian, »und die Gerechten noch weniger.« »So?« Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen am Mantelkragen. »Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?« In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei, und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. »Viel Spaß!« sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen. Am Fuße des märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: »Warte nur, du Schwein!« Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fabian fragte: »Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?« »Weil mich's am Bein erwischt hat«, knurrte der 62 Mann. Es war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. »So ein Mistvieh!« brüllte er. »Aber ich weiß, wie du heißt.« Und er drohte der Dunkelheit. »Quer durch die Wade«, stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband. »Drüben in der Kneipe ging's los«, lamentierte der Verwundete. »Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er schon.« »Sind Sie nun wenigstens überzeugt?« fragte Fabian und blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der Schußwunde hantierte. »Die Kugel ist nicht mehr darin«, bemerkte Labude. »Kommt denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf.« »Nicht einmal ein Schutzmann ist da«, stellte Fabian bedauernd fest. »Der hätte mir gerade noch gefehlt!« Der Verletzte versuchte aufzustehen. »Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu lassen.« Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang. In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die 63 Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz verstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein? Plötzlich rief jemand »Hallo!« Fabian öffnete die Augen und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellbogen gestützt und preßte eine Hand aufs Gesäß. 64 »Was ist denn mit Ihnen los?« »Ich bin der andere«, sagte der Mann. »Mich hat's auch erwischt.« Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit. »Entschuldigen Sie«, rief Fabian, »meine Heiterkeit ist nicht gerade höflich.« Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren und sagte verbissen: »Wie's beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht.« »Warum stehst du denn da herum?« schrie Labude und kam ärgerlich über die Straße. »Ach Stephan«, sagte Fabian, »hier sitzt die andere Hälfte des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten.« Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Das Auto fuhr los. »Tut's sehr weh?« fragte Labude. »Es geht«, antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und musterten sich finster. »Volksverräter!« sagte der Nationalsozialist. Er war größer als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe aus. »Arbeiterverräter!« sagte der Kommunist. »Du Untermensch!« rief der eine. »Du Affe«, rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche. Labude faßte sein Handgelenk. »Geben Sie den Revolver her!« befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte sie ein. »Meine Herren«, sagte er. »Daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl 65 alle einig. Und daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes erreicht. Ihre Partei«, er meinte den Faschisten, »weiß nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei«, er wandte sich an den Arbeiter, »Ihre Partei...« »Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats«, erklärte dieser, »und Sie sind ein Bourgeois.« »Freilich«, antwortete Fabian, »ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort.« Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf der heilen Sitzhälfte und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen. »Das Proletariat ist ein Interessenverband«, sagte Fabian. »Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im Verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist.« »Unsere Führer...«, begann der Mann. »Davon wollen wir lieber nicht reden«, unterbrach ihn Labude. Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand. »Sie bringen mir zwei Politiker?« fragte er lächelnd. »Heute nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert 66 worden, einer mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe.« »Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist«, meinte Fabian. »Ja, natürlich.« Der Arzt nickte. »Der Kontinent hat den Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben Sie wohl!« Das Portal schloß sich. Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: »Ich kann jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ins Kabarett der Anonymen.« »Was ist das?« »Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber.« Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. »Wir leben in einer großen Zeit«, sagte er, »und sie wird jeden Tag größer.« 67 Fabian und die Sittenrichter (Die folgenden Ausführungen und ein zweiter Aufsatz, >Fabian und die Kunstrichter<, waren vom Verfasser als Nachwort zum Roman gedacht. Auch sie mußten wegfallen. Der erste Aufsatz erschien daraufhin in der >Welthühne<, der zweite ist verlorengegangen.) Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andre Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel. Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist! Durch Erfahrungen am eignen Leibe und durch sonstige Beobachtungen unterrichtet, sah er ein, daß die Erotik in seinem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte. Nicht, weil er das Leben fotografieren wollte, denn das wollte und tat er nicht. Aber ihm lag außerordentlich daran, die Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte. Sein Respekt vor dieser Aufgabe war möglicherweise ausgeprägter als sein Zartgefühl. Er findet das in Ordnung. Die Sittenrichter, die männlichen, weiblichen und sächlichen, sind wieder einmal sehr betriebsam geworden. Sie rennen, zahllos wie die Gerichtsvollzieher, durch die Gegend und kleben, psychoanalytisch geschult, wie sie sind, ihre Feigenblätter über jedes Schlüsselloch und auf je- 239 den Spazierstock. Doch sie stolpern nicht nur über die sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie werden dem Autor nicht nur vorwerfen, er sei ein Pornograph. Sie werden auch behaupten, er sei ein Pessimist, und das gilt bei den Sittenrichtern sämtlicher Parteien und Reichsverbände für das Ärgste, was man einem Menschen nachsagen kann. Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, umsomehr suchen sie ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Bouillon gibt, und weil ihnen das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde, fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten der Phantasie, die Schriftsteller? Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist! Er sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe anderer vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand am linken Griff! Wenn die Menschen nicht gescheiter werden (und zwar jeder höchstselber, nicht immer nur der andere), und wenn sie es nicht vorziehen, endlich vorwärts zu marschieren, vom Abgrund fort, der Vernunft entgegen, wo, um alles in der Welt, ist dann noch eine ehrliche Hoffnung? Eine Hoffnung, bei der ein anständiger Kerl ebenso aufrichtig schwören kann wie beim Haupt seiner Mutter? Der Autor liebt die Offenheit und verehrt die Wahrheit. Er hat mit der von ihm geliebten Offenheit einen Zustand geschildert, und er hat, angesichts der von ihm verehrten Wahrheit, eine Meinung dargestellt. 240 Darum sollten sich die Sittenrichter, ehe sie sein Buch im Primäraffekt erdolchen, dessen erinnern, was er hier wiederholt versicherte. Er sagte, er sei ein Moralist.