Eine ähnliche Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit findet man bei der Minne und dem Liebesleben im Mittelalter. In der Antike meist nicht die Unerreichbarkeit der Geliebten, sondern die grausame Trennung der schon vereinten Liebenden durch den Tod. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Einstellung zur Sexualität und Liebe im Frühmittelalter und seit dem 12. bzw. 13. Jh. Das Christentum hat alles getan, um die Sexualität bloß auf die Fortpflanzung zu binden und jede Erotik zu unterdrücken. Jungfräulichkeit und Keuschheit galten als viel gepriesene Tugenden, luxoria, Üppigkeit, Ausgelassenheit, die Freude an körperlicher Zärtlichkeit als verdammte Laster. Jakob de Voraigne, Legenda Aurea, 193: schildert ein Ideal : Galla, eine vornehme Römerin, verwitwet, lehnte ab, wieder zu heiraten. (eine Braut Gottes wollte sie werden: die Beziehung beginnt zwar traurig, endet aber in ewiger Freude; die weltliche Trauung beginnt mit Freuden, steuert aber auf ein trauriges Ende zu.) Ein Ausschlag, der nach ihren Ärzten durch eine Beziehung zu einem Mann geheilt werden sollte. Sonst soll die innere Glut und strenge Enthaltsamkeit dazu führen, daß ihr ein Bart wächst. Es geschah dann auch. Sie ging in ein Kloster. Brustkrebs. Kerzen am Bett, weil sie auch in der Nacht keine Dunkelheit dulden wollte. Einmal hatte sie eine Vision, in der ihr der Apostel Paulus erschien. Drei Tage danach starb sie – gleichzeitig mit der Äbtissin. Bekenntnisse des hl. Augustinus: Zweites Buch, Erstes Kapitel, 68 f. einst, in der Jugend, brannte ich danach, die Genüsse der Hölle auszukosten, und scheute nicht davor zurück, in wechselndem und lichtscheuem Liebesgetändel zu verwildern, und meine Schönheit schwand und ward Verwesung in deinen Augen, da ich mir gefiel und danach strebte, den Augen der Menschen zu gefallen. /.../ aus dem Schlamm der Begierde, aus dem Sprudel der Jugendkraft stiegen Nebel auf und umwölkten und verfinsterten mein Herz, das es den hellen Glanz der Liebe nicht von der Finsternis der Begierde zu scheiden wußte. /.../ Zur Strafe für den Hochmut meiner Seele war ich taub geworden von dem Klirren der Kette meiner Sterblichkeit... (KoritherBrief 7, 28-32) Hieronymus, Legenda Aurea, 235: (in der Wüste als Eremit) Und obwohl ich mur mit Skorpionen und dem Wild lebte, häufig tanzten vor meine Augen Mädchen und in dem kalten Körper und dem fast abgestorbenene Fleische brannten die Gluten der Leidenschaft. Und so peinte ich ununterbrochen und züchtigte meinen Leib wochenlang mit Hunger. Frauenkleider als Falle für Hieronimus in Rom, um ihn in Rom bloßzustellen: er zog es an zum Morgengebet, ihr Ziel war erreicht: es fiel der Verdacht auf ihn, ein Weib im Bett gehabt zu haben. Die Kirche schrieb vor, an welchen Tage der eheliche Geschlechtsverkehr aus liturgischen Gründen tabuisiert wurde. Dazu kam, daß jedes körperliche Beisammensein nach der Lehre des hl. Augustinus, auch wenn es vorschriftsmäßig nur auf die Zeugung von Kindern ausgerichtet war, sündhaft blieb, gerade weil es mit Lust verbunden war. Die Verfasser der Bußbücher (Kataloge von Sünden und der dafür vorgesehenen Bußen) waren sehr konkret und sind die wichtigste Quelle, um die damaligen Gepflogenheiten zu rekonstruieren. Sie versuchten den Christen jede Lust auf Erotik auszutreiben. Z. B. die Position, bei der die Frau sich über dem Mann befindet, war verpönt, weil sie angeblich nur von Hexen mit dem Teufel praktiziert wurde. Erst die Kreuzzüge und Berührungen mit der mehr entwickelten Hofkkultur der Araber trug da zu einer Wende bei. Und zwar nur z. T. in den Oberschichten, wo seit dem 13. Jh. die Sexualität wohl in Anlehnung an die antik-arabische Tradition als natürlich und moralisch wertfrei betrachtet und die damit verbundene Emotionalität ernst genommen wurde. Es ist kein Zufall, daß so oft Häresie, Abweichung vom rechten Glauben, und Libertinismus, sexuelle Freizügigkeit bis zur wahllosen Promiskuität zusammen genannt werden ( Katharer in Südfrankreich, Sekte vom Freien Geist in Deutschland, 1209-1229 haben die Franzosen im Kreuzzug gegen die Albigenser diese Gegner allen Reichtums ausgerottet). Die Stellung der Frau im Frühmittelalter ist aus folgender Bemerkung des hl. Isidor von Sevilla (um 560-636, Etymologiae) ersichtlich: Warum ist der Mann der kräftigere? Damit die Frau dem Manne unterworfen sei, auf daß nicht, sollte sie sich ihm verweigern wollen, seine Lust ihn dazu zwinge, eine andere zu begehren. Also in der Ehe war kaum Raum für Zärtlichkeiten und Entwicklung der Emotionen, die wir aus dem höfischen Epos kennen. Das liebend erotische Verhältnis tritt erst im 12 Jh. in der höfischen Minne. Nach der Theorie der Höfischen Minne wird der edle Liebhaber durch seine Liebe tugendsam und rein. In der Veredelung der Erotik lag ein Hemnis für die Zügellosigkeit (vgl die Derbheit und Keckheit der Epithalamien, der Hochzeitslieder. Im unmittelbaren Widerspruch zur Frömmigkeit und Courtoisie behaupteten sich in Hochzeitsbrauchen die abgeschwächten Reste des phalischen Symbolismus der primitiven Kultur. Metaphern aus dem Bereich von Turnier, Jagd und Musik.) Ein anderes Zeugnis von der neuen Einstellung zur Liebe bringen die Vagantenlieder Carmina burana. Benediktbeurer Lieder ( Ende des 19. Jahrhunderts angelegt, 1847 erste Edition), eine Gegenstück zum eigentlichen Minnengesang, zum Lied der hohen Minne. Die Geliebte ist ein frisches Bauernmädchen, nicht allzu alt, keine Dirne oder Verheiratete. Der Sänger scheut sich nicht vor eventuelen Gewaltanwendung, um an sein Ziel zu kommen, ob nun zur Freude der Geliebten oder nicht. Vgl. Karl Langosch Überfasll auf die Schäferin, S. 81.