Joachim Ringelnatz : DER TRAURIGE ONKEL Wundre dich nicht, wenn ich meine, Weil ein Mensch doch dann und wann Trotz des besten Willens seine Sorgen nicht verbergen kann. Nimm aus meiner Schreibtischlade Den Revolver mir nicht fort, Auch das Gift nicht. Und verrate Niemandem davon ein Wort. Und du selber sollst nicht weinen, Wenn du über mich was liest, Oder wenn du plötzlich meinen Hut im Wasser treiben siehst. Frage nicht, warum ich heute Etwa etwas seltsam bin. Grüße bitte meine Leute. – Schau das Laub! – Es welkt dahin. Bleibe glücklich und genieße Du das Leben im Erblühn. Wenn du Zeit hast, so begieße Manchmal dieses Immergrün. Was für Absichten ich hege? Frage nicht. – Nimm diesen Kuß, Und dann geh ich jene Wege, Die ich einmal gehen muß. Noch ein Küßchen auf das kleine Näschen. Noch eins auf den Mund. Ach was hast du süße Beine. – Zeig mal! – Und wie bist du rund! Ach, mir darfst du das schon zeigen, Denn du bist doch schon so gut Wie erwachsen und kannst schweigen, Wenn dein Onkel etwas tut!?! Gottfried Benn: DAS SPÄTE ICH (1922) I O du, sieh an: Levkoienwelle, der schon das Auge übergeht, Abgänger, Eigen-Immortelle, es ist schon spät. Bei Rosenletztem, da die Fabel des Sommers längst die Flur verließ – moi haissable, noch so mänadisch analys. II Im Anfang war die Flut. Ein Floß Lemuren schiebt Elch, das Vieh, ihn schwängerte ein Stein. Aus Totenreich, Erinnern, Tiertorturen steigt Gott hinein. Alle die großen Tiere: Adler der Kohorten, Tauben aus Golgathal – alle die großen Städte: Palm- und Purpurborden – Blumen der Wüste, Traum des Baal. Ost-Gerölle, Marmara-Fähre, Rom, gib die Pferde des Lysippus her – letztes Blut des weißen Stiers über die schweigenden Altäre und der Amphitrite letztes Meer – Schutt. Bacchanalien. Propheturen. Barkarolen. Schweinerein. Im Anfang war die Flut. Ein Floß Lemuren schiebt in die letzten Meere ein. III O Seele, um und um verweste, kaum lebst du noch und noch zuviel, da doch kein Staub aus keinen Feldern, da doch kein Laub aus keinen Wäldern nicht schwer durch deine Schatten fiel. Die Felsen glühn, der Tartarus ist blau, der Hades steigt in Oleanderfarben dem Schlaf ins Lid und brennt zu Garben mythischen Glücks die Totenschau. Der Gummibaum, der Bambusquoll, der See verwäscht die Inkaplatten, das Mondchâteau: Geröll und Schatten uralte blaue Mauern voll. Welch Bruderglück um Kain und Abel, für die Gott durch die Wolken strich – kausalgenetisch, haissable: das späte Ich. Kurt Tucholsky: Liebespaar am Fenster Dies ist ein Sonntagvormittag; wir lehnen so zum Spaße leicht ermüdet zum Fenster hinaus und sehen auf die Straße. Die Sonne scheint. Das Leben rinnt. Ein kleiner Hund, ein dickes Kind .... Wir haben uns gefunden für Tage, Wochen, Monate und für Stunden – für Stunden. Ich, der Mann, denke mir nichts. Heut kann ich zu Hause bleiben, heute geh ich nicht ins Büro – ... an die Steuer muß ich noch schreiben .... Wieviel Uhr? Ich weiß nicht genau. Sie ist zu mir wie eine Frau, ich fühl mich ihr verbunden für Tage, Wochen, Monate und für Stunden – für Stunden. Ich, die Frau, bin gern bei ihm. Von Heiraten wird nicht gesprochen. Aber eines Tages will ich ihn mir ganz und gar unterjochen. Die Dicke, daneben auf ihrem Balkon, gibt ihrem Kinde einen Bonbon und spielt mit ihren Hunden .... So soll mein Leben auch einmal sein und nicht nur für Stunden – für Stunden. Von Kopf zu Kopf umfließt uns ein Strom; noch sind wir ein Abenteuer. Eines Tages trennen wir uns, eine andere kommt ... ein neuer.... Oder wir bleiben für immer zusammen; dann erlöschen die großen Flammen, Gewohnheit wird, was Liebe war. Und nur in seltenen Sekunden blitzt Erinnerung auf an ein schönes Jahr, und an Stunden – an glückliche Stunden. 1938 Kurt Tucholsky: Zwei Seelen Ich, Herr Tiger, bestehe zu meinem Heil aus einem Oberteil und einem Unterteil. Das Oberteil fühlt seine bescheidene Kleinheit, ihm ist nur wohl in völliger Reinheit; es ist tapfer, wahr, anständig und bis in seine tiefsten Tiefen klar und gesund. Das Oberteil ist auch durchaus befugt, Ratschläge zu erteilen und die Verbrechen von andern Oberteilen zu geißeln – es darf sich über die Menschen lustig machen, und wenn andre den Naseninhalt hochziehn, darf es lachen. Soweit das. Aber, Dunnerkeil, das Unterteil ! Feige, unentschlossen, heuchlerisch, wollüstig und verlogen; zu den pfinstersten Pfreuden des Pfleisches fühlt es sich hingezogen – dabei dumpf, kalt, zwergig, ein greuliches pessimistisches Ding: etwas ganz und gar Abscheuliches. Nun wäre aber auch einer denkbar – sehr bemerkenswert!