Aly, Goetz in Die Zeit Von Volker Ullrich © DIE ZEIT 10.03.2005 Nr.11 Hitlers zufriedene Räuber Ein Buch, das einen neuen Blick auf die Nazizeit wirft: Götz Aly deutet den Holocaust als größten Massenraubmord der Geschichte Ein provokantes Buch! Da hatten wir, den bevorstehenden Jahrestag des Kriegsendes 1945 im Blick, uns schon bescheinigt, in der »Aufarbeitung« der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geradezu Vorbildliches geleistet zu haben. Da hatten wir uns in der Gewissheit gewiegt, dass der Holocaust mittlerweile nicht nur in all seinen Dimensionen erforscht, sondern auch fest im öffentlichen Bewusstsein verankert sei. Und nun kommt Götz Aly und will uns belehren, dass wir nicht am Ende, sondern in mancher Hinsicht erst am Anfang der Auseinandersetzung stehen: »Der Holocaust bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte analysiert wird.« Den Anfang machte er mit einer Studie über das nach 1933 perfektionierte System der Volkszählungen, Meldegesetze und Karteikarten: Die restlose Erfassung (mit Karl Heinz Roth, 1984). Danach widmete er sich der Rolle der wissenschaftlichen Experten, die den Nazis zur Hand gingen: Vordenker der Vernichtung (mit Susanne Heim, 1991), um sich anschließend dem bis dahin kaum beachteten Zusammenhang zwischen der NS-Politik der »Völkerverschiebung« und dem Mord an den europäischen Juden zuzuwenden: »Endlösung« (1995). Es folgte ein Buch über den Holocaust in Ungarn 1944, das zeigt, wie eng Eichmanns Vernichtungsspezialisten mit der ungarischen Regierung, Verwaltung und Polizei kooperiert hatten: Das letzte Kapitel (mit Christian Gerlach, 2002). Erst kürzlich demonstrierte der ungemein produktive Forscher, was sich trotz spärlichster Überlieferung dennoch über die Lebensgeschichte eines jüdischen Mädchens, Marion Samuel, in Erfahrung bringen ließ, das 1943 in Auschwitz ermordet wurde: Im Tunnel (2004). Im Mai 2002 hielt Götz Aly in der Berliner Akademie der Künste einen Vortrag zum Thema Hitlers Volksstaat (wieder abgedruckt in seiner Essaysammlung Rasse und Klasse, 2003). In Abwandlung des bekannten Diktums von Max Horkheimer – »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen« – stellte Aly damals fest: »Wer von den vielen Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.« Mit dieser provozierenden These war zugleich ein Forschungsprogramm skizziert, dem sich der Berliner Historiker in den folgenden Jahren intensiv gewidmet hat und dessen Ergebnisse nun in seinem jüngsten Buch zu besichtigen sind. Zunächst fragt Aly danach, wie es Hitler vermochte, seine zu Beginn noch höchst labile Herrschaft innerhalb kurzer Zeit zu festigen und ein erstaunlich hohes Maß an innenpolitischer Integration zu erreichen. Die Antwort widerspricht allen gängigen, den terroristischen Charakter des Regimes herausstreichenden Vorstellungen. Demnach war das »Dritte Reich« eine »Gefälligkeitsdiktatur«; Hitler und die Männer seiner Entourage agierten als »klassische Stimmungspolitiker«, die geradezu peinlich darauf bedacht waren, die Masse der Bevölkerung bei Laune zu halten. Zu diesem Zwecke gossen sie das Füllhorn sozialpolitischer Wohltaten aus: Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags et cetera. Gleichzeitig sorgte das Regime nach dem Motto »Mehr Chancengleichheit wagen« für eine kräftige soziale Aufwärtsmobilität. Verhärtete Strukturen wurden aufgebrochen, traditionelle Hierarchien abgeschliffen. Aly spricht, in Anspielung auf die Rede von Bundespräsident Roman Herzog, von einem »großen Ruck«, der damals durch Deutschland gegangen sei und eine beachtliche gesellschaftliche Dynamik freigesetzt habe. Im »völkischen Gleichheitsversprechen«, das einherging mit einer Ausgrenzung aller so genannter volksfremder Elemente, in erster Linie der Juden, lag, folgt man dieser Darstellung, die Hauptattraktion des Nationalsozialismus. »Volksgemeinschaft«, »Volkswohl«, »nationaler Sozialismus« – Begriffe der NS-Propaganda, die wir bislang eher als täuschenden Schein abzutun geneigt waren – werden hier beim Wort genommen. Sie spiegeln eine gesellschaftliche Realität, gewissermaßen die angenehme Schauseite der Diktatur. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Politik der sozialen Fürsorglichkeit keineswegs abgebremst, sondern sogar noch forciert. Nachdrücklich weist Aly darauf hin, wie stark das Handeln der NS-Führung durch das Trauma von 1918 geprägt war – die Erfahrung des plötzlichen Zusammenbruchs des Kaiserreichs im Angesicht der militärischen Niederlage. Anders als ihre wilhelminischen Vorgänger suchten die Nationalsozialisten die Lasten des Krieges gerecht zu verteilen. Für die Familien der Soldaten wurde großzügig gesorgt; sie konnten nicht selten über mehr Geld verfügen als in Friedenszeiten. Die große Mehrheit der Lohnabhängigen – Arbeiter, Angestellte, Beamte – musste keinen Pfennig direkter Kriegsteuer bezahlen. Das Verbot von Zuschlägen für Überstunden, das im November 1939 erlassen worden war, wurde bereits im August 1940 wieder abgeschafft – »aus purem Populismus«, wie Aly anmerkt. Die Rentenreform von 1941 bedeutete eine spürbare Verbesserung besonders für Kleinrentner und bescherte mit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung eine weitere soziale Errungenschaft. Belastet wurden dagegen die Besserverdienenden und Vermögenden. Die exorbitanten Kriegsgewinne der Unternehmer wurden abgeschöpft, die Körperschaftsteuer erhöht, Hausbesitzer zu einer Sondersteuer herangezogen. Kurzum: Das NSRegime betrieb eine Politik der Umverteilung zugunsten der kleinen Leute. Das sicherte ihm, Aly zufolge, die Massenloyalität und bildete die Grundlage für den innenpolitischen Zusammenhalt bis zum Kriegsende. Freilich macht der Autor deutlich, dass dieses Programm sich nur realisieren ließ durch eine rücksichtslose Ausplünderung der eroberten und besetzten Länder Europas. Zum ersten Mal werden in diesem Buch die Methoden der Kriegsfinanzierung mit gebotener Schärfe durchleuchtet, und dabei rücken Funktionsträger des Regimes ins Blickfeld, die bislang eher am Rande der Aufmerksamkeit standen – Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und sein Staatssekretär Fritz Reinhardt, dazu die Fachleute im Reichsfinanz- und Reichswirtschaftsministerium, der Reichsbank, der Reichskreditkassen und Wehrmachtintendanturen. Diese Truppe junger, dynamischer, hocheffizienter Führungskräfte, von denen die meisten nach 1945 ihre Karriere fortgesetzt haben, lernte sehr rasch das Einmaleins des Unterwerfens, Ausplünderns und Erpressens. Dem besetzten Europa wurden beispiellose Besatzungskosten und Kontributionen auferlegt. Nicht nur der Sold der deutschen Soldaten, sondern alle Dienstleistungen, Rohstoffe und Produkte wurden in der Währung des Landes bezahlt, in das die Wehrmacht eingefallen war. So wurde die Kriegsinflation exportiert – mit ruinösen Folgen für Wirtschaft und Finanzen der unterworfenen Staaten. Davon profitierten allein die deutschen Besatzer, und zwar bis hinunter zu den Landsern, die aufgrund der manipulativ festgelegten Wechselkurse plötzlich viel Geld in der Tasche hatten. Ein Heer von Schnäppchenjägern und Abzockern stürmte Warenhäuser, durchkämmte Landstriche und kaufte hemmungslos zusammen, was zu kaufen war: Lebensmittel, Textilien, Kosmetikartikel, Spezialitäten. Millionen Feldpostpäckchen wurden in die »Heimat« geschickt und besserten hier die Rationen der »Volksgenossen« auf, während zur gleichen Zeit die Menschen in den besetzten Gebieten vor allem Osteuropas hungern mussten. Unter der Überschrift Hitlers zufriedene Räuber beschreibt Aly höchst anschaulich diesen privaten Beutezug quer durch Europa. Anhand der Briefe des Gefreiten Heinrich Böll, einer in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreichen Quelle, schildert er die korrumpierende Wirkung, welche die Möglichkeit zur individuellen Bereicherung selbst auf einen Nichtnazi aus katholischem Hause ausübte. Schnäppchenjäger gab es auch an der »Heimatfront«. Als in der zweiten Kriegshälfte immer mehr deutsche Städte zum Ziel der alliierten Bombengeschwader wurden, organisierten die staatlichen Stellen eine unbürokratische Soforthilfe. Aus ganz Europa wurden Möbel und Hausrat der emigrierten und deportierten Juden ins Großdeutsche Reich geschafft und hier an Bombengeschädigte verteilt beziehungsweise an Interessenten verkauft. Aly nennt als besonders eklatanten Fall das Beispiel Hamburgs, auf das bereits Frank Bajohr in seinem Buch »Arisierung« in Hamburg (1997) aufmerksam gemacht hat: Allein in der Hansestadt ersteigerten in den Jahren 1941 bis 1945 mindestens 100000 Bewohner Gegenstände aus jüdischem Besitz. Goldhagen wird vom Kopf auf die Füße gestellt Aus der Enteignung der Juden zogen allerdings nicht nur private Profiteure ihren Nutzen; der NS-Staat selbst agierte hier in großem Stil als Beutemacher. Im brisantesten Kapitel des Buches Das Prinzip Staatsraub stellt Aly die Frage, die merkwürdigerweise bislang kein Historiker so scharf gestellt hat: wo eigentlich das Eigentum der expropriierten und ermordeten Juden Europas geblieben ist. Den Schlüssel sucht der Autor in der Konstellation des Jahres 1938: Damals erreichte die öffentliche Verschuldung aufgrund der forcierten Aufrüstung und der breitenwirksamen Steuer- und Sozialpolitik Rekordmarken; die Staatsfinanzen standen vor dem Bankrott. In dieser Situation verfielen die NS-Finanzexperten auf die Idee, sich des jüdischen Vermögens durch Umwandlung in staatliche Zwangsanleihen zu bemächtigen. Dieses Modell, so weist Aly nach, wurde im Kriege auf die besetzten und verbündeten Länder Europas übertragen. Um hier die Kriegsinflation zu bremsen und die angeschlagenen Währungen zu stabilisieren, lenkten die deutschen Besatzer die Erlöse aus dem Verkauf jüdischen Besitztums in die jeweiligen nationalen Staatskassen. Von dort flossen sie in den Besatzungskostenhaushalt, kamen also letztlich der deutschen Kriegsfinanzierung zugute. Der Autor beschreibt den Vermögenstransfer als einen »großangelegten, gesamteuropäischen Geldwäschevorgang«. Mit solchen klandestinen Praktiken befassen sich in der Regel Kriminalisten, nicht aber Historiker. Götz Aly ist hier eine Ausnahme. Er hat in den Archiven der Finanzverwaltungen und Nationalbanken nachgeforscht – ein mühevolles Unterfangen, denn einerseits wurden, aus begreiflichen Gründen, zahlreiche Unterlagen vorsätzlich vernichtet, andererseits verweigerten ihm manche Bankinstitute, etwa in Ungarn, die Akteneinsicht. Dennoch ist es erstaunlich, was der Autor alles herausgefunden hat. So kann er zeigen, wie unterschiedlich die Bereitschaft zur Kollaboration in den einzelnen Ländern war. Dort, wo, wie in Belgien, Direktoren und Angestellte der Banken ihre Mitarbeit bei der Identifizierung ihrer jüdischen Einleger verweigerten, stieß die deutsche Enteignungspolitik rasch an eine Grenze. In anderen Staaten hingegen, in Frankreich oder in Ungarn, beeilten sich Behörden und Banken, den Wünschen der Besatzer nachzukommen und das Eigentum der Juden zu konfiszieren. In »geschichtskriminalistischer Kleinarbeit« rekonstruiert Aly ein besonders trauriges Kapitel: die Enteignung und anschließende Deportation der 46000 Juden von Saloniki im März 1943, bei der Deutsche und Griechen eng zusammenarbeiteten mit der Absicht, die inflationäre Drachme zu stabilisieren. Götz Alys Untersuchung ist eine Spätfrucht materialistischer Geschichtsschreibung. Goldhagen wird gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt. Nicht ein besonders mörderischer, »eliminatorischer« Antisemitismus war, so gesehen, die entscheidende Triebkraft für den Holocaust, sondern das Interesse der NS-Führung, aus Vermögen und Besitz, ja selbst noch aus den Leichen der ermordeten Juden Europas möglichst viel Kapital zu schlagen, um sich mittels einer »Politik volksnaher Wohltaten« (in Kombination mit exemplarischem Terror gegen so bezeichnete »Volksschädlinge«) die Massenzustimmung immer wieder neu zu erkaufen. Die Symbiose von »Volksstaat« und Verbrechen Es fragt sich allerdings, ob damit das Motiv der materiellen Bestechung und Korrumpierung nicht beträchtlich überschätzt, das ideologische Moment, eine lange tradierte, seit dem 19. Jahrhundert intensivierte und von den Nationalsozialisten radikalisierte Judenfeindschaft, hingegen erheblich unterschätzt wird. Der fanatische Eifer, mit dem viele Deutsche bei der Ausführung des Verbrechens zu Werke gingen, dasfreiwillige Mitmachen aus Überzeugung, auf das Goldhagen zu Recht verwiesen hat – sie kommen in dieser Darstellung zu kurz. Aly sieht in der großen Mehrzahl der Deutschen angepasste Mitläufer, die sich nach der Devise »Geld ist geil« der Mitnahmemöglichkeiten, die das Regime ihnen bot, dankbar erfreuten, sich ansonsten aber in passiver Loyalität übten, was indes für die Funktionsfähigkeit der Diktatur vollkommen ausgereicht habe. Das gläubige Vertrauen auf den charismatischen »Führer«, das Verfallensein an den Hitler-Mythos, das Ian Kershaw und jüngst Hans-Ulrich Wehler als stärkstes Bindemittel des Regimes beschrieben haben – es taucht nicht einmal mehr auf. In der Quintessenz läuft das Buch auf eine neue Variante der Kollektivschuld-These hinaus. 95 Prozent der Deutschen, heißt es wiederholt, hätten direkt oder indirekt vom Massenraubmord profitiert. Hinter dieser magischen Zahl verschwimmen die sehr ungleich verteilten Grade individueller Schuld und Verantwortung. Es macht ja wohl einen gewaltigen Unterschied aus, ob zum Beispiel die Manager der Dresdner Bank rigoros das Geschäft der »Arisierungen« betrieben oder ob eine Hamburger Hausfrau bei einer Auktion einen Pelzmantel ergatterte, dessen Herkunft ihr womöglich nicht bekannt war. Alys Interpretation enthält überdies eine fragwürdige aktuelle Pointe, die im Buch selbst nur angedeutet wird, die der Autor aber in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung (vom 1. September 2004) mit der ihm eigenen Lust an der Zuspitzung so formuliert hat: »Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft.« Die Demontage des Sozialstaats, wie wir sie gegenwärtig erleben, mit dem Hinweis auf das sozialpolitische Appeasement der Nazis rechtfertigen zu wollen ist freilich abwegig. Dennoch: Nie zuvor ist der symbiotische Zusammenhang zwischen »Volksstaat« und Verbrechen, zwischen den attraktiven und kriminellen Elementen des Nationalsozialismus so scharfsinnig und einleuchtend dargestellt worden. Dieses Buch gehört zu jenen seltenen Werken, die unseren Blick auf die düsterste und folgenreichste Periode der deutschen Geschichte neu schärfen. © DIE ZEIT 10.03.2005 Nr.11 Götz Aly: Hitlers Volksstaat Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus; S. Fischer Verlag, 2005; 464 S., 22,90 € ZEIT 32/2005: Volk und Vorteilsnahme Erst raubten die Deutschen alle Juden aus, dann haben sie sie ermordet. Warum Götz Alys Forschung die Wissenschaft weiterbringt » ZEIT 18/2005: Stramme junge Männer in braunen Uniformen Götz Alys Thesen führen in die Irre. Nicht deutsche »Hirnlosigkeit«, sondern Amerikas Aufstieg machte die »Volksgenossen« für Hitler anfällig » ZEIT 15/2005: Wie die Nazis ihr Volk kauften Warum standen so viele Deutsche treu zu Hitler? Weil sie von seinen mörderischen Raubzügen profitierten. Diese These des Historikers Götz Aly hat eine heftige Debatte entfacht. Hier antwortet Aly seinen Kritikern » Der Historiker Götz Aly im Disput mit seinen Kritikern in Frankfurt am Main Von Uwe Wittstock Trotz kontroverser Debatte auf dem Podium, trotz Hitze, regelmäßig verlöschendem Licht und Überfüllung im viel zu kleinen Saal der Frankfurter Universität blieb das Publikum zahm. Obwohl um Wortmeldungen gebeten, wurde nur ein Zwischenruf laut - als Hans-Ulrich Wehler vom gegenwärtigen Umbau des Sozialstaates sprach. "Umbau" sei doch wohl, erregte sich der Rufer, das falsche Wort, vielmehr müsse, was die SPD zur Zeit betreibe, eine "Zerstörung" des Sozialstaates genannt werden. Ein bezeichnender Temperamentsausbruch. Die Diskussion nämlich galt Götz Alys Buch "Hitlers Volksstaat" (S.Fischer), an dem sich die Geister zur Zeit so streng scheiden, wie seit Goldhagens Studie über "Hitlers willige Vollstrecker"[1] nicht mehr. Aly nennt das NS-Regime seiner Sozialpolitik wegen eine "Gefälligkeitsdiktatur", die durch niedrige Steuern und üppige Umverteilungsleistungen große Teile der Bevölkerung korrumpiert habe, und versucht zu belegen, welche materiellen Vorteile vielen Deutschen im Zweiten Weltkrieg durch die Ausbeutung der eroberten Länder und der Juden erwuchsen. Auch wenn Aly in Frankfurt Zuspitzungen eher vermied, laufen seine Thesen darauf hinaus, die meisten Deutschen als Hitlers willige Profiteure zu betrachten - also der alten These von der Kollektivschuld neuen Glanz zu verleihen. Hans-Ulrich Wehler, der Nestor der deutschen Sozialgeschichte, tat Aly den publizistischen Gefallen, "Hitlers Volksstaat" im "Spiegel" massiv anzugreifen und das Ergebnis eines "anachronistischen Vulgärmaterialismus" und Rückschritt hinter den aktuellen Forschungsstand zu nennen. Gleiches tat er auch in der Frankfurter Debatte, hob - im Kontrast zu Alys Studie - das Buch von Michael Wildt "Generation des Unbedingten"[2] (Hamburger edition) hervor, in der persönliche Schuld einzelner Täter und zeitgeschichtliche Prägungen miteinander verschränkt betrachtet werden. Micha Brumlik, Leiter des Frankfurter Fritz Bauer Instituts, sprang Wehler in diesem Punkt bei, als er betonte, geistige und materielle Handlungsmotive ließen sich nur im Zusammenhang zutreffend beurteilen. Der große Zeithistoriker Hans Mommsen dagegen zeigte sich beeindruckt von Alys Forschungen: Die antisemitische Propaganda habe die Voraussetzung für den Holocaust geschaffen, doch der Drang nach materieller Bereicherung dann der Judenverfolgung wesentliche Schubkraft verliehen. Sicher, wachsende historische Distanz trägt dazu bei, daß Debatten zur NS-Geschichte eher intellektuelles Interesse wecken. Zumindest flammte in Frankfurt Erregung erst auf, als aus der Vergangenheit so etwas wie Deutungshoheit über die Gegenwart gewonnen werden sollte - als nämlich von der Kontinuität zwischen der Sozialpolitik der Nazis und der Bundesrepublik die Rede war. Hier wurden die materiellen Interessen so schmerzhaft berührt, daß zum einzigen Mal Widerspruch aus dem Publikum laut wurde. Wer will, kann darin ein Indiz für die ungebrochene Antriebsmacht jener politischen Handlungsmotiven sehen, die Götz Aly untersucht. Artikel erschienen am 06.05.2005 ------------------------------- [1] Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust Inhalt: Die Hypothese, von der ich bei Beginn der empirischen Forschungen annahm, dass sie sich am ehesten bestätigen ließe, lautete: Es waren die Vorstellungen und Bilder von den Juden, die die Täter zu ihren Taten, zur Mitwirkung an der mörderischen Verfolgung der Juden motiviert haben; weil es diese Bilder und Vorstellungen gab, mussten die verschiedenen deutschen Institutionen sich den bereits vorhandenen Antisemitismus nur nutzbar machen, sobald Hitler den Befehl zur Vernichtung erteilte. (Seite 541) Daniel Jonah Goldhagen geht davon aus, dass die nationalsozialistische Führung die Vernichtung der Juden nur durchführen konnte, weil in der deutschen Bevölkerung ein negatives Klischee über "den Juden" ebenso weit verbreitet war wie die Überzeugung, man müsse sich der Juden erwehren. – Diese Hypothese versucht Goldhagen exemplarisch durch Dokumente über die deutschen Polizeibataillone in Osteuropa, die Vernichtungslager und die Todesmärsche nach deren Auflösung zu belegen. Die Deutschen betrachteten die Juden als Inbegriff der Verbindung von höchster Intelligenz und Gerissenheit gepaart mit abgrundtiefer Niedertracht. (Seite 482) Im Grunde – behauptet Goldhagen – hätten die meisten Deutschen die Eliminierung der Juden aus Deutschland für gerechtfertigt gehalten. Einen "eliminatorischen Rassenantisemitismus" (Seite 166) unterstellt er ihnen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Ansicht, die Juden seien eine Gefahr für Deutschland und ihre Bösartigkeit liege in ihrer Rasse begründet, ebenso weit verbreitet wie die daraus folgende Überzeugung, dass die Juden ausgeschaltet werden müßten. (Seite 97) Hitler übersprang den moralischen Abgrund, den die gewöhnlichen Deutschen aus eigener Kraft nicht überwinden konnten, und schuf die Bedingungen, unter denen aus den eliminatorischen Maßnahmen, aus der Ausgrenzung und Ausschaltung, schließlich Ausrottung werden konnte [...] Nach den Jahren des Aufruhrs, der Unordnung und der Entbehrungen, an denen angeblich die Juden schuld sein sollten, bot Hitler den Deutschen nun eine wirkliche "Endlösung" an. Sie ließen sich von ihm mitreißen, arbeiteten gemeinsam daran, seine Vision und sein Versprechen zu realisieren, das mit ihrer Weltsicht, mit ihren tiefsten Grundsätzen vereinbar war. (Seite 522f) Die häufig vorgebrachte Behauptung, man habe nichts von den Gräueln geahnt, lässt Goldhagen nicht gelten. Die ersten Schritte des antijüdischen Programms, der systematische Ausschluß der Juden vom deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsleben, wurden in aller Öffentlichkeit, mit Zustimmung und Mitwirkung buchstäblich aller Schichten der deutschen Gesellschaft unternommen [...] Hunderttausende von Deutschen trugen zum Genozid und dem weit umfassenderen System der Unterwerfung, dem riesigen Lagersystem, bei. Trotz der allerdings nicht sehr konsequenten Bemühungen des Regimes, den Völkermord geheim zu halten, wussten Millionen Deutsche von der Massenvernichtung. Hitler verkündete mehrmals mit aller Leidenschaft, dass der Krieg mit der Auslöschung der Juden enden würde, und die Tötungen trafen auf allgemeines Verständnis, wenn nicht gar Zustimmung [...] (Seite 21) Folgende Voraussetzungen für den Holocaust glaubt Goldhagen zu erkennen: (1) Die nationalsozialistische Führung beschloss und organisierte die Judenvernichtung. (2) Im Krieg bekam die deutsche Führung osteuropäische Juden unter ihre Kontrolle. (3) Eine große Zahl von "ganz gewöhnlichen Deutschen" beteiligte sich aktiv und freiwillig an der Judenvernichtung. – Auch in anderen europäischen Ländern sei der Antisemitismus verbreitet gewesen, gibt Goldhagen zu, aber es sei nur im Machtbereich des Deutschen Reichs zu einem Genozid gekommen, weil hier die einzige Regierung amtierte, die den Massenmord duchführte. In seinem Buch mit dem provozierenden Titel: "Hitlers willige Vollstrecker" beschäftigt Daniel Jonah Goldhagen sich jedoch nicht weiter damit, sondern fast ausschließlich mit der dritten Voraussetzung. Woher rührte denn die allgegenwärtige, schier unglaubliche Reibungslosigkeit, mit der ein Programm durchgesetzt wurde, das von der Mitwirkung so vieler Menschen abhängig war? (Seite 451) Zuerst listet Goldhagen herkömmliche psychologische Erklärungen auf: Die Täter handelten unter vermeintlichem oder tatsächlich vorhandenem äußeren Druck (Befehlsnotstand) oder sie neigten dazu, Autoritäten und ihren Befehlen blind zu gehorchen. Die Täter fühlten sich durch ihre Kameraden unter Druck gesetzt (peer pressure). Sie handelten aus Eigeninteresse, beispielsweise um Karriere zu machen, oder sie durchschauten die Zusammenhänge nicht, weil die Aufgaben fragmentiert waren. Durch die zitierten Dokumente glaubt Goldhagen nachgewiesen zu haben, dass diese Deutungsmuster für die Erklärung des Holocaust irrelevant sind. Beispielsweise hätte niemand ernste Konsequenzen befürchten müssen, wenn er nicht an Massenerschießungen teilgenommen hätte. (Diese Auffassung vertritt auch Christopher R. Browning in seinem Buch "Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen".) Es ist also eindeutig bewiesen, dass kein Deutscher jemals wegen seiner Weigerung, einen Juden umzubringen, getötet oder inhaftiert wurde. (Seite 446) Die Täter – so Goldhagen – machten freiwillig mit. Dass die Täter den Massenmord billigten und bereitwillig daran teilnahmen, steht fest. Dass ihre Zustimmung im Wesentlichen von dem Bild bestimmt war, das sie von den Juden hatten, kann man ebenfalls mit Gewissheit sagen [...] (Seite 487) Rekrutierten die Täter sich aus einer Minderheit besonders sadistisch veranlagter Psychopathen? Nein, meint Goldhagen. Die Polizeibataillone, die in Osteuropa die Massenerschießungen durchführten, waren auch keine Eliteeinheiten, keine besonders geschulten Nationalsozialisten, sondern Durchschnittsdeutsche. Beschäftigt man sich mit den Polizeibataillonen, werden zwei grundlegende Tatsachen deutlich: Erstens waren es ganz gewöhnliche Deutsche, die zu Vollstreckern des Völkermords wurden. Zweitens töteten sie, obwohl sie es nicht mussten. (Seite 328) Mit Dutzenden von Beispielen zeigt Goldhagen, dass die Täter nicht nur Befehle ausführten, sondern selbst die Initiative ergriffen. Deutsche Soldaten erniedrigten ihre Opfer, ließen sich dabei knipsen und schickten die Erinnerungsfotos ihren Angehörigen in der Heimat. Sie handelten auch nicht gleichgültig und gefühlskalt, sondern hasserfüllt: Die Tötung von Juden […] war ein hasserfüllter, rabiater Vorgang, der von Grausamkeit, Erniedrigung, Hohn und Spott vorbereitet und begleitet wurde. Warum konnten diese Henker des jüdischen Volks nicht wie normale Scharfrichter handeln? Wie kam es, dass die ganz gewöhnlichen Deutschen, die zu Vollstreckern wurden, von heute auf morgen eine so mutwillige, spontane und unverlangte Grausamkeit an den Tag legten? Die Antwort führt wiederum zu den Bildern und Vorstellungen, die die Deutschen sich von den Juden gemacht hatten. In ihren Augen war der Jude nicht nur ein abscheulicher Schwerverbrecher. Er war die Verkörperung des Teufels, er war, wie Richard Wagner es angsteinflößend und bedrohlich formuliert hatte, "der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit". (Seite 466) Daniel Jonah Goldhagens fasst zusammen: Die Schlussfolgerung dieses Buches lautet, dass der Antisemitismus viele Tausende "gewöhnlicher" Deutscher veranlasste, Juden grausam zu ermorden, und dass auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt. Nicht wirtschaftliche Not, nicht die Zwangsmittel eines totalitären Staates, nicht sozialpsychologisch wirksamer Druck, nicht unveränderliche psychische Neigungen, sondern die Vorstellungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten über Juden vorherrschten, brachten ganz normale Deutsche dazu, unbewaffnete, hilflose jüdische Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden systematisch und ohne Erbarmen zu töten. (Seite 22) Die deutsche Politik und Kultur hatte sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die meisten Deutschen hätten werden können, was eine ungeheure Zahl ganz gewöhnlicher Deutscher tatsächlich wurde: Hitlers willige Vollstrecker. (Seite 531) Kommentar: Daniel Jonah Goldhagen behauptet, dass "ganz gewöhnliche Deutsche" einen "eliminatorischen Antisemitismus" vertraten und deshalb "Hitlers willige Vollstrecker" wurden. Ist das nur eine werbewirksame These? Auch wenn man Goldhagens radikaler Argumentation nicht hundertprozentig folgt, sind die zahlreichen Selbstzeugnisse und anderen Dokumenten, Bücher von Dieter Wunderlich mit denen er seine Thesen zu untermauern versucht, erschreckend. Ich befürchte allerdings, dass Goldhagen die beschriebenen psychologischen Phänomene zu Unrecht auf den Holocaust einengt und auf einen "eliminatorischen Antisemitismus" zurückführt. Experimente wie sie zum Beispiel von Stanley Milgram (Milgram-Experiment) und Philip G. Zimbardo (Stanford Prison Experiment) durchgeführt wurden – aber auch Beobachtungen in Kriegen und anderen Ausnahmesituationen – lassen vermuten, dass Menschen überall und zu allen Zeiten dazu verführt werden können, zu foltern und zu töten, wenn man ihnen ein entsprechendes Feindbild einimpft und eine Autorität sie glauben macht, das sei moralisch in Ordnung. Daniel Jonah Goldhagen war zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung Associate Professor of Government and Social Studies in Harvard und Associate am Minda de Gunzburg Center for European Studies. Inhaltsangabe und Kommentar: © Dieter Wunderlich 2005 Textauszüge: © Wolf Jobst Siedler Verlag [2] Generation des Unbedingten. Studienausgabe. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes (Broschiert).