–, der umgekehrt. Der in seinen untern Teilen nichts zu scheuen hätte, keinen seiner diesbezüglichen Schritte zu bereuen hätte – ein sauberes Triebwesen, ein ganzer Mann und bis in seine tiefsten Tiefen klar und gesund. Und es wäre zu denken, daß er am gleichen Skelette eine Seele mit Maukbeene hätte. Was er nur andenkt, wird faulig-verschmiert; sein Verstand läuft nie offen, sondern stets maskiert; sogar wenn er lügt, lügt er; glaubt sich nichts, redet sichs aber ein und ist oben herum überhaupt ein Schwein. Vor solchem Menschen müssen ja alle, die ihn begucken, vor Ekel mitten in die nächste Gosse spucken! Da striche auch ich mein doppelkollriges Kinn und betete ergriffen: »Ich danke dir, Gott, daß ich bin, wie ich bin!« Was aber Menschen aus einem Gusse betrifft in der schönsten der Welten –: der Fall ist äußerst selten. 1926 Kurt Tucholsky: Karrieren Et jibt Karrieren – die jehn durch den Hintern. Die Leute kriechen bei die Vorgesetzten rin. Da is et warm. Da kenn se ibawintern. Da bleihm se denn ne Weile drin. I, denken die – kein Neid! Wer hat, der hat. Denn komm se raus. Denn sind se plötzlich wat. Denn sind se plötzlich feine Herrn jeworden! Denn kenn die de Kollejen jahnich mehr. Vor Eifa wolln se jeden jleich amorden: »Ich bün Ihr Vorjesetzta! Bütte sehr!« Und jeda weeß doch, wie set ham jemacht! Det wird so schnell vajessen .... Keena lacht. Int Jejenteil. Der sitzt noch nich drei Stunden in seine neue Stellung drin -: da hat sich schon 'n junger Mann jefunden, der kriechtn wieda hinten rin! Und wenn die janze Hose kracht: weil mancha so Karriere macht. Er hat det Ding jeschohm. Nu sitzt a ehmt ohm. Von oben frisch und munter kuckt keena jerne runter. Weil man so rasch vajißt, wie man ruff, wie man ruff, wie man ruff jekommen ist –! 1930 Erich Kästner: Kleine Stadt am Sonntagmorgen Das Wetter ist recht gut geraten. Der Kirchturm träumt vom lieben Gott. Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten und auch ein bißchen nach Kompott. Am Sonntag darf man lange schlafen. Die Gassen sind so gut wie leer. Zwei alte Tanten, die sich trafen, bestreiten rüstig den Verkehr. Sie führen wieder mal die alten Gespräche, denn das hält gesund. Die Fenster gähnen sanft und halten sich die Gardinen vor den Mund. Der neue Herr Provisor lauert auf sein gestärktes Oberhemd. Er flucht, weil es so lange dauert. Man merkt daran: Er ist hier fremd. Er will den Gottesdienst besuchen, denn das erheischt die Tradition. Die Stadt ist klein. Man soll nicht fluchen, Pauline bringt das Hemd ja schon! Die Stunden machen kleine Schritte und heben ihre Füße kaum. Die Langeweile macht Visite. Die Tanten flüstern über Dritte. Und drüben, auf des Marktes Mitte, schnarcht leise der Kastanienbaum. Erich Kästner: Ein Mann gibt Auskunft Das Jahr war schön und wird nicht wiederkehren. Du wußtest, was ich wollte, stets und gehst. Ich wünschte zwar, ich könnte dir's erklären, und wünsche doch, daß du mich nicht verstehst. Ich riet dir manchmal, dich von mir zu trennen, und danke dir, daß du bis heute bliebst. Du kanntest mich und lerntest mich nicht kennen. Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst. Du denkst vielleicht, ich hätte dich betrogen. Du denkst bestimmt, ich wäre nicht wie einst. Und dabei habe ich dich nie belogen! Wenn du auch weinst. Du zürntest manchmal über meine Kühle. Ich muß dir sagen: Damals warst du klug. Ich hatte stets die nämlichen Gefühle. Sie waren aber niemals stark genug. Du denkst, das klingt, als wollte ich mich loben und stünde stolz auf einer Art Podest. Ich stand nur fern von dir. Ich stand nicht oben. Du bist mir böse, weil du mich verläßt. Es gibt auch and're, die wie ich empfinden. Wir sind um soviel ärmer, als ihr seid. Wir suchen nicht, wir lassen uns bloß finden. Wenn wir Euch leiden sehn, packt uns der Neid. Ihr habt es gut, denn Ihr dürft alles fühlen. Und wenn Ihr trauert, drückt uns nur der Schuh. Ach, uns're Seelen sitzen wie auf Stühlen und sehn der Liebe zu. Ich hatte Furcht vor dir. Du stelltest Fragen. Ich brauchte dich und tat dir doch nur weh. Du wolltest Antwort. Sollte ich denn sagen: »Geh!« Es ist bequem mit Worten zu erklären. Ich tu es nur, weil du es so verlangst. Das Jahr war schön und wird nicht wiederkehren. Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst.