Csaba Földes Germanistik und ihre Variationen an der Schwelle neuer Herausforderungen im europäischen Hochschulraum 195 Thérse Studer Westschweizer Germanistik im Vergleich 203 Günter Schmale Wortspiele mit phraseologischen Ausdrücken in deutschen Talkshows 210 Silke Jahr Sprachhandlungstheoretische Ansätze bei der Textarbeit im DaF-Unterricht 215 Erik Kwakernaak Kasusmarkierung bei niederländischsprachigen Deutschlernenden. Entwurf eines Erwerbsszenarios 222 Beate Rues Varietäten und Variation in der deutschen Aussprache 232 Diskussion von Lehrmaterialien Stefan Mummert ,,Geni@l" auf Zertifikatsniveau B1 238 Rezensionen Helmut Schumacher u. a.: VALBU ­ Valenzwörterbuch deutscher Verben; Gerhard Helbig 240 Péter Bassola (Hg.): Deutsch-ungarisches Wörterbuch zur Substantivvalenz; Emilija Bojkovska 242 Dieter Herberg u. a.: Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen; Günter Kempcke 245 Michail L. Kotin: Die werden-Perspektive und die werden-Periphrasen im Deutschen; Gabriele Diewald 246 Akio Ogawa: Dativ und Valenzerweiterung. Syntax, Semantik und Typologie; Gerhard Helbig 248 Els Oksaar: Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung; Karin Aguado 250 Michael Schart: Projektunterricht ­ subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache (mit CD); Lars Schmelter 252 Magdalena Lisiecka-Czop: Verstehensmechanismen und Lesestrategien von fremdsprachigen Fachtexten; Krzysztof Nerlicki 253 Schreibhinweise für Autoren 255 Autorenverzeichnis 255 Dokumentation 256 Deutsch als Fremdsprache Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer INHALTSVERZEICHNIS Zeitschrift ,,Deutsch als Fremdsprache" ­ 42. Jahrgang 2005, Heft 4, S. 195­256. Verlagsort München/Berlin. 195 1 Nicht zuletzt wegen der aktuellen europäischen Prozesse erlebt unser Fach derzeit eine aufregende Phase der Herausforderungen. Denn die Germanistik steht vor großen Aufgaben: Das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenfinden der deutschsprachigen Staaten mit ihren europäischen, vor allem ihren östlichen Nachbarn, die bevorstehende Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraumes, die veränderten beruflichen Anforderungen und Entwicklungen innerhalb des Faches selbst bringen bislang unbekannte Fragestellungen für unsere Disziplin mit sich. Die Reaktionen sind alles andere als fundiert und ausgewogen. So werden z. B. die Konzipierung und die Einführung von Bachelorund Master-Studiengängen nicht nur auf deutschem Sprachgebiet, sondern auch weit darüber hinaus recht kontrovers diskutiert. Auch müssen die Philologien, die sich traditionell als Nationalwissenschaften begreifen, ihre Verfasstheit, ihre Positionierung und Funktion 1 Neuerlich kommen auch Termini wie ,,europäische Germanistik" (z. B. Ehlich 2004), ,,internationale Germanistik" (z. B. Blühdorn 2003) hinzu, wohl nicht zuletzt, um die fachliche Einheit von ,,Inlands-" und ,,Auslandsgermanistik" zu demonstrieren. Vgl. etwa Blühdorn (2003) und den Bericht zur Jahrestagung 2002 des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim in: Deutsche Sprache (1/2002: 95f.). Kürzlich hat Redder (2003) mit ihrem Programm ,,transnationale Germanistik" ebenfalls interessante Ansätze geliefert. 2 Daher wäre es vielleicht zielführender, diese Antipoden als ,,eigenkulturelle" (bzw. ,,unilinguale") vs. ,,fremdkulturelle" (bzw. ,,bilinguale") Germanistik zu erfassen, da ja ­ wie auch Krumm (2003: 267) erkennt ­ jede Germanistik in nichtdeutschsprachiger Umgebung automatisch in einem mehrsprachigen Kontext operiert. Eigentlich wäre es angebrachter, statt ,,fremdkulturell" eher ,,interkulturell" zu sagen; da aber ,,interkulturelle Germanistik" im Sinne von Wierlacher (2003) ­ als ein kulturanthropologisch-xenologisch orientiertes Studienfach in Deutschland ­ ein bereits anderweitig verwendeter Terminus ist, bleibe ich bei ,,fremdkulturell". neu definieren. In diesem Kontext ergeben sich viele Fragen, die eine neue Standortbestimmung der Germanistik und ihrer Erscheinungsformen erforderlich machen. Davon ausgehend, will der vorliegende Aufsatz einige Überlegungen zu aktuellen Grundsatzfragen im Hinblick auf die Fachtypologie, die Konzeptualisierung, die Verortung und die Zielsetzung der Germanistik (in ihren mannigfaltigen Ausprägungen) anstellen. 2 Seit einigen Jahrzehnten wird es immer üblicher, in Bezug auf das Ausprägungsprofil unseres Faches einerseits von einer ,,Inlandsgermanistik" (oder ,,Binnengermanistik", ,,Grundsprachengermanistik", ,,Muttersprachengermanistik", sogar ,,Muttergermanistik" u. Ä.) und andererseits von einer ,,Auslandsgermanistik" (oder ,,Fremdsprachengermanistik", ,,fremdsprachlichen", sogar ,,fremdsprachigen Germanistik" u. Ä.) zu sprechen.1 Diese Begrifflichkeit scheint mir aber samt der dahinter steckenden Konzeptualisierung und ihrem Dispositiv in mehrfacher Hinsicht problematisch zu sein: Erstens, weil sie eine Gleichsetzung von Sprach- und Staatsgrenzen suggeriert; streng genommen müsste demnach auch ein Germanist aus Österreich oder der deutschen Schweiz ,,Auslandsgermanist" sein, was mit dem Terminus jedoch in aller Regel nicht gemeint ist (vgl. bereits Földes 1996: 9).2 Zweitens, weil auch primär nichtdeutschsprachige Regionen insbesondere in Ostmitteleuropa vielfach über verstreute deutsche Kulturtraditionen verfügen (,,Deutsch vor Ort"). Drittens, weil sie den Eindruck erweckt, als gäbe es eine homogene, einheitliche Germanistik außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprach- bzw. Kulturraumes. Das ist jedoch nicht der Fall, denn Germanistik weist z. T. recht unterschiedliche SelbstverständnisCsaba Földes Germanistik und ihre Variationen an der Schwelle neuer Herausforderungen im europäischen Hochschulraum Zu dem Themenschwerpunkt ,,Inlandsgermanistik versus Auslandsgermanistik", eröffnet in DaF 4/2004, äußern sich in diesem Heft Csaba Földes und Thérse Studer. Die Redaktion se, unterschiedliche Funktionsbestimmungen, Fachbezeichnungen, fachliche Aufgliederungen, Fachtraditionen sowie Wissenschaftsund Lernkulturen in verschiedenen Regionen auf. Gemeinsam ist den primär ,,fremdkulturellen" Germanistiken, dass sie z. T. von einer anderen kulturellen Realität ausgehen als die primär ,,eigenkulturelle" Germanistik und diese Alterität zu einem fundierenden Reflexionspunkt nehmen. Dementsprechend werden Vertreter primär ,,fremdkultureller" Germanistiken mit Kulturdifferenzen (und Kulturähnlichkeiten bzw. -übereinstimmungen) sowohl als Lebenserfahrung wie auch als Reflexionsgegenstand konfrontiert. Der Unterschied zur primär ,,eigenkulturellen" Germanistik besteht außerdem hauptsächlich in den kulturgeprägten Arbeitsbedingungen bzw. -kontexten, den Ansätzen der Lehre und der Praxis der Vermittlung. Die für die ,,eigenkulturelle Germanistik" kennzeichnende ,,Funktion der nationalen und kulturellen Selbstvergewisserung" (Blühdorn 2003: 293) stellt sich ganz und gar anders dar. Gleichwohl kann man die ,,eigenkulturelle Germanistik" nicht ­ wie es in der Fachliteratur oft geschieht ­ auf eine sog. Binnenperspektive und die ,,fremdkulturelle Germanistik" pauschal auf eine sog. Außenperspektive reduzie- ren.1 Ist doch die Unterscheidung zwischen ,,außen" und ,,innen" in unserer Epoche von Globalisierung, Mobilität und Vernetzung ohnehin schwierig geworden (vgl. Krumm 2003: 259). Das Problemfeld ist subtil: Orlowski (eigentlich: Orłowski) (1987) spricht treffend von einer doppelten Nabelschnur der fremdsprachlichen Germanistik. Damit meint er einerseits die informativ-bildungsartige Einbindung in zwei unterschiedliche intellektuelle ,,Blutkreisläufe", andererseits die empathisch-axiologische Anteilnahme an fremder Kultur. Vertreter ,,fremdkultureller" Germanistiken gelten folglich als Vermittler unterschiedlicher Diskurswelten. Germanistik gibt es heute gleichsam in aller Welt und alle Welt sieht mit je anderen Augen auf den deutschen Sprach- und Kulturraum. Da die kulturellen Blickwinkel verschieden sind, sieht man auch Verschiedenes. Diese globale Vielfalt kultureller Optik in Perspektivik und Gegenstandskonstitution in Forschung und Lehre zu erkennen, anzuerkennen und produktiv in das wissenschaftliche ,,Gemeinschaftshandeln" (vgl. Weber 1988: 441) zu integrieren muss das Leitziel einer ­ wie auch immer verstandenen ­ internationalen Germanistik sein. ,,Fremdkulturelle" Germanistik hat also typologisch mehrere gänzlich unterschiedliche Manifestationen.2 So richtet sie sich ­ idealtypisch betrachtet ­ beispielsweise a) an vielen Stellen im nichtdeutschsprachigen Ausland schwerpunktmäßig auf eine reine Sprachvermittlung und Übersetzung, b) mancherorts ­ wo der Ruf des Deutschen als ,,Hochkultursprache" noch den Ausschlag gibt ­ auf philosophische, literaturund kulturwissenschaftliche Studien (bzw. Deutschland-Studien), die oft gar nicht auf Deutsch, sondern in der Muttersprache der Studierenden und Lehrenden betrieben werden, und c) in manchen Staaten auf eine herkömmliche, sprach- und literaturwissenschaftlich orientierte germanische Philologie.3 Wie es das Ausland als solches nicht gibt, kann es mithin m. E. auch nicht die Auslandsgermanistik (oder ,,fremdkulturelle" Germanistik) als Denkkategorie geben.4 Man hat es vielmehr mit einer großen Bandbreite region- bzw. kulturspezifischer Germanistiken zu tun. Denn jegliche Alltagsbeobachtung bestätigt, dass die ,,Auslandsgermanistik" / ,,fremdkulturelle Germanistik" etwa in Ungarn, wo die Arbeitssprache konsequent Deutsch ist und die Inhalte mit denen eines ,,inlandsgermanistischen" Studiums in Österreich oder in Deutschland korrespondieren, mit vielen anderen ­ wie Eichinger (2003: 298) sagt: ,,europafernen" ­ ,,Auslandsgermanistiken" wie etwa im Jemen (vgl. dazu Mansoor 2003) so 1 Zumal ,,fremdkulturelle" Germanistiken nicht immer nur aus der Außensicht arbeiten, sondern auch im Denkrahmen einer Innenbetrachtung (z. B. im Fall einer Reihe von Grammatiktheorien im Sinne eines semiotischen Systemgedankens von Sprache). Außerdem handelt es sich bei der oftmals praktizierten Außenperspektive oft um mehr als nur um die Blickrichtung, denn aus dieser resultieren mitunter neue Gegenstände oder Paradigmen (wie z. B. Bilinguismusforschung, Übersetzungswissenschaft, kontrastive Linguistik) sowie andere Aufgaben (z. B. kulturelle Betreuung deutscher Minderheiten vor Ort). 2 Über die Möglichkeiten der ,,Außensicht" in der ,,Auslandsgermanistik" liefert z. B. Eichinger (vgl. 2003: 297ff.) eine detaillierte Übersicht. 3 In der Praxis gibt es freilich oftmals Mischungen bzw. Übergänge zwischen diesen Typen. 4 Zudem ist natürlich auch die ,,Inlandsgermanistik" (oder ,,eigenkulturelle" Germanistik) bei weitem nicht homo- gen. 196 gut wie keine Gemeinsamkeiten aufweist und sich wohl kaum derselben Kategorie zuordnen lässt. Aber selbst bei einem Vergleich mit vielen traditionsreichen europäischen ,,Auslandsgermanistiken" stellt sich bald heraus, dass ungarische Germanistikstudenten, die schwerpunktmäßig in der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft (obendrein ausschließlich in deutscher Lehrsprache) ausgebildet werden, bei einem Gaststudium z. B. an einer französischen Universität, an der sie im Rahmen der Germanistik oft eher mit französischsprachigen Vorlesungsangeboten zu philosophischen und kulturwissenschaftlichen Themen konfrontiert werden,1 weniger Anschluss finden als an einer Universität im deutschen Sprach- bzw. Kulturraum. 3 Die Unterscheidung von ,,Inlandsgermanistik" versus ,,Auslandsgermanistik" verspricht also wenig heuristische Ergiebigkeit und ist insofern revisionsbedürftig. Die beiden Variationen sollten keine starre Opposition bilden. Auch schon deswegen nicht, weil es eine Menge Zwischenstufen und Übergangsbereiche gibt. Dafür soll exemplarisch kurz das Beispiel Ungarn angeführt werden. Die Germanistik blickt im Kultur- und Kontaktraum Ungarn auf eine lange, reiche Tradition und eine wechselvolle Geschichte zurück. Ohne an dieser Stelle ihren historischen Werdegang verfolgen zu wollen,2 sei doch betont, dass sie im Habsburger-Staat ursprünglich als eine muttersprachliche Germanistik konzipiert wurde; der erste Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur in Mitteleuropa wurde in Pest (dem heutigen Budapest) Ende des 18. Jahrhunderts von Joseph II. gegründet. Die starke Anlehnung an österreichische und deutsche Vorbilder, sowohl die Gegenstandsbereiche und Inhalte als auch die Fragehorizonte, Erkenntnisziele und Metho- 1 So spricht Grandjonc (1988: 483) im Falle Frankreichs von einer ,,traditionelle(n) Dreiteilung des Studiums" in ,,littérature allemande", ,,linguistique allemande" und ,,civilisation allemande". 2 Vgl. etwa die bibliographische Übersicht im Internet unter http://www.vein.hu/german/bibliographie.htm. 3 Jedoch ist in diesem Zusammenhang auch die bedeutsame deutsche Minderheit zu erwähnen. 4 Also gänzlich anders als etwa in der ,,Auslandsgermanistik" Japans, wo ­ nach Angabe von Nakajima (1994: 257) ­ ,,mehr als 90 % der germanistischen Beiträge zur Forschung auf japanisch verfaßt sind". den betreffend, ist auch heute noch unverkennbar. Das soziokulturelle Umfeld der Germanistik weicht doch erheblich vom ,,typisch ausländischen" Kontext ab, denn Deutsch war und ist in der Realität Ungarns tief und vielseitig verankert (vgl. ausführlicher Földes 2001: 351f.). So könnte man, wie in Aufsätzen von Mádl (vgl. 1995: 256) und Földes (vgl. 1998: 66f.) vorgeschlagen, in Bezug auf Regionen wie Ungarn ­ im Spannungsfeld zwischen ,,Inlands-" und ,,Auslandsgermanistik" ­ typologisch von einer Art ,,Anrainer-Germanistik" mit einer besonderen kulturellen Komplexität sprechen. Denn die unmittelbare geographische Nähe zum deutschen Sprach- bzw. Kulturraum und die tausendjährige kulturelle und politische Nachbarschaft mit deutschsprachigen Staaten haben lang andauernde und intensive interkulturelle sowie sprachliche Kontaktund Konvergenzprozesse ermöglicht. Das hat sich naturgemäß mannigfach auch auf das Lernen, die Kenntnis und Verwendung der deutschen Sprache wie auf die Attitüden der deutschen Sprache gegenüber ausgewirkt. Somit haben diese Prozesse die Position und die Verfasstheit der Germanistik maßgebend beeinflusst. Denn Deutsch ist in Ungarn für das Gros der Bevölkerung zwar eine Fremdspra- che,3 aber seit jeher in mehreren Ausprägungen präsent; Kenntnisse über die deutschsprachigen Staaten wie auch die deutschsprachigen Kulturen gehören gemeinhin fest zu den Alltagserfahrungen bzw. zur Allgemeinbildung. In diesem Licht ist es gewiss nicht verwunderlich, dass die Germanistik z. B. in Ungarn nach wie vor konsequent an Deutsch als Arbeitssprache festhält: Sämtliche Lehrveranstaltungen, Prüfungen, Lehrerfortbildungsmaßnahmen etc. finden in deutscher Sprache statt, wie auch die Periodika für Germanisten und sogar für Deutschlehrer deutschsprachig sind.4 Insofern ist Sitta (2004) zu relativieren, der die deutsche Sprache als ,,Medium des Unterrichts" allein bei der ,,Inlandsgermanistik" ansetzt. Außerdem wird Germanistik in Ungarn nicht als eine ,,exotische" Fremdphilologie oder genuine Xenologie angesehen und betrieben, sondern als ein Fach, das in gewissem Sinne zwischen den relationalen Größen ,,Fremdes" und ,,Eigenes" liegt und dabei auch relevante Anhaltspunkte zu einer bewussten Wahrnehmung, zu einer dezidierten Reflexion bzw. einer angemessenen Evaluierung der Kultur(en) Ungarns liefert. 197 4 Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass keine auch nur annähernd einheitliche ,,Auslandsgermanistik" postuliert werden kann. Insofern überrascht z. B. die Klage Seddikis (2003: 55), dass ,,es bis heute noch weltweit keine Übereinstimmung über Zielsetzung und Gegenstand der Germanistik im Ausland gibt". Will man die Formen von Germanistiken modellieren, so liegt typologisch m. E. vielmehr ein Kontinuum mit zwei (mehr oder weniger prototypischen) Endpolen vor: Auf der einen Seite wäre eine weitgehend ,,eigenkulturelle", auf der anderen eine weitgehend ,,fremdkulturelle" Germanistik anzusiedeln. Zwischen ihnen liegt ein weites Variationsfeld mit zahlreichen Ausprägungsformen germanistischer Betätigungen. Dabei ist die eine dem ,,eigenkulturellen", die andere dem ,,fremdkulturellen" Pol näher. 5 Die geplanten Veränderungen der europäischen Hochschullandschaft durch die sog. Bologna-Deklaration1 werden aller Wahrscheinlichkeit nach für die Universitätsstrukturen genauso wie für die einzelnen Fachkulturen erhebliche Folgen haben. So stellt die Implementierung der durch den Bologna-Prozess formulierten Ziele2 auch die Germanistik(en) sowohl fachpolitisch und -organisatorisch wie auch inhaltlich vor eine neue Situation. Anhand dieser Strukturreformen, die vor allem höhere akademische Mobilität, Wettbewerbsfähigkeit, internationale Vergleichbarkeit, Anerkennung der Abschlüsse, praxisnähere Lehre (und zugleich weniger Abbrecher und jüngere Absolventen) anstrebt, kommen wir nicht umhin, auch die bisherigen Leitziele, Orientierungspunkte, Lehrund Lerntraditionen sowie die Inhalte der (fremdsprachen)philologischen Studiengänge kritisch zu prüfen. Die anstehenden Umgestaltungen lösen in universitären (und insbesondere in germanistischen) Fachkreisen Zweifel, mitunter auch Verzweiflung aus. Die Gegner warnen hauptsächlich vor einem Einstieg ins ,,Schmalspurstudium" und dem endgültigen Ausverkauf des Humboldťschen Bildungsideals, sie befürchten eine Entwissenschaftlichung der akademischen Einrichtung Universität. Beispielsweise hat kürzlich Ehlich (2004) in eindrücklicher Weise auf zahlreiche gravierende Probleme hingewiesen. Dennoch denke ich, dass wir diese Diskussion ­ ungeachtet unserer Zweifel ­ als eine Chance begreifen sollten, u. a. die Attraktivität der Studiengänge zu erhöhen und vermehrtes Interesse an den Gegenstandsgebieten ,,deutsche Sprache, Literatur und Kultur", ,,Deutschland, Österreich und die Schweiz" und vielleicht sogar ,,europäische Kultur / europäische Integration" zu wecken. Der Reformprozess wie auch der seit längerem vorhandene Legitimationsdruck sollten nicht bloß zu einer Umetikettierung, sondern konstruktiv zu einer kritischen Umorientierung unseres Faches (und wohl auch der anderen Philologien) genutzt werden ­ zumal der in Gang gekommene Prozess unumkehrbar ist. In diesem Zusammenhang seien einige mir wichtige Aspekte, die auch das Wechselverhältnis zwischen primär ,,eigenkulturellen" Germanistiken und primär ,,fremdkulturellen" Germanistiken betreffen, schlagwortartig behandelt. 5.1 Von Kritikern des Bologna-Prozesses wird oft beklagt, dass akademischer Anspruch und Berufsorientierung nicht gleichzeitig zu verwirklichen seien. Ich halte diese Oppositionierung für künstlich. Gerade von vielen ,,fremdkulturellen" Germanistiken könnten ja die ,,eigenkulturellen" Germanistiken praktikable Ansätze übernehmen bzw. adaptieren, da die Germanistik im nichtdeutschsprachigen Ausland häufig jetzt schon eine prononciertere und breitere berufliche Qualifizierung als die Germanistik im deutschen Sprach- und Kulturraum bietet (z. B. im Sinne einer an eine bestimmte Kulturregion geknüpften globalen Kompetenz). In diesem Zusammenhang könnte eine Erweiterung der Thematik und u. U. der disziplinären Grenzen in Frage kommen, z. B. in Richtung angewandte Linguistik und Kulturwissenschaften ­ im Medium des ,,eigenen" und des ,,fremden" Blicks. Generell ist wohl mit einer Pluralisierung des soziokulturellen Referenzrahmens zu rechnen: Die Germanistik gerät zuweilen unter Legitimations- und Praxisdruck; es treten stets andere (neue) Bedürfnisse auf. Dabei handelt es sich oft um nicht (primär) akademisch motivierte Orientierungen. Denn der derzeitige Arbeits- 1 Ob es nur ein Zufall ist, dass gerade der Name der ältesten Universität Europas (gegründet 1119) als Symbol für ,,Erneuerung" steht? 2 Zum Bologna-Prozess und der Problematik der gestuften Studiengänge vgl. ausführlicher z. B. Dainat (2003) und Schwarz-Hahn/Rehburg (2004). 198 markt benötigt weniger traditionell ausgebildete Philologen als sachkundige Sprach- und Kulturexperten bzw. -vermittler (von wirtschaftlich ausgerichteten Übersetzern/Dolmetschern bis hin zu sprachkompetenten Sachbearbeitern). An diesem Punkt entbrennen sowohl in den ,,eigen-" wie auch in den ,,fremdkulturellen" Germanistiken kontroverse Debatten:1 Welches Ausbildungskonzept kann für die Germanistik zukunftsfähig sein? Vereinfacht ausgedrückt: a) das herkömmliche philologisch orientierte Modell, allenfalls mit gewissen Adaptionen an die aktuellen Anforderungen, oder b) ein um Ökonomie, Politik und Recht zentriertes ,,pragmatisches" Modell? In der gegenwärtigen Konstellation scheinen mir in der ,,eigen-" wie auch in der ,,fremdkulturellen" Germanistik pluralistische Ansätze gefragt zu sein, denn die Monokultur nur eines Konzepts vermag heute den überaus heterogenen und differenzierten Anforderungen an unser Fach nicht (mehr) gerecht zu werden. Besonders, wenn man bedenkt, dass die Zukunft wohl rasche Umbrüche von Berufsfeldern und Berufsbildern bringen wird. Bei aller Innovationslust und Reformfreude sollte allerdings klar sein, dass die herkömmliche deutsche Philologie schließlich die deutschbezogene Gesamtwissenschaft im Hinblick auf die Kunst des En- und Dekodierens von Texten ist, die in einer modernen Kommunikations- bzw. Wissensgesellschaft notwendiger ist denn je.2 Überdies wäre dezidierter zu betonen, dass Germanistik auch grundsätzliche Einsichten in die ästhetischen Leistungsmöglichkeiten der Sprache bietet, die nicht nur in der Literatur, sondern zunehmend auch in der modernen Alltagskommunikation (Medien, Werbung etc.) von Bedeutung sind. Andererseits muss einleuchten, dass der Arbeitsmarkt heute jährlich nicht Abertausende von Experten aufnehmen kann und will, die in den verschiedenen Facetten der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft forschungsorientiert geschult worden sind. 1 Vgl. z. B. die von Vilmos Ágel und Andreas Herzog koordinierte Diskussion unter dem Titel ,,Welche Germanistik wollen wir fördern?" (in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2001, 411­429). 2 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Ágel (S. 199, Fn. 1). 3 Diese neuen Ausbildungsformen würden auch mit den inter- und transdisziplinären Herausforderungen der Gegenwart harmonisch korrespondieren. Es werden hingegen Fachleute für diverse sprachlich bzw. kulturell relevante Berufsfelder benötigt. Daher scheint mir in der Ausbildung eine breitere Diversifizierung erforderlich zu sein, d. h., nur ein kleiner Teil der Studierenden sollte durch die Tiefen der philologischen Teildisziplinen bis zum theoretisch-wissenschaftlichen germanistischen Universitätsabschluss (und u. U. zur Promotion) geführt werden, ein Großteil ­ vielleicht sogar die Mehrheit ­ wäre mit einer berufsbezogeneren Ausbildung (z. B. mit Schwerpunkten auf Lexikographie, Editionswissenschaft, Medienwissenschaft, Kulturdiplomatie, interkultureller Kommunikation, Fachübersetzung) besser bedient. Diese Lehrprogramme für angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft könnten als M.A.- oder als B.A.-Studiengang angeboten werden.3 Man müsste also das Fach nicht auf gänzlich neue Grundlagen stellen, sondern nur für die Studierenden mehrere ,,Outputs" ermöglichen. Das kann die Attraktivität der Fachrichtung verbessern. Dazu wäre von der Kultur(en)gebundenheit jeder germanistischen Tätigkeit auszugehen und man sollte ,,Verbundqualifikationen" (Terminus im Sinne von Wierlacher 2003: 21) bereitstellen, welche u. U. auch die Grenzen zu anderen Disziplinen zu überschreiten vermögen: Philologische Kompetenzen sind durch berufspraktische Fähigkeiten zu Arbeitsfeldern wie Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Verwaltung und internationale Zusammenarbeit zu ergänzen. Diversifizierung und Pluralisierung sollten sich natürlich nicht nur auf die Strukturprinzipien, die bildungspolitischen und organisatorischen Aspekte, sondern auch auf die inhaltlichen und methodologischen Herangehensweisen beziehen. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Die ,,Plurizentrizität" des deutschen Sprach- und Kulturraums sollte eine deutlichere Berücksichtigung finden, so etwa die sprachlichen Varietäten oder die Literatur der einzelnen deutschsprachigen Kulturlandschaften (z. B. die deutschsprachigen Regionalliteraturen in den von deutschen Minderheiten bewohnten Gebieten). 5.2 Im Rahmen der aktuellen Debatten ist ,,Modularisierung" ein wichtiges Stichwort. Man könnte und sollte darin eine Chance erkennen, zeitgemäße attraktive Module zu entwickeln, durchaus auch in Kooperation der 199 ,,eigenkulturellen" mit der ,,fremdkulturellen" Germanistik. Es könnten z. B. auch Sommeruniversitäten sein, wie etwa der vom Mitteleuropäischen Germanistenverband initiierte Hochschulsommerkurs zum Thema ,,Europäische Schlüsselwörter", der 2004 und 2005 in Dresden unter Teilnahme von jungen Germanisten aus zahlreichen (deutsch- und anderssprachigen) Staaten stattgefunden hat (vgl. www.tu-dresden.de/sulifg/ndl/projekte/ soschu/index.htm). Gleichwohl weist z. B. Bogdal (vgl. 2004: 14) auf die Gefahr hin, traditionelle Fächer und wissenschaftliche Disziplinen ,,durch Modularisierung aufzulösen" ­ ist doch Interdisziplinariät ohne Disziplin nicht möglich. 5.3 Für die Universitäten stellen die akademischen Freiheiten traditionell einen hohen oder gar konstitutiven Wert dar. Die im Grunde immer noch am Humboldťschen Ideal orientierten deutschen Hochschulen fürchten ­ angesichts von ,,Bologna" ­ um das akademische Wesen insbesondere der Lehre. Meiner Ansicht nach bedeuten die bevorstehenden inhaltlichen wie organisatorischen Innovationen für die verschiedenen ,,Germanistiken" ­ je nach ihren bisherigen akademischen Gepflogenheiten ­ jeweils etwas Unterschiedliches: Für die germanistische Fachkultur im deutschen Sprach- bzw. Kulturraum mögen sie womöglich u. U. eine relative ,,Verschulung", eine gewisse Einschränkung der bisherigen akademischen Freiheiten mit sich bringen. Für viele ,,fremdkulturelle" Germanistiken, sofern sie bislang in einem fest vorgegebenen ,,schulmäßigen" Organisationsrahmen wirkten, eröffnen die Reformen hingegen im Zuge der internationalen Angleichung vielfach eine Zunahme von Freiheiten, z. B. Chancen einer freieren, forschungsorientierten Lehre. Wichtig muss hüben wie drüben die Gewährung von Freiräumen sein, die eine möglichst hohe Selbstständigkeit von Lehrenden wie auch von Studierenden erlauben bzw. fördern und ihre Eigenverantwortlichkeit stärken (vgl. Ehlich 2004: 20). 5.4 Eine weitgehende Angleichung des Studiums in Europa gehört zu den zentralen Zielen der Reformbestrebungen. Dabei wünscht man sich die Angleichung so, dass die Vorteile der unterschiedlichen Systeme kombiniert, die jeweiligen Nachteile aber eliminiert werden (vgl. Bogdal 2004: 13). Wie sich dies umsetzen lässt, sei zunächst dahingestellt. Ein substanzieller Dialog wäre dazu in Europa unabdingbar. Heute ist im Hinblick auf den interkulturellen Transfer von Konzepten, Ideen, Lehrmitteln und Personen leider eine Einbahnstraße gängige Praxis, nämlich dass Germanistikstudenten und -dozenten aus verschiedenen ,,fremdkulturellen" Germanistiken mit Stipendien etc. an Universitätseinrichtungen des deutschen Sprach- und Kulturraums kommen. Viele ,,fremdkulturelle" Germanistiken müssen aus ihrer wissenschaftlichen und kulturellen Randexistenz heraustreten. Man könnte und sollte z. B. Studierende und Lehrende der ,,eigenkulturellen" Germanistiken auch gezielt zumindest für die Zeit eines Gastsemesters in eine ,,fremdkulturelle" Germanistik ins Ausland oder Studierende und Lehrende von einer ,,fremdkulturellen" Germanistik in eine andere delegieren. 5.5 Im Zusammenhang mit den neuen europäischen Orientierungen und Wertesystemen sollten zunehmend neue Leitbilder, innovative didaktische Konzepte und Lehrformen (z. B. andere Organisations- und Sozialformen) die germanistische Ausbildung, aber auch die Forschung (z. B. als Veränderung im Wissenschaftsdiskurs) bereichern. Ein Austausch über Lehr- bzw. Forschungsgegenstände und Lehr- bzw. Forschungsverfahren wäre in vielfältiger Weise zu beachten und in den Dienst der Entwicklung unseres Faches zu stellen. So wäre z. B. die Etablierung eines germanistischen Denkens in Kategorien der Interkulturalität und der Mehrsprachigkeit auch im Rahmen ,,eigenkultureller" Germanistiken sinnvoll. Das sollte zu einem erweiterten Fachverständnis führen bis hin zu einer Disziplin, deren Gegenstand die deutsche Sprache und Kultur in einem mehrsprachigen Europa, in einer mehrsprachigen Welt ist, wo auch die Individuen z. T. spezifische multilinguale und multikulturelle Identitäten entwickeln (vgl. auch Krumm 2003: 272). 5.6 Ich glaube, bisher wurden die europäischen Potenzen des Kulturphänomens ,,deutsche Sprache" und der Germanistik kaum genutzt. Europa ist ein Kontinent mit lebendiger, lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und einer Mannigfaltigkeit von Kulturen. Dabei ist Deutsch eine wichtige, große, traditionsrei- 200 che europäische Kultursprache. Hier sollte man also den genuin europäischen Charakter ­ ich nenne ihn: die ,,Europahaftigkeit" ­ der deutschen Sprache (bezüglich ihres Bestandes und ihrer Verwendung) betonen, und zwar sowohl sprachsystematisch als auch unter dem Gesichtspunkt ,,Sprache als Handeln", d. h. von der Verwendung, den Funktionen her. Denn Deutsch weist z. B. die längste Sprachgrenze in Europa auf, was eine enorme Bandbreite von Möglichkeiten europäischer Sprach- und Kulturkontakte eröffnet: Außenkontakte mit mindestens 14 Nachbarsprachen und Binnenkontakte mit den Sprachen autochthoner Minderheiten (Sorben, Slowenen etc.) sowie allochthoner Minderheiten (Arbeitsmigranten etc.). Transnationale Projekte, Programme und Aktivitäten, wie etwa das ,,Europäische Jahr der Sprachen" 2001, werden aus germanistischer Sicht leider viel zu wenig genutzt; es gab anlässlich dieses ,,Sprachenjahres" aus unseren Reihen nur ganz sporadisch wissenschaftliche Initiativen und diese im Wesentlichen lediglich aus dem Bereich der ,,fremdkulturellen" Germanistik (vgl. Földes 2002). Besonders die Protagonisten ,,fremdkultureller" Germanistiken müssen künftig unabdingbare Akteure bei der Europäisierung der Germanistik werden. Ferner sollten wir Germanisten uns vornehmen, die Faszination ,,deutsche Sprache, Kultur und Literatur" mit ihrem ,,intellektuellen Sex-Appeal" als hohen Kulturwert zu vergegenwärtigen, der ­ jenseits von ,,eigen" und ,,fremd" ­ übereinzelkulturelle und übereinzelsprachliche, d. h. humanistische und demokratische Wertorientierungen vermittelt und entsprechende Handlungsspielräume in Europa eröffnet. 5.7 Insgesamt dürfte gelten: Es wäre unter den Stichwörtern ,,Qualität", ,,Effizienz" und ,,Transparenz" eine markante aufgaben- und inhaltsbezogene Umorientierung, nicht jedoch eine grundsätzliche Neudefinition der Germanistik vonnöten. 1 Dabei ist die Dominanz der ,,eigenkulturellen" Germanistik nicht einmal unter quantitativen Gesichtspunkten begründet. Denn im weltweiten Maßstab ist die Zahl der ,,fremdkulturellen" Germanistiken deutlich höher als die der ,,eigenkulturellen"; allein in den USA gibt es ­ noch ­ mehr germanistische Institute als in Deutschland! 6 Hinsichtlich des zentralen Gegenstandsbereichs der Germanistik scheint es ­ ungeachtet vieler Kontroversen ­ nach wie vor eine relative Übereinstimmung zu geben. Wenn man aber unser Studien- bzw. Forschungsobjekt, die deutsche Sprache und Kultur, in seinem natürlichen Existenz- bzw. Wirkungsraum sowie in seinen vielfältigen Ausprägungen und Beziehungen wirklich gegenstandsangemessen erfassen, beschreiben, evaluieren und verstehen will, so ist (auch) eine auswärtige Perspektive unerlässlich. Werden doch Konturen oft erst von außen richtig sichtbar. So hat bereits Goethe in seinen ,,Maximen und Reflexionen" konstatiert: ,,Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen." Dieser notwendige auswärtige kulturvergleichende bzw. -relativierende Blickwinkel ist aber heute vorrangig der (wie auch immer gearteten) ,,fremdkulturellen" Germanistik eigen. So gesehen ist ­ etwas zugespitzt ausgedrückt ­ eigentlich nur ,,fremdkulturelle" Germanistik eine ,,richtige" Germanistik. Folglich stellt das Kulturphänomen ,,fremdkulturelle" Germanistik ein erhebliches Wissens- und Innovationspotenzial für die ,,eigenkulturelle" Germanistik dar. Es gilt mithin mehr denn je: Zwischen den verschiedenen Formen der Germanistik ist eine intensive Zusammenarbeit angesagt. Zurzeit besteht noch ein weitgehend asymmetrisches Verhältnis zwischen ,,eigenkultureller" und ,,fremdkultureller" Germanistik.1 Von Kooperation wird oft gesprochen, sie wird aber kaum substanziell praktiziert. Daher wäre zu wünschen, dass es gelingt, zwischen den ,,eigenkulturellen" Germanistiken im deutschen Sprach- bzw. Kulturraum und den ,,fremdkulturellen" Germanistiken in nichtdeutschsprachigen Staaten einerseits und zwischen den einzelnen ,,fremdkulturellen" Germanistiken (oder gar ,,Anrainergermanistiken") andererseits eine enge und fruchtbare fachlich-wissenschaftliche Zusammenarbeit zu verwirklichen. Denn bei unserem Fach sollte es nicht (mehr) um eine Nationalphilologie alten Zuschnitts gehen, die 1966 auf dem Germanistentag in München von namhaften Fachvertretern programmatisch als ,,Germanistik als deutsche Wissenschaft" definiert wurde (vgl. Lämmert 1967). Die plakative Frage, wem die deutsche Sprache eigentlich gehört, ist doch nicht neu, im Laufe der Zeit 201 sind bereits verschiedene Antworten gegeben worden (vgl. z. B. Kramsch 1997). Insofern sind bestimmte Formulierungen selbst aus der allerjüngsten Forschungsliteratur wie etwa ,,Binnensprachler" (Blühdorn 2003: 299) für einen (sagen wir stilgerecht) ,,Außensprachler" des Deutschen etwas überraschend. Gut¸u, einer der führenden Germanisten Rumäniens, hat vor kurzem ausgeführt: Da Auslandsgermanistik a priori benachteiligt ist, ,,kann es keine Auslandsgermanistik geben, die Gleichwertiges zu leisten vermag wie die Inlandsgermanistik. Deshalb sind auch die Leistungen der Auslandsgermanistik durchaus unterschiedlich, unausgeglichen." (2000: 330) Demgegenüber bin ich der Auffassung, dass Germanistik auch außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprach- bzw. Kulturraumes mit ihrem speziellen Blickwinkel, ihren besonderen Erkenntnisinteressen und oft komparativen bzw. interkulturellen Perspektivierungen (die sich aus ihrer Standortgebundenheit bzw. Blickbedingtheit ergeben) eminente, ja herausragende Leistungen zu erbringen imstande ist und vielfach auch faktisch erbringt. In diesem Sinne stellt die primär ,,fremdkulturelle" Germanistik (und ihr Sonderfall, die ,,Anrainergermanistik") im Vergleich zur primär ,,eigenkulturellen" Germanistik in Forschung und Lehre zwar nicht etwas Gleichartiges, aber dennoch etwas Gleichwertiges dar ­ auch im Sinne der Einheit des Faches Germanistik als internationale Wissenschaft. 202 Literatur Blühdorn, Hardarik (2003): Podiumsdiskussion: ,,Wofür brauchen wir heute (noch) eine internationale Germanistik? Gefahren ­ Chancen ­ Perspektiven". In: G. Stickel (Hg.), 292­313. Bogdal, Klaus-Michael (2004): Beitrag zur Podiumsdiskussion. In: W. Roggausch (Red.), 13­14. Dainat, Holger (2003): ECTS etc. Studienreform im Zuge des Bologna-Prozesses. In: A. Hoppe / K. Ehlich (Hg.), Propädeutik des wissenschaftlichen Schreibens. Bologna-Folgen. Bielefeld, 334­353 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 50/2­3). Ehlich, Konrad (2004): Beitrag zur Podiumsdiskussion. In: W. Roggausch (Red.), 15­21. Eichinger, Ludwig M. (2003): Wofür brauchen wir heute (noch) eine internationale Germanistik? Das Verhältnis zwischen der Germanistik in den deutschsprachigen Ländern und den Germanistiken in den nichtdeutschsprachigen Ländern. In: G. Stickel (Hg.), 294­299. Földes, Csaba (1996): Deutsche Phraseologie kontrastiv. Intra- und interlinguale Zugänge. Heidelberg (Deutsch im Kontrast, 15). Földes, Csaba (1998): Deutschunterricht und Germanistik in Ungarn. Geschichte ­ Stand ­ Ausblicke. In: F. Grucza et al. (Hg.), Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte ­ Stand ­ Ausblicke. Dokumentation einer internationalen Konferenz. 10.­12. Oktober 1996, Warszawa. Warszawa, 66­79. Földes, Csaba (2001): Deutsch in Ostmittel-, Ost-, Nordost- und Südosteuropa ­ als eine Herausforderung für die Sprachenpolitik. In: Deutsche Sprache 29/4, 349­369. Földes, Csaba (Hg.) (2002): Auslandsgermanistische Beiträge im Europäischen Jahr der Sprachen. Wien. Grandjonc, Jacques (1988): Einige Daten und Thesen zur Frage: Was verstehen die französischen Germanisten unter ,,civilisation allemande"? In: H.-J. Althof / E. Henk (Red.), Deutsch-französisches Germanistentreffen. Berlin, 30. 9. bis 4. 10. 1987. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn, 483­498 (DAAD. Dokumentation & Materialien, 12). Gut¸u, George (im Gespräch mit Stefan Sienerth) (2000): Die Interessen der rumänischen Germanistik wirksam artikulieren. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 49, 327­338. Kramsch, Claire (1997): Wem gehört die deutsche Sprache? In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 23, 329­347. Krumm, Hans-Jürgen (2003): Deutsch von außen ­ in der Inlandsgermanistik. In: G. Stickel (Hg.), 259­273. Lämmert, Eberhard (1967): Germanistik ­ eine deutsche Wissenschaft. In: E. Lämmert et al. (Hg.), Germanistik ­ eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt a. M., 9­69 (Edition Suhrkamp, 204). Mádl, Antal (1995): Deutsche Sprache und Germanistik in Ungarn zwischen Motivation und Gegenmotivation. In: Ch. König (Hg.), Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945­1992. Berlin / New York, 256­270. Mansoor, Ali Yahya (2003): Welche Germanistik ist nötig im Jemen? In: W. Roggausch (Red.), 50­53. Nakajima, Yuji (1994): Die derzeitige Lage der Germanistik in Japan. In: U. Ammon (Hg.), Die deutsche Sprache in Japan. Verwendung und Studium. München, 249­258. Orlowski, Hubert (1987): Die doppelte Nabelschnur fremdsprachlicher Germanistik. In: A. Wierlacher (Hg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des I. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. München, 113­124 (Publikationen der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, 3). Redder, Angelika (2003): Transnationale Germanistik. In: G. Stickel (Hg.), 274­291. Roggausch, Werner (Red.) (2003): Germanistentreffen Deutschland ­ Arabische Länder, Iran. 2.­7. 10. 2002. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn (DAAD. Reihe Germanistik). Roggausch, Werner (Red.) (2004): Germanistentreffen Deutschland ­ Italien. 8.­12. 10. 2003. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn (DAAD. Reihe Germanistik). Schwarz-Hahn, Stefanie / Rehburg, Meike (2004): Bachelor und Master in Deutschland. Empirische Befunde zur Studienstrukturreform. Münster. Seddiki, Aoussine (2003): Auslandsgermanistik. Alternativen für eine realitätsnahe inhaltliche und methodische Gestaltung. In: W. Roggausch (Red.), 55­62. Sitta, Horst (2004): Inlandsgermanistik ­ Auslandsgermanistik. Was für einen Sinn hat eine solche Unterscheidung? In: DaF 41/4, 195­198. Stickel, Gerhard (Hg.) (2003): Deutsch von außen. Berlin / New York (Institut für Deutsche Sprache, Jahrbuch 2002). Weber, Max (1988): Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von J. Winckelmann. 7. Aufl. Tübingen, 427­442. Wierlacher, Alois (2003): Interkulturelle Germanistik. Zu ihrer Geschichte und Theorie. Mit einer Forschungsbibliographie. In: A. Wierlacher / A. Bogner (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar, 1­45. 203 Thérse Studer Westschweizer Germanistik im Vergleich 1 Einleitung In seinem Eröffnungsartikel zum Thema Inlandsgermanistik (IG) vs. Auslandsgermanistik (AG) stellt Sitta (2004) die ­ in seiner Sicht rhetorische ­ Frage, ob die Unterscheidung zwischen IG und AG einen Sinn habe. Eine große Mehrzahl von Betroffenen im Ausland würde diese Frage gewiss ohne Zögern mit Ja beantworten. Die japanische Germanistin in Tokio oder ihr senegalesischer Kollege in Dakar werden sich über Sinn oder Unsinn einer solchen Unterscheidung kaum den Kopf zerbrechen, zu evident ist ihre Legitimität. Dass an einem germanistischen Institut in Sidney oder Sofia in Lehre und Forschung vieles anders ist als in Bonn oder Bern, ergibt sich allein schon daraus, dass die Studierenden oft zu Beginn ihres Studiums wenig oder gar nicht Deutsch können, dass sie in anderen kulturellen Verhältnissen aufgewachsen sind, eine andere schulische und dann auch universitäre ,,Sozialisierung" genossen haben und folglich andere Erwartungen an ein Germanistikstudium herantragen als ihre deutschsprachigen Kommilitonen. So formuliert, erscheint die Unterscheidung zwischen IG und AG so selbstverständlich, so banal, dass man sich Einwände dagegen kaum vorstellen kann. Und dennoch: Fragt man Fachvertreter aus dem deutschen Sprachraum ­ seien sie nun an einer germanophonen Universität oder anderswo tätig ­ nach ihrer Meinung, dann scheint die Unterscheidung zwischen IG und AG nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Ohne eine umfassende Umfrage durchgeführt zu haben, kann man behaupten, dass für viele von ihnen im Grunde genommen nur die IG existiert. Sie ist der Normalfall, das Modell, nach dem sich die Germanistik in aller Welt zu richten, der Maßstab, an dem sie sich zu messen hat. Ganz selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass die Inlandsgermanistik die Germanistik im Ausland befruchtet und bereichert ­ das Umgekehrte ist schwer vorstellbar. Wenn man aber ­ mit Sitta und vielen anderen ­ überzeugt ist, dass die Unterscheidung zwischen IG und AG sehr wohl Sinn macht, muss man sich die Frage stellen, was denn unter AG überhaupt zu verstehen sei.1 Und hier ist die Antwort nun keineswegs eindeutig. Zunächst ist festzuhalten, dass es in Wirklichkeit nicht nur eine AG gibt, eine solche nicht geben kann; denn wegen der oben erwähnten kulturellen, aber auch sozialen, politischen usw. Voraussetzungen, in denen Germanistik weltweit stattfindet, müssen sich die Germanistiken im Ausland zwingend voneinander unterscheiden, selbst wenn ihnen allen (wie natürlich auch der IG) das Fach Deutsch als Lehrund Forschungsgegenstand gemein ist. Auf die obige Frage gibt es nicht nur eine Antwort. Als eine Art Minimaldefinition bietet es sich an, AG einfach als Germanistik in nichtgermanophonem Umfeld zu definieren. In dieser ­ zugegebenermaßen simplen ­ Sichtweise spielen Inhalte des Fachs keine Rolle, und man könnte sich eine Universität im nichtdeutschsprachigen Raum vorstellen, wo Germanistik genauso betrieben würde wie irgendwo in der deutschen Schweiz, in Österreich oder in Deutschland. Das Lehrangebot, die behandelten Themen, die Forschungsschwerpunkte, die Aufteilung des Fachs in verschiedene Bereiche würden sich in nichts von deutschsprachigen Instituten unterscheiden; allenfalls könnte man sich denken, dass Sprachkurse angeboten werden, die den Studierenden helfen sollen, möglichst rasch auf ein muttersprachähnliches Niveau zu gelangen. Dass diese Sicht der Dinge keineswegs unrealistisch ist, wird sich weiter unten zeigen. Am anderen Ende der Skala kann man sich eine AG denken, die sich im Vergleich zur IG durch andere Lehr- und Forschungsinhalte, einen anderen Studienaufbau, eine andere interne Struktur des Fachs auszeichnet; ja, man kann auch weiter gehen und sich die Aufhebung des traditionellen Fachs Germanistik zu Gunsten anderer ­ z. B. ökonomisch oder politologisch ausgerichteter ­ Studiengänge vorstellen, in denen Deutsch eine hervorragende Rolle spielt. Dass auch solche in den Augen vieler extreme Vorstellungen durchaus der Wirklichkeit entsprechen, werden wir ebenfalls noch sehen. Zwischen den beiden radikal entgegengesetzten Varianten sind natürlich eine Reihe weiterer Möglichkeiten denkbar. So könnte eine Dreiteilung des Fachs verschieden sein von der auch heute noch oft als normal geltenden (neuere deutsche Literatur, Literatur des Mittelalters, Linguistik). Auch gibt es keine zwingenden Argumente dafür, dass das Fach auf immer und ewig dreigeteilt bleibt ­ warum sollte es nicht eine Vierteilung sein? Eine weitere ­ von vielen wohl als pure Ketzerei empfundene ­ Frage ist die nach der Rolle bzw. dem Gewicht, das der Literatur in einem auslandsgermanistischen Studium zukommen soll. Angesichts der Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Studierenden einen Beruf ausüben wird, in dem Literatur überhaupt keine Rolle spielt (so bedauerlich das auch sein mag), und dass eine ebenfalls große Anzahl in den Lehrberuf gehen wird, wo sich für viele von ihnen kaum je die Gelegenheit ergeben wird, sich in der Klasse mit deutscher Literatur zu beschäftigen, muss die Frage erlaubt sein, inwiefern das mancherorts nach wie vor übliche Ungleichgewicht zwischen der personell und stundenmäßig hoch dotierten neueren Literatur und den andern bisweilen schon fast stiefmütterlich behandelten germanistischen Fächern noch zu rechtfertigen ist. 2 Die Situation in der Westschweiz 2.1 Ein paar Tatsachen Alle drei Universitäten der frankophonen Schweiz ­ Genf, Lausanne, Neuenburg2 ­ bieten ein volles Germanistikstudium an, das zum Lizenziat bzw. mit der Einführung des Bologna-Modells im Herbst 2005 in Zukunft zu Bachelor und Master führt. An Sprachkenntnissen wird bei Studienbeginn das Matura-Niveau verlangt; d. h., die Studierenden haben, da Deutsch in der Westschweiz die erste obligatorische Fremdsprache ist, bereits um die neun Jahre Deutsch gelernt. Im Vergleich zur Situation anderswo bedeutet das gewiss ein eher hohes sprachliches Niveau. 1 Wie IG zu definieren wäre, bleibe dahingestellt. 2 An der zweisprachigen Universität Freiburg ist das Selbstverständnis der Germanistik klar inlandsgermanistisch. Mit keinem Wort wird auf der Homepage erwähnt, dass man auch als Nicht-Deutschsprachige in Freiburg Germanistik studieren kann. Laut Auskunft einer Freiburger Kollegin tun das auch nur sehr wenige, obschon es natürlich im Prinzip möglich ist. 204 Gemessen an der Schulstundenzahl, die Westschweizer Studienanfänger hinter sich haben, sind die Deutschkompetenzen allerdings oft enttäuschend. Nicht unwichtig in unserem Zusammenhang ist die verhältnismäßig große Anzahl Deutschsprachiger, die in der Westschweiz Germanistik studieren.1 Auch wenn diese Tatsache manche Lehrende bisweilen dazu verleitet, sich im deutschsprachigen Inland zu wähnen, haben wir es im Sinne der obigen Minimaldefinition in Genf, Lausanne und Neuenburg ohne Zweifel mit AG, d. h. mit Germanistik im nichtdeutschsprachigen Raum, zu tun. Allerdings ist hier auch gleich hinzuzufügen, dass die Sprachgrenze ­ zumindest in Bezug auf Lausanne und Neuenburg ­ nur wenige Kilometer weit entfernt liegt. Immerhin ist es denkbar, dass sich dies in irgendeiner Weise auswirkt. Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, wo sich die Westschweizer Germanistik auf der oben genannten Skala in etwa situiert. Dazu betrachte ich drei Faktoren, die mir besonders aufschlussreich erscheinen: Selbstdarstellung der Institute auf der Homepage, Struktur des Fachs (Teilbereiche), Inhalte der Lehrveranstaltungen.2 2.2 Selbstdarstellung im Internet3 Die germanistischen Institute Lausanne (L) und Neuenburg (N) wenden sich auf den allgemein informierenden Seiten ihrer Homepage explizit an die ,,frankophonen" (N) bzw. die ,,nichtdeutschsprachigen" (L) Studienanfänger. Der aufmunternde, empathische Ton lässt die Absicht erkennen, allenfalls vorhandene Bedenken gegenüber einem Deutschstudium auszuräumen, die Germanistik auch ­ ja ganz besonders ­ Nicht-Germanophonen schmackhaft zu machen. Erwartet werden Deutschkenntnisse, wie sie ,,im Deutschunterricht westschweizerischer Gymnasien erwor- 1 Im Studienjahr 2003/04 war z. B. in Genf ca. ein Drittel der Studierenden im ersten Jahr deutscher Mutterspra- che. 2 Nicht weil er weniger wichtig wäre, sondern aus Platzgründen muss ich auf die Einbeziehung des Faktors Forschung verzichten. 3 Beschrieben wird der Stand 2004/05. Mit dem Inkrafttreten des B.A./M.A.-Studienplans hat sich in Genf der einführende Text zwar geändert, jedoch nicht grundsätzlich. In Lausanne und Neuenburg sind die betreffenden Passagen unverändert geblieben. ben worden sind" (L), aber auch Qualitäten wie ,,Mut, trotz noch unvollkommener Kenntnisse in einer Fremdsprache zu kommunizieren" (N). Angeboten wird ein Unterricht, der ,,speziell auf die Bedürfnisse und Interessen der Studierenden nichtdeutscher Muttersprache ausgerichtet" ist (L), ja gar ,,ein für Studenten französischer Muttersprache maßgeschneidertes Studienprogramm" (N). Die beiden Institute sind sich auch darin einig, dass ihre Lage ­ ,,in unmittelbarer Nähe zur Sprachgrenze" (N), ,,an einem Schnittpunkt verschiedener europäischer Kulturen, im französischsprachigen Teil der mehrsprachigen Schweiz" (L) ­ einen besonderen Trumpf bedeutet, den es zu nutzen gilt. Kurz: Die Begrüßungsseiten von Lausanne und Neuenburg zeugen von Verständnis für die Situation der nichtdeutschsprachigen Studierenden und auch von einem gewissen Selbstbewusstsein in Bezug auf die Vorteile der Situation kleiner Germanistikinstitute nahe der französischdeutschen Sprachgrenze. Weniger publikumsfreundlich präsentiert sich das germanistische Institut in Genf. Recht trocken heißt es da ziemlich am Anfang: ,,Die Vorlesungen und Seminare wenden sich gleichermaßen an nichtdeutschsprachige wie an deutschsprachige Studierende; Deutsch ist von Anfang an die ,Arbeitssprache` im Departement. Es gibt deshalb für die nichtdeutschsprachigen Studierenden ein Sprachprogramm, damit sie ihre Schulkenntnisse entsprechend ausbauen können [...]" Was den besonderen Reiz eines Deutschstudiums in Genf ausmachen könnte, davon ist nichts zu lesen. Weder die besondere Lage (Genf hat als Stadt mit internationaler Ausstrahlung einiges zu bieten) noch etwa die relativ geringe Studentenzahl, die eine besonders intensive Betreuung der Studierenden ermöglicht (in Neuenburg explizit ein Pluspunkt), werden als besondere Vorteile hervorgehoben. Wirklich angesprochen werden die nichtgermanophonen Studierenden in der Rubrik ,,Sprachpraktische Übungen". Hier findet man auch den Ton wieder, der in Lausanne und Neuenburg bereits auf den Einstiegsseiten gepflegt wird: ,,Contrairement une opinion répandue, vous n'avez nullement besoin ďtre germanophone pour entreprendre vos études au Département ďallemand!" Zusammenfassend lässt sich bisher festhalten: Das Bewusstsein, dass es für Absolven- 205 ten frankophoner Gymnasien etwas anderes ist, ein Germanistikstudium in Angriff zu nehmen, als für Muttersprachige im deutschen Sprachraum, ist an allen drei Instituten vorhanden. Die unmittelbare Konsequenz daraus sind die gut ausgebauten Sprachkurse, die überall angeboten werden und deren Besuch obligatorisch ist. ,,Gespräche und Argumentation", ,,Werkstatt Schreiben", ,,Grammatik und Übersetzen", ,,Hören und Verstehen" ­ so und ähnlich lauten die Bezeichnungen für die diversen Kurse, die vor allem im ersten Teil des Studiums einen gewichtigen Platz ein- nehmen. Nun ist aber zu sagen, dass gute Sprachprogramme an den Westschweizer germanistischen Instituten eigentlich nichts Besonderes, sondern vielmehr eine erwartbare Selbstverständlichkeit sind. Interessanter ist deshalb der Blick auf das übrige Lehrangebot sowie auf die Aufteilung des Fachs Germanistik in seine Teilbereiche, kurz: auf die Ausrichtung des Fachs bzw. des Studiums. 2.3 Struktur des Fachs Nicht zu übersehen ist die Anlehnung an das im deutschsprachigen Raum traditionell gängige Modell der Germanistik, werden doch überall die drei Bereiche neuere Literatur, ältere Literatur und Linguistik gelehrt. Zwar gibt es Variationen: So sieht es auf den ersten Blick in Neuenburg aus, als wäre das Fach zweigeteilt, in Lausanne dagegen scheint eine Vierteilung vorzuliegen. In Wirklichkeit verhält es sich aber einfach so, dass die Germanistik an der kleinen Universität Neuenburg nur über zwei Lehrstühle verfügt, wovon der eine auf die neuere Literatur entfällt, der andere sowohl die Linguistik als auch die Mediävistik umfasst. Und in Lausanne gesellt sich zu den drei traditionellen Domänen ein Bereich Übersetzungswissenschaft, der eng mit der neueren Literatur zusammenhängt. Ergänzt werden die drei Bereiche, wie wir sahen, überall durch Sprachkurse. In Lausanne und in Neuenburg gehört jeweils auch ein Seminar in Landeskunde zum Programm, während in Genf bis 2004/05 von Landeskunde nicht die Rede war. Ein Kuriosum ist die Tatsache, dass hier für neuere deutsche Literatur bzw. Literatur des Mittelalters die französischen Bezeichnungen ,,Littérature et civilisation allemandes modernes" bzw. ,,Littérature et civilisation allemandes médiévales" verwendet werden. ,,Civilisation" ist nun zweifellos die französische Entsprechung zum deutschen Begriff ,,Landeskunde", zumindest trifft dies in Frankreich zu. Am Genfer Département ďallemand dagegen verstand man unter ,,civilisation" etwas anderes, ging es doch in den unter dieser Bezeichnung laufenden Veranstaltungen darum, literarische Texte (in der Mediävistik allerdings nicht ausschließlich) in historischer, sozialer, kulturgeschichtlicher usw. Perspektive zu betrachten. Eigentlich landeskundliche Themen werden in Genf zwar seit einigen Jahren ebenfalls behandelt ­ allerdings nicht in eigenen Seminaren, sondern allein im Rahmen der Sprach- kurse. Mit dem Stichwort ,,civilisation" sind wir nun auch an einem Punkt angelangt, wo ein Blick über die Grenze nach Frankreich und überhaupt hinaus nach Europa Not tut. Und da zeigt es sich, dass jene Dreiteilung, die vielen Germanisten im oder aus dem deutschen Sprachraum ­ offensichtlich auch denjenigen in der Westschweiz ­ als die einzig mögliche erscheint, in Wirklichkeit überhaupt nicht selbstverständlich ist. Das Fach Germanistik kann sich strukturell und inhaltlich auch ganz anders präsentieren. Zunächst zu Frankreich (vgl. dazu Thimme 2001). Auch die französische Germanistik ist traditionellerweise dreigeteilt, und zwar folgendermaßen: Literatur (vom Mittelalter bis zur Gegenwart), Linguistik und Landeskunde. Dass die ,,civilisation allemande" seit jeher in Frankreich eine gleichwertige Stellung einnimmt wie Literatur und Sprachwissenschaft, hat historische Gründe. Als sich die französische Germanistik gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nach dem Krieg von 1871, entwickelte, war es nicht möglich, sich ­ als ob nichts gewesen wäre ­ ausschließlich mit deutscher Sprache und Literatur zu beschäftigen. Zur Auseinandersetzung mit dem Nachbarland gehörte auch die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte und Politik. Und so ist es bis heute geblieben, wobei an manchen Universitäten die ,,civilisation allemande" weitgehend historisch und geistesgeschichtlich orientiert ist, anderswo (besonders ausgeprägt in Paris III) die Auseinandersetzung mit der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit (v. a. Deutschlands) im Vordergrund steht. 206 Damit sind jedoch beileibe nicht alle Unterschiede zwischen der Westschweizer und der französischen Germanistik genannt. Deutsch kann nämlich in Frankreich auch im Rahmen eines Studiengangs LEA (,,langues étrangres appliquées") studiert werden, der sich zusammensetzt aus Englisch, einer weiteren Fremdsprache, z. B. Deutsch, sowie Sachfächern wie Wirtschaft, Jura usw. und der auf Berufe in Handel, Industrie usw. vorbereitet. Dass das Schwergewicht in dieser Studienrichtung im Fach Deutsch auf Bereichen wie deutsche Wirtschaftsgeschichte, Fachsprachen, Wirtschaftssprache u. Ä. liegt, erstaunt gewiss nicht.1 Doch nicht nur in Frankreich wird Germanistik heute nicht mehr einfach automatisch mit ,,einer großartigen geisteswissenschaftlichen Disziplin" gleichgesetzt (Thomas 1993, zitiert nach Byram 2001: 1319). So stellt Byram (2001: 1318) in Großbritannien in den vergangenen Jahrzehnten ,,eine Verlagerung vom Literaturunterricht zur Landeskunde" fest, und Rösler (2001: 1152) berichtet von ,,neueren Germanistikspielarten wie `areal/ cultural studies'" und ,,Kombinationsstudiengängen wie `European Studies' oder Sprache plus Wirtschaft." Einerseits wird Deutsch also ­ vielerorts in Europa ­ immer öfter im Hinblick auf Berufe in Handel, Technik, Industrie, Politik studiert, entsprechend gestaltet sich das Kursangebot. Andererseits gibt es zunehmend nicht direkt berufsbezogene Studiengänge, die sich vom klassischen Germanistikstudium ebenfalls stark unterscheiden. Byram (vgl. 2001: 1319) nennt die Universität Oslo, wo ein Lehrgang Deutsch existiert, dessen Schwerpunkt die Zusammenhänge zwischen Kultur und Gesellschaft sind.2 Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie weit entfernt sich die Westschweizer Germanistik von einer eigentlichen 1 Ebenso wenig erstaunt, dass dieser Studienzweig angewandte Fremdsprachen ,,das ungeliebte Kind der klassischen Germanistik" ist (Thimme 2001: 1508). 2 Nicht verschwiegen sei, dass nicht überall in (West-)Europa die Landeskunde einen hohen Stellenwert hat. In Italien beispielsweise scheint die Situation vielerorts derjenigen in der Westschweiz zu gleichen: Landeskundethemen werden bestenfalls in den Sprachkursen angeschnitten (vgl. Byram 2001: 1319). 3 Daran ändert sich auch mit der Bologna-Reform nichts. 4 Die Studienpläne für 2005/06 liegen erst seit kurzem vor, sodass sie hier nicht mehr berücksichtigt werden konnten. AG befindet, wie sie sich anderswo inzwischen etabliert hat. Von einem Ausbau des Angebots in Richtung Wirtschaft, Politik, Technik u. Ä., von der Entwicklung neuer Studiengänge Deutsch sind keine Spuren zu erkennen. Auf der oben genannten Skala stehen die drei Institute, was die Lehr- und Forschungsbereiche betrifft, ganz an dem einen Ende. Auf eine Kurzformel gebracht, könnte man sagen: Westschweizer Germanistik = klassische Inlandsgermanistik + Sprachunterricht (+ ein bisschen Landeskunde).3 Es mag schon erstaunen, dass die Germanistik an den frankophonen Schweizer Universitäten von dem, was sich in anderen europäischen Ländern im Fach tut, in solchem Maße unberührt bleibt. Ganz speziell verwundert, dass Entwicklung, Inhalte und Strukturen der französischen Germanistik offenbar weitestgehend ignoriert werden. Denn in manchen Belangen lehnen sich die Westschweizer Universitäten seit langem an das französische System an; so ist beispielsweise das Studium in Lettres seit Jahrzehnten in einer Art und Weise verschult, wie man es sich ­ zumindest bis vor kurzer Zeit ­ etwa in der deutschen Schweiz nicht vorstellen konnte. 2.4 Lehrinhalte Wer sich die Lehrangebote der akademischen Jahre 2003/04 und 2004/05 anschaut, wird schnell zum Schluss kommen, dass sich diese in vielerlei Hinsicht wenig bis gar nicht von Lehrplänen unterscheiden, wie man sie auch an deutschsprachigen Germanistikinstituten antreffen könnte.4 Ganz besonders trifft diese Feststellung für die neuere Literatur zu. Sie ist in der Tat weitestgehend inlandsgermanistisch orientiert, d. h., was in Genf, Lausanne und Neuenburg gelehrt (und geforscht) wird, könnte ebenso gut in Bern stattfinden. Einzig die Lausanner Verpflichtung, im Rahmen der Germanistik auch Übersetzungswissenschaft zu studieren, kann als ein genuin ,,auslandsgermanistisches", sich aus der speziellen geografischen Lage ergebendes Merkmal angesehen werden. Nun soll hier gewiss niemandem das Recht verwehrt werden, seine Interessen- und infolgedessen seine Lehr- und Forschungsgebiete nach seiner Neigung zu bestimmen. Nur muss man sich doch fragen, ob dadurch, dass eine Reihe von zur Verfügung stehenden Stunden durch teilweise sehr spezielle The- 207 men besetzt sind, nicht ganz einfach die Zeit für Fragestellungen und Problembereiche fehlt, die für Westschweizer Studierende wichtiger, besser zugänglich und womöglich gar spannender wären. Weshalb gibt es z. B. nirgends eine Veranstaltung, wo der Frage nachgegangen wird, wie und welche Literatur im DaF-Unterricht vermittelt werden kann und soll? Immerhin eine Frage, die für zukünftige Lehrer auf der Sekundarstufe II geradezu lebenswichtig ist (vgl. dazu Froidevaux 2003). Sie werden sich zwangsweise mit ihr auseinander setzen müssen, und man kann mit Fug und Recht die Auffassung vertreten, dass sie in dieser wichtigen Frage bereits während ihrer akademischen Ausbildung ein Anrecht auf Unterstützung haben. Auch allgemeinere Fragestellungen könnte man sich als Themen literaturwissenschaftlicher Seminare vorstellen, denn schließlich streben von unseren Studierenden längst nicht alle den (Gymnasial-)Lehrerberuf an. Viele von ihnen werden auf der Sekundarstufe I unterrichten, wo ihnen ihre Literaturkenntnisse von keinerlei direktem Nutzen sein werden.1 Andere werden in den verschiedensten Bereichen tätig sein, in denen Literatur für das Berufsprofil ebenfalls keine (große) Rolle spielt. Sollte man sich da im Studium nicht mit der Frage befassen, was Literatur ­ speziell deutschsprachige Literatur, sei es nun die klassische oder die zeitgenössische ­ im 21. Jahrhundert überhaupt für eine Bedeutung, für eine Funktion hat? Auch in der Mediävistik tragen Seminare und Vorlesungen Titel, wie man sie an deutschsprachigen Fakultäten findet. Allerdings ist festzuhalten, dass die Ausrichtung auf rein literarische Werke weniger ausgeprägt ist als in den neueren Abteilungen. Das Studium des Mittelalters bedeutet in einem gewissen Maße (besonders ausgeprägt in Genf), dass man sich nicht nur mit der schönen Literatur befasst, sondern auch mit anderen Textsorten wie Predigten, Marienleben usw. und dass zudem Texte (literarische und andere) oft in ihrem soziohistorischen Kontext betrachtet werden, wodurch die Studierenden über die Literatur hinaus einen Einblick in die mittelalterliche Kultur überhaupt gewinnen. Die (kultur)historische Perspektive scheint also im Bereich Mittelalter eine wichtigere Stellung einzunehmen als in der neueren Literatur.2 Wieder anders präsentieren sich die Dinge in der Linguistik. Sie ist in der Tat der einzige Bereich, wo ­ zumindest ansatzweise ­ typisch auslandsgermanistische Themen angeboten werden. Zwar wird nirgends der auslandsgermanistischen Domäne par excellence, nämlich Deutsch als Fremdsprache, eine herausragende Bedeutung beigemessen.3 Und in Lausanne ist im Jahr 2004/05 gar ein Seminar ,,Didaktik des Deutschen als Fremdsprache" gestrichen worden. Dafür stößt man in Neuenburg auf einen Proseminartitel ,,Der DaFUnterricht auf der Sekundarstufe I und II", und in Genf scheint sich gar eine Trendwende abzuzeichnen. Bis vor kurzem war es nämlich möglich, sein ganzes Studium zu durchlaufen, ohne jemals eine Veranstaltung über Fremdsprachenerwerb bzw. DaF zu besuchen, eine solche wurde auch längst nicht jedes Jahr angeboten ­ zumindest für zukünftige DaFLehrer eine ziemlich absurde Sachlage. Obligatorisch war ein Seminar DaF nur für deutschsprachige Studierende. Bereits 2003/04 standen jedoch zwei weitere Veranstaltungen auf dem Programm, dasselbe gilt für 2004/05 ­ eine Tendenz, die sich mit der Studienreform noch verstärken wird. Nicht unerwähnt bleiben sollen andere linguistische Themen, die man gewiss auch als typisch für die Auslandsgermanistik bezeichnen kann und die an den Westschweizer Germanistikinstituten angeboten wurden oder werden; beispielsweise gibt es immer wieder Seminare zu diversen Fragen des deutschfranzösischen Sprachvergleichs oder zur Sprachsituation in der Schweiz. 3 Fazit Aus den obigen Ausführungen ergibt sich Folgendes: Die Westschweizer Germanistik orientiert sich ­ inhaltlich und in ihrer Struktur ­ stark an der traditionellen Germanistik des deutschen Sprachraums. So genuin auslandsgermanistische Bereiche wie Landeskunde 1 Die universitäre Ausbildung ist in der Westschweiz für zukünftige Lehrkräfte der Sekundarstufen I und II die- selbe. 2 In Genf z. B. äußert sich dies auch darin, dass manche Mittelalterveranstaltungen der Germanistik im Rahmen des Faches ,,Histoire et civilisation du Moyen Age" belegt werden können. 3 Eine DaF-Professur gibt es in der Schweiz nur in Freiburg, und zwar am Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen (LeFoZeF). 208 oder DaF stehen nirgends gleichberechtigt neben den drei klassischen Domänen neuere Literatur, ältere Literatur und Linguistik; vielmehr führen sie an allen drei Universitäten ein mehr oder weniger bescheidenes Schattendasein. Die Lehrinhalte sind ­ mit einigen Ausnahmen ­ keine prinzipiell anderen als in der IG, sodass man sagen kann, dass eigentlich nur das reiche Angebot an Sprachkursen einen Westschweizer ,,Plan des cours" von einem Vorlesungsverzeichnis an einem (traditionell orientierten) deutschsprachigen Germanistikinstitut unterscheidet. Dass dem so ist, erklärt sich zu einem guten Teil aus der Tatsache, dass alle Lehrstuhlinhaber sowie viele der übrigen Lehrenden an deutschsprachigen Universitäten ­ sei es in der Schweiz, in Deutschland oder in Österreich ­ studiert haben, sodass ihre akademische ,,Sozialisation" ganz und gar inlandsgermanistisch geprägt ist. Eine Folge davon ist, dass Kontakte in erster Linie mit Kollegen an deutschsprachigen Universitäten gepflegt werden. Dies ist ein großer Unterschied etwa zu den französischen Germanisten, von denen zwar nicht alle, wohl aber sehr viele ihr Studium in Frankreich absolviert und ihre Karriere im französischen System gemacht haben. 4 Und ,,Bologna"? Manch eine Leserin, manch ein Leser mag sich bei der Lektüre dieses Textes gefragt haben, ob denn in der Schweiz ,,Bologna" nichts bewirkt habe. Dazu sei zum Schluss doch noch Folgendes ausgeführt: Die Reform hätte auch in der welschen Schweiz eine Chance sein können, bot sich hier doch eine einmalige Gelegenheit, über grundsätzliche Fragen der Westschweizer Germanistik nachzudenken ­ über ihre Aufgaben, Zielsetzungen, Lehr- und Forschungsinhalte, über ihre Rolle und Verantwortung in der frankophonen Schweiz am Anfang des 21. Jahrhunderts. Dass diese Diskussion dringend nötig wäre, hat der Blick ins Ausland gezeigt; die Westschweiz kann mit den Entwicklungen in manchen Ländern Europas nicht mithalten. Doch auch lokale Gründe sprechen für echte Reformen, denn die Zahl der Deutschstudierenden ist an den Westschweizer Universitäten wie anderswo in den letzten Jahren massiv gesunken. Dies bedeutet nicht unbedingt ein Desinteresse am Deutschen generell, verzeichnen doch universitäre Deutschkurse, wie sie in Lausanne und Freiburg außerhalb der Germanistik erteilt werden, durchaus erfreuliche Studentenzahlen. Dass aber das Interesse am traditionellen Germanistikstudium zurückgegangen ist, lässt sich nicht bestreiten. Nun, die Chance ist vertan. Eine große Debatte fand nicht statt, weder innerhalb der Westschweizer Germanistik noch beispielsweise zwischen den verschiedenen Sprachfächern der betreffenden Fakultäten, geschweige denn fakultätsübergreifend. Damit ist auch klargestellt, dass nicht die Germanistik allein daran schuld ist, wenn die BolognaReform außer einer kosmetischen Anpassung an das B.A./M.A.-Modell nur wenig wirklich Neues bringt ­ wobei zu sagen ist, dass diese Tatsache von manchen zwar bedauert wird, anderen jedoch durchaus entgegenkommt. Wer dabei Recht hat, wird sich in Zukunft zeigen. 209 Literatur Byram, Michael (2001): Landeskunde in der europäischen Auslandsgermanistik. In: G. Helbig u. a. (Hg.), 2. Halbbd., 1313­1323. Froidevaux, Gérald (2003): Vom Nutzen der Literatur für das Lernen einer Fremdsprache. In: Babylonia 3­4, 80­86. Helbig, Gerhard / Götze, Lutz / Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2001): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin / New York. Rösler, Dietmar (2001): Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik. In: G. Helbig u. a. (Hg.), 2. Halbbd., 1151­1159. Sitta, Horst (2004): Inlandsgermanistik ­ Auslandsgermanistik. Was für einen Sinn hat eine solche Unterscheidung? In: DaF 4, 195­198. Thimme, Christian (2001): Deutschunterricht und Germanistikstudium in Frankreich. In: G. Helbig u. a. (Hg.), 2. Halbbd., 1502­1509. Thomas, Neil (1993): Rethinking German Studies. Some new perspectives. In: Durham University Jounal, 127­130. 210 1 Einleitung (1) Heinz Schenk (= S) erzählt seinen selbst erfundenen Viagra-Witz (NDR/5­2/2)1 S: ein Mann sitzt in der Kneipe hat einen Haufen Viagra-Pillen vor sich liegen und steckt sich laufend welche in die Ohren, kommt ein Freund dazu und sagt: die musst du schlucken die Pillen, nicht in die Ohren stecken, doch doch das ist schon richtig, mein Arzt hat mir gesagt, ich soll die Ohren steifhalten, Es ist keinesfalls überraschend, dass in Talkshows, die völlig auf Unterhaltung des Fernsehzuschauers abzielen, Wortspiele gemacht werden; auch nicht, dass wie in (1) solche auf Phraseologismen beruhen.2 Idiomatische Ausdrücke, deren Gesamtbedeutung nicht der Summe der Einzelbedeutungen ihrer Konstituenten entspricht, bieten sich dafür aufgrund der Möglichkeit, eine ­ wenn auch fiktive ­ wörtliche Bedeutung zu aktualisieren, geradezu an. Genau dies nutzt S in seinem ViagraWitz aus: Ein Mensch kann zwar nicht wie ein Pferd die Ohren aufstellen bzw. steif halten, doch wird dies über den Effekt der Viagra-Pillen suggeriert und so entsteht das Wortspiel. Anders als der im vorliegenden Fall erfundene, konstruierte und speziell als solcher angekündigte Viagra-Witz entsteht der Großteil der Wortspiele in einem 32-stündigen Talkshow-Korpus (vgl. Schmale 2001a) aus dem Gesprächsverlauf heraus, wobei zudem in den meisten Fällen der phraseologische Bezugsausdruck und die sprachspielerische Bearbeitung von unterschiedlichen Sprechern stammen, es sich folglich um ein interaktiv hergestelltes Wortspiel handelt. Im Folgenden werden vier Typen von Wortspielen mit Phraseologismen dargestellt, die ­ ebenso wie unterschiedlichste Formen der Reformulierung (vgl. Schmale 2001b), metadiskursive Kommentierungen und Bewertungen sowie nonverbale Aktivitäten, die die Produktion eines Phraseologismus begleiten ­ als eine Form der konversationellen Bearbeitung phraseologischer Ausdrücke verstanden werden. Wortspiele können u. a. ent- stehen: ­ durch die Aktualisierung eines (fiktiven) literalen Sinnes; ­ durch die Modifikation einer Phraseologis- mus-Komponente; ­ durch den Gebrauch eines Elements des Phraseologismus A in einer folgenden Konstruktion B; ­ durch eine spezifische situationelle Einbet- tung. Im Anschluss an Piirainen (1999) handelt es sich dabei ausschließlich um individuelle, also nicht usualisierte Wortspiele, die aus der Situation heraus entstehen. 2 Typen von Wortspielen 2.1 Auf Aktualisierung einer fiktiven wörtlichen Bedeutung basierende Wortspiele Wie schon im Beispiel (1), in dem der Witz nur durch eine Bedeutungsverschiebung von der phraseologischen (`nicht den Mut verlieren') hin zu einer fiktiven wörtlichen Bedeutung (`die Ohren aufstellen') entstehen kann, so ist auch im Korpus das weitaus produktivste Modell für die Schaffung von Wortspielen die ­ meist implizit bleibende ­ Umdeu- 1 In sämtlichen Korpus-Auszügen werden folgende gängige Transkriptionszeichen verwendet: , = fallende, ` = steigende Intonation; ­ = Stimme in der Schwebe; . .. ... = ganz kurze bis mittlere Pausen (bis ca. 1,5 Sek.); WAS = auffällig starke Betonung eines Wortes oder Wortteils; wie:::: = Längung eines Vokals; & = auffällig schneller Anschluss; so=ne = Kontraktion-Elision; das Ende von Klammercharakterisierungen wird durch ein + markiert. Syntaktische oder lexikalische Fehler sind den Interaktionsbeteiligten, nicht dem Autor der vorliegenden Arbeit zuzuschreiben. 2 Piirainen (1999: 263) weist darauf hin, dass ,,ein spielerisches Umgehen mit der Sprache [...] auf nahezu allen Ebenen mündlicher oder schriftlicher Textproduktion zu finden" ist. Vgl. dort auch die Literaturhinweise zur Wortspielforschung. Günter Schmale Wortspiele mit phraseologischen Ausdrücken in deutschen Talkshows tung eines konventionell phraseologischen in ein situationell oder kontextuell ­ fiktives ­ wörtliches Signifikat eines phraseologischen Ausdrucks oder eines Teils davon. Fleischer (1997: 216) bezeichnet dieses Verfahren als ,,doppelte Aktualisierung", Koller (1977: 83) als ,,Literalisierungsspiel". Im folgenden Beispiel entsteht das Wortspiel durch eine Folgeaktivität des so genannten Talkmasters, in diesem Falle Andreas Türck (= T), der einen Phraseologismus seines Gastes kommentiert: (2) Patrick (= P) behauptet, dass er wegen seines guten Aussehens Stadtgespräch sei (AT/30­6/3) P: ich bei uns in der Stadt in aller Munde man kennt mich . ob positiv oder negativ darüber ­ T: WAS bist du bitte P: in aller Munde, T: haha, . wie Bill Clinton, (alles lacht)+ Vom Kontext und vom Lachen der Zuschauer und des Moderators abstrahierend, könnte man auf den ersten Blick meinen, dass T nichts anderes tut, als seinen Gast Patrick mit Bill Clinton zu vergleichen: Beide sind in aller Munde, d. h. ,,sehr bekannt, im Gespräch" (Duden 11 1998: 496). Auf dem Hintergrund der Clinton-Lewinski-Affäre bekommt das Idiom dann allerdings eine äußerst obszöne wörtliche Bedeutung, die im Übrigen von T deutlich mit einem vorausgehenden haha angekündigt wird. Bei einer tatsächlichen Anspielung auf den Bekanntheitsgrad des vorigen US-Präsidenten, die zudem an dieser Stelle unmotiviert gewirkt hätte, wäre das vorherige gekünstelte haha völlig unangebracht gewesen. Das anschließende Lachen sowohl von P, auf dessen Kosten das Wortspiel geht, als auch das der Studiozuschauer zeigt, dass das Wortspiel als solches interpretiert wird. Bemerkenswert ist zweifellos, dass kein Gericht T für Anzüglichkeiten verurteilen könnte, da die Intention für ein obszönes Wortspiel juristisch gesehen kaum nachgewiesen werden könnte. Neben Andreas Türck, der eine Vorliebe für derartige Wortspiele hat, pflegt auch das Talkshow-Urgestein Hans Meiser (= M) das Spiel mit dem Phraseologismus: 1 Vgl. auch Wotjak (1999: 55­57) zu den Bedingungen für das Gelingen eines Sprachwitzes. (3) Meiser stellt Frau Ortwein vor (HM/19­3/13) M: es gibt tatsächlich so etwas wie::: ­ medizinische Wunder, sie war 1984 total blind, .. vor Liebe, inzwischen kann sie wieder sehn, aus Berlin ­ Anneliese Ortwein herzlich willkommen, (Beifall)+ In diesem Fall entsteht das Wortspiel mit dem Phraseologismus blind (vor Liebe) sein allerdings nicht interaktiv über einen Partnerkommentar, sondern es wird vom Phraseologismus-Produzenten selbst geschaffen. Dies gelingt Meiser, indem er eine Pause nach blind macht, das zudem mit terminaler Intonation gesprochen wird, sodass das Adjektiv nur die wörtliche Bedeutung `ohne physisches Sehvermögen' erhalten kann, zumal Meiser unmittelbar davor von einem medizinischen Wunder gesprochen hatte. Das Wortspiel entsteht dann durch die Äußerung der Präpositionalphrase vor Liebe, wodurch das Adjektiv eine phraseologische Bedeutung erhält, nämlich `nicht den wahren Charakter ihres Geliebten sehenď. Die Tatsache, das das Wortspiel gelungen ist, wird durch das Lachen im Publikum bestätigt. Gréciano (vgl. 1983: 255) weist auf die Notwendigkeit der Interpretation einer unerwarteten semantischen Dimension durch den Hörer hin, die sich durch Lachen manifestiert, um von einem gelungenen Wortspiel sprechen zu können. Wenn die Hörerreaktion (die positiv oder negativ sein kann) auf die Literalisierung einer Phraseologismus-Konstituente eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Interpretation eines Wortspiels durch den Hörer angenommen wird,1 so kann jedoch auch bei Abwesenheit derartiger Reaktionen unter bestimmten Bedingungen ein Wortspiel konstatiert werden, wie das folgende Beispiel zeigt. Hier liegt im Übrigen einer der seltenen Fälle eines Wortspiels durch einen Talkgast vor: (4) Kommentar Janines (= JA) zu Johannes' (= J) Seitensprüngen (BS/3­6/7) JA: und jetz has dir aber die Hörner abgestoßen, ja jetz J: & ja Gott sei dank, .. (zeigt auf seinen Kopf) + du siehst doch wie ich aussehe, ich hab (ja?) keine Haare mehr, Das metaphorisch-bildhafte verbale Idiom sich die Hörner abstoßen ,,(ugs.): durch Erfahrungen besonnener werden, sein Ungestüm in 211 der Liebe ablegen" (Duden 11 1998: 350) wird vom Adressaten Johannes wörtlich genommen, indem er es auf seinen haarlosen Kopf bezieht. Die Absicht von Johannes ist folglich unverkennbar, hier ein Wortspiel zu produzieren, das in diesem Fall jedoch nicht durch Hörerreaktionen positiv sanktioniert wird. In allen angeführten Beispielen (1)­(4) wurde, wie gezeigt, ein Phraseologismus oder Phraseologismus-Bestandteil wörtlich genommen: die Ohren steif halten, in aller Munde sein, blind vor Liebe sein, sich die Hörner abstoßen. Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass prinzipiell jeder idiomatische Phraseologismus eine wörtliche und eine übertragene Bedeutung hat. Gréciano (vgl. 1983) wendet sich entschieden gegen eine derartige Auffassung, denn das Wortspiel mit dem idiomatischen Phraseologismus basiert gerade darauf, dass er ein phraseologisches, über die wörtliche Bedeutung der Einzelbestandteile hinausgehendes Signifikat hat. Erst so wird es möglich, mit einer an ganz spezifische Kontexte gebundenen wörtlichen Bedeutung des gesamten phraseologischen Ausdrucks (im Falle von (2) und (4)) oder mit einzelnen Lexemen davon (bei (1) und (3)) zu spielen. 2.2 Auf Modifikation von PhraseologismusKonstituenten basierende Wortspiele Neben der Aktualisierung einer fiktiven wörtlichen Bedeutung eines phraseologischen Ausdrucks existiert als weiteres produktives Verfahren zur Schaffung von Wortspielen mit Phraseologismen die Modifikation eines seiner Elemente.1 Auch hier tut sich wieder Hans Meiser (= M) hervor: (5) Wolf (= W) erzählt von seiner misslungenen Beziehung (HM/19­3/10) M: sie haben vier Firmen . ihr eigen genannt, W: richtig, das war einmal, alle den Bach runter, M: alle den Bach runter den Neckar runter Meiser ersetzt in seiner PhraseologismusParaphrase das Substantiv Bach der Nennform den Bach hinuntergehen ,,(ugs.): zugrunde gehen, bankrott machen" (Duden 11 1998: 78) durch den wahrscheinlich situationell motivierten2 Flussnamen Neckar. Da es sich in (5) um einen kaum belachenswerten Sachverhalt handelt ­ es geht um die Konkurse von vier Firmen ­, fragt man sich, welchen Zweck der Moderator mit diesem eher obskuren Wortspiel3 verfolgt, über das nur er allein zu lachen scheint. Für den Zuschauer entsteht eher der Eindruck, dass sich Meiser über seine Gäste lustig macht, im besten Falle ironisch ist. 2.3 Wiederverwendung eines Phraseologismus-Elementes in einer folgenden Konstruktion Wortspiele können auch dadurch entstehen, dass Konstituenten einer phraseologischen Äußerung in einer folgenden phraseologischen oder nichtphraseologischen Äußerung wieder verwendet werden. Folgendes Beispiel illustriert diesen Fall: (6) Alida Gundlach (= G) und Ko-Moderator Meyer-Burckhardt (= B) im Gespräch mit Star-Geiger André Rieu (= R) (NDR/ 5­2/12) G: was passiert denn da eigentlich is das so=ne . gewollte: ­ ähm . Anziehung so=ne Erotik mit der sie auch arbeiten da auf der Bühne R: was meinen sie gewollt, ach dass ich das mit Absicht mache, nee das geht von selber, G: ob sie das mit Absicht machen weiß ich nich, aber ­ B: wollen sie nur das EINE G: (lacht laut) + aber das is doch ne einkalkulierte: ­ R: (zu B) ich bin halt genauso jetz wie ich auf der Bühne bin, In dieser recht komplexen Wortspielsequenz4 wird das dem Adjektiv mit Partizip-II-Form gewollt zugrunde liegende Verb wollen in einer folgenden Konstruktion wieder verwendet, um die phraseologische Äußerung wollen sie nur das eine zu produzieren, die von der Ko-Moderatorin G mit lautem Lachen quittiert wird. Selbst wenn der Adressat André Rieu Bs Aktivität als echte Frage zu seinem Auftreten auf der Bühne behandelt, so bleiben doch die konventionellen anzüglichen Implikationen der festen Phrase (vgl. Burger 1998) nur das eine wollen bestehen, die der 1 Ein besonders anschauliches Beispiel aus dem Französischen fand sich am 25. 01. 2003 anlässlich der ChiracSchröder-Treffen im ,,Canard Enchaîné": ,,Chirac et Schröder en dette dette", auf die Schulden beider Staaten anspielend (von en tte tte ­ `im Zwiegespräch'). 2 Möglicherweise kommt der Gast aus der NeckarGegend, was Meiser natürlich weiß. 3 In einem anderen Fall ersetzt er in die Wüste schicken durch im Rhein versenken. 4 Die u. a. auch die phraseologische Paraphrase ­ etwas mit Absicht tun ­ als Rephrasierung von gewollt enthält. 212 213 Fernsehzuschauer jedenfalls wahrnimmt und für den der auf Unterhaltung bedachte Moderator sie möglicherweise auch gedacht hat. 2.4 Wortspiele mit Phraseologismen durch spezifische situationelle Einbettung Schließlich soll ein Typ des Wortspiels diskutiert werden, der allein von seiner situationellen Einbettung lebt, da keinerlei mit den zuvor diskutierten Fällen vergleichbare Bearbeitung des betreffenden Phraseologismus erfolgt: (7) Satanist Klaus (= K), der hinter einer Schattenwand verborgen ist, wird von Moderatorin Ilona Christen (= C) befragt (IC/3­6/2) C: Klaus hinter der Schattenwand dort oben wieso scheuen sie eigentlich die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser K: ja: ich bin Satanist ich lebe halt im Verborgenen arbeite im Verborgenen und das soll auch so bleiben, Auf den ersten Blick hat der phraseologische Vergleich den Teufel wie das Weihwasser fürchten einfach die Bedeutung ,,vor jmdm, etwas große Angst haben" (Duden 11 1998: 226), und dies trifft auch in der vorliegenden Situation zu. Andererseits ist die Person, der die große Angst zugeschrieben wird, aber ein hinter einer Schattenwand verborgener Satanist. Doch die Furcht des Teufelsanbeters vor der Öffentlichkeit mit der des Teufels vor dem Weihwasser zu vergleichen gehört zweifellos in die Kategorie der Wortspiele, wenn es auch, wie schon in anderen Fällen, keinerlei Belustigung der Beteiligten hervorruft. Nur bei der vorhandenen spezifischen kontextuellen Konstellation handelt es sich um ein Wortspiel; generell ist nicht jede Verwendung die- 1 Wie z. B. in dem im Duden 11 (1998: 226) angeführten Beispiel: ,,Unangemeldete Inspektionen fürchteten einige Restaurants wie der Teufel das Weihwasser." 2 Es wäre zu untersuchen, ob dies nicht allgemein für phraseologische Vergleiche zutrifft. Auch auf sich freuen wie ein Schneekönig, frieren wie ein Schneider oder fluchen wie ein Bierkutscher scheint dies zuzutreffen; jedenfalls können derartige Vergleiche nicht in allen beliebigen Situationen verwendet werden. ses Phraseologismus als Wortspiel zu betrach- ten,1 wenn auch der Vergleich selbst ganz unbestritten einen humoristischen Aspekt hat.2 3 Von Konversationellen Funktionen Wortspielen mit Phraseologismen Im Anschluss an die Darstellung der vier Typen von Wortspielen ist die Frage nach deren konversationellen Funktionen zu beantworten. Die Feststellung, dass es in erster Linie darum geht, Belustigung bei den Studiogästen und vor allem bei den Fernsehzuschauern hervorzurufen, erscheint dabei fast banal. In diesem Sinne würde sich eine Folgeaktivität des Moderators zwar sequenziell auf die vorausgehende Aktivität eines Talkgastes beziehen, jedoch im Grunde nicht an diesen, sondern an das Fernsehpublikum gerichtet sein. So wäre es auch zu erklären, dass Wortspiele häufig auf Kosten der so genannten Talkgäste gehen. Mangels negativer Reaktionen der Gäste weiß man allerdings nicht, ob diese sich tatsächlich in ihrem ,,Gesicht" bedroht fühlen. Da es in der öffentlichen Situation gegenüber einem allgewaltigen Moderator aber kaum möglich ist, zu protestieren, sind negative Gefühle, sozusagen als ,,Kanonenfutter" für die Späße des Moderators verwendet zu werden, kaum auszuschließen. Wie erwähnt, werden die Wortspiele mit Phraseologismen im zugrunde liegenden Korpus fast ausschließlich vom Moderator gemacht; solche von Gästen sind rar, werden zudem vom Talkmaster in den vorliegenden Fällen in keiner Weise honoriert. Ganz offensichtlich werden Gäste zwar zur Unterhaltung des Fernsehpublikums eingeladen, ihre Rolle soll sich aber auf das Erzählen ihrer Geschichte und eventuelle mehr oder weniger aggressive Reaktionen auf andere Beiträge beschränken. Die Späße sind allein dem Moderator vorbehalten, der sich dadurch als eloquent, witzig, geistreich und kommunikativ kompetent darstellt und zum Unterhaltungswert seiner Sendung beiträgt. Talkmaster, denen dies nicht gelingt, verschwinden recht schnell wieder von der Bildfläche. Burger, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin. Duden 11 (1998): Duden. Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Bearb. von G. Drosdowski und W. Scholze-Stubenrecht. Nach den Regeln der neuen dt. Rechtschreibung überarb. Nachdr. der 1. Aufl. Mannheim et al. (Duden, 11). Fleischer, Wolfgang (1997): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 2. durchges. und erg. Aufl. Tübingen. Gréciano, Gertrud (1983): Signification et dénotation en allemand. La sémantique des expressions idiomatiques. Paris/Metz. Koller, Werner (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tübingen. Piirainen, Elisabeth (1999): Das geht durch Mark und Bein. Usualisiertes Wortspiel in der deutschen Phraseologie. In: R. S. Baur (Hg.), Wörter in Bildern ­ Bilder in Wörtern. Beiträge zur Phraseologie und Sprichwortforschung aus dem westfälischen Arbeitskreis. Baltmannsweiler, 263­282. Schmale, Günter (2001a): Le traitement conversationnel de phrasmes dans les talk-shows de la télévision allemande. Nantes (unveröff. Mono- graphie). Schmale, Günter (2001b): Rephrasages comme traitement conversationnel de phrasmes dans les talk-shows de la télévision allemande. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 39, 47­71. Wotjak, Barbara (1999): Zu textuellen Vernetzungen von Phraseologismen am Beispiel von Sprachwitzen. In: N. Fernandez Bravo et al. (Hg.), Phraseme und typisierte Rede. Tübingen, 51­62 (Eurogermanistik, 14). Literatur 215 1 Sprachhandlungstheorie und DaF-Unterricht Jede sprachliche Äußerung wird als Handlung eines Sprechers (bzw. Schreibers) aufgefasst. Sprachhandlungstypen sind Typen kommunikativen Handelns, denen geistig-sprachliche Operationen zugrunde liegen. Sie dienen der Lösung von Kommunikationsaufgaben zur Realisierung eines Handlungsziels innerhalb einer übergeordneten Tätigkeit, die die Rahmensituation darstellt (vgl. Koch 2001). Sprachhandlungen als Strukturelemente zur Lösung einer Kommunikationsaufgabe bestimmen die konkrete kompositorische und sprachliche Gestaltung eines Textes. Sie stellen dabei ein Mittel zur Zielrealisierung dar, sind aber nicht das Ziel selbst. Zu berücksichtigen ist, dass der Einsatz von Sprachhandlungstypen nicht willkürlich ist, sondern regelhaft erfolgt. Sie haben sich in jeweiligen Textsorten als Handlungsmuster herausgebildet und können den Charakter von Normen annehmen. Die Sprachhandlungstheorie untersucht, wie Teilhandlungen eines Textes zu komplexen Handlungsstrukturen verknüpft sind und welcher Zusammenhang zwischen der Handlungsstruktur des Textes und den sprachlichen Strukturen besteht. Dabei sind für die Bestimmung der kommunikativen Leistung einer sprachlichen Äußerung der Kontext, die Intention des Sprechers und die Hörerreaktion zu berücksichtigen. Die systematische Beziehung zwischen Sprachhandlungstypen und ihrer Realisierung durch bestimmte sprachliche Mittel ist auch für die Arbeit im DaF-Unterricht von großer Relevanz, um die Lerner zu befähigen, eigene Intentionen sprachlich umzusetzen (vgl. Portmann-Tselikas 2001: 248). Für die Vermittlung von Sprachhandlungstypen im Sprachunterricht stellt es ein großes Problem dar, dass der gleiche Handlungstyp durch verschiedene sprachliche Äußerungen, die sehr unterschiedliche sprachliche Elemente verwenden, vollzogen werden kann und umgekehrt die gleichen sprachlichen Mittel für unterschiedliche Sprachhandlungstypen eingesetzt werden können. Die verschiedenen Möglichkeiten Sprachhandlungstypen auszudrücken bedeuten, dass man den Fremdsprachenlernern (FS-Lernern) nicht ein Inventar an sprachlichen Mitteln an die Hand geben kann, mit denen sie jeweilige Sprachhandlungen vollziehen können. Eine Ausnahme bildet das dialogische Alltagshandeln wie das Grüßen, Fragen, Danken, Einladen usw. ­ Sprachhandlungstypen, die in jedem Lehrwerk zu finden sind und mit einer Reihe von Aufgaben den Lerner auffordern, ein durch kulturelle Normen geprägtes, stark standardisiertes Verhalten einzuüben. Verfolgt ein FS-Lerner jedoch eine übergeordnete kommunikative Absicht, möchte er eine bestimmte Intention sprachlich umsetzen, muss er über die Kompetenz verfügen, sukzessive über das Vollziehen von Teilhandlungen sein Ziel zu erreichen. Das bedeutet für die Unterrichtspraxis, nicht nur einzelne Sprachhandlungstypen, sondern die Handlungsstruktur eines inhaltlich komplexen Textes mit ihren verschiedenen Teilhandlungen in Abhängigkeit von dem situativen Rahmen, in dem der Text steht, zu behandeln. Hier liefern die Lehrwerke kaum noch Anregungen, auch wenn die Lerner die Aufgabe erhalten, globale Sprachhandlungstypen wie das Berichten, das Kommentieren, das Erörtern eines Sachverhalts usw. auszuführen, und dabei einige sehr allgemeine sprachliche Routinen zur Verfügung gestellt bekommen. Von Mulo Farenkia (1999) ist der Versuch unternommen worden, Sprachhandlungstypen speziell für den Einsatz im Unterricht DaF zu charakterisieren. Die Arbeit zeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, in verallgemeinerter Art jeweiligen Sprachhandlungstypen sprachliche Formen zuzuordnen, die nur für einen Sprachhandlungstyp spezifisch sind (vgl. u. a. Graffe 1986). Auch Mulo Farenkia überschreitet in seinen Übungsvorschlägen für den DaF-Unterricht nicht die Ebene der dialogischen Alltagsinteraktion. Silke Jahr Sprachhandlungstheoretische Ansätze bei der Textarbeit im DaF-Unterricht 2 Klassifizierung von Sprachhandlungstypen unter dem Aspekt ihrer Anwendung im DaF-Unterricht Im Folgenden soll diskutiert werden, welche elementaren Sprachhandlungstypen für einen Lerner wichtig sind, damit er in der Auseinandersetzung mit einem Sachgegenstand einerseits eigene kommunikative Absichten durchsetzen, andererseits aber auch die Absichten der Kommunikationsteilnehmer erkennen kann, insbesondere wenn nicht die entsprechenden Sprechaktverben bzw. -ausdrücke verwendet werden. Zunächst beziehe ich mich auf Rolf (1997), der sich eng an Searle anlehnt und auch von fünf Grundtypen, den Assertiva, Kommissiva, Direktiva, Deklarativa und Expressiva, ausgeht. Rolf gibt für jeden dieser Typen eine Charakterisierung an und ordnet in nuancenreicher Differenzierung bestimmte Einzeltypen zu. Eine Auswahl aus der Klasse der Assertiva ist die folgende: ­ FESTSTELLEN, MITTEILEN, INFORMIEREN, IN-KENNTNIS-SETZEN, HIN- WEISEN; ­ BEHAUPTEN, HYPOTHESE-AUFSTEL- LEN; ­ ABSTREITEN, DEMENTIEREN, WI- DERSPRECHEN; ­ ZUGEBEN, ZUSTIMMEN, BESTÄTIGEN, BEKRÄFTIGEN. Bei denjenigen Elementen, die in einer Reihe aufgeführt sind, werden die FS-Lerner Schwierigkeiten haben, eine Differenzierung vorzunehmen, sofern sie nicht über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen. Man sollte daher in der Unterrichtspraxis pragmatisch vorgehen und eine Unterscheidung nur so weit vornehmen, wie sie für die Lerner ohne weiteres einsehbar ist. Das bedeutet, sich zunächst auf eine begrenzte Zahl an Sprachhandlungstypen zu beschränken, die im konkreten Textbeispiel bei Bedarf erweitert oder spezifiziert werden kann. Die Sprachhandlungstypen solch eines für Unterrichtszwecke aufgestellten Basisinventars stellen dann oft globale Typen dar, in denen die feineren Unterschiede mehrerer ähnlicher Sprachhandlungstypen eingeebnet sind. Mein Vorschlag geht dahin, für die erste Reihe nur FESTSTELLEN zu verwenden und INFORMIEREN als zu unspezifisch generell auszuschließen. Es sollte den Lernern jedoch der Unterschied zwischen FESTSTELLEN und BEHAUPTEN verdeutlicht werden: Beim FESTSTELLEN besteht ein Sachverhalt, beim BEHAUPTEN ist der Sprecher lediglich der Meinung, dass der Sachverhalt besteht. Eine Unterscheidung sollte auch zum VERMUTEN vorgenommen werden. Damit ergibt sich bezüglich des Bestehens eines Sachverhalts folgende Verstärkung: VERMUTEN ­ BEHAUPTEN ­ FESTSTELLEN. Eine ablehnende Haltung gegen das Bestehen eines Sachverhalts kann unterschiedlich stark durch die Reihe BEZWEIFELN ­ EINWAND-MACHEN ­ WIDERSPRECHEN zum Ausdruck gebracht werden. Weitere einem Basisinventar zuzuordnende Sprachhandlungstypen der Assertiva sollten sein: ZUSTIMMEN, VERALLGEMEINERN, ABSICHT-BEKUNDEN, BEGRÜNDEN, BESCHULDIGEN ­ und gegebenenfalls auch weitere Typen. Wichtige Sprachhandlungstypen der Kommissiva, die auch im DaF-Unterricht eine zentrale Rolle einnehmen, sind VERSPRECHEN und SICH-EINVERSTANDEN-ERKLÄREN, bei den Direktiva sind es AUFFORDERN, DROHEN, VERBIETEN, WARNEN, EMPFEHLEN. Sinnvoll ist es, die Differenzierung zwischen AUFFORDERN und EMPFEHLEN herauszuarbeiten. Deklarativa mit ihren Bezeichnungen treten normalerweise in der gleichen Form auch im Sprachgebrauch auf, z. B. KÜNDIGEN oder VOTUM-ABGEBEN, sodass deren Behandlung unter dem Aspekt einer unterschiedlichen sprachlichen Realisierung nicht erforderlich ist. Das Gleiche gilt für Sprachhandlungstypen, die vor allem durch ihr Sprechaktverb vollzogen werden. Hier genügt es häufig, nur das Verb zu semantisieren. Im Unterschied zu Searle wird bei Rolf mit den Expressiva lediglich ein psychischer oder intentionaler Zustand bzw. eine Einstellung zu einem Ereignis zum Ausdruck gebracht. Oft ist die Äußerung dabei emotional geprägt. Die einzelnen Sprachhandlungstypen der Expressiva sind bei der Arbeit zur Handlungsstruktur von Texten nur dann von Bedeutung, wenn man den Ausdruck von Emotionen in der Sprache im Unterricht behandeln möchte. Die Assertiva, Kommissiva und Direktiva können kontextuell mit einer emotionalen Komponente versehen sein (vgl. Jahr 2000: 233). In diesem Zusammenhang möchte ich das Bewerten von Sachverhalten und Personen erwähnen. Hindelang (1983) kritisiert bei Searle das Fehlen des Sprachhandlungstyps BEWERTEN. Von verschiedenen Auto- 216 ren (u. a. Zillig 1982; Fiehler 1990) wird jedoch darauf hingewiesen, dass Bewertungen stets parallel zum Informationsgehalt von sprachlichen Äußerungen verlaufen, sodass es gerechtfertigt sei, sie nicht als eigenen Sprachhandlungstyp zu klassifizieren. Zusammenfassend sollen die Sprachhandlungstypen aufgelistet werden, die im DaFUnterricht zur Beschreibung der Sprachhandlungsstruktur von Texten eine zentrale Rolle einnehmen. Als Basisinventar wird vorge- schlagen: Assertiva: FESTSTELLEN, BEHAUPTEN, VERMUTEN, BEZWEIFELN, EINWAND-MACHEN, WIDERSPRECHEN, BEGRÜNDEN, ZUSTIMMEN, VERALLGEMEINERN, BEFÜRCHTEN, ABSICHTBEKUNDEN, SCHLUSSFOLGERN; Kommissiva: VERSPRECHEN, EINVER- STANDEN-SEIN; Direktiva: AUFFORDERN, EMPFEHLEN, WARNEN, DROHEN, VERBIETEN. Die Aufzählung bedeutet nicht, dass in Abhängigkeit vom Kontext nicht auch weitere Sprachhandlungstypen wichtig sein können. Sicherlich ist es möglich, das Basisinventar stärker zu modifizieren und für bestimmte Textsorten etwas anders anzusetzen. Mir ging es hier aber gerade darum, für den DaF-Unterricht ein pragmatisch zweckmäßiges Basisinventar zur Behandlung der Sprachhandlungsstruktur von semantisch komplexen sachbezogenen Texten zusammenzustellen. Die Auflistung wurde unter dem Aspekt vorgenommmen, dass eine Abgrenzung der Typen untereinander gut möglich und für den FS-Lerner auch ohne langwierige Erklärungen leicht nachvollziehbar ist. 3 Übungsformen im DaF-Unterricht Da es nicht mehr um das Erlernen der Sprachhandlungstypen im Sinne von Ritualia in der Alltagskommunikation geht, sondern um die Rezeption und Produktion der Sprachhandlungsstruktur semantisch komplexer sachbezogener Texte, sollten die FS-Lerner bereits über Sprachkenntnisse auf dem Mittelstufen- oder Oberstufenniveau verfügen. Zur Vermittlung der Sprachhandlungsstruktur längerer Texte ist eine mündliche Darbietung wenig geeignet, da der Fokus der Aufmerksamkeit beim Lerner zunächst auf dem Erfassen des Inhalts und kaum auf den sprachlichen Mitteln zum Vollzug der einzelnen Sprachhandlungstypen liegt. Deshalb ist es zweckmäßig, im Unterricht schriftliche Texte einzusetzen, die dann die Grundlage für entsprechende mündliche wie schriftliche Reproduktionsübungen bilden. So können monologische Texte verwendet werden, an denen der Lehrer die Sprachhandlungsstruktur mit ihren Teilhandlungen verdeutlicht, z. B. Gebrauchsanweisungen, biographisch orientierte Texte oder journalistische Texte. Eine andere Möglichkeit, auf die ich hier näher eingehen möchte, sind verschriftete Dialoge, z. B. Interviewtexte, wie sie in den gängigen Zeitungen und Zeitschriften zu finden sind. Verschriftete Interviewtexte haben den Vorteil, dass einzelne Repliken vorliegen, die man als eine Einheit behandeln kann. Für die Zwecke des Unterrichts sollte man jeder Replik nach Möglichkeit nur einen dominanten Sprachhandlungstyp für die jeweilige Kernaussage zuordnen. Bei längeren Antworten wird diese Beschränkung nicht immer möglich sein, sodass es unumgänglich werden kann, weitere Sprachhandlungstypen innerhalb einer Replik zuzuordnen. Dennoch sollte der Lehrer darauf achten, dass nur die dominanten Typen herausgearbeitet werden, damit die Struktur noch übersichtlich bleibt und die Lerner sich nicht überfordert fühlen. Der damit einhergehende Verlust in der Korrektheit der Textanalyse muss dabei in Kauf genommen werden. Er kommt jedoch unterrichtspraktisch weniger zum Tragen, da die sich anschließenden Reproduktionsübungen nur noch die dominanten Sprachhandlungstypen zum Gegenstand haben. Die Unterrichtsarbeit soll demonstriert werden an einem Auszug aus einem Interview, das der Playboy Gunter Sachs der Zeitschrift ,,Der Spiegel" (1999) gab. Nach den Sternen greifen Der Playboy und Fotograf Gunter Sachs über seine astrologischen Forschungen, die turbulente Ehe mit Brigitte Bardot, ein SexTriptychon von Salvador Dali und sein schillerndes Leben. SPIEGEL: Herr Sachs, haben Sie sich schon einmal ein Horoskop stellen lassen? SACHS: Ja, einmal vor ungefähr 30 Jahren. Es brachte mir aber keine Erleuchtung. Ich wusste nicht, ob es bloß Humbug war oder doch ein Körnchen Wahrheit enthielt. Horoskope in Zeitschriften lese ich gelegentlich zum Amüsement. (FESTSTELLEN, EIN- WAND-MACHEN) 217 218 SPIEGEL: Sie haben ein Buch über die Sterndeutung geschrieben. War das eine esoterische Anwandlung? SACHS: Ganz und gar nicht. Ich wollte nicht eintauchen in die nebulöse, mythische Astrologie, die beispielsweise Widdern empfiehlt, den Donnerstag für berufliche Veränderungen zu nutzen. Mir ging es einzig und allein um die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Sternzeichen und dem menschlichen Verhalten? (WIDERSPRECHEN + BEGRÜNDEN) SPIEGEL: Kann man sich dem Wolkenkuckucksheim Astrologie überhaupt nähern? SACHS: Durchaus, mit Mathematik und Statistik. Mein kleiner Stab und ich haben mit einer Fülle von Datenmaterial nachgewiesen, dass es zwischen Menschen verschiedener Tierkreiszeichen signifikante Unterschiede gibt und die Astrologie richtige Ansätze hat. (FESTSTELLEN) SPIEGEL: Das wird Spökenkiekern, Mondsüchtigen und anderen Kaffeesatzlesern ordentlichen Antrieb geben. Fürchten Sie nicht den Beifall von der falschen Seite? SACHS: Nein, mein Buch macht ja keine astrologischen Aussagen im landläufigen Sinne. Es liefert keine Orakel, kein Verhaltensprofil. Wir erklären nichts. Sondern haben bloß brav und ehrlich gezählt und gerechnet, um beispielsweise herauszufinden: Der Löwe-Mann heiratet signifikant oft eine Widder-Frau. (WIDERSPRECHEN + BE- GRÜNDEN) SPIEGEL: Wo sind Sie noch fündig gewor- den? SACHS: In allen möglichen Bereichen: Scheidungen, Verkehrsdelikte, Krankheiten, welche Studienfächer bevorzugt werden, dasselbe bei der Berufswahl, bis hin zu der Feststellung, welche Zeichen häufiger Selbstmord begehen. (FESTSTELLEN) SPIEGEL: Hat das irgendeinen praktischen Nutzen? SACHS: Das war nicht der Sinn der Untersuchung. Aber wir wissen heute ­ zum erstenmal seit 4000 Jahren ­, dass die Astrologie eine rationale Basis hat. Trotzdem geht es mir dabei immer noch wie beim Fliegen: Ich sehe, dass die Maschine fliegt, und wundere mich, dass der schwere Kasten nicht wie ein Stein vom Himmel fällt. (EINWAND-MACHEN) SPIEGEL: Früher haben Sie sich mit anderen Sternen beschäftigt. SACHS: Sie nehmen jetzt offenbar Kurs auf den irdischen Teil unseres Gesprächs. (VERMUTEN) Den einzelnen Antworten wurden jeweils Sprachhandlungstypen zugeordnet. Auf die erste Frage des Reporters macht Sachs in seiner Antwort eine FESTSTELLUNG, formuliert aber einen EINWAND gegen seine damalige Erwartung. Die zweite Frage kann man als Unterstellung des Reporters, dass Sachs eine esoterische Anwandlung hatte, interpretieren. Das vehemente WIDERSPRECHEN (,,Ganz und gar nicht."), das er auch BEGRÜNDET, spricht für diese Deutung. Die darauffolgende Antwort beinhaltet eine FESTSTELLUNG. Auf die vierte Frage äußert sich Sachs wiederum durch ein WIDERSPRECHEN gegenüber der Äußerung des Interviewers und eine BEGRÜNDUNG seiner Ansicht. Danach trifft er auf die ihm gestellte Frage eine FESTSTELLUNG, indem er nur verschiedene Elemente aufzählt. Die Frage nach dem praktischen Nutzen der Astrologie wird indirekt verneint; durch das EINWAND-MACHEN wird jedoch versucht, die Frage zu relativieren, und es erfolgt der Ausdruck von Gefühlen. Abschließend antwortet Sachs sehr knapp auf die Frage des Reporters mit einer VERMUTUNG. Für die Unterrichtsarbeit ist das Interview in reduzierter Form hier unter Angabe der Sprachhandlungstypen wiedergegeben, so wie es mit den Lernern erarbeitet werden kann: Reduzierter Interviewtext: Nach den Sternen greifen Reporter: Haben Sie sich schon mal ein Horoskop stellen lassen? War das Schreiben eines Buches eine esoterische Anwandlung? Kann man sich der Astrologie überhaupt nähern? Fürchten Sie nicht, sich lächerlich zu machen? Gunter Sachs: FESTSTELLEN + EINWAND-MACHEN: ja . . . aber . . . keine Erleuchtung, ich wusste nicht, ob bloß Humbug . . . doch Körnchen Wahrheit WIDERSPRECHEN + BEGRÜNDEN: Ganz und gar nicht. Ich wollte nicht ... mir ging es einzig und allein um . . . Zusammenhang FESTSTELLEN: Durchaus. Ich habe . . . nachgewiesen, dass Astrologie . . . richtige Ansätze WIDERSPRECHEN + BEGRÜNDEN: Nein . . . ja keine astrologischen Aussagen . . . keine Orakel; sondern wir haben bloß 219 Es wurden nur die Äußerungen (verkürzt) aufgenommen, die sich auf die dominanten Sprachhandlungstypen beziehen. Sprachliche Mittel, durch die der jeweilige Typ ausgedrückt wird, wurden unterstrichen markiert. Diese sprachlichen Mittel realisieren zwar kontextbezogen den Sprachhandlungstyp, sind dennoch zum großen Teil als typisch anzusehen. Häufige Übungen dieser Art vermitteln dem Lerner verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten im Gebrauch jeweiliger Sprachhandlungstypen. Die Wortgruppen im reduzierten Interviewtext sind unter dem Gesichtspunkt angegeben, den FS-Lernern Hilfen zur Wiedergabe des Textes zu liefern. Sie sind je nach Lernergruppe reduzierbar oder erweiterbar. Nachdem der Lehrer die sprachlichen Mittel der Sprachhandlungstypen bewusst gemacht hat, geben die Lerner den Dialog anhand des Tafelbildes unter Verwendung der Wortgruppen wieder. Auf der Grundlage des Textes kann man weitere Übungen anschließen. Beispielsweise wird der Satz an die Tafel geschrieben: Wir haben nachgewiesen, dass die Astrologie richtige Ansätze hat. Es folgt die Diskussion, ob dieser Satz eine FESTSTELLUNG oder eine BEHAUPTUNG darstellt. (Sachs meint eine Feststellung zu treffen, aus der Sicht des Rezipienten kann der Satz auch als Behauptung interpretiert werden.) Die Lerner werden aufgefordert, den Satz umzuwandeln in die Sprachhandlungstypen VERALLGEMEINERN, WIDERSPRECHEN (und dies BEGRÜNDEN), WIDERSPRECHEN (und EINWAND-MACHEN), WARNEN (vor Gutgläubigkeit und dies BEGRÜNDEN), AUFFORDERN (die Untersuchungsergebnisse von Sachs zu akzeptieren) usw. Der Lehrer gibt Impulse, indem er zu den vom Lerner formulierten Äußerungen der jeweiligen Sprachhandlung typische sprachliche Formen, u. a. Partikeln und Modaladverbien, zusätzlich einbringt und bewusst macht. Anschließend führen die Lerner einen Dialog zu der Frage ,,Sagt das Horoskop die Wahrheit?". An der Tafel stehen als Vorgabe im Wesentlichen nur noch die Sprachhandlungstypen: Person A: Person B: BEHAUPTEN und WIDERSPRECHEN VERALLGEMEI- und BEGRÜNDEN NERN Behauptung BE- WIDERSPREGRÜNDEN CHEN und EIN- WAND-MACHEN EMPFEHLEN WARNEN (vor Gut(zu glauben) gläubigkeit) AUFFORDERN (zu akzeptieren) Werden andere dialogische Texte eingesetzt, wird ein jeweils passendes Muster der Sprachhandlungstypen vom Lehrer gegeben, nachdem entsprechende Übungen zuvor durchgeführt worden sind. In weiteren Übungen könnten das sprachliche Feld eines Sprachhandlungstyps erarbeitet, der jeweilige Sprachhandlungstyp auch verstärkt oder abgeschwächt oder in einen anderen Typ umgewandelt werden. Eine weitere textgebundene Übung ist die Aufforderung an den Lerner, den Dialog in einen Kommentar oder einen Bericht in der Ich-Form umzuwandeln. Der Lehrer gibt wiederum die Teilhandlungen vor und weist darauf hin, dass für Übungszwecke nicht die Sprechaktverben verwendet werden sollen. Solch ein Kommentar könnte folgendermaßen aussehen: FESTSTELLEN: Gunter Sachs hat sich ein Horoskop stellen lassen, es brachte ihm aber keine Erleuchtung. VERMUTEN: Anscheinend sieht er darin aber doch ein Körnchen Wahrheit. FESTSTELLEN: Sein Ziel besteht darin, den Zusammenhang zwischen Sternzeichen und menschlichem Verhalten herzustellen. Mit Mathematik und Statistik und einer Fülle von Datenmaterial hat er nachgewiesen, dass die Astrologie richtige Ansätze hat. BEZWEIFELN: Ich glaube jedoch nicht, dass es solch einen Zusammenhang gibt. Wo sind Sie noch fündig geworden? Hat das einen praktischen Nutzen? Früher haben Sie sich mit anderen Sternen beschäftigt. FESTSTELLEN: Scheidungen, Verkehrsdelikte, Krankheiten, Berufswahl, Selbstmord [Aufzählung] EINWAND-MACHEN: Das war nicht der Sinn . . . aber wir wissen heute . . . rationale Basis VERMUTEN: offenbar Kurs nehmen auf . . . 220 BEHAUPTEN: Die Astrologie ist der größte Unsinn, den es gibt. Scheidungen, Verkehrsdelikte und Krankheiten haben nichts mit Astrologie zu tun.. BEFÜRCHTEN: Leute, die an das Horoskop glauben, könnten leicht ängstlich im Leben werden. WARNEN: Wer sein Leben jedoch nach dem Horoskop ausrichtet, der wird viele Nachteile im Leben haben. Er ist oftmals nicht mehr frei in seinen Entscheidungen. EMPFEHLEN: Es wäre besser, man würde das Stellen von Horoskopen verbieten. Je nach den Fähigkeiten der Lernergruppe werden entweder nur die Sprachhandlungstypen vorgegeben oder zur Bewusstmachung auch typische sprachliche Mittel angegeben. Der Vorteil bei dieser Art von Übungen liegt u. a. darin, dass der FS-Lerner nur noch die Sprachhandlungstypen und gegebenenfalls die sie realisierenden sprachlichen Formen vor Augen hat, sodass diese sich ihm besser einprägen. Ein Beispiel für einen Bericht in der IchForm wäre: FESTSTELLEN: Ich habe mir ein Horoskop stellen lassen, es brachte mir aber keine Erleuchtung. VERMUTEN: Möglicherweise enthalten Horoskope vielleicht doch ein Körnchen Wahr- heit. ABSICHT-BEKUNDEN: Ich wollte ein Buch schreiben, mich aber nicht mit nebulöser Astrologie befassen, sondern ich wollte einzig und allein den Zusammenhang zwischen Sternzeichen und menschlichem Verhalten herstellen. FESTSTELLEN: Ich habe mit Mathematik und Statistik und einer Fülle von Datenmaterial nachgewiesen, dass die Astrologie richtige Ansätze hat. BEFÜRCHTEN: Vielleicht mache ich mich bei einigen Leuten lächerlich. Man wird meinen, ich liefere Orakel oder Verhaltenspro- file. WIDERSPRECHEN: Das stimmt jedoch nicht. Ich erkläre nichts, ich mache keine astrologischen Aussagen. EINWAND-MACHEN: Aber ich bin in sehr vielen Bereichen fündig geworden, z. B. bei Scheidungen, Verkehrsdelikten und Krank- heiten. VERALLGEMEINERN: Insgesamt liefert die Astrologie gültige Aussagen und hat im Prinzip praktischen Nutzen. WARNEN: Wenn die Leute das Horoskop für Unsinn halten, dann haben sie Nachteile im Leben, da sie sich nicht entsprechend vorsehen können. Der Lerner kann erkennen, dass der gleiche Inhalt in verschiedenen Textsorten durch eine unterschiedliche Handlungsstruktur gekennzeichnet ist. 4 Fazit Mit den hier gegebenen Übungsvorschlägen sind die Möglichkeiten zur Vermittlung der Sprachhandlungsstruktur von Texten sowie einzelner Teilhandlungen noch nicht erschöpft. Zusammenfassend möchte ich nochmals he- rausstellen: ­ Es handelt sich um die Vermittlung und Einübung einer Folge von Teilhandlungen, die zur Realisierung eines übergeordneten kommunikativen Ziels eingesetzt werden. ­ Die Grundlagen der Unterrichtsarbeit bilden längere, sachbezogene Texte, die in der Schriftform vorliegen. ­ Für die Arbeit im DaF-Unterricht sollte zunächst nur ein begrenztes Inventar an Sprachhandlungstypen eingesetzt werden, das je nach konkretem Text erweiterbar ist. ­ Die Reduktion auf globalere, weniger ausdifferenzierte Sprachhandlungstypen ebnet feinere Unterschiede ein, sie ist aber für den Sprachunterricht auf der Mittel- und Oberstufe meist praktikabler. ­ Die jeweiligen sprachlichen Mittel zur Realisierung der Sprachhandlungstypen sind zwar kontextabhängig. Dennoch lassen sich typische, häufig gebrauchte sprachliche Mittel angeben. ­ Die Umwandlung in eine andere Textsorte zieht eine andere Handlungsstruktur nach sich und dient damit der Verdeutlichung, dass Texte durch unterschiedliche Teilhandlungen aufgebaut sind. Sollten die FS-Lerner über sehr gute fremdsprachige Kenntnisse verfügen, sind die hier vorgestellten Übungen weiter auszudifferen- zieren. Literatur Der Spiegel (1999). Das deutsche Nachrichtenmagazin. H. 8. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. Berlin / New York. Graffe, Jürgen (1986): Dialoggrammatik und Fremdsprachenunterricht. In: F. Hundsnurscher / E. Weigand (Hg.), Dialoganalyse. Tübingen, 413­430. Helbig, Gerhard / Götze, Lutz / Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2001): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin / New York (HSK, 19/1, 19/2). Hindelang, Götz (1983): Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen. Jahr, Silke (2000): Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten. Ein interdisziplinärer Ansatz zur qualitativen und quantitativen Beschreibung von Texten. Berlin / New York. Koch, Wolfgang (2001): Sprachsystem und Sprechhandlungen. In: G. Helbig u. a. (Hg.), 248­257. Mulo Farenkia, Bernard (1999): Sprechaktkompetenz als Lernziel. Frankfurt a. M. u. a. Portmann-Tselikas, Paul R. (2001): Sprechhandlungen und unterrichtspezifische Sprachtätigkeiten. In: G. Helbig u. a. (Hg.), 248­257. Rolf, Eckart (1997): Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen. Zillig, Walter (1982): Bewerten. Sprechakte der bewertenden Rede. Tübingen. 222 Einleitung Dass grammatische Strukturen zum Teil in festen, natürlichen Sequenzen erworben werden, wird in der Zweitsprachenerwerbsforschung seit etwa zwei bis drei Jahrzehnten allgemein angenommen (z. B. Larsen-Freeman/ Long 1991). Diese abstrakte Annahme lässt aber viele Fragen offen: Welche Strukturen werden unabhängig von solchen Sequenzen erworben, welche anderen gehören in welche Sequenzen? Inwiefern unterscheiden sich die Sequenzen je nach Ausgangssprache des Lernenden? Die moderne Spracherwerbsforschung kann diese spezifischen Fragen nur noch bruchstückhaft beantworten. Können schon Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht gezogen werden? Es ist wahrscheinlich, dass der natürliche Erwerbsprozess vielleicht nur marginal und jedenfalls nur bedingt unterrichtlich beeinflusst werden kann. Das zeigen im Grunde auch die Erfahrungen von vielen Generationen von Fremdsprachenlehrern. Grammatikunterricht hat nur einen gewissen ­ oft ephemeren ­ Erfolg bei bestimmten Lernertypen, die fähig bzw. motiviert sind, explizite Regeln zum bewussten ,,Ausrechnen" von grammatischen Strukturen anzuwenden. Sobald aber die dazu benötigte kognitive Kapazität und Zeit fehlen wie beim inhaltsorientierten Schreiben und vor allem beim Sprechen, treten die typischen Fehler auf, die immer wieder gemacht werden, auch von den besten Schülern bzw. Studierenden. Dass diese Fehler Symptome von natürlichen Erwerbsprozessen mit gemeinsamen Grundmustern sind, wird jedoch ­ auch im universitären Bereich ­ von wenigen Lehrenden erkannt. Sie neigen dazu, die Fehler ihrer Schüler bzw. Studierenden deren Unfähigkeit zuzuschreiben, die Ziele des Grammatikunterrichts zu erfüllen. Wenn sie aber den Spieß umdrehen und ihren eigenen Grammatikunterricht mitsamt Zielen problematisieren, eröffnet sich eine neue Perspektive. Ein Grammatikunterricht, der die natürlichen Prozesse nicht negiert und unter Umständen sogar stört, sondern sie erkennt, unterstützt und vorantreibt, kann an Effektivität, Effizienz und Motivationskraft viel gewinnen. Der Perspektivenwechsel kann sich jedoch erst durchsetzen, wenn geklärt ist, wie die natürlichen Erwerbsprozesse im Einzelnen verlaufen. Im Bereich Deutsch (Dt.) als Zweitbzw. Fremdsprache hat es einige Projekte gegeben, die bisher eine Auswirkung auf den DaF-Unterricht haben vermissen lassen. Das bekannteste war das ZISA-Projekt (Clahsen/ Meisel/Pienemann 1983), das den Deutscherwerb von 45 romanischsprachigen Gastarbeitern analysierte. Es konzentrierte sich auf die dt. Wortstellungsregeln. Das Projekt ,,Deutsch in Genfer Schulen", kurz DiGS (Diehl u. a. 2000) steht dem DaF-Unterricht wesentlich näher. Es analysiert ein breites Spektrum von Strukturen: Wortstellungsregeln bzw. Satzmodelle, Verbalflexion, Genus und Pluralmarkierung von Nomina, Kasusmarkierung in Nominal- und Präpositionalphrasen. Es bezieht seine Daten außerdem von (frankophonen) Schülern. Es überlässt den Lehrern bzw. den Lehrwerkautoren, spezifische und konkrete Konsequenzen für den DaF-Unterricht zu ziehen (es hat keine empfohlene Einführungsreihenfolge für grammatische Strukturen erarbeitet), bietet aber eine Fülle von höchst interessanten und für den Unterricht relevanten Beobachtungen und Analysen. Niederländischsprachige Deutschlernende profitieren von der engen Sprachverwandtschaft, namentlich im Bereich der Verbalflexion und der Satzmodelle. Sie übertragen mit Erfolg niederländische (nl.) Strukturen in die Zielsprache. Im Bereich der Kasusmarkierung jedoch stehen sie vor den gleichen Schwierigkeiten wie frankophone Lernende. In beiden Erik Kwakernaak Kasusmarkierung bei niederländischsprachigen Deutschlernenden Entwurf eines Erwerbsszenarios Ausgangssprachen wird im substantivischen Bereich der Kasus morphologisch nicht markiert. Diesen substantivischen Bereich hat das DiGS-Projekt in den Vordergrund gestellt. In der Übersichtstabelle ,,Erwerbssequenzen" (vgl. Diehl u. a. 2000: 364) erscheint neben ,,A Verbalbereich" und ,,B Satzmodelle" die Spalte ,,C Kasus (ohne Präpositionen)", die nicht nur die Präpositionen, sondern auch den pronominalen Bereich ausschließt. Der präpositionale Bereich wird zwar in den Analysen berücksichtigt, doch seine Rolle im Erwerb der Kasusmarkierungen bleibt unterbelichtet. Ich möchte die DiGS-Erwerbssequenzen um den pronominalen Bereich erweitern, den präpositionalen Bereich integrieren und die Entwicklung im substantivischen Nominalbereich weiter präzisieren. Es handelt sich hier um ein hypothetisches Erwerbsszenario, das empirisch zu validieren ist. Es basiert auf langjährigen Unterrichtserfahrungen und vorwissenschaftlichen Beobachtungen bei niederländischsprachigen Deutschlernenden sowie auf theoretischen Überlegungen, die namentlich bei der Arbeit an einem DaF-Lehrwerk (zusammen mit de Moor, vgl. Jacobs u. a. 1997ff.) entstanden sind. Treibende Kräfte waren die Notwendigkeit, eine Einführungsreihenfolge für das grammatische Teilcurriculum zu entwerfen, und die Feststellung, dass eine zusammenhängende Theorie für eine solche Einführungsreihenfolge fehlt. Dabei ist die traditionelle Bezeichnung ,,Einführungsreihenfolge" eher als ,,Bewusstmachungs-" bzw. ,,Fokussierungsreihenfolge" zu verstehen. Die Bezeichnung ,,Progression" ist zweideutig: Sie kann die unterrichtliche Einführungsreihenfolge, aber auch die wirkliche Erwerbsreihenfolge meinen. Dass diese sich wesentlich unterscheiden können, ist das markanteste Ergebnis des DiGS-Projektes. Viele, vielleicht sogar die meisten der folgenden Überlegungen dürften nicht nur für Deutschlernende mit Nl. als Ausgangssprache gelten. Selbstverständlich ist diese Vermutung näher zu überprüfen. Fest steht auf jeden Fall, dass das Französische, Spanische, Italienische, Englische, Dänische, Schwedische, Norwegische und andere Sprachen ein ähnlich lebendiges, aber reduziertes Kasusmarkierungssystem im Bereich der Personalpronomina und keine Kasusmarkierung in der substantivischen Nominal- und Präpositionalphrase aufweisen. Niederländischsprachige können durch ihren leichteren Zugang u. a. zum dt. Satzbau den Erwerb der dt. Kasusmarkierungen früher als die anderen in Angriff nehmen. Der Erwerbsprozess verläuft jedoch nicht weniger mühsam und komplex. Allgemeine Bemerkungen zu den Erwerbsphasen Tab. 1 (s. S. 224) folgt dem Muster der Tabelle ,,Erwerbssequenzen" vom DiGS-Projekt (vgl. Diehl u. a. 2000: 364). Dabei sind die Bezeichnungen ,,ein" bzw. ,,zwei" und ,,drei Kasus" nur in Bezug auf die morphologische Markierung zu verstehen. ,,Kasus ist eine syntaktische Kategorie, die auch durch Abfolgeregeln realisiert werden kann, wie das Englische zeigt und wozu das Deutsche selbst teilweise übergeht." (Wegener 1995: 178) Auch niederländischsprachige DaF-Lernende verfügen ausgangssprachlich über ein funktionierendes Kasussystem, das sie in den Abfolgeregeln des Nl. (und übrigens im Bereich der Personalpronomina auch morphologisch) zum Ausdruck bringen und auf das Dt. übertragen. Viele Sprachwissenschaftler wie auch DaF-Lehrer stellen die Kasus als von den Lernenden neu zu erwerbende Konzepte dar, doch die konzeptuelle Seite ist ,,nicht das eigentliche Problem, sondern ihre Realisierung durch Flexionsmorpheme" (178). Beim Ablesen der Tabelle muss der Zeitverlauf (von oben nach unten) als relativ gesehen werden. Im Erwerbstempo unterscheiden sich individuelle Lernende stark. Außerdem geht es bei der relativen Zeitdauer der einzelnen Phasen um sehr globale Schätzungen. Zur Konkretisierung: Nur die wenigsten Lernenden erreichen je die Phase D4. Nach meiner Einschätzung befindet sich der ,,grammatische Vortrupp" der niederländischsprachigen Studierenden, die an Universitäten ein Deutschstudium anfangen und als überdurchschnittlich gute und schnelle DaF-Lernende gelten müssen, ungefähr auf dem Niveau A2­B2­C4­D3/4. Wohlgemerkt: Es geht hier um den grammatischen Erwerbsstand beim inhaltsorientierten Sprechen, nicht beim zeitdruckfreien Schreiben mit sprachformorientiertem Selbstmonitoring. Allerdings produzieren Lernende auch, wenn sie (dauerhaft bzw. momentan) mit geringer Sprachformorientierung schreiben, interimsprachliche Fehler, die über den Erwerbsstand Aufschluss geben. 223 224 Als erklärende Faktoren für Erwerbsreihenfolgen grammatischer Strukturen gelten: ­ kommunikative Relevanz bzw. Bedeutungshaltigkeit (in dieser Hinsicht fallen Kasusmarkierungen insgesamt wenig ins Gewicht, was ihren späten Erwerb erklärt) ­ Frequenz ­ Auffälligkeit (z. B. Wortstellungsphänomene sind viel auffälliger als Kasusmarkierungen) ­ Transparenz (Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit des Formensystems und der Form- Funktion-Zuordnungen). Die Faktoren wirken auf eine komplexe Weise zusammen, sowohl mit- als auch gegeneinander. Sie ermöglichen eine Begründung der vorgestellten Phasenabfolgen in den einzelnen Bereichen der Tabelle. Diese Abfolgen dürften außerdem für Praktiker zumindest in großen Zügen erkennbar sein. Weniger sicher sind die ,,waagerechten" Relationen in der Tabelle, also das zeitliche Nebeneinander der einzelnen Erwerbsphasen, namentlich zwischen dem pronominalen (A+B) und dem substantivischen Bereich (C+D). Treten z. B. die vier ,,Drei-Kasus-Markierungsphasen" A2, B2, C4 und D4 tatsächlich zeitlich nacheinander ein, ungefähr wie in der Tabelle dargestellt? Solche Fragen sind durch empirische Untersuchungen genauer zu beantwor- ten. Tab. 1: Hypothetischer Entwurf eines Erwerbsszenarios: Kasusmarkierung bei niederländischsprachigen Deutschlernenden (Erklärungen s. nächste Seite) Bereich A Bereich B Bereich C Bereich D pronominale pronominale substantivische substantivische Präpositionalphrasen Nominalphrasen Präpositionalphrasen Nominalphrasen (Personalpronomina) (Personalpronomina) A1 (zwei Kasus) [N]//AD mit für ... mit für ... C2 (ein Kasus) NAD D2 (ein Kasus) NAD A2 (drei Kasus) [N]//AD Wpräp nicht erworben C5 (drei Kasus) [N]//A//D auch Wpräp erworben B2 (drei Kasus) N//A//D Prädpron im Akk B3 (drei Kasus) N//A//D Prädpron im Nom C4 (drei Kasus) [N]//A//D Wpräp nicht erworben C3 (zwei Kasus) NA//D Wpräp nicht erworben A3 (drei Kasus) [N]//A//D auch Wpräp erworben D3 (zwei Kasus) NA//[[D] D4 (drei Kasus) N//A//D dOiP im Nom; SpvP, SNeb, SPat, Prädnom, SRh im Akk D5 (drei Kasus) N//A//D dOiP im Akk; SpvP, SNeb, SPat, Prädnom, SRh im Nom B1 (zwei Kasus) N//AD C1 (ein Kasus) N D1 (ein Kasus) N 225 Ein heißes Thema sind selbstverständlich die möglichen kausalen Bezüge zwischen den einzelnen Bereichen, die für die Psycholinguistik interessant sind ­ doch nicht nur für sie. Auch die Didaktik/Methodik ist daran interessiert, zu wissen, ob die Hypothese stimmt, die ich (vgl. Kwakernaak 1996: 397­427) weiter ausgeführt und zu begründen versucht habe: Bieten tatsächlich die Personalpronomina und die Präpositionen mit festem Kasus den leichtesten bzw. natürlichsten Zugang zum dt. Kasusmarkierungssystem? Kann wirklich der Kasusmarkierungserwerb im substantivischen Bereich dadurch erleichtert und beschleunigt werden, dass der Unterricht beim Personalpronomen ansetzt und den Lernenden die Parallelen zwischen dem pronominalen und dem substantivischen Bereich bewusst macht? Ein Transfer erfolgt offensichtlich nicht automatisch. Das Französische hat eine besondere Dativmarkierung im pronominalen Bereich: lui vs. le/la und leur vs. les, doch ein interlingualer Transfer im pronominalen Bereich ist aus den Daten des DiGS-Projekts nicht ersichtlich (Studer in Diehl u. a. 2000: 240, 256), geschweige denn vom pronominalen in den substantivischen Bereich. Das macht jedoch unterrichtliche Versuche in dieser Richtung nicht von vornherein sinnlos. Prinzipiell sind die Grenzen zwischen den einzelnen Phasen als fließend zu sehen. Insbesondere wäre es irrig zu meinen, dass die Grenze zu einer neuen Phase für eine ganze Wortklasse auf einmal überschritten würde. So ist es durchaus denkbar, dass der Übertritt in die Erwerbsphase A2 für die Formen mich/mir und dich/dir früher erfolgt als für die Formen ihn/ihm, sie/ihr, sie/ihnen. Dieser Verdacht hat Gründe. Frequenzunterschiede (in gesprochener Sprache) können eine Rolle spielen, vor allem aber können Ursachen darin liegen, dass die Formen der 3. Person z. T. weniger auffällige Formunterschiede (ihn/ihm) und als Formenkomplex etliche Überschneidungen und Homonymien aufweisen (sie und ihr in mehreren Personen und Kasus, zudem die formale Ähnlichkeit von ihr mit nl. haar). Wenn dieser Verdacht stimmt, hätte das verzögernde Konsequenzen für die von mir vorgeschlagene Didaktik, die den Transfer der Kasusformen gerade dieser Personalpronomina der 3. Person auf die substantivische Präpositional- und Nominalphrase anregen und die Lernenden von ihren ausgangssprachlichen Intuitionen profitieren lassen will (vgl. Kwakernaak 1996: 404ff.). Erklärungen zu Tab. 1 NAD Die bezeichneten Kasusformen (Nominativ-, Akkusativ- und Dativformen) werden systemlos durcheinander verwendet. N//A//D Die Kasusformen werden systematisch mit unterschiedlichen Funktionen verbunden (wenn auch nicht immer normgerecht bzw. nicht ohne Übergenerali- sierungen). [N] [D] Nominativ- bzw. Dativformen werden aus der betreffenden Phrase ausge- schlossen. Wpräp nicht erworben In den Phasen A2, C3 und C4 werden die Wechselpräpositionen vor allem dativisch markiert. Nur in Chunks kommen normgerechte Akkusativformen auch Wpräp erworben vor (z. B. in die Schule gehen, ins Kino gehen). Prädpron im Akk Im Nl. wird das Prädikatspronomen meistens akkusativisch (zumindest mit einer Nicht-Subjektform) markiert: als ik jou was, hij was zichzelf gebleven. Prädpron im Nom Diese Markierung wird in Phase B2 noch in das Dt. transferiert: wenn ich *dich wäre, er war *sich selbst geblieben. dOiP im Nom; In der Phase D4 wird das direkte Objekt in initialer Position noch häufig SpvP, SNeb, SPat, nominativisch markiert. Gleichzeitig wird in besonderen Fällen der AkkusaPrädnom, SRh im Akk tiv übergeneralisiert: das Subjekt in postverbaler Position (nach dem finiten Verb), das Subjekt von Nebensätzen, das Subjekt in Patiensrolle, das Prädikatsnomen und das postverbale Subjekt in rhematischer Funktion (Fokus). dOiP im Akk; Solche systematischen Übergeneralisierungen sind als Erwerbsfortschritt zu SpvP, SNeb, SPat, sehen; sie können als Signale dafür interpretiert werden, dass eine neue Prädnom, SRh im Nom Erwerbsphase erreicht ist. Man könnte eine neue Erwerbsphase erst dann als erreicht definieren, wenn der Lernende sämtliche Einzelprobleme in dem betreffenden Bereich gelöst hat. Das wäre aber weniger sinnvoll, da es viele Einzelprobleme gibt, die erst spät gelöst werden, weil sie lexikalisch bedingt sind. Oft wird bestimmten Verben anfänglich eine falsche Valenz zugeschrieben: Ich wollte es *dir nicht merken lassen. Das interessiert *mir sehr. Wann kann ich *dir besuchen? Stör' ich *dir? Lernende, die diese (für Niederländischsprachige) typischen Fehler systematisch begehen, übertragen bei diesen Verben eine wirkliche nl. bzw. eine unterstellte dt. Valenz auf das entsprechende dt. Verb. Trotz der nicht normgerechten Zuordnung signalisiert das den Erwerb der dativischen Markierung des indirekten Objekts. Dasselbe gilt für typische Fehler wie Kann ich *dich helfen? Ich folge *dich. Ich glaube *dich nicht. Es geht hier um Verben mit einem lexikalisch bedingten Dativobjekt, deren nl. Entsprechungen ein Akkusativobjekt erfordern. Als Signal dafür, dass der Lernende systematisch zwischen Dativ und Akkusativ unterscheidet, sind die fehlerhaften Dativformen bei interessieren usw. zuverlässiger als die fehlerhaften Akkusativformen bei helfen, folgen usw., da der Akkusativ eine Default-Funktion hat bzw. häufiger übergeneralisiert wird als der Dativ. Phasen A1 und A2, B1 und B2 Der niederländischsprachige Lernende transferiert die muttersprachliche Opposition zwischen einer Subjekt- und einer (nicht weiter differenzierten) Objektform auf das Dt. nach dem Muster: nl. ik//mij entspricht dt. ich// mich, nl. hij//hem entspricht dt. er//ihn usw. Nominativformen treten in der Präpositionalphrase nur selten auf: Fehler wie für *du, mit *er sind Ausnahmen bzw. als Artefakte eines stark formalisierenden Unterrichts interpretierbar. Auch im Bereich B werden pronominales Subjekt und Objekt von Anfang an auseinander gehalten (vgl. auch Studer in Diehl u. a. 2000: 238, 240, 262, 288, 290, 294). Es erscheint somit nicht sinnvoll, im pronominalen Bereich eine Ein-Kasus-Markierungsphase anzunehmen. Es ist fraglich, ob eine besondere Anfangsphase, in der neben Nominativ- nur Akkusativformen erscheinen, zu unterscheiden ist. Ich verzichte darauf in der Annahme, dass Dativformen in der pronominalen Präpositionalphrase so häufig und relativ auffällig im Input vorkommen, dass sie auch im Output recht bald erscheinen. Sie werden dann unsystematisch mit den Akkusativformen verwechselt: Im Bereich A erscheint mit dir neben mit *dich, für dich neben für *dir, im Bereich B Ich schreibe dir neben Ich schreibe *dich. Die gestrichelten Schrägstriche in den Spalten A und C bezeichnen einen durch die mitPhrase ausgelösten Erwerbsprozess, der zur ersten Bildung eines Drei-Kasus-Markierungssystems führt. Ich nehme an, dass die mit-Phrase für die Ausdifferenzierung des Akkusativs und des Dativs eine auslösende Rolle spielt. ,,Die mit-Phrase ist offensichtlich die zuerst erworbene oblique Kasusmarkierung im substantivischen Bereich", war meine Interpretation der Befunde im DiGS-Projekt (Kwakernaak 2002: 164, auf der Grundlage von Studers Analysen in Diehl u. a. 2000: 290ff.). Ich nehme an, dass die mit-Phrase im pronominalen Bereich noch früher wirkt als im substantivischen, aufgrund der relativen Transparenz des pronominalen Bereichs und der Auffälligkeit der Formoppositionen mir ­ mich und dir ­ dich. Pronominale mit-Phrasen mögen im geschriebenen DiGS-Korpus bei Anfängern selten belegt sein (vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 238ff.), in gesprochener, dialogischer Sprache dürften sie wesentlich frequenter sein (vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 242; Kwakernaak 1996: 404f.; 2002: 161). Es geht um insgesamt acht Syntagmen: mit mir, mit uns, mit dir, mit Ihnen, mit euch, mit ihm, mit ihr, mit ihnen. Davon sind zwei Formen, uns und euch, homonym mit den entsprechenden Akkusativformen. Mit den sechs Oppositionen mir vs. mich, dir vs. dich, Ihnen vs. Sie, ihm vs. ihn, ihr vs. sie, ihnen vs. sie, die im Input vorkommen, muss der Lernende fertig werden. Ihnen begegnet er sowohl im Bereich A als auch im Bereich B. Im Letzteren betrifft das vor allem mehr oder weniger feste Wendungen wie Wie geht es dir? Mir geht es gut. X gefällt mir/dir (nicht). X macht mir (keinen) Spaß. X steht mir/dir (nicht) gut. Lernende werden möglicherweise bewusst, jedenfalls aber unbewusst nach einer Systematik im Gebrauch der beiden konkurrierenden Formen suchen. Dabei können sie zu zwei Entdeckungen gelangen: ­ Nach mit folgen die Formen mir, dir, . . ., nach für die Formen mich, dich, . . . (Bereich A). 226 ­ Die Formen mir, dir usw., die bei Verben wie gefallen, gut stehen, schreiben usw. vorkommen, haben eine andere Semantik als die Formen mich, dich usw., die bei anderen Verben wie sehen, hören, treffen usw. vorkommen (Bereich B). Die erstgenannte Entdeckung erfolgt wahrscheinlich früher als die zweitgenannte, und zwar aufgrund der Tatsache, dass mit bzw. für Oberflächensignale sind, die die Form des darauf folgenden Personalpronomens bedingen, während die Unterscheidung des indirekten Objekts vom direkten Objekt dem niederländischsprachigen Lernenden viel schwerer zugänglich ist. Auch gehört die Markierung der Präpositionalphrase (bei Präpositionen mit festem Kasus) zu den phrasalen Morphemen, die nach der Processability Theory von Pienemann (1999) weniger Verarbeitungsaufwand erfordern und folglich früher erworben werden als interphrasale Morpheme, die im inkrementellen Sprachproduktionsprozess den Austausch grammatischer Information zwischen Phrasen (hier der Verbal- und der Nominalphrase) und deshalb den Erwerb von hierarchisch höheren Prozeduren erfordern. Vielleicht spricht auch der Frequenzfaktor dafür, die Phase A2 früher als B2 anzusetzen, nämlich wenn die mit-Phrase nicht nur in geschriebener (vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 281f.), sondern auch in spontan gesprochener Lernersprache frequenter ist als das indirekte Objekt. Phase A2 Der Prozess in der Phase A2 dürfte sich in zwei Subphasen gliedern. Wahrscheinlich sind die obliquen Formen der Personalpronomina der 1. und 2. Person Singular in gesprochener Sprache frequenter als die der 3. Person; jedenfalls sind die Unterschiede zwischen den Akkusativ- und den Dativformen (mich/mir, dich/dir) phonetisch auffälliger, und der Formenbestand ist übersichtlicher als bei der 3. Person. Der Erwerb des Drei-Kasus-Markierungssystems dürfte dann bei diesen Syntagmen beginnen: mit mir, mit dir, vielleicht auch mit Ihnen als Form, die pragmatisch der 2. Person, doch morphologisch der 3. Person angehört. Diese Form der distanzierten Anrede könnte dann eine Brücke zur zweiten Subphase bilden, in der die Dativformen der Personalpronomina der 3. Person (mit ihnen, mit ihm, mit ihr) erwerbsmäßige Wurzeln schla- gen. Mit der dativisch markierten mit-Phrase werden wahrscheinlich die zu-Phrase und eventuelle andere (pronominale) Präpositionalphrasen assoziert, sodass der Lernende dem Dativ die Funktion des Markers der (pronominalen) Präpositionalphrase zuweisen kann. Dieser von der mit-Phrase ausgelöste Erwerbsprozess könnte zur Folge haben, dass im Bereich A eine Zeit lang Dativvalenz auf Akkusativ-Präpositionen übergeneralisiert wird. Diese Erscheinung könnte sich dann je nach Präposition über eine längere Periode erstrecken. Dagegen spricht, dass im DiGS-Korpus der Dativ auf die häufigste Akkusativ-Präposition (für) selten übergeneralisiert wird, zumindest in substantivischen Präpositionalphrasen (vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 289). Wenn dies auch für pronominale Präpositionalphrasen gilt, kann das dahingehend interpretiert werden, dass die für-Phrase dafür sorgt, dass neben dem Dativ auch der Akkusativ als möglicher Marker der pronominalen Präpositionalphrase bleibend einen Platz einnimmt (vgl. Kwakernaak 2002: 163). Wahrscheinlich muss nur für als Einzelfall von der Dativ-Übergeneralisierung ausgenommen werden. Andere Akkusativ-Präpositionen wie durch, ohne und um, die in der spontanen Lernersprache und überhaupt im Zusammenhang mit Personalpronomina eher selten sind, können, wenn sie von den Lernenden in Gebrauch genommen werden, relativ spät noch mit Dativformen assoziert werden (z. B. durch *mir, ohne *dir, um *mir herum). Das Schicksal der Dativ-Übergeneralisierung könnte auch frequente Wechselpräpositionen wie in, an und auf treffen (was allerdings im DiGSKorpus auf Grund der Datenlage weder im pronominalen noch im substantivischen Bereich festgestellt werden konnte, vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 289, 318f.). In und auf kommen jedoch in Kombination mit Personalpronomina selten vor. Eine interessante Ausnahme ist warten auf; der Fehler ich warte auf *dir begegnet oft, zumindest bei niederländischsprachigen Lernenden. Wechselpräpositionen in den Bereichen A und C Wegen der niedrigen Frequenz von Wechselpräpositionen im pronominalen Bereich ist anzunehmen, dass diesbezügliche Erwerbs- 227 fortschritte im substantivischen Bereich in Gang kommen und von dort aus in den pronominalen übertragen werden. Dass der Erwerb der Wechselpräpositionen erst auf einem weit fortgeschrittenen Niveau erfolgt, bestätigt nicht nur das DiGS-Projekt (Studer in Diehl u. a. 2000: 318f.), sondern auch die tägliche Unterrichtserfahrung von Lehrern an Schulen und Hochschulen. Niederländischsprachige Deutschstudierende kämpfen besonders lange mit einer Anzahl von dt. Verben, deren nl. Entsprechungen eine andere bzw. eine schwankende Valenz in Bezug auf den Parameter ,,lokativ ­ direktiv" haben. Dazu ge- hören: 1. Verben, die im Dt. lokativ (bzw. schwankend), im Nl. direktiv sind bzw. von Niederländischsprachigen mit direktiver Valenz assoziert werden, so z. B. anrufen (Interferenz mit nl. bellen, z. B. Ze belt naar Zwitserland / naar Amerika bedingt Sie ruft in *die Schweiz / *nach Amerika an), erscheinen, verschwinden, landen. 2. Verben, die im Dt. direktiv, im Nl. lokativ sind, so z. B. (sich) legen, (sich) setzen, (sich) stellen, (sich) hängen, einladen, gehören, passen, schreiben, zeichnen, malen. 3. Verben, die im Nl. schwanken. Darunter befindet sich das sehr frequente Verb komen (Ik kom bij u / naar u toe. Ik kom vaak in Berlijn / naar Berlijn. Ik kom om 4 uur thuis / naar huis), das meistens mit lokativer Valenz gebraucht wird, sodass sich im Dt. von Niederländern Fehler wie Ich komme oft *in Berlin / in *der Schweiz lange halten. Zusätzlich bereiten viele Verben mit übertragener Bedeutung Schwierigkeiten, z. B. zweifeln an, vertrauen auf, Vertrauen haben in usw. Phase A3 bzw. C5 ist erreicht, sobald die Wechselpräpositionen in den meisten eindeutig lokativen bzw. direktiven Kontexten systematisch mit dem Dativ bzw. Akkusativ verbunden werden. Dabei dürfte es angebracht sein, vom frequenten Verb gehen abzusehen, da Syntagmen wie Ich gehe ins Kino. Wo gehst du in die Schule? usw. chunkverdächtig sind. Anzunehmen ist, dass der Erwerb der Kasusmarkierung bei Wechselpräpositionen von gehen ausgeht und sich zuerst bei bedeutungsund valenzmäßig eng verwandten Verben wie fahren, fliegen und reisen bemerkbar macht. Phase B3 Personalpronomina in der Funktion eines Prädikatspronomens kommen nicht oft vor. Insofern kann es weniger sinnvoll erscheinen, dafür eine besondere Phase, B3, einzurichten, die sich nur dadurch von B2 unterscheidet, dass die akkusativische Markierung des Prädikatspronomens (als ik jou was, vgl. wenn ich *dich wäre) nicht länger aus dem Nl. übernommen wird. Es kann aber ein Zusammenhang mit der Markierung des substantivischen Prädikatsnomens in der Phase D4 bestehen. Um diesen möglichen Bezug nicht aus dem Auge zu verlieren, schlage ich die Phase B3 vor. Bereich C Die Entwicklungen im substantivischen Bereich sind komplexer. Ich setze die Phasen, in denen die Lernenden zwei bzw. drei Kasus systematisch markieren, hier prinzipiell später an als im pronominalen Bereich, da Sprecher des Nl. (wie auch mehrerer anderer Sprachen) bei den Personalpronomina über ein funktionierendes Zwei-Kasus-Markierungssystem verfügen, im substantivischen Bereich jedoch nicht. Die Phasen D1 und D2 entsprechen den ersten beiden Phasen in der Tabelle des DiGSProjektes (vgl. Diehl u. a. 2000: 364), die Phasen C1 und C2 können aus den Analysen von Studer (vgl. Diehl u. a. 2000: 286­300) geschlossen werden bzw. werden von diesen nicht ausgeschlossen. Der Schrägstrich in den Phasen C2 bis C4 deutet auf meine Hypothese der auslösenden Rolle der mit-Phrase im Erwerb der Dativmarkierung hin (vgl. Kwakernaak 2002: 164), die ich oben im Abschnitt ,,Phasen A1 und A2, B1 und B2" auch auf den pronominalen Bereich bezogen und begründet habe. Gegen Ende der Phase C2 und in C3 verpflanzt sich die Dativmarkierung der mit-Phrase von Chunks wie mit dem Auto, mit der Bahn usw. auf selbst konstruierte Syntagmen wie mit meinem Freund, mit meiner Familie usw. Gleichzeitig breitet sich die Kategorie der dativischmarkierten Präpositionalgruppen aus, vielleicht zuerst übergeneralisierend auf die sehr frequenten Wechselpräpositionen in und an, jedenfalls auf zu und nach. Dabei ist die Grenze zwischen unanalysiertem Chunk und vom Lernenden selbst konstruiertem Syntagma fließend. So differenziert sich in C3 der Dativ als Marker der Präpositionalphrase aus. Er wird damit 228 die zuerst erworbene oblique Kasusmarkierung im substantivischen Bereich. Gleichzeitig sorgt für dafür, dass in der Präpositionalphrase auch der Nominativ erhalten bleibt, der noch eine Zeit lang als Akkusativ herhalten muss (vgl. die Rolle von für im Abschnitt ,,Phase A2"). In C4 differenziert sich dann der Akkusativ Singular Maskulinum aus. Z. B. wird aus für *mein Vater nunmehr systematisch für meinen Vater. Wahrscheinlich ist, dass diese Entwicklung bei Determinanten wie der, dieser, welcher ansetzt und dann erst auf ein, kein, mein usw. übergreift, da die Opposition (für) der ­ den usw. wesentlich auffälliger ist als (für) ein ­ einen usw. Substantivischer vs. pronominaler Bereich, Akkusativ vs. Dativ Die Entwicklung verläuft somit im substantivischen anders als im pronominalen Bereich. Im letzteren unterscheidet der (niederländischsprachige) Lernende von Anfang an zwischen einem Casus rectus und einem Casus obliquus. Das Erwerbsproblem besteht dann ,,nur noch" darin, dass er dem dt. Akkusativ bzw. Dativ systematisch unterschiedliche Funktionen zuordnen muss. Im substantivischen Bereich jedoch wird der Erwerbsprozess dadurch kompliziert und aufgehalten, dass sich der Akkusativ formal nur geringfügig vom Nominativ unterscheidet, nämlich im Singular Maskulinum. Das mag im üblichen unterrichtlichen ,,Bewusstmachungsgang" durch das dt. Kasusmarkierungssystem als Lernerleichterung erscheinen, sodass DaF-Lehrer ihren Schülern sagen können: ,,Es gibt im Dt. neben dem Nominativ den Akkusativ, aber zum Glück sind die Formen fast alle dieselben wie im Nominativ ­ also meistens ist das kein Problem!" Im wirklichen Erwerb gilt jedoch das Gegenteil. Zwar erscheint im dt. Input der Akkusativ (vorwiegend zur Markierung des direkten Objekts) häufiger als der Dativ, doch da er nur selten und auf eine wenig transparante Weise an der Sprachoberfläche erkennbar ist, muss im substantivischen Bereich der Erwerb der obliquen Markierungen beim Dativ einsetzen. Die akkusativische Markierung differenziert sich hier spät aus (vgl. Draaijer/ Reen 1994: 417f.; Kwakernaak 1996: 278). Im Widerspruch dazu führt der traditionelle Grammatikunterricht, stark durch die zweitausendjährige, griechisch-lateinische grammatische Beschreibungstradition bedingt, die Lernenden über einen unnatürlichen Weg in das dt. Kasusmarkierungssystem ein: Er hält gerade diesen Akkusativ in der substantivischen Nominalphrase, und zwar als Markierung des direkten Objekts, für den Haupteingang zu den obliquen Kasusmarkierungen. Diese didaktische Auffassung mag beim Erwerb des Lateinischen sowie bei Lernenden mit stark flektierenden Ausgangssprachen ihre Richtigkeit haben; sie bedarf jedoch im DaF-Unterricht u. a. für Niederländisch-, Französisch- und Englischsprachige einer gründlichen Revision. Phase D3 Als Folge dieser Analyse weist die hier vorgeschlagene Phasierung einen Unterschied zu der des DiGS-Projektes auf, und zwar in der Zwei-Kasus-Markierungsphase D3. Das DiGS-Team definiert die zwei Kasus in seiner Phase III als ,,Nominativ + Objektkasus (NFormen + beliebig verteilte A- und D-Formen)" (Diehl u. a. 2000: 364). Dagegen sehe ich als ersten Schritt aus der Systemlosigkeit von D2 nicht gleich die morphosyntaktische Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt, sondern eine formale Reorganisation, nämlich den relativen bzw. vorläufigen Ausschluss von Dativformen aus der substantivischen Nominalphrase. Das heißt in der Ausdrucksweise des DiGS-Teams: beliebig verteilte Nominativ- und Akkusativformen + selten (in Chunks) auftretende Dativformen, die erst in der Phase D4 systematisch dem indirekten Objekt zugeordnet werden. Der scheinbare Rückfall aus der Phase D2 in einen D1-ähnlichen Zustand ist ein Fortschritt. Dabei sind drei Faktoren zu beachten. Erstens unterscheiden sich, wie gesagt, Nominativ- und Akkusativformen in der substantivischen Nominalphrase nur geringfügig voneinander. Zweitens sind indirekte Objekte hier, zumal in spontaner Lernersprache, selten (vgl. Studer in Diehl u. a. 2000: 263). Drittens entwickelt sich etwas früher bzw. gleichzeitig in der Phase C3 eine Tendenz zur Übergeneralisierung des Dativs, dem vorübergehend nur eine Funktion, und zwar als Marker der Präpositionalphrase, beigemessen wird. Der Lernende unterscheidet also in C3 bzw. D3 zwei Kasus: einen für die Nominal-, einen für die Präpositionalphrase. Phase D4 Darauf kann in Phase D4 der Dativ auch dem indirekten Objekt zugeordnet werden, unter 229 Einwirkung des bereits in Gang gekommenen Erwerbsprozesses in B2, der sich auf die Ausdifferenzierung von direktem und indirektem Objekt konzentriert. Der Erwerb in D4 verläuft recht mühsam, da noch häufig ,,vergessen" wird, in der Markierung das relativ seltene indirekte Objekt vom direkten zu unter- scheiden. Gleichzeitig kann die Ausdifferenzierung von Subjekt und direktem Objekt in Gang kommen, und zwar im Singular Maskulinum. Die formale Ausdifferenzierung des Akkusativs hat in C4 begonnen. Die funktionale Ausdifferenzierung läuft jedoch nicht ohne interimsprachliche Fehlinduktionen ab. Ihre Art lässt sich an einer Reihe von besonderen Fällen erkennen, in denen der Erwerb der normgerechten Kasusmarkierung verzögert wird. Im ersten Fall geht es um eine übergeneralisierte nominativische Markierung des direkten Objekts, in den anderen um Übergeneralisierungen der akkusativischen Markie- rung: 1. das direkte Objekt in initialer Position, z. B. *Welcher Ausdruck gebraucht Herr Schmidt in seiner Antwort? *Ein Deutscher erkennt man in Venedig sehr schnell, nämlich durch seine weißen Socken. 2a. das postverbale Subjekt in thematischer Funktion (Topik), z. B. Was bedeutet *diesen Satz? Gefällt euch *den Text? Eine Stunde später hielt *den Wagen vor der Tankstelle. 2b. das postverbale Subjekt in rhematischer Funktion (Fokus), z. B. Nach ,,zwischen" kommt immer *den dritten Fall. Hinter der Zahl steht immer *einen Punkt. 3. das Subjekt von Nebensätzen, z. B. Der Vater weiß nicht, wann und wie *seinen Sohn nach Frankfurt fahren soll. 4. das Prädikatsnomen, z. B. Herr Meyer ist *keinen guten Lehrer. 5a. das Subjekt in Patiensrolle, z. B. *Den Rest vom Essen wird immer mitgenommen! 5b. das Subjekt in Patiensrolle in postverbaler Position, in der diese Übergeneralisierung hartnäckiger ist, z. B. Erst dann wird *den Text gelesen. 5c. das indefinite Subjekt in Patiensrolle in postverbaler Position und in rhematischer Funktion (Fokus); hier ist der Fehler am hartnäckigsten, z. B. Den deutschen Schülern, die unsere Schule besuchen, wird *einen Sprachkurs angeboten. Fehlertyp 4 lässt sich u. a. durch Transfer aus dem Nl. bzw. anderen Ausgangssprachen erklären (vgl. oben den Abschnitt ,,Phase B3"). Die übergeneralisierenden akkusativischen Markierungen von Subjekten in postverbaler Position und in Patiensrolle hat Jordens (1983) empirisch untersucht (allerdings nicht die Fehlertypen 2a und 3). Seine Daten stammen vorwiegend von fortgeschrittenen Deutschlernenden, nämlich von niederländisch- und englischsprachigen Deutschstudierenden. Seine Schlussfolgerung, die Wortfolge bzw. die semantische Patiens-Funktion des Subjekts kämen nicht als alleinige Fehlerursachen in Frage (vgl. Jordens 1983: 220), halte ich für eine Übergeneralisierung, da er frühere Erwerbsphasen, in denen sich z. B. Sekundarstufe-I- und -II-Schüler befinden, nicht systematisch untersucht hat. Jordens' Augenmerk war nicht die Feststellung von Erwerbsphasen. Das heißt aber nicht, dass seine Befunde nicht nutzbar wären, um die von mir vorgeschlagene Phase D4 weiter zu differenzieren. Es ist durchaus denkbar, dass Lernende in D4 nach drei einfachen ,,operating principles" nach Slobin'scher Art verfahren, die etwa so formuliert werden könnten: P1: Markiere jede substantivische Nominalphrase in initialer Position nominativisch. P2: Markiere jede substantivische Nominalphrase in postverbaler Position akkusativisch. P3: Markiere jede substantivische Nominalphrase in postverbaler Position akkusativisch, auch wenn sie Subjekt eines abhängigen Konjunktional- bzw. indirekten Fragesatzes ist. P1 erklärt den Fehlertyp 1, P 2 den Fehlertyp 2a, P3 den Fehlertyp 3. Bei den Fehlertypen 2b, 4, 5b und c wirken P1 und P2 verstärkend mit den von Jordens (1983) herausgearbeiteten diskursanalytischen Faktoren zusammen. Mein Eindruck aus der Sprachpraxis ist, dass die Fehlertypen 2a und 3 zuerst, 2b und 5c am spätesten verschwinden. Genauere Beobachtungen und Analysen können ein weiter differenziertes Bild der Phase D4 ergeben. Bei allen Fehlertypen außer 4 verstoßen die Lernenden gegen ihre ausgangssprachlichen Intuitionen, die sie im pronominalen Bereich befähigen, Subjekte und Nicht-Subjekte unterschiedlich zu markieren. Die so genannte er/ihn-Ersatzprobe ist ein unterrichtlicher Versuch, sie auch im substantivischen Bereich von diesen Intuitionen profitieren zu lassen. 230 231 Zum Schluss Für das gesamte hier entworfene Erwerbsszenario gilt, dass andere vorwissenschaftliche Beobachtungen und theoretische Überlegungen es korrigieren und präzisieren können. Ausschlaggebender ist selbstverständlich eine Validierung durch empirische Untersuchun- gen. Bis dahin dient der vorliegende Versuch zwei Interessen. Einerseits kann er als Arbeitshypothese für die Zweitspracherwerbsforschung zur weiteren Theoriebildung beitragen, vor allem wo es darum geht, Theorien über kausale Bezüge zwischen den einzelnen Sequenzen (diachronisch innerhalb der einzelnen Bereiche und synchronisch zwischen den Bereichen) zu entwickeln. Andererseits kann er zu Innovationen bzw. Innovationsversuchen im DaF-Unterricht führen. Diese müssen nicht unbedingt auf die theoretischen Erklärungen und empirischen Untersuchungen der Forschung warten. Der Fremdsprachenunterricht, nicht zuletzt auch der Grammatikunterricht als Teil davon, basiert seit eh und je auf Vermutungen und Annahmen, zum Teil auch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die jedoch nicht selten von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überholt werden. Dabei sind die Erwerbsreihenfolgen grammatischer Strukturen und ihre Konsequenzen für den Fremdsprachenterricht lange Zeit vernachlässigter Bereich und Terra incognita geblieben. Es ist höchste Zeit, dass weitere Expeditionen in dieses unbekannte Land vorgenommen werden. Literatur Clahsen, H. / Meisel, J. / Pienemann, M. (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen. Diehl, E. u. a. (2000): Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitspracherwerb Deutsch. Tübingen. Draaijer, E. / Reen, M. (1994): Mondeling geproduceerde datief- en accusatiefvormen bij leerders van Duits. In: Levende Talen 492, 415­420. Jacobs, L. u. a. (1997ff.): Klick! Amsterdam (jetzt Utrecht/Zutphen). Jordens, P. (1983): Das deutsche Kasussystem im Fremdspracherwerb. Eine psycholinguistische und fehleranalytische Untersuchung zum interimsprachlichen Kasusmarkierungssystem niederländisch- und englischsprachiger Deutschstudierender. Tübingen. Kwakernaak, E. (1996): Grammatik im Fremdsprachenunterricht. Geschichte und Innovationsmöglichkeiten am Beispiel Deutsch als Fremdsprache in den Niederlanden. Amsterdam/At- lanta. Kwakernaak, E. (2002): Nicht alles für die Katz. Kasusmarkierung und Erwerbssequenzen im DaF-Unterricht. In: DaF 3, 156­166. Larsen-Freeman, D. E. / Long, M. H. (1991): An introduction to second language acquisition research. London u. a. Pienemann, M. (1999): Language processing and second language development. Processability Theory. Amsterdam/Philadelphia. Wegener H. (1995): Die Nominalflexion des Deutschen ­ verstanden als Lerngegenstand. Tübin- gen. 232 Im Unterricht Deutsch als Fremdsprache ist es ein anerkanntes Ziel, die Lerner zu mündlicher Kommunikation in der Fremdsprache zu befähigen. Ungehinderte Face-to-faceKommunikation kann dann stattfinden, wenn die Aussprache des Deutschlerners für den Muttersprachler möglichst unauffällig ist, wenn also weder lautliche noch intonatorischrhythmische Auffälligkeiten den Kommunikationspartner ablenken, irritieren oder das Verstehen der Äußerung erschweren. Um auf diese Weise möglichst uneingeschränkt kommunikationsfähig zu sein, bedarf es eines (Aussprache-)Unterrichts, der sich nicht damit begnügt, sich primär an der Schrift oder an einer auch von Muttersprachlern nicht realisierbaren Ideallautung zu orientieren. Vielmehr sollte eine Orientierung an der lebendigen Sprechrealität erfolgen, zu der es umfangreiche neue empirische Untersuchungen gibt,1 deren Ergebnisse ­ wie das in modernen Lehrwerken auch schon geschieht ­ im DaFUnterricht berücksichtigt werden sollten. Akzeptiert man, dass sich die Aussprache im DaF-Unterricht an der Sprechrealität orientieren sollte, ergibt sich hieraus folgendes Problem: Das Deutsche umfasst verschiedene Varietäten, d. h. gleichzeitig im Gebrauch befindliche Aussprachevarianten. Es ergibt sich die Frage nach der Einordnung und Bewertung regionaler und situativ-stilistischer Varianten und der Auswahl von Ausspracheformen, die im Unterricht Deutsch als Fremdsprache lehrbar und für die mündliche Kommunikation in möglichst vielen Situationen angemessen sind. Versucht man, ausgehend von der Kompetenz der Muttersprachler und den Erfordernissen beim Kommunizieren mit Muttersprachlern diese Frage zu beantworten, wird deutlich, dass die Anforderungen, die an die Aussprache und an das Hörverstehen zu stellen sind, unterschiedlich ausfallen. Im Folgenden soll ein Modell des Varietätengefüges des Deutschen vorgestellt werden (in Anlehnung an Schönfeld 1985), das als Bezugsrahmen für die Einordnung von Varianten dienen kann. Anschließend werden hieraus Vorschläge für das Aussprechen und das Hörverstehen im Deutschen als Fremdoder Zweitsprache entwickelt. 1 Die Aussprache des Deutschen in der BRD ­ ein Varietätenmodell Das heute gesprochene Deutsch tritt uns in drei koexistierenden nationalstaatlichen Formen entgegen: als Schweizer Deutsch, als österreichisches Deutsch und als bundesrepublikanisches Deutsch. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf das in der BRD gesprochene Deutsch. Es weist eine historisch gewachsene große Variantenvielfalt und eine starke Binnengliederung auf. Diese ergibt sich zunächst aus der Größe des kommunikativen Geltungsbereichs und umfasst drei Varietäten: die Standardaussprache, die Umgangssprachen und die Dialekte. Die Abgrenzung der Varietäten voneinander ist in der Praxis oft schwierig, da die Übergänge zwischen ihnen fließend sind. Das im Folgenden dargestellte Modell (s. Abb. 1) bezieht sich ausschließlich auf die Sprechrealität. Eine postulierte Ideallautung wird ausdrücklich nicht berücksichtigt. Der Begriff ,,Standardaussprache" bezeichnet folglich auch keine Siebs'sche Ideallautung (vgl. Siebs 1969), sondern wird als realer Teil der Sprechwirklichkeit betrachtet. Die Standardaussprache ist eine überregionale, landschaftlich nicht beeinflusste Varietät. Ein Sprecher spricht Standarddeutsch, wenn nicht erkennbar ist, aus welcher Sprachlandschaft Deutschlands er stammt. 1 Seit 1990 beschäftigt sich eine Forschungsgruppe der Martin-Luther-Universität Halle mit umfangreichen empirischen Untersuchungen mit dem Ziel der Neukodifizierung der Standardaussprache des Deutschen. Aus diesem Projekt sind eine Reihe von Veröffentlichungen zum Problem der Standardaussprache hervorgegangen, zu denen auch Krech/Stock (1996) und Lemke (1998) gehören. Eine abschließende Darstellung zur Standardaussprache in Form eines Wörterbuches erscheint voraussichtlich 2005/06 bei de Gruyter. Beate Rues Varietäten und Variation in der deutschen Aussprache 233 Der Anteil der Standardsprecher ist gemessen an der Gesamtbevölkerung der BRD relativ klein, aber im Wachsen begriffen, u. a. bedingt durch die zunehmende Mobilität der Gesellschaft. Die Standardaussprache besitzt ein hohes Sozialprestige. Bei Sprechern dieser Varietät wird zunächst ein höheres Bildungsniveau assoziiert. Sie wird situativ unterschiedlich realisiert. Daraus resultieren verschiedene Stilebenen der Standardaussprache, die sich über unterschiedliche Präzisionsgrade der Aussprache ausdrücken. Standardaussprache z. B. beim Sprechen klassischer Balladen unterscheidet sich von Standardaussprache im familiären Gespräch durch Häufigkeit und Grad von Lautschwächungen. Standardaussprache wird also nicht als einheitlich, sondern als stilistisch variabel betrachtet. Die Norm der Standardaussprache ist nicht nur intern Teil der Sprachkompetenz deutscher Muttersprachler, sondern auch extern z. B. in Form von Aussprachewörterbüchern (soweit ein Wörterbuch das leisten kann) und von phonetischen Regelbeschreibungen gegeben. In Deutschland gibt es eine Vielzahl regionaler Umgangssprachen. Eine regionale Umgangssprache wie Fränkisch, Schwäbisch, Thüringisch usw. spricht ein Sprecher, wenn der Großraum, aus dem er stammt, die Herkunftsregion allgemein also, erkennbar ist. Umgangssprachen können mit mehr oder weniger starker regionaler Färbung realisiert werden, also standard- oder dialektnäher sein. Für alle Muttersprachler sind auch Umgangssprachen anderer Regionen gut verständlich. Der größte Teil der Bevölkerung spricht zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine mehr oder weniger regional geprägte Um- gangssprache. Natürlich sind auch die Umgangssprachen stilistisch variabel. Der Sprecher passt sich durch mehr oder weniger deutliche Aussprache, aber auch durch stärkere oder schwächere Regionalität, d. h. standardnähere oder dialektbeeinflusste Aussprache, der Kommunikationssituation an. Umgangssprachen sind nicht kodifiziert. Es gibt für sie also bis jetzt keine externen Normen. Empirisch gesicherte Beschreibungen liegen nur für einen Teil der Umgangssprachen vor (z. B. Froitzheim 1984; Langner 1990; Schönfeld 1983; Spangenberg 1998), nicht aber für das gesamte Bundesgebiet. Die Umgangssprachen ­ oder besser: die Sprecher von Umgangssprachen ­ werden tendenziell weniger positiv bewertet als die Standardsprache (die Standardsprecher). Zu deutliche regionale Markiertheit wird mit eher geringem Bildungsgrad und Zugehörigkeit zu sozial unteren Gruppen assoziiert (vgl. Hollmach 1996; Huesmann 1998). Häufig wird der Begriff ,,Umgangssprache" statt für großräumige Regionalstandards für die Sprache des Miteinander-Umgehens, die Aussprache der Face-to-face-Kommunikation, als gesprochene Existenzform der Sprache insgesamt verwendet (vgl. Wiesinger 1997: 10f.; Scheutz 1999: 105f.). Da in solchen Situationen aber sowohl standardsprachlich-überregional als auch regional geprägt oder auch dialektal kommuniziert wird, erweist sich diese Begriffsverwendung als wenig hilfreich. Deshalb wird sie hier ausdrücklich ausge- schlossen. Die Dialekte haben im Vergleich zu den Umgangssprachen einen viel kleineren regionalen Geltungsbereich. So weist Thüringen Standardaussprache (überregional) Umgangssprachen (großräumig regional) Dialekte (kleinräumig regional) Abb. 1: Varietätenmodell des Deutschen nach Spangenberg (vgl. 1993: XV) neun Dialektgebiete auf, innerhalb deren noch weiter differenziert werden kann. Die regionale Prägung und damit die Verschiedenartigkeit der deutschen Dialekte ist sehr groß. Deshalb sind Dialekte auch für Nicht-Dialektsprechende oder aus anderen Regionen kommende Muttersprachler zunächst nur eingeschränkt oder nicht verständlich. Das spricht für die stark eingeschränkte Verwendbarkeit von Dialekten. Der Anteil der Dialekt sprechenden Bevölkerung nimmt ab. Zunehmende Mobilität, häufiger Umzug der Eltern, das frühe Verlassen des Heimatortes zur Schul- und weiterführenden Ausbildung sowie der Einfluss von Rundfunk und Fernsehen tragen dazu bei (vgl. Huesmann 1998). Auch Dialektsprecher variieren die Aussprache situativ, artikulieren präziser oder lässiger und verwenden dialektale oder großräumig regionale Formen. So könnte z. B. im Gespräch mit Fremden oder in offiziellen Situationen, bei Behörden oder vor einer Fernsehkamera in die jeweilige dialektnahe Form der Umgangssprache gewechselt werden. Der Sprecher meint, er spräche nun ,,Hochdeutsch". Grundsätzlich umfasst die perzeptive Kompetenz der Muttersprachler immer einen größeren Varietätenausschnitt als die artikulatorische. So verstehen alle Muttersprachler überregionalen Standard, was schon durch den Kontakt mit Rundfunk und Fernsehen bedingt ist. Im DaF-Unterricht können die Dialekte gänzlich unberücksichtigt bleiben, da der größere Teil der Muttersprachler auch keinen Dialekt spricht und gelegentlich größte Mühe hat, dialektale Äußerungen zu verstehen. 2 Variation innerhalb der Standard- aussprache Richtschnur für den Unterricht ist natürlich zunächst die Standardaussprache als überregionale, nicht landschaftlich beeinflusste Lautung. Sie ist die Ausspracheform mit dem höchsten Sozialprestige und in allen Kommunikationssituationen gleichermaßen verwendbar. Überregionale Aussprache ist keine Fiktion und kein unerreichbares Ideal. Sie stellt als Standardaussprache eine Gebrauchsnorm dar, die realisierbar und natürlich ist und sich an den Erfordernissen und Gegebenheiten der Sprechrealität orientiert. Auch das Große Wörterbuch der deutschen Aussprache (vgl. 1982: 12) und das DudenAussprachewörterbuch (vgl. 2000: 34f.) betrachten die Norm der Standardaussprache als überregionale Gebrauchsnorm, die sich an der Sprechwirklichkeit orientiert bzw. ihr nahe kommt. Anders als im Duden-Aussprachewörterbuch wird im vorgestellten Modell ,,Standard" aber nicht als durch das Schriftbild bestimmt und auch nicht als einheitlich, also Varianten ausschließend, verstanden. Beides ist mit dem Grundsatz der Orientierung an der Sprechwirklichkeit (ebenfalls Duden) unvereinbar. Die Norm der Standardaussprache wird vielmehr als Richtschnur für eine natürliche, stilistisch adäquate, also situativ variable Lautung verstanden. Sie beschreibt eine realitätsbezogene Sprechweise, die aufgrund entsprechender Kommunikationserfahrung in Situationen, die eher überregionale Aussprache erfordern, erwartet und eher unauffällig ist und vom Kommunikationspartner als angemessen akzeptiert wird. Einen Kodifizierungsversuch in diesem Sinne stellt das Große Wörterbuch der deutschen Aussprache (1982) dar. Überregionale Standardaussprache variiert situativ. Sie umfasst verschiedene Präzisionsstufen, die typische, stilistisch markierte Ausspracheformen einschließen. Wir schließen uns Meinhold (1973; 1986) an und unterscheiden zwei Stilebenen oder Präzisionsstufen überregionaler Aussprache: die gehobene phonostilistische Ebene und die phonostilistische Ebene des Gesprächs. Die gehobene phonostilistische Ebene ist dem Schriftbild am nahesten, wird z. B. beim Vortrag klassischer Lyrik oder festlicher Reden gebraucht und ist selten zu hören. Nur ein kleiner Teil der Muttersprachler ist in der Lage, diese Stilebene zu realisieren. Die im Alltag gesprochene Form der Standardaussprache entspricht der phonostilistischen Ebene des Gesprächs. Diese breiter angelegte phonostilistische Ebene alltäglicher überregionaler Face-to-face-Kommunikation reicht vom dialogisch gehaltenen Vortrag bis zum (überregionalen, also nicht regional einordenbaren) Gespräch. Im Folgenden sollen einige für das überregionale Gespräch typische Aussprachebesonderheiten beschrieben und in Bezug auf ihre Lehrbarkeit besprochen werden. Zunächst gelten für beide Stilebenen der Standardaussprache allgemeine Aussprache- 234 235 regeln wie Auslautverhärtung, progressive Stimmlosigkeitsassimilation, Explosionsverlust beim Aufeinandertreffen homorganer Verschlusslaute, nasale Sprengung beim Aufeinandertreffen von Explosiven und homorganen Nasalkonsonanten und R-Vokalisation. Daneben weist das überregionale Gespräch u. a. folgende phonetische Besonderheiten auf (vgl. Meinhold 1973; Rues 1993): 1. Reduktion der Endungen -en 2. R-Vokalisation auch nach Kurzvokalen 3. Vokalschwächungen in Artikeln, Pronomen und anderen Funktionswörtern 4. T-Ausfälle bei 5. phonetische Ellipsen. Zu 1.: Der grundsätzliche Ausfall des Schwa in den Endungen -en ist das wichtigste und auffälligste Merkmal von Gesprächslautung. Volle Endungen sind selten, auffällig und damit stilistisch markiert. Sie wirken eher sozial distanzierend, sind akzentuiert und mit eher langsamerem Sprechen verbunden (vgl. auch Lemke 1998). ­ [lasn], ­ [vISn], ­ [ha:bm], ­ [kapm], ­ [ve: dn], ­ [hatn], ­ [k m:], ­ [kn:], ­ [zI:], ­ [v ln], ­ [ge:n], ­ [h: n] Die volle Realisation der Endungen -en behindert eher das Erreichen einer angemessenen Sprechgeschwindigkeit und das Realisieren des typischen akzentzentrierten deutschen Sprechrhythmus. Zu 2.: Die R-Vokalisation nach Langvokalen in der Silbenkoda, in den Präfixen er-, ver-, zer- und dem Suffix -er in der Silbenkoda ist für die Standardaussprache des Deutschen, also auch schon für die gehobene Stilebene, generell verbindlich. Im Gespräch wird überwiegend auch nach Kurzvokalen vokalisiert, sodass das R in der Silbenkoda immer als [ ] zu sprechen ist. Gelegentlich kommt es nach Kurzvokalen auch zu einer totalen Angleichung der [ ] an den vorausgehenden Vokal, sodass nur ein, vielleicht gelängter, ungespannter Vokal erscheint (vgl. Graf/Meißner 1996). Nur im Onset der Silbe, also vor dem Vokal, ist ein konsonantisches R, vorzugsweise [ ], gebräuchlich. In der Silbenkoda: ­ [me: ], ­ [ti: ], ­ [ le:bm] oder [ le:bm], ­ [vaet ], [ vaet n] Im Gespräch auch: ­ [t m] oder [t:m], ­ [vI t] oder [vi:t] Im Onset der Silbe aber: ­ [me: ], ­ [ti: ], ­ [vaet ], ­ [ o:t], ­ [ :tn] Die Artikulation des für das heutige Deutsch typischen velar-postdorsalen frikativen [ ] fällt vielen Lernern schwer. Die Vokalisation stellt für viele daher eine deutliche Erleichterung dar. Zu 3.: Im Gespräch werden in unbetonten Artikeln, Pronomen und ähnlichen Funktionswörtern gespannte lange Vokale häufig kurz, offen und ungespannt gesprochen. ­ [d ], ­ [dI], ­ [ ], ­ [d] Zu 4.: Die Ausfälle des auslautenden t bei wirken als Stilmarker für das Standardaussprache Gehobene phonostilistische Ebene Phonostilistische Ebene des Gesprächs Umgangssprachen Dialekte Abb. 2: Stilebenen (Präzisionsstufen) der Standardaussprache standardsprachliche Gespräch. Formen mit t wirken hier expressiv markiert. Zu 5.: Grußformeln und häufig verwendete feste Wendungen wie oder werden sehr stark reduziert und eigentlich nie der Schrift entsprechend realisiert. ­ [na:bmt], ­ [za: v ma zo:] Kennt der Lerner diese Formen nicht, wird er natürlich auch Mühe haben, sie zu verstehen. 3 Varietäten und Aussprachevarianten im DaF-Unterricht Es ergibt sich die Frage, ob solche Ausspracheformen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Lehrgegenstand sein sollen bzw. überhaupt lehrbar sind. Hierzu wird folgender Vorschlag unterbrei- tet: Lerner Sprechen Hörverstehen (1) Endsilbenreduktion (3) Vokalreduktionen (2) R-Vokalisation (4) T-Ausfälle (5) phonetische Ellipsen Auch beim Muttersprachler unterscheiden sich artikulatorische und perzeptive Kompetenz. Ähnlich sollte es beim Lerner sein. Da das Sprechen zunächst nicht die Geschwindigkeit des Muttersprachlers erreicht, sind beim Sprechen hier auch vollere Formen und wenige typische Reduktionen (besonders Endungen -en) angemessen. Hörend sollte er auch schnelleres Sprechen mit stärkeren Reduktionen erfassen und verstehen können. Um zu verhindern, dass zunächst generalisierte sensorisch-motorische Abläufe erworben werden, die später mühsam, da schon automatisiert, umzubauen wären, sollten möglichst früh die reduzierte Aussprache der Endungen -en und die R-Vokalisation gelehrt werden. Es ist sogar zu überdenken, ob auf die vollen Formen von -en nicht grundsätzlich verzichtet werden kann. Der Lerner müsste von Anfang an lernen, dass die Endsilben -ben, -pen usw. in der Regel als [bm, pm] gesprochen werden. Der Gewinn an Natürlichkeit der Aussprache und an Natürlichkeit des Sprechrhythmus würde den zusätzlichen Erklärungsaufwand wohl rechtfertigen. Die unter (3) bis (5) dargestellten Eigenschaften müssen allerdings artikulatorisch dem fortgeschrittenen Lerner vorbehalten bleiben. Alle genannten reduzierten Formen zu erkennen, um sie hörend besser wiedererkennen zu können, kann das Verstehen von Äußerungen von Muttersprachlern deutlich erleichtern und die Hörverstehensleistung verbessern. Die regionalen Umgangssprachen sind generell als Leitvarietät für die Aussprache von Deutschlernern nicht geeignet. Die Zahl der Muttersprachler, die sich bemühen, regionale Färbungen in der eigenen Aussprache zu verringern oder abzulegen, steigt. Das belegt, dass die Orientierung von Lernern auf eine regionale Form des Deutschen eine Fehlorientierung wäre. Anders verhält es sich mit der perzeptiven Kompetenz der Lerner. Hier ist es bei fortgeschrittenen Lernern durchaus wünschenswert, regional geprägte Umgangssprachen in das Hörverstehenstraining einzubeziehen. Allerdings wird es wegen des Umfangs und der Materiallage nicht möglich sein, alle Umgangssprachen zu berücksichtigen. In einem auf Kommunikationsfähigkeit orientierten Unterricht sollte eine für den Muttersprachler möglichst unauffällige Aussprache, die das Miteinander-Sprechen möglichst wenig behindert, ein wichtiges Unterrichtsziel sein. Die vorgeschlagene Orientierung an der Aussprache des Muttersprachlers im überregionalen standardsprachlichen Gespräch bietet die Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen. Gleichzeitig kann die Verstehensleistung von Lernern verbessert werden und auf reale Kommunikation mit Muttersprachlern besser vorbereitet werden. 236 Literatur Duden. Aussprachewörterbuch (2000): Bearbeiter: M. Mangold in Zusammenarbeit mit der DudenRedaktion. Mannheim u. a. (Duden, 6). Froitzheim, Claudia (1984): Artikulationsnormen in der Umgangssprache in Köln. Tübingen. Graf, Juliane / Meißner, Björn (1996): Neue Unter- suchungen zur r-Realisation. In: E.-M. Krech / E. Stock (Hg.), 68­75. Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (1982): Hg. von E.-M. Krech u. a. Leipzig. Hollmach, Uwe (1996): Soziophonetische Grundlagen zur Neukodifizierung des Aussprachewörterbuches. In: E.-M. Krech / E. Stock (Hg.), 60­67. Huesmann, Anette (1998): Zwischen Dialekt und Standard. Empirische Untersuchung zur Soziolinguistik des Varietätenspektrums im Deutschen. Tübingen. Krech, Eva-Maria / Stock, Eberhard (Hg.) (1996): Beiträge zur deutschen Standardaussprache. Hanau/Halle (Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik, 1). Langner, Helmut (1990): Zur Umgangssprache der Gegenwart. In: Deutschunterricht 7­8, 376­389. Lemke, Sigrun (1998): Phonostilistische Untersuchung zur deutschen Standardaussprache. Zur Realisation der Endungen -en, -em, -el. In: Interkulturelle Kommunikation. München/Basel, 128­134 (Sprache und Sprechen, 34). Meinhold, Gottfried (1973): Deutsche Standardaussprache. Lautschwächungen und Formstufen. Jena (Wiss. Beitr. der Univ. Jena). Meinhold, Gottfried (1986): Phonostilistische Ebenen in der deutschen Standardaussprache. In: DaF 5, 288­293. Rues, Beate (1993): Lautung im Gespräch. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Frankfurt a. M. (Forum phoneticum, 53). Scheutz, Hannes (1999): Umgangssprache als Ergebnis von Konvergenz- und Divergenzprozessen zwischen Dialekt und Standardsprache. In: Th. Stehl (Hg.), Dialektgenerationen. Dialektfunktionen. Sprachwandel. Tübingen, 105­131. Schönfeld, Helmut (1983): Die Umgangssprache. In: W. Fleischer u. a (Hg.), Kleine Enzyklopädie. Deutsche Sprache. Leipzig, 430­440. Schönfeld, Helmut (1985): Varianten, Varietäten und Sprachvariation. In: ZPSK 1, 206­224. Siebs (1969): Siebs Deutsche Aussprache. Hg. von H. de Boor. Berlin. Spangenberg, Karl (1993): Laut- und Formeninventar thüringischer Dialekte. Beiträge zum Thüringischen Wörterbuch. Berlin. Spangenberg, Karl (1998): Die Umgangssprache im Freistaat Thüringen und im Südwesten des Landes Sachsen-Anhalt. Rudolstadt/Jena. Wiesinger, Peter (1997): Sprachliche Variation ­ gestern und heute. In: G. Stickel (Hg.), Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen. Berlin / New York, 9­45 (Institut für Deutsche Sprache, Jahrbuch 1996). 238 Mit ,,geni@l" (Bd. 1 und 2; Niveaustufen A1 und A2) liegt schon seit längerem der Nachfolger von ,,sowieso", einem Deutsch-Lehrwerk für Jugendliche, vor (vgl. die Besprechung von Pistorius 2004). Die neue Serie wurde schrittweise erweitert und eingeführt und mit dem Zertifikatsniveau B1 und zugleich 3. Bd. wird die Lehrwerksserie abgeschlossen (Funk, Hermann u. a.: geni@l. Zertifikatsniveau. Kursbuch B1 und Arbeitsbuch B1. Langenscheidt Verlag. München/Berlin 2004). ,,Geni@l" B1 ist in 10 Kap. unterteilt und befasst sich mit den folgenden Themen: ,,Sprache", ,,Jugend forscht", ,,Alles, was ich liebe", ,,Sonne und Wind", ,,Kaufen", ,,Geschichte", ,,Reise", ,,Berufe", ,,Mobilität" und ,,Computerwelten". Nach den Kap. 4, 8 und 10 wird jeweils eine so genannte Plateaustufe eingeschoben, eine Art Wiederholung bzw. Festigung und direkte Prüfungsvorbereitung. Im Inhaltsverzeichnis werden die einzelnen Kapitel noch einmal unterteilt in ,,Themen/Texte", ,,Kommunikation", ,,Grammatik" und ­ typisch für ,,sowieso"/,,geni@l" ­ ,,Lernen lernen". ,,Geni@l" folgt den Niveaustufen des Europarates (vgl. Quetz 2003; Seiffert 2003). Diese Niveaustufen sind zwar für Australien momentan nicht verbindlich, sollten aber dennoch in den Sprachunterricht einbezogen werden. Dafür spricht: Erstens sollten wir unsere Schüler nicht nur auf die eigentliche Prüfung vorbereiten, sondern ihnen letztlich Kommunikationsfähigkeiten vermitteln, die sich mit denen in Europa zumindest teilweise messen lassen; zweitens werden diese europäischen Standards möglicherweise bald zu weltweiten Normen; drittens korrespondieren meiner Meinung nach die Niveaustufen des Europarates mit denen des International Baccalaureate (IB). Am Ende der Kapitel folgt jeweils eine Zusammenfassung. Bemerkenswert ist, dass die Vokabeln nicht in Listen oder 1:1-Übersetzungen, sondern in Wortfeldern dargeboten werden, und zwar in übersichtlicher tabellarischer Form. Außerdem werden Wortbildungsmechanismen und Metaphern thematisiert. Am Ende des Lehrbuches gibt es noch einen zusammenhängenden Grammatikteil und eine alphabetische Wortliste, an deren Beginn erklärt wird, wie man sie effektiv benutzt. Das Lehrbuch endet mit sehr guten Tipps für weitere Literatur. Im 1. Kap. erfolgt ein Einstieg in Sprache allgemein, was mich sehr an Language-awareness-Programme erinnert. Sprachen werden kontrastiert und der Zweck des Lernens von Fremdsprachen diskutiert. Die folgenden Kapitel bzw. Themen werden in der Regel mit Fotos eingeführt und mit Aufgaben, in denen einzelne Aussagen den Fotos zugeordnet werden müssen. Dabei wird im Grunde ein bereits hohes Maß an Sprachkompetenz vorausgesetzt. Aber letztlich bleibt genug Raum für den Lehrer, die Aufgaben flexibel zu nutzen und zu modifizieren. Bemerkenswert finde ich auch, dass die Autoren in ,,geni@l" von einem missverstandenen und überstrapazierten kommunikativen Ansatz abgekommen sind. Obwohl Dialoge immer noch eine zentrale Rolle spielen, erfolgt die Sprachvermittlung wieder vermehrt über Lesen und Schreiben. Grammatik wird wieder explizit thematisiert, aber noch gut eingebunden in Inhalt und Themen. Betrachtet man die Entwicklung methodischer Ansätze und darauf aufbauender Lehrwerke, ist mit ,,geni@l" eine gute Balance gelungen. Einer meiner Lieblingstexte ist ,,Der Weg zum Herzen einer Frau" (S. 28) in Kap. 3 Diskussion von Lehrmaterialien Stefan Mummert ,,Geni@l" auf Zertifikatsniveau B1 ,,Alles, was ich liebe". Sehr angesprochen hat mich auch das Kap. 4 ,,Sonne und Wind", weil es mit Gedichten arbeitet und zugleich Themen wie ,,Umwelt" und ,,Wetter" beinahe unbemerkt und überhaupt nicht langweilig einführt. Generell finde ich alle Texte interessant, authentisch, herausfordernd, aktuell, modern und in positiver Weise provozierend, abgesehen von der großen Breite an Textsorten. Vermittelt wird eine frische, lebendige und jugendgemäße Sprache. Das Arbeitsbuch enthält Aufgabentypen, die gerade für IB-Kurse hilfreich sind, zum Beispiel Multiple-Choice-Fragen, Lückentexte, Zuordnen von Überschriften, Ergänzen von Sätzen, Aufschreiben von Antworten, Zuordnen von Verben und Nomen oder Erschließen von Wortbedeutungen. Das Autorenteam hat vom Vorgänger ,,sowieso" offensichtlich auch in dieser Hinsicht gelernt. Die neuen Aufgabenstellungen scheinen mir klarer und schlüssiger. Jedes Kapitel im Arbeitsbuch endet mit einer Selbstevaluation, die kommunikative Ziele, Wortschatz und Grammatik einschließt. Neben Kursbuch und Arbeitsbuch gehören zum gesamten Lehrwerk auch CDs oder Audio-Kassetten, ein Lehrerhandbuch, ein Testheft mit CD und ein Intensivtrainer. Außerdem sind Glossare im Internet unter www. langenscheidt.de/geni@l abrufbar ­ sehr praktisch für Schüler und Lehrer gleichermaßen. Ich muss zugeben, dass ich nicht unbedingt zu den Freunden der Lehrwerksserie ,,sowieso" oder ,,geni@l" gezählt habe. Die Ausgaben für die unteren Niveaustufen (,,geni@l" A1 und A2) halte ich für den Deutschunterricht in Australien nach wie vor für weniger geeignet. ,,Geni@l" auf Zertifikatsniveau B1 dagegen hat wirklich meine Neugier geweckt und mir Lust gemacht es auszuprobieren. Ich könnte mir den Einsatz des Lehrwerkes ­ nicht zuletzt durch die Einbeziehung literarischer Texte ­ in IB-Klassen ausgesprochen gut vorstellen, auszugsweise auch in VCEKursen und vergleichbaren Programmen. Es als Alternative zum Beispiel für ,,Brennpunkt" zu empfehlen würde vielleicht doch zu weit führen. Als Komplement ist es bisher das Beste, was ich gefunden habe. Literatur Pistorius, Hannelore (2004): ,,geni@l" ­ Deutsch als Fremdsprache für Jugendliche. In: DaF 1, 44­47. Quetz, Jürgen (2003): A1 ­ A2 ­ B1 ­ B2 ­ C1 ­ C2. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen. In DaF 1, 42­48. Seiffert, Christian (2003): Was ist und was will ,,Profile Deutsch"? In: DaF 4, 238­240. 240 Helmut Schumacher u. a.: VALBU ­ Valenzwörterbuch deutscher Verben Gunter Narr Verlag, Tübingen 2004, 1040 S., 168,00 (Studien zur deutschen Sprache. Forschungen des Instituts für Deutsche Sprache, 31) VALBU ist ein einsprachiges Valenzwörterbuch deutscher Verben (weitere Autoren: Jacqueline Kubczak, Renate Schmidt, Vera de Ruiter) und steht in der Tradition der Forschungsarbeiten zur Verbvalenz, die am IDS seit seiner Gründung (vor 40 Jahren) betrieben worden sind. Die wichtigsten Marksteine (und Ergebnisse) dieser Forschungsarbeiten waren bisher das ,,Kleine Valenzlexikon deutscher Verben" (KVL) und ­ als ,,großes Valenzwörterbuch" ­ ,,Verben in Feldern" (ViF). Wie diese ,,Vorgänger", will auch das nun vorliegende dritte große lexikografische Projekt in besonderer Weise dem Fach DaF Rechnung tragen. VALBU knüpft an die theoretischen Grundlagen der beiden Vorgängerwerke an, enthält eine umfassende syntaktische und semantische Beschreibung von 638 Verben mit ihren spezifischen Umgebungen und illustriert den Gebrauch dieser Verben an zahlreichen Verwendungsbeispielen (mit zusätzlichen Informationen zur Morphologie, Wortbildung, Passivfähigkeit, Phraseologie und Stilistik). VALBU ist aus dem ursprünglichen Plan hervorgegangen, eine 3. Auflage des vergriffenen KVL herauszugeben. Da das KVL jedoch nur eine syntaktische Charakterisierung der Verbumgebung enthielt, während mehrere zweisprachige Versionen auf der Basis des KVL und erst recht ViF explizite semantische Beschreibungen geliefert hatten, und überdies Lern- und Vermittlungsschwierigkeiten nicht nur im syntaktischen, sondern auch im semantischen Bereich liegen, entstand ein eingenständiges konzeptionelles Produkt, das nicht mehr als weitere Auflage des KVL angesehen werden kann. VALBU konnte auch nicht direkt an ViF anknüpfen: ViF ist ein onomasiologisches (nicht alphabetisches) Wörterbuch für Lehrer fortgeschrittener Deutschlerner, VALBU dagegen ein alphabetisches semasiologisches Wörterbuch, das sich ­ ähnlich wie KVL ­ in erster Linie auf den DaF-Unterricht in Grund- und Mittelstufe bezieht. Damit verbunden sind auch Unterschiede bei der Auswahl der beschriebenen Verben: In ViF geht es vor allem um die ,,allgemeine Wissenschaftssprache", VALBU lehnt sich dagegen an die Wortschatzliste des ,,Zertifikats Deutsch" an, zielt also auf die Bewältigung von Alltagssituationen ab. VALBU besteht aus vier großen Teilen: Teil I bringt eine ausführliche Einleitung (13­120), die nicht nur in Aufbau, Auswahl und Prinzipien der Lemmatisierung einführt, sondern ­ vor allem ­ die zugrunde gelegte Wörterbuchgrammatik (als theoretische Grundlage für die lexikografische Beschreibung) darlegt (24­64) ­ vom Valenzbegriff über die Unterscheidung von Ergänzungen (E) und Angaben (A), die angenommenen E-Klassen sowie ihre Ausdrucksformen bis hin zu den Satzmodellen, dem Verbalkomplex, dem Passiv und der semantischen Beschreibung ­ und eine detaillierte Einführung in den Wörterbuchteil (64­114) gibt, die erklärt, wie die valenztheoretischen Prinzipien in Wörterbuchartikel umgesetzt worden sind und wie die einzelnen Einträge zu verstehen sind. Teil II ist dann der eigentliche Wörterbuchteil (121­880), der 638 Verben mit über 3000 Varianten enthält. Daran schließt sich mit Teil III eine ausführliche Bibliografie an (881­935), getrennt in Quellen (zunächst als Kurztitelregister, danach als detailliertes Quellenverzeichnis) und Literatur (zunächst Wörterbücher, danach Grammatiken und Sekundärliteratur). Den Abschluss (Teil IV) bildet ein ­ wiederum ausführlicher ­ Registerteil (939­1040), bestehend aus einem Verzeichnis der Satzmodelle, einem Satzmodell-Register (mit Angabe der entsprechenden Verben und Verbvarianten) sowie einem alphabetischen Verb-Register (von dem aus umgekehrt auf die entsprechenden Satzmodelle verwiesen wird). Die theoretische Basis von VALBU wird in der Wörterbuchgrammatik nur insoweit skizziert, als ,,ihre Kenntnis für den Benutzer und für die Arbeit mit dem Wörterbuch notwendig ist" (24). Diese Entscheidung ist durchaus begrüßenswert und führt auch zu einer engen Verzahnung mit der ,,Einführung in den Wörterbuchteil" ­ die allerdings so eng ist, dass es z. T. zu Überschneidungen und Wiederholungen kommt (was von den Vf. aber in Kauf genommen wird, weil sie Wert darauf legen, dass ,,der Benutzer jedes Kapitel für sich rezipieren kann" (19), sich also auch auf das Nachschlagen in der ,,Einführung in den Wörterbuchteil" beschränken kann. Die Wörterbuchgrammatik geht von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen semantischer Valenz (als ,,Eigenschaft von Verbbedeutungen, in spezifischer Weise Beziehungen zu bestimmten Eigenschaften von Personen und Sachen aufzuzeigen") und syntaktischer Valenz (als ,,Eigenschaft von Verben, die Zahl und Art bestimm- Rezensionen ter sprachlicher Elemente ihrer Umgebung im Satz zu determinieren") aus (25), ebenso von der in der Valenztheorie üblichen ­ und wohl auch unverzichtbaren ­ Unterscheidung von E und A. Theoretisch hat sich freilich gezeigt, dass diese zuletzt genannte Abgrenzung bisher nicht in allgemein akzeptierter Weise gelungen ist, dass vielmehr auch einige ,,Grenzfälle" (vor allem im Bereich der Adverbialbestimmungen) zu beobachten sind, weil es unterschiedliche Grade der Bindungsfestigkeit zwischen Verb und Umgebung gibt. Diese in der Grammatik erörterten ,,Grenzfälle" bieten freilich für eine lexikografische Darstellung Schwierigkeiten, wenn diese eine binäre Charakteristik für jede Verbvariante festlegen will/muss. In solchen Fällen entscheiden sich die Vf. eher für E (damit sie der Aufmerksamkeit des Benutzers nicht entgehen). Die E werden dann ­ im Anschluss an Engel und auch an ViF ­ in 8 E­Klassen gegliedert: Nominativ-, Akkusativ-, Genitiv- und Dativ-E ­ als kasusbestimmte E-Klassen ­, Präpositiv- und Adverbiativ-E ­ als präpositionale E-Klassen ­ sowie Prädikativ- und Verbativ-E. Dabei fällt allerdings ihre uneinheitliche Benennung auf, die z. T. auf Oberflächenkasus, z. T. auf die Satzgliedschaft, z. T. auf Wortarten verweist (vgl. dazu bereits Helbig 1987: 305). Einheitlich und überzeugend ist indes die Abgrenzung der E-Klassen durch das Kriterium der Anaphorisierbarkeit: Wenn sich die E-Belegungen auf die gleiche Weise durch eine entsprechende Anapher (z. B. jemand, etwas, irgendwo, irgendwann) ersetzen lassen, werden sie zu derselben E-Klasse gerechnet. Sehr nützlich ist auch die jeweilige Erklärung der E-Klassen mit Hilfe der herkömmlichen Satzglieder (womit der mancherorts suggerierte Eindruck vermieden wird, die Grammatik könne auf die Satzglieder verzichten), erst recht die genaue Aufschlüsselung der syntaktischen Ausdrucksformen für die einzelnen E-Klassen (Nominal-, Präpositionalgruppe usw.), auch die systematische Darstellung der satzförmigen E (es werden drei Typen unterschieden, je nachdem, ob das Korrelat bei der entsprechenden Verbvariante obligatorisch, fakultativ oder unmöglich ist). Durch unterschiedliche Kombinationen von E entstehen die Satzmodelle, bei denen die Vf. unterscheiden zwischen Satzmustern (ohne Unterscheidung zwischen obl. und fak. E) und Satzbauplänen (mit einer solchen Unterscheidung). Unterschiede in der Bedeutung sind in VALBU entscheidend für die Differenzierung zwischen verschiedenen Verbvarianten (und damit auch die Ansetzung verschiedener Subartikel): ,,Es kann bei einem Verb mehrere Varianten mit dem gleichen Satzbauplan geben, aber nicht verschiedene Varianten mit derselben Bedeutungsbeschreibung." (58) Die semantische Beschreibung wird ziemlich weit gefasst: Ihr zentraler Teil ist zwar die Paraphrase (ohne Kunstsprache, d. h. mit Rückgriff auf die Standardsprache und unter Einsatz auch narrativer Elemente ­ z. B. `bewirken, dass etwas Wirklichkeit wirď statt [caus]), zur Bedeutungsbeschreibung gehört aber auch die Angabe von Synonymen, die stilistische Kennzeichnung (Stilebene, Fachsprache und Sachbereiche, Sprechereinstellung, großregionale Varianten, Gruppensprache, temporale und funktionale Charakterisierung) sowie die Angabe von vielen Verwendungsbeispielen. Charakteristisch für VALBU ­ als Valenzwörterbuch ­ ist die Einbeziehung der valenzbedingten Elemente (E) in die Paraphrase: Für jede E erscheint in der Paraphrase eine ,,Verankerungsstelle", in der sie (mithilfe von standardisierten Variablen ­ meist Pronomina) ,,eingehängt" (und angezeigt) werden können (vgl. 58f.). Die Bedeutungsbeschreibung der verbspezifischen Umgebung erfolgt einerseits durch die Angabe der semantischen Rolle (die angibt, in welcher Relation die E zum Verb steht) ­ allerdings nicht mithilfe eines begrenzten Inventars von semantischen Kasus (mit dem die Kasustheorie im Sinne Fillmores arbeitet), sondern verbspezifisch: z. B. `derjenige, der etwas äußerť statt [Agens] bzw. [Urheber] (vgl. dazu bereits kritisch Helbig 1987: 307f.) ­, andererseits durch eine kategoriale Bestimmung (mithilfe eines genauen Rasters von Begriffen wie z. B. `Lebewesen' ­ `Konkretum' ­ `Abstraktum' ­ `Sachverhalť und weiteren Spezifizierungen). Diese (und andere) theoretische Vorraussetzungen finden nun Anwendung in der Einführung in den Wörterbuchteil und im Wörterbuchteil selbst. Wir können dabei nur auf einige Spezifika und ,,Auffälligkeiten" hinweisen. Die einzelnen Artikel beginnen mit einem ,,Artikelkopf", der das Stichwort für den Gesamtartikel (das Hauptlemma), die Haupttonkennzeichnung, die Stammformen (3. Pers. Sing. Ind. Präs., Prät., Perf. ­ haben oder sein) sowie eine Artikelübersicht (mit Kurzparaphrasen für jedes Sublemma) enthält. Verschiedene Gesamtartikel begründen die Vf. (vgl. 67) ­ über die Nützlichkeit dieser Entscheidung ließe sich gewiss streiten ­ schon durch den Unterschied zwischen persönlichem und unpersönlichem Verb (z. B. aufhören ­ aufhören, es) sowie zwischen Nichtreflexivverb und Reflexivverb (z. B. ändern ­ ändern, sich). Auf den ,,Artikelkopf" folgt das Zentrum des Artikels, der ,,Artikelrumpf", der die unterschiedlichen Verbvarianten (signalisiert durch nachgestellte arabische Ziffern) in Form von Subartikeln (Lang- oder Kurzartikel) beschreibt. Die Langartikel enthalten jeweils (a) das Sublemma und den entsprechenden Satzbauplan (mit Angabe der entsprechenden E-Klasse, differenziert nach obl. und fak. E), (b) die Bedeutungserklärung, (c) die Belegungsregeln für die einzelnen E, (d) Informationen zu den einzelnen Passivkonstruktionen, (e) Informationen zu nominalen und adjektivischen Wortbildungen, die von der behandelten Verbvariante abgeleitet sind, (f) Anmerkungen. Die Bedeu- 241 tungserklärung setzt sich wiederum zusammen aus (b1) der stilistischen Kennzeichnung, (b2) der Paraphrase ­ als zentralem Teil der Bedeutungserklärung ­ mit den schon erwähnten Verankerungsstellen für die E (durch Angabe der Anaphern), (b3) Synomymen (die die Paraphrase unterstützen und erhellen sollen), (b4) einem prototypischen Beispiel (in Alltagssituationen typisch und häufig vorkommend). Die Belegungsregeln sind von unterschiedlicher Art: (c1) morphosyntaktische Belegungsregeln (die vor allem die verschiedenen Ausdrucksformen für die einzelnen E angeben), (c2) semantische Informationen, diese wieder in Form von ,,zwei ganz unterschiedlichen Typen von Daten zur Semantik der verbspezifischen Umgebung" (85): Einerseits wird die semantische Rolle der E angegeben, andererseits eine sehr detaillierte kategoriale Bestimmung vorgenommen. Bei der Fülle der gebotenen Informationen verwundert es nicht, dass sich mancherlei Fragen stellen (von denen wir nur auf einige hinweisen können). So könnte man sich darüber streiten, ob es sinnvoll ist, dass am Anfang der Bedeutungserklärung die stilistische Kennzeichnung steht (die sicher nicht zu deren Kern gehört), dass die semantische Rolle wiederum auf heterogene Weise charakterisiert wird (z. T. durch entsprechende Anaphern ­ so bei den kasusbestimmtem und bei den präpositionalen E-Klassen ­, z. T. aber auch durch Termini wie z. B. `Orť, `Zeiť, `Mitteľ ­ so bei den adverbialen E-Klassen) ­ eine Heterogenität, die offenbar eine Folge des Verzichts auf die Annahme von semantischen Kasus (im Sinne Fillmores) ist. Bei den Angaben zur Möglichkeit des Passivs (werden-, sein-, bekommen-Passiv) fällt auf, dass die Grenze manchmal sehr weit gezogen wird, d. h. oft Belege angeführt werden (vor allem beim sein-Passiv), die durchaus nicht allgemein als akzeptabel angesehen werden dürften. Insgesamt gehört es zu den Vorzügen des VALBU, dass es sich auf die umfangreichen maschinenlesbaren Korpora des IDS stützt (auf eine Textbasis von etwa 1,9 Milliarden Wortformen). Jede Regel wird durch Verwendungsbeispiele illustriert, die Originalbelege, adaptierte Belege oder auch selbst konstruierte Beispiele sein können (Letzteres ­ u. E. zu Recht ­ aus didaktischen Gründen; die Adaption erfolgt durch Kürzung, Vereinfachung der Lexik o. ä.). Begrüßen wird der Benutzer ebenfalls, dass ­ im Unterschied zum KVL ­ nicht nur die syntaktische, sondern auch die semantische Umgebung und ­ darüber hinaus ­ auch die semantische Struktur der Verben selbst genau beschrieben werden. Auf diese Weise ist der Gegenstandsbereich des Wörterbuchs wesentlich erweitert worden, sodass eigentlich weit mehr als ein Valenzwörterbuch entstanden ist: Es enthält eine Vielzahl von Informationen, die direkt kaum etwas mit Valenz zu tun haben, z. B. zur Morphologie (etwa: Stammformen), zur Syntax (etwa: Passivfähigkeit, die auf generellen Regeln der Grammatik beruht), zur Stilistik, zur Wortbildung und zur Phraseologie. Ihm liegt auch ein sehr weiter Bedeutungsbegriff zugrunde (mit vielen Merkmalen), der auch ­ das ist vielleicht der bestimmende Eindruck auf den Benutzer ­ zu einer überraschend hohen Anzahl von beschriebenen Verbvarianten führt (z. B. bei überraschen 6, melden und sich melden jeweils 5, arbeiten 8, anziehen 10, annehmen 14, tanken 5, telefonieren 4, schlafen 5). Zudem legen die Vf. manche (grammatisch noch nicht restlos geklärte) Distinktion aus lexikografischen und didaktischen Gründen ­ zum Zwecke einer einfacheren Zuordnung ­ etwas ,,großzügig" aus (z. B., wenn sie wegen des höheren Informationswertes manches als E verstehen, was ebensogut als A verstanden werden könnte). In dieser Spannung zwischen grammatischen Differenzierungen und lexikografischen Anforderungen steht jedoch ­ das muss aus Gründen der Gerechtigkeit gesagt werden ­ jedes Wörterbuch, auch jedes Valenzwörterbuch. Auf jeden Fall wird dadurch ein Mehr an Information erreicht; schon deshalb wird VALBU seinem Ziel vollauf gerecht, wird viele Benutzer finden und auch künftige Forschungen anregen. Gerhard Helbig Literatur Engel, Ulrich / Schumacher, Helmut (1 1976): Kleines Valenzlexikon deutscher Verben (KVL). Tübingen. Helbig, Gerhard (1987): Zwischen Wort und Satzsemantik (Doppelrezension zu ViF). In: ZGL 15/3, 303­310. Schumacher, Helmut (Hg.) (11986): Verben in Feldern (ViF). Valenzwörterbuch zur Syntax und Semantik deutscher Verben. Berlin / New York. Péter Bassola (Hg.): Deutsch-ungarisches Wörterbuch zur Substantivvalenz Grimm Kiadó, Szeged 2003, 192 S. Das vorliegende Wörterbuch wurde von einer von P. Bassola geleiteten Arbeitsgruppe erstellt, in der Csilla Bernáth, Sarolta László, Magda Tamássyné Bíró und Jacqueline Kubczak mitwirkten. Konzeptionell ist es in enger Zusammenarbeit mit dem deutsch-französischen Projekt von LADL und IDS ,,Kontrastive Lexikographie: Nominalsyntax Deutsch­Französisch" (PROCOPE) entstanden (vgl. 13). Die Darstellungsform richtet sich nach Schumacher (1986) (vgl. 14). Das Wörterbuch zur Substantivvalenz wendet sich in erster Linie an Übersetzer und fortgeschrittene Deutschlerner, aber es ist auch als Hilfsmittel für den Hochschulunterricht in den Bereichen Sprachwissenschaft und Lehrerausbildung gedacht. Als empirische Grundlage für den deutschen (dt.) 242 Wörterbuchteil dienen die COSMAS-Belege der Mannheimer Korpora mit insgesamt 3,4 Mill. laufenden Wortformen. Als Ergänzung zum Korpus führen die Vf. eigene Beispiele an und vergrößern durch den komplementären Gebrauch des Belegten und des Möglichen die Repräsentativität der empirischen Grundlage. Die Übersetzung der dt. Beispiele bildet den ungarischen (ung.) Teil. Im Wörterbuch werden 50 dt. Substantive berücksichtigt, und zwar deverbale, deadjektivale und nichtabgeleitete. Die Vf. sind der Ansicht, ,,dass das Wörterbuch über die Informationen zu den 50 Substantiven hinaus eine allgemeine Einsicht in den vom Ungarischen so deutlich abweichenden Bau des Deutschen und in die sich damit vielleicht manifestierenden unterschiedlichen Denkweisen der Sprecher dieser Sprachen vermitteln und dadurch zu einer Verbesserung der Lernmethoden beitragen kann." (14) Die Vf. stellten sich das Ziel, die syntaktische Valenz des Substantivs zu beschreiben. Demzufolge wird Vollständigkeit bei der semantischen Beschreibung nicht angestrebt (vgl. 13). Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf dem dt. Teil des Wörterbuchs. Die Artikel sind so aufgebaut, dass auf das Lemma mit den morphologischen 243 VORSCHLAG, der, -(e)s Vorschläge Vorschlag: ­ javaslat Egyéb jelentések (Sonstige Bedeutungen): ­ LEVEZ 1a jmd (A1) macht jmdm (A2) einen Vorschlag zu etw (A3), dass (A4) (Ableit 1a) STRUKT 1a (Strukt 1a) A1 A1 A2 A3 A4 jmds Vorschlag an jmdn zu etw dass aus etw (LOK) für etw zu + Inf seitens jmds über etw bezüglich etw wMegj (Anm) [Anmerkung auf Ungarisch] A3 gibt den Bereich an, auf den sich der Vorschlag bezieht, A4 enthält den Inhalt des Vorschlags. A1 Gen vki(nek a) der Vorschlag des hanno- a hannoveri főpolgármester javaslata verschen Oberbürgermeisters aus + Dat (LOK) köréből érkező/érkezett/jövő Vorschläge aus der a lakosság köréből érkező/ Bevölkerung érkezett/jövő javaslatok Megj (Anm) [Anmerkung auf Ungarisch] Ausschließlich bei Kollektiva und Ortsnamen. seitens + Gen vki(nek a) részéről Vorschläge seitens der javaslatok a cseh kortschechischen Regierung mány részéről [. . .] LEVEZ 1b jmd (A1) macht jmdm (A2) den Vorschlag einer Sache (A3) (Ableit 1b) STRUKT 1b (Strukt 1b) A1 A1 A3 der jmds Vor- einer Sache Vorschlag schlag durch jmdn Angaben die ung. Bedeutungserklärungen und in runden Klammern ihre dt. Übersetzung folgen. Am linken Rand stehen durch eine vertikale Linie abgetrennte Kommentare auf Ung. und in runden Klammern auf Dt. Dann folgt die Ableitung der Substantivvalenz aus dem jeweiligen Verb, Adjektiv und/oder Funktionsverbgefüge. Es werden bis zu drei Verbalkonstruktionen angegeben. In dem Umstand, dass bei der Untersuchung der Substantivvalenz in Anlehnung an das PROCOPE-Projekt ,,auf Konstruktionen mit Stützverb und dem betreffenden Substantiv zurückgegriffen" (13) wird, sehen die Vf. einen wesentlichen Unterschied zu den bestehenden Wörterbüchern (Sommerfeldt/Schreiber 1977; Schreiber/Sommerfeldt/Starke 1993; Sommerfeldt/Schreiber 1996). Zu jedem Substantiv werden im Strukturkasten bis zu vier Argumente aufgeführt, die mit Nummern (A1, A2 usw.) versehen sind. Die Argumente werden ,,als mögliche Realisierungen der Strukturelemente der Nominalgruppe auf höchster Ebene auf[gefasst]. Auf einer niedrigeren Ebene finden sich die Ergänzungen." (13) Ihre Realisierungsformen zu den jeweiligen Argumenten werden im Strukturkasten in Pro-Formen aufgelistet, die keine Auskunft über die Kombinationsmöglichkeiten geben. Informationen über weitere Realisierungsmöglichkeiten und die Kookkurrenz der Argumente sowie über ihren semantischen Bereich ist den Anmerkungen zu entnehmen. Auf den Strukturkasten folgen die dt. Realisierungen der Ergänzung mit jeweils einem Beispiel auf der linken Seite und ihre ung. Übersetzungen auf der rechten Seite. Die Reihenfolge der nominalen Realisierungen der einzelnen Argumente im Strukturkasten sowie der entsprechenden Beispiele richten sich nach ihrer relativen Vorkommenshäufigkeit im Korpus. Auf die nominalen Realisierungen folgen die satzförmigen Realisierungen (zu + Inf, NS, HS usw.). Am Ende des Stichwortartikels stehen phraseologische Wendungen, v. a. Funktionsverbgefüge mit dem nominalen Kopf. Wenn ein Substantiv nur eine Bedeutung mit zwei miteinander nicht kombinierbaren Strukturen hat, werden sie mit a, b usw. gekennzeichnet und gesondert angegeben (vgl. 25). Dieser Typ lässt sich an dem Substantiv Vorschlag illustrieren (160 ff.) (s. S. 243). Hat hingegen ein Substantiv zwei Bedeutungen mit zwei Strukturen, wird es zweimal gesondert unter 1 und 2 beschrieben (vgl. 24). Ein solches Beispiel wäre das Substantiv Zeit (170ff.). Die Valenz des Substantivs wird mit Teubert als System siu generis beschrieben und nicht als eine rein aus dem Verb oder dem Adjektiv abgeleitete Valenz betrachtet (vgl. 13). Die Nomenargumente werden aufgrund der Subklassenspezifik ausgewiesen. ,,Die valenten Substantive verfügen über Argumente (auch Ergänzungen oder Komplemente genannt), die nur bei dem gegebenen Substantiv in der gegebenen Bedeutung erscheinen können, wogegen Angaben (auch Supplemente genannt), welche als Adverbiale die Umstände bezeichnen, im Prinzip neben allen Substantiven vorkommen können." (13) Auf eine Benennung der Ergänzungsklassen wird verzichtet. Sie ergeben sich aus der semantischen Zuordnung zu den entsprechenden Argumenten in der Verbalkonstruktion. Obwohl ein Linguist die Bezeichnungen für die Ergänzungsklassen vermissen könnte, bringt diese Vorgehensweise zwei Vorteile mit sich. Zum einen wird den Vf. eine mühsame Entscheidung in Zweifellsfällen und bei Doppeldeutigkeiten erspart. Zum anderen gibt es bedeutungsnahe Ergänzungen, die verschiedenen morphosyntaktisch definierten Klassen zuzuordnen wären, sodass semantisch Zusammengehöriges auseinander gerissen werden müsste. Durch die Postulierung der Argumente auf der höchsten Ebene werden bedeutungsnahe Ergänzungen zu einer Klasse zusammengefasst. Die Vf. eines solchen Wörterbuchs sehen sich der Aufgabe gegenüber, das richtige Maß an wissenschaftlicher Vollständigkeit und Präzision einerseits und an Brauchbarkeit bzw. Zugänglichkeit für einen breiteren Leserkreis andererseits zu finden. In Anbetracht der Zielgruppe ist diese Aufgabe gelöst: Das Wörterbuch enthält umfangreiche und nützliche linguistische Daten über die syntaktische Nomenvalenz, ohne dass dadurch seine Verwendbarkeit vonseiten theoretisch nicht vorgebildeter Benutzer beeinträchtigt wäre. Aufgrund der Sachkenntnis und der Sorgfalt der Vf. bei der Bearbeitung des Stoffes kann das deutsch-ungarische Wörterbuch zur Substantivvalenz bei der Erstellung weiterer kontrastiver Valenzwörterbücher als Maßstab empfohlen werden. Eine sinnvolle Ergänzung des vorliegenden Wörterbuchs wäre die Beschreibung der semantischen Valenz. Emilija Bojkovska Literatur Schumacher, Helmut (1988): Verben in Feldern. Valenzwörterbuch zur Syntax und Semantik deutscher Verben. Berlin / New York. Schreiber, Herbert / Sommerfeldt, Karl-Ernst / Starke, Günter (1993): Deutsche Substantive. Wortfelder für den Sprachunterricht. Leipzig u. a. Sommerfeldt, Karl-Ernst / Schreiber, Herbert (1977): Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Substantive. Leipzig. Sommerfeldt, Karl-Ernst / Schreiber, Herbert (1996): Wörterbuch der Valenz etymologisch verwandter Wörter. Tübingen. 244 Dieter Herberg u. a.: Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen Verlag Walter de Gruyter, Berlin / New York 2004, 393 S., 39,95 (Schriften des Instituts für Deutsche Sprache, 11) Mit dem vorliegenden Titel reiht sich ein Werk in die deutsche Wörterbuchlandschaft ein, das hinsichtlich seiner Selektion und seiner wissenschaftlichen Beschreibung ein Novum bildet. Es ist dem IDS zu danken, dass es der Neologismusforschung in seinem Forschungsspektrum diesen breiten Raum gegeben hat und damit dem in anderen europäischen Ländern bereits bestehenden Trend gefolgt ist. Warum Neologismus-Lexikographie? Werden Neologismen nicht ohnehin in den großen allgemeinsprachlichen Wörterbüchern erfasst? Die Antwort ist in unserer schnelllebigen Zeit zu suchen, in ihren rasanten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, den wissenschaftlichen und technischen Neuerungen und den sich daraus ergebenden Benennungszwängen. Seit dem ,,Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (R. Klappenbach / W. Steinitz), das die veraltenden und veralteten Wortschatzelemente, aber auch die neu aufgekommenen Wörter, Wendungen und Bedeutungen kennzeichnete, haben alle großen Wörterbücher auf die Kennzeichnung der Wortschatzzugänge verzichtet. Im Duden-Universalwörterbuch A­Z heißt es lakonisch: ,,Neuwörter und Neubedeutungen sowie Modewörter sind nicht besonders gekennzeichnet." (10) Man könnte meinen, sie seien bereits selbstverständliche Bestandteile des Wortschatzes. Hier bewahrheitet sich die häufig zitierte Sentenz von Lorenz Diefenbach (19. Jh.), dass ­ während der Lexikograph sein Werk verfasst ­ sich der Boden unter seinen Füßen bewegt, dass die Wortschatzdarstellung am Anfang des Alphabets im Laufe der Arbeit von der Wortschatzentwicklung überholt wird. Eine gezielte Erfassung der Neologismen kann hier gegensteuern und den Lexikographen für Nachauflagen die Wortschatzneuerungen verfügbar machen, ihnen aber auch den Vorlauf für eine aktuelle Wortschatzdarstellung bieten. Darüber hinaus ist ein Neologismenwörterbuch von unschätzbarem Wert für alle ­ und nicht nur für linguistisch Geschulte ­, die bei der Rezeption und der Anwendung neu aufgekommener Wörter und Wendungen unsicher sind und zusätzliche Informationen benötigen. In beiden Fällen ist das Wörterbuch ein vorzügliches Nachschlagewerk, einmal durch die Bereitstellung einer Wortschatzselektion neuer Wörter und Wendungen, zum anderen durch seine theoretisch durchdachte Analyse der damit verbundenen Informationsdaten des einzelnen Lemmas. Bestechend sind auch der großzügig und übersichtlich angelegte Artikelaufbau und die Akribie der Datenbeschrei- bung. Dabei stellten sich den Vf. (Dieter Herberg, Michael Kinne und Doris Steffens unter Mitarbeit von Elke Tellenbach und Doris al-Wadi) allerdings zahlreiche Probleme in den Weg, die möglichst optimal gelöst werden mussten. Pragmatisch gelöst wird die Antwort auf die Frage, was unter einem Neologismus zu verstehen ist bzw. verstanden wird. Ein Neologismus ist a) eine neue lexikalische Einheit (Form und Bedeutung sind neu), die aus einem Wort besteht, das kein Kompositum und keine Ableitung darstellt, oder aus zwei oder mehreren Wortelementen zusammengesetzt oder abgeleitet ist; das Wort kann aus einer anderen Sprache stammen, aus Elementen einer anderen Sprache gebildet sein oder aus Elementen der deutschen Sprache entstanden sein. Ein Neologismus ist b) ein Phraseologismus (Phraseologismen werden nach ihrer Satzfunktion klassifiziert: Verbphrase, Substantivphrase, Adverbphrase etc.). Ein Neologismus ist c) eine Neubedeutung (die Bedeutung ist an eine bereits bestehende Wortform gebunden). Dies charakterisiert die Formseite des Lexems. Darüber, was das Neue eines Neologismus ausmacht, gibt die Definition in der Einleitung des Wörterbuchs Auskunft: ,,Ein Neologismus ist eine lexikalische Einheit bzw. eine Bedeutung, die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und in diesem Entwicklungsabschnitt von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird." (XII) Mit der Selektion ergeben sich weitere Merkmale für die in diesem Wörterbuch darzustellenden Neologismen. Dies sind einmal der Zeitraum ihres Vor- und Aufkommens, ihre Zugehörigkeit zum Allgemeinwortschatz und ihre Tragfähigkeit im Hinblick auf den Usus. Dies sind wohl die schwierigsten, weil häufig auch schwer abwägbaren Kriterien bei der Entscheidung über Aufnahme oder Nichtaufnahme. Die Beurteilung der Zugehörigkeit zum Allgemeinwortschatz wird durch die im System angelegten Grenzen gegen Mundart und Fachsprache ziemlich zuverlässig abgesichert, wenngleich Mundartliches in Umgangssprachliches übergehen kann und dann wieder Berücksichtigung findet. Und auch hinsichtlich der Fachsprachen gibt es Übergänge: Sobald Fachwortschatz im Alltag in nichtfachsprachlichen Bereichen Anwendung findet, kann man ihn zum Allgemeinwortschatz rechnen, doch ist die Beurteilung häufig schwierig. Das Wörterbuch klammert auch Okkasionalismen aus und kann sich dabei weitgehend auf die Sprachkompetenz seiner Vf. und die Beleglage stützen. Andererseits hat man schon erlebt, dass zunächst okkasionell anmutendes Wortgut sich später im Wortschatz fest angesiedelt hat. (Das WDG hatte z. B. Computer zunächst nicht berücksichtigt!) Die Entscheidung, sich auf die 1990er Jahre zu beschränken, findet ihre Erklärung in der seit der 245 Wiedervereinigung gegebenen einheitlichen staatlichen Kommunikationsgemeinschaft (vgl. XII) und den auffällig starken Wortschatzzuwächsen in dieser Zeit, ist aber auch durch die zunehmende Verbreitung der Computernutzung bedingt. Die Einbeziehung auch der 1980er Jahre hätte zu größeren Unsicherheiten geführt. Nicht nur der zeitliche Rahmen und die Grundsätze der Selektion sind Kriterien, in denen sich dieses Wörterbuch von einem großen allgemeinsprachlichen Wörterbuch unterscheidet. Dazu zählt vor allem die Ausprägung der Wörterbuchartikel. Die Beschränkung auf 700 Wörter und Wendungen ermöglicht z. T. neue Datentypen und ein breit gefächertes Spektrum der Darstellung von Form, Aussprache, Bedeutung, Grammatik, Herkunft und Kontextverwendung. Die Texte sind z. T. eher narrativ angelegt, so besonders in der für Bedeutungswörterbücher noch ungewöhnlichen Rubrik ,,Geschichtliches und Sachliches" und ,,Kritisches und Normatives". Mitunter fühlt man sich an das richtungweisende ,,Collins Cobuilt English Language Dictionary" (1987) erinnert. Die Artikel sind wie folgt aufgebaut: Mit der Lemmaangabe (und den Lemmavarianten) erfolgt seine Einordnung als Neologismus (Neulexem, Neubedeutung, Neuphraseologismus) sowie sein zeitliches Aufkommen (entweder präzise: ,,1991­93" oder allgemeiner: ,,Anfang oder Ende der 90er Jahre" etc.). Es folgen Angaben zur Schreibung, Worttrennung und Aussprache. Unter der Überschrift ,,Bedeutung und Verwendung" sind die Informationsdaten ,,Bedeutung" (eingekästelt, so optisch herausgehoben), ,,Synonyme", ,,Antonyme" und ,,Belege" (meist drei Belege mit Angabe der Quelle) sowie ,,typische Verwendungsmuster" (Gebrauchsmuster, die z. B. die syntaktische Wertigkeit angeben) erfasst. Es folgt der große Bereich ,,Grammatik", in dem je nach Wortart die Wortartangabe, das Genus, das Hilfsverb, das Passiv, der Plural, die Steigerung, die attributive, prädikative oder adverbiale Verwendung des Adjektivs u. a. vermerkt sind. Informativ sind auch die Angaben zur Wortbildungsproduktivität. Alle diese Informationen sind unter Ausschöpfung differenzierender drucktechnischer Möglichkeiten anschaulich und übersichtlich in den Gesamtaufbau des Artikels eingeordnet. Es sollte nicht übersehen werden, dass das Wörterbuch dem Nichtgeschulten viel abverlangt. Man darf daher vermuten, dass die Vf. vorrangig an einen Benutzerkreis gedacht haben, der sich beruflich in dieser Terminologie auskennt. Nicht immer sind die Glieder einer Wortfamilie selbst als Stichwörter angesetzt, sondern lediglich als Beispiele für Wortbildungsproduktivität angeführt. Z. B. werden Techno und Technokultur, Technomusik als Lemmata abgehandelt, nicht aber Minimaltechno, Hardcoretechno, Technobeat, Technofan, Technoparty, Technosound oder Technoszene. Andererseits hätten sich manche Synonyme auf das Grundwort per Verweis reduzieren lassen, z. B. Splatter, Splatterfilm, Splattermovie, was mit einer nicht immer transparenten Entscheidung für Lemmatisierung oder Nichtlemmatisierung zu tun hat. Etwas stiefmütterlich scheint das syntaktische Umfeld der Interjektionen ups und bingo geraten ­ hier vertraute man wohl auf die Aussagekraft der Belege. Fragt man nach der Zusammensetzung der 700 Neologismen, so sind (lt. Vorwort) 40% aus dem Englischen entlehnt, 60% im Deutschen gebildet, darunter Hybridbildungen, ,,deren eine Konstituente aus dem Englischen stammt". Typisch neu sind z. B. Armutsfalle, Besserwessi/Jammerossi, Babyklappe, Gutmensch, Homoehe, Klammeraffe, Internet, Callcenter, multikulti, Handy, mobben, E-Mail, Spaßgesellschaft, Call-by-Call, Folder, Flyer, Inlineskater, Dailysoap, Boygroup, Bungee, Energydrink, Euro, Event, Potenzpille, Reformstau, Rinderwahnsinn. Hinsichtlich der Wortartzugehörigkeit ergibt sich ein Verhältnis von 85 % (Substantive) zu 10% (Verben), den Rest bilden Adjektive, Adverbien und Interjektionen. Dies scheint typisch, da in der Regel zunächst Gegenständliches, Vorgänge, Abstraktes benannt werden müssen. In der Typologie der Neologismen stehen Neulexeme und Neuphraseologismen (Letztere etwa 15 an der Zahl) mit 93 % gegen 7% Neubedeutungen (vgl. XVI). Ob sich nicht einige der aufgeführten Neologismen in nächster Zeit aus dem Usus verabschieden, bleibt abzuwarten, z. B. Couchkartoffel, Ins und Outs, Neufünfland, unkaputtbar und Opferakte. Auch im neuen Jahrzehnt (ab 2000) entstehen ständig neue Lexeme und Bedeutungen, so Ertragswinkel, Parallelgesellschaft, Medienverwahrlosung, Unterschichtenfernsehen, Powernapping, Kuckuckskind. Das IDS ist dabei, die Erfassung von Neologismen fortzusetzen, nicht in Form gebundener Bücher, sondern in Form von schnell zugänglichen Wortlisten oder über das Internet. Lexikographen, das Fach Deutsch als Fremdsprache, Wissenschaftler, Lernende und alle, die die Sprachentwicklung interessiert verfolgen, werden es ihm danken. Günter Kempcke Michail L. Kotin: Die werden-Perspektive und die werden-Periphrasen im Deutschen Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, 279 S., 45,50 (Danziger Beiträge zur Germanistik, 6) Die Monographie ist ein Beitrag zur diachronen Untersuchung der Entwicklung grammatischer Formative des Deutschen und kann im weiteren Umkreis der diachronen Grammatikalisierungsforschung angesiedelt werden. Gegenstand der Studie ist die Genese und Differenzierung von werdenKonstruktionen als auxiliarer Bestandteil der Verbalkategorien des Passivs, des Futurs und des Kon- 246 ditionals von den germanischen Ursprüngen bis zum heutigen Deutsch. Die Untersuchung erfolgt auf der Basis empirischer Quellenarbeit mit dem Schwerpunkt auf ahd. und mhd. Textquellen. Den 1. Teil der in drei große Teile gegliederten Studie bilden die Kap. 1­4, die die Zielsetzung, das verwendete Korpus, die theoretischen Grundannahmen und die idg. Vorgeschichte erörtern. In Anlehnung an die geläufige Unterscheidung der haben- und der sein-Perspektive wird für das Deutsche eine werden-Perspektive angesetzt, die sich von den beiden anderen Perspektiven durch den ,,allgemeinen Vorgangsbezug" unterscheidet und deren Entwicklung in den Auxiliar-Periphrasen verfolgt wird. Den Schwerpunkt bildet die Analyse der (Veränderung der) semantischen Oppositionen, die sich ­ so die zentrale Hypothese ­ kompositionell aus der je aktualisierten Bedeutung des Finitums werden und der lexikalischen und kategorialen Bedeutung der mit ihm verbundenen infiniten Verbalbestandteile ergeben. Die Analyse beginnt mit der idg. Herleitung der Etyma von werden und anderer auxiliarisierungsfähiger Verben wie sein, haben, stehen (Kap. 4). Der Vf. kann zeigen, dass die Gemeinsamkeit der untersuchten Verben in ihrer semantischen Indeterminiertheit besteht, die der Entstehung unterschiedlicher Oppositionen und damit der Desemantisierung und Entwicklung zum Auxiliar Vorschub leistet. Im Zusammenhang mit diesen Ausführungen werden die im Rest der Arbeit relevanten semantischen Distinktionen eingeführt, wobei der Vf. eigene Wege geht und als wichtigsten semantischen Kontrast der Konstruktionen mit werden und sein/haben die Unterscheidung von mutativer (zustandsverändernder) vs. nichtmutativer (monotoner bzw. stataler) Bedeutung betont (vgl. 34). Kernstück der Arbeit ist die datengestützte diachrone Untersuchung zur Entwicklung der werden-Periphrasen in den Kap. 5­8. In chronologischer Folge ­ von den gemeingermanischen Anfängen und gotischen Belegen (Kap. 5) über das Ahd. (Kap. 6) und Mhd. (Kap. 7) zum Fnhd. (Kap. 8) ­ erfolgt hier eine so kenntnis- wie detailreiche, so umfassend dokumentierte wie scharfsinnig diskutierte Analyse der diachronen Entwicklung der werden-Periphrasen und ihrer Oppositionspartner gemäß den im ersten Teil erörterten Vorgaben, d. h. vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kompositionalitätsthese. Schwerpunkte der Ausführungen sind die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Aspekt im Deutschen und die Rekonstruktion der Strukturen und Oppositionen im Bereich von Diathese und Aspekt/Aktionsart im Gemeingermanischen, die mit Bezug auf die Markiertheitstheorie im Jakobson'schen Sinn als komplexes Gefüge der Oppositionen der auftretenden Finita (werden, sein) und der infiniten Teile (Partizip I, Partizip II) dargelegt werden. Der Vf. vertritt eine differenzierte Position, die der Aspektkategorie im Deutschen durchaus Bedeutung zumisst, die jedoch in der neueren Forschung eine Tendenz zur Überbewertung und zur unangemessenen Vereinfachung bei der Beschreibung aspektueller Elemente im System des Deutschen sieht und dies entsprechend kritisiert. Die ähnlich umfang- und inhaltsreichen Kap. 6 und 7 sind dem Status der werden-Konstruktionen im Ahd. und Mhd. (bis ins 15. Jh.) gewidmet, wobei hier vor allem die Einordnung von werden als Kopulaverb, die Stellung der Partizipien bei der Funktion der komplexen Verbalgefüge und die Entstehung und Funktion der Infinitivkonstruktionen (werden/würden + Infinitiv) diskutiert wird. Mittels einer überzeugenden Analyse der subtilen Distinktionen der Periphrasen in ihren jeweiligen Verwendungskontexten kommen die Kap. 5­7 zu der Erkenntnis, dass die ,,Rückstellung aktionaler Markiertheit" eine Voraussetzung zur ,,Auxiliarisierung" ist, während der Wiederaufbau von aktionalen Merkmalen diesen Prozess blockiert (vgl. 200). Das 8. Kap. rundet den diachronen Teil mit einem (allerdings sehr knappen) Überblick über die verbalen werden-Periphrasen im Fnhd. des 16. und 17. Jh. ab. Gegenüber den vorausgehenden Kapiteln tritt die Korpusarbeit hier zugunsten eines schematisierenden Überblicks zurück. Die fnhd. Epoche erscheint als eine Zeit, in der die ,,Paradigmatisierung" der werden-Periphrasen erfolgt, deren jeweilige Eigenentwicklung (vom Vf. auch als ,,Grammatikalisierung" bezeichnet) als in den vorangehenden Epochen bereits abgeschlossen betrachtet wird. Den 3. Teil des Buches bilden die Kap. 9 und 10. Kap. 9 gibt einen Überblick über die Gesamtheit der werden-Verwendungen im heutigen Deutsch, der auf eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung fokussiert ist (aufgegriffen werden u. a. die Debatten um das deutsche Futur und um die Passivvarianten). Ferner wird ­ allerdings ohne Korpusanalyse ­ für jede der werdenPeriphrasen eine ,,invariante kategoriale Funktion" ermittelt, von der sich die verschiedenen Verwendungsweisen ableiten lassen. Das 10. Kap. bietet eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse sowie einen Ausblick auf mögliche generalisierende Schlussfolgerungen zur Auxiliarisierbarkeit finiter Verben in periphrastischen Fügungen. Die Arbeit beeindruckt durch ihre profunde historische Darstellung vor allem der frühen Epochen, durch ihre differenzierten Analysen des historischen Quellenmaterials und durch die Erarbeitung eines Systems der semantisch-funktionalen Distinktionen und seiner diachronen Dynamik im Bereich der verbalen Periphrasen mit werden. Die konsequent durchgehaltene kompositionelle Analyse überzeugt durch ihre Stringenz; die Herausarbeitung der relevanten semantischen Merkmale und Distinktionen sowie die Aufarbeitung der 247 Debatte um aspektuelle Oppositionen in der Geschichte des Deutschen schaffen eine neue, nachvollziehbare Systematisierung in diesem unübersichtlichen Feld und werden für weitere Forschungen unverzichtbar sein. Ein m. E. nicht zu übersehender Mangel der Arbeit liegt jedoch darin, dass das Konzept der Grammatikalisierung in unzuträglicher Weise auf die semantisch-funktionale Entwicklung einer Konstruktion verkürzt wird. So wird die Unterscheidung zwischen ,,syntaktischem Archetyp" (damit ist die Spenderkonstruktion gemeint) und ,,Verbalperiphrase" ausschließlich an der ,,De-Aktionalisierung" des Finitums, d. h. an semantischem Wandel, festgemacht, wobei die Begriffe ,,Grammatikalisierung" und ,,Auxiliarisierung" offenbar als synonym betrachtet werden (vgl. 203, 213 passim). Die ,,Paradigmatisierung" hingegen, definiert als ,,die Einbeziehung dieser Periphrase in das durch ein Paradigma erfasste Formensystem" (203), wird völlig unverständlicherweise und ohne Erläuterung als von der Grammatikalisierung zu trennender Schritt aufgefasst. Diese Defizite hätten durch eine Rezeption der einschlägigen Arbeiten leicht behoben werden können. So wäre, um nur eine Auswahl einiger inzwischen klassischer Konzepte zu nennen, das von Lehmann (1985) entwickelte Modell der Grammatikalisierungsparameter zur auch morphosyntaktisch fundierten Ermittlung unterschiedlicher Grammatikalisierungsgrade nützlich gewesen, die von Hopper (1991) dargelegten Prinzipien der ,,Schichtung" und ,,Persistenz" hätten viel zur Beschreibung gradueller Übergänge zwischen den Verwendungsweisen einer Konstruktion beitragen können und die Definition grammatischer Formative von Bybee (1985) hätte der oben erwähnten terminologischen Verwirrung abhelfen können. Keiner dieser oder vergleichbarer Titel ist auch nur im Literaturverzeichnis vermerkt. Hier erweist sich der Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der neueren Grammatikalisierungsforschung als negativ für den Erkenntnisgewinn der Arbeit. Trotz dieser Schwächen stellt das Buch einen wichtigen und in den genannten Teilen ertragreichen Forschungsbeitrag zur Geschichte und systematischen Beschreibung der werden-Periphrasen des Deutschen dar. Gabriele Diewald Literatur Bybee, Joan L. (1985): Morphology. A Study of the Relation between Meaning and Form. Amsterdam. Hopper, Paul J. (1991): On some principles of grammaticalization. In: E. Traugott / B. Heine (Hg.), Approaches to Grammaticalization. Vol. I. Amsterdam, 17­35. Lehmann, Christian (1985): Grammaticalization. Synchronic Variation and Diachronic Change. In: Lingua e Stile 20, 303­318. Akio Ogawa: Dativ und Valenzerweiterung. Syntax, Semantik und Typologie Stauffenburg Verlag, Tübingen 2003, 257 S., 49,50 (Studien zur deutschen Grammatik, 66) Das vorliegende Buch (zurückgehend auf eine Dissertation in Köln 1999) befasst sich mit dem Dativ im Deutschen (dessen Syntax und Semantik), der als eine Form der ,,Valenzerweiterung" verstanden wird, richtet den Blick aber zugleich auch (deutschextern) auf entsprechende Konstruktionen im Japanischen und im Französischen, um die gewonnenen Ergebnisse auf sprachtypologische und -universelle Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Die Arbeit soll weitgehend ,,theorieunabhängig", aber dennoch ,,gebührend theoriebewusst" sein (1); sie beruft sich vor allem auf die Theorien der generativen Grammatik, einer kognitiv fundierten funktionalen Sprachbetrachtung und der Sprachtypologie, deren Einsichten zu einer allgemeingültigen Charakteristik des Dativs benutzt werden. Der zugrunde gelegte syntaktische Ansatz basiert auf der generativen Grammatik und strebt eine allgemeine Dativ-Syntax an [x''Komplement [x'Komplement x]], wobei das x''-Komplement durch den Dativ realisiert wird. Der Kopf kann eine beliebige Kategorie sein (deshalb: X), weil der Dativ ein ,,kategorienunspezifischer" Kasus ist, d. h. nicht nur Komplement eines Verb(alkomplexe)s, sondern auch anderer Kategorien sein kann: als V-Projektion (herkömmlicher Objekts- und Pertinenzdativ, Dativus commodi und incommodi), als A-Projektion (als Objektsdativ bei Adjektiven, als Dativus iudicantis, auch als A-Projektion besonderer Art beim adnominalen possessiven Dativ (vom Typ dem Vater sein Haus), als I-Projektion beim ethischen Dativ, als N- bzw. P-Projektion beim ,,appositiven Dativ". Dem entspricht ,,ikonisch" ein semantischer Ansatz, bei dem die Dativrealisation gesteuert wird von der Interaktion der beiden Faktoren ,,Affiziertheit" und ,,Relation": Je mehr das durch x' repräsentierte Basisprädikat das Merkmal ,,Affiziertheit" hat, desto eher ist das im Dativ kodierte Zusatzargument in dieses Basisprädikat involviert; je enger das Zusatzargument zum Basisprädikat in Relation steht, desto eher ist es in dieses Basisprädikat involviert (vgl. 7). Diese generelle Auffassung vom Dativ wird ­ nach einer theoretischen Einleitung ­ in sechs Kapiteln argumentativ entfaltet. Kap. 2 widmet sich dem ,,Dativ beim Verb" (weitaus am umfangreichsten), bei dem die genannten Grundhypothesen ausführlich entwickelt, überprüft und präzisiert werden. Es wird vor allem gezeigt, dass das Komplement 2 in der Regel ein Komplement 1 (als Akkusativobjekt, Präpositionalphrase oder ,,Ergativ"-Subjekt im Nominativ) voraussetzt ­ für die Fälle mit Dativ als einzigem Verbkomplement liefert O. zusätzliche Erklärungen ­, dass die beiden für die semantische Analyse benutzten Begriffe 248 ,,Affiziertheit" und ,,Relation" als relativ und graduiert angesehen werden müssen, dass sich die Affiziertheit am deutlichsten daran erkennen lässt, ob das Verbalgeschehen ein bestimmtes Resultat impliziert oder nicht (z. B. Der Vorhang brannte (*ihm). Aber: Der Vorhang verbrannte (ihm).). Der adverbale Dativ kann nur dann nicht realisiert werden, wenn sich schwache Affiziertheit und lose Relation verbinden (Er hat (*mir) auf den Tisch geklopft.); er kann aber auftreten, wenn sich schwache Affiziertheit und enge Relation (Er hat mir auf die Schulter geklopft.), wenn sich starke Affiziertheit und lose Relation (Er hat mir das Fleisch weich geklopft.), erst recht, wenn sich starke Affiziertheit und enge Relation (Er hat mir die Beinmuskeln weich geklopft.) miteinander verbinden (vgl. 17). Diese These bestätigt O. durch die Analyse von Dativen in Satzvergleichen (Satz mit und ohne Dativ), von Dativen mit semantischer Ambiguität (z. B. Er hat mir die Rechnung bezahlt ­ als Rezipient oder Nutznießer), des Dativ-Passivs und des Dativs bei Partikelverben sowie des Dativs in Phraseologismen, die nach demselben Ansatz beschrieben werden (gegenüber der nichtphraseologisierten Verwendung handele es sich um eine Verstärkung der Affiziertheit einerseits und eine Verengung der Relation andererseits). In allen Fällen wird die Realisierungsmöglichkeit des adverbalen Dativs abgeleitet von den Graden der Affiziertheit und der Relation; dadurch werden die Unterschiede zwischen den herkömmlichen Klassen des Dativs (Objekts-, Pertinenzdativ, Dativus commodi und incommodi, aber auch: Objekte und ,,freie Dative", Ergänzungen und Angaben) zu ,,Epiphänomenen" relativiert, letztlich ,,aufgehoben" und ,,überflüssig". Eine analoge Interpretation wird in den folgenden Kap. auch auf andere Dative angewandt. Kap. 3 behandelt den ,,Dativ beim Adjektiv", zunächst bei den ,,normalen" Dativ-Adjektiven (z. B. ähnlich, gemeinsam, angenehm) ­ zu denen obl. oder fak. ein Dativ hinzutritt ­, danach aber auch beim Dativus iudicantis (Der Mantel ist mir zu groß.), der zusammen mit den Gradpartikeln zu oder genug auftritt, aber weder von der Gradpartikel regiert wird noch von dieser den Dativ zugewiesen bekommt, der vielmehr vom Prädikat abhängig ist. Kap. 4 befasst sich mit dem Dativus ethicus, der zwar in den Grammatiken zumeist als ,,Sondertyp" aufgefasst wird (auf Grund von unbestreitbaren spezifischen grammatischen Merkmalen), der aber von O. auch in die allgemeine Syntax und Semantik des Dativs integriert wird: Das gelte für alle drei Typen des ethischen Dativs, den ,,Aufforderungs-Ethicus" (mit mir), den ,,Ausrufe-Ethicus" (mit mir) und den ,,Ausrufe-Ethicus" (mit dir), die jedoch auf der Satzebene operieren. Die nächsten beiden Kap. wenden sich Arten des Dativs zu, deren standardsprachliche Akzeptabilität umstritten ist: Kap. 5 dem ,,adnominalen possessiven Dativ" (vom Typ dem Vater sein Haus) ­ der immer ein Possessivpronomen voraussetzt, nicht von seinem Prädikat abhängig ist, sondern zum entsprechenden Nominalkomplex gehört ­, Kap. 6 dem ,,appositiven Dativ" (vom Typ der Preis für Brot, einem Grundnahrungsmittel; das Hauptwerk Hermann Pauls, dem damals angesehensten Sprachwissenschaftler) ­ der nur auf den Gebrauch bei Genitiv- und Präpositionalkonstruktionen beschränkt ist, keine formale Kasusidentität mit dem Bezugsnomen zeigt, zumeist als lockere Apposition auftritt und sich auch auf die Semantik ,,Apposition" beschränkt, aber auch mit als eingeleitet werden kann (als Signal für die Apposition). Das 7. Kap. steht unter der Überschrift ,,Dativ im Sprachvergleich" und geht auf funktionale Pendants des Dativs in anderen Sprachen ein: auf Dativäquivalente im Japanischen (z. B. das ,,mehrfache Subjekt" und das ,,Adversativ-Passiv") und auf den Dativ im Französischen, für die ebenfalls die Faktoren ,,Affiziertheit" und ,,Relation" relevant seien sowie von ,,Argumenterweiterung" gesprochen werden könne (trotz aller einzelsprachlicher Spezifika). Insgesamt bietet die Arbeit ein umfassendes, aufschlussreiches und auch neues Bild vom Dativ auf höchstem theoretischem Niveau und unter kritischer Auswertung der neuesten internationalen Fachliteratur. Angestrebt wird vor allem eine theoretische Erklärung von Syntax und Semantik des Dativs, d. h. die Zuweisung einer allgemeinen Struktur auf einer sehr hohen Abstraktionsstufe (mit vielen Stammbaum-Darstellungen), kurz: eher Explanation als Deskription. Der Dativ (mit seinen verschiedenen Arten) wird als ein in sich geschlossenes Kontinuum (mit gemeinsamer Syntax und Semantik) interpretiert und dabei für ein ikonisches Verhältnis zwischen Syntax und Semantik plädiert. Im Hinblick auf die Deskription werden u. E. jedoch die (offenkundigen) syntaktischen und semantischen Unterschiede zwischen den herkömmlichen Arten des Dativs nicht belanglos oder überflüssig. O. zielt indes deutlich auf das ,,Allgemeine", sodass der Leser manchmal den Eindruck gewinnen kann, die Deskription sei ein bloßes Mittel zur Erklärung, das sprachliche Material nur ein Instrument auf diesem Wege. So kann man auch bei mancher Akzeptabilitätsbewertung von Beispielen durchaus anderer Auffassung sein als O. Es werden abstrakte Erklärungsinstanzen herausgearbeitet (unter erklärendem Aspekt durchaus ein Vorzug), deren Wert unter deskriptivem Aspekt und ­ erst recht ­ unter dem Aspekt des Spracherwerbs sich erst noch zeigen muss. Bestechend ist die Argumentation des Vf., oft mit Satzvergleichen und auch unter Einbeziehung sowohl von ,,verwandten " Erscheinungen (z. B. von Präpositionalgruppen) als auch von Äquivalenten in anderen Sprachen (sodass in der Tat ein ,,universaler" Anspruch entsteht). Es wird manchen Leser ver- 249 wundern, dass unter den der Arbeit zugrunde liegenden Theorien die Dependenzgrammatik nicht genannt wird (obwohl bereits im Titel des Buches der Begriff ,,Valenz" erscheint, der bekanntlich maßgebend in den Dependenzgrammatiken entwickelt worden ist) ­ zumal dieser Terminus ,,Valenz" inzwischen recht unterschiedliche Deutungen erfahren hat. Immerhin wird (implizit) deutlich, dass mit ,,Valenzerweiterung" immer ,,Argumenterweiterung" gemeint ist. Diese wenigen Bemerkungen sollen keinesfalls den Wert des Buches mindern. Im Gegenteil: Die vorgelegte Arbeit stellt ­ vor allem in theoretischer Sicht ­ eine außerordentliche Bereicherung der (umfangreichen) jüngeren Literatur zum Dativ dar (mit deutlichem Erkenntniszuwachs), sodass niemand in der künftigen Forschung an ihm vorbeigehen kann. Gerhard Helbig Els Oksaar: Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003, 222 S., 28,00 Mit ihrer fünf Hauptkapitel umfassenden Monographie hat sich die Vfn. zum Ziel gesetzt ,,die verschiedenen Beziehungsgefüge des Zweitspracherwerbs [. . .] zu erhellen", und zwar ,,aus Perspektiven, in denen Spracherwerb [. . .] als kulturelles Lernen verstanden und seine Erforschung in vielen Domänen im Netzwerk der interdisziplinären Kultur- und Gesellschaftswissenschaft gesehen wird" (5). In Kap. 1 ,,Zweitspracherwerb als interdisziplinärer Forschungsbereich" erfolgt eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit ­ mehrdeutigen und in der Literatur größtenteils uneinheitlich verwendeten ­ Begrifflichkeiten wie ,,Erstsprache"/,,Muttersprache", ,,Zweitsprache"/,,Fremdsprache", ,,Zweisprachigkeit"/,,Mehrsprachigkeit" oder ,,Lernen"/,,Erwerben. Da Sprache ,,nicht im luftleeren Raum existiert und deshalb nicht isoliert gesehen werden sollte von dem Individuum, seiner Gruppe und der Gesellschaft, zu der es gehört" (17), wird das Beziehungsgeflecht aus Sprache, Kultur, Individuum und Gesellschaft thematisiert. Anschließend diskutiert O. vier Prinzipien der Sprachbetrachtung, nämlich Kulturalität, Ganzheit/Teilganzes, Dynamik/Variation, Heterogenität/Individualität. Im Zusammenhang mit einer historischen Betrachtung des Sprachenlernens erörtert sie, dass und inwiefern sich ein früher Zweitsprachen-/Fremdsprachenerwerb bei gleichzeitiger Förderung der Erstsprache auf die Schärfung des Sprachgefühls und die Sensibilisierung für Interkulturalität und Mehrkulturalität auswirkt. Es folgt ein kurzer historischer Abriss über die Mehrsprachigkeitsforschung und ihre zentralen Fragestellungen. Dabei ist festzuhalten, dass etwa zwei Dutzend Definitionen von ,,Mehrsprachigkeit" koexistieren, dass es bisher keine zuverlässigen Methoden zu ihrer Feststellung gibt und sie ,,kein einheitliches, sondern ein an individuelle Varianz gebundenes Phänomen" (30) darstellt. O. definiert ,,Mehrsprachigkeit" funktional als ,,die Fähigkeit eines Individuums, hier und jetzt zwei oder mehr Sprachen als Kommunikationsmittel zu verwenden und ohne weiteres von der einen Sprache in die andere umzuschalten, wenn die Situation es erfordert" (31). Analog dazu definiert O. als einen weiteren für die vorliegende Arbeit zentralen Begriff ,,Mehrkulturheit". Auf der Basis von Schemata als zentralen Einheiten des Verstehens sieht die Vfn. eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche interkulturelle Verständigung darin, ,,dass man nicht nur mit den kommunikativen Normen und Konventionen der Interaktionssituation vertraut sein muss, sondern auch mit den Wertvorstellungen und Einstellungen des fremdkulturellen Partners" (35). Bereits im Titel von Kap. 2 ,,Zweitspracherwerb als kulturelles Lernen" steckt die Hauptaussage dieses ­ mit 12 S. verhältnismäßig ­ knappen Kapitels. Interkulturell wird das Lernen O. zufolge dann, wenn ein reflektierender Kontakt des Eigenen mit dem Fremden stattfindet. Deshalb skizziert sie kulturemtheoretische Grundlagen im Hinblick auf das Zusammenwirken von informationstragenden Einheiten und soziokulturellen Faktoren in zwischenmenschlicher Kommunikation. Kultureme definiert sie als ,,abstrakte Einheiten des sozialen Kontakts, die in verschiedenen kommunikativen Akten durch Behavioreme realisiert werden" (39). Der Frage nach dem Erwerb widmet sich die Vfn., indem sie kurz vier Aspekte kommunikativer und interaktionaler Kompetenz erläutert (i. e. ,,Dimensionen der Variation", ,,Normatives und rationales Ausdrucksmodell", ,,Kongruenzen" sowie ,,Sphä- rendistribution"). In Kap. 3 werden ,,Rahmenbedingungen für den Zweitsprachenerwerb" skizziert. Auf etwa 30 S. erläutert O. in einem historischen Überblick zum einen neurophysiologische und soziopsychologische Voraussetzungen und stellt zum anderen den Komplex ,,Sprache und Kognition" in seiner Relevanz für den Erwerb dar. Im Anschluss an die Diskussion einer Reihe empirischer Studien zum Faktor ,,Alter" und trotz ihrer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber einem möglichst frühen Zweitsprachenerwerb räumt die Vfn. ein, dass es ein optimales Alter für den Zweitsprachenerwerb nicht gibt, da das biologische Alter allein nicht entscheidend ist. Hinsichtlich der von ihr als zentral betrachteten soziopsychologischen Voraussetzungen des L2-Erwerbs konzentriert sich O. auf die Bereiche ,,Motivation und Attitüden" sowie ,,Akzent und ethnische Identität", wobei sie Sprache als fundamental bei der Ausbildung der per- 250 sönlichen und sozialen Identität betrachtet und die Beibehaltung eines muttersprachlichen Akzents als Mittel zur Bewahrung der eigenen ethnischen Identität erklärt. Weiterhin erfolgt eine kritische Diskussion der Kognitionsforschung. Ausgehend davon, dass die menschliche Sprachfähigkeit und allgemeine kognitive Fähigkeiten aufs engste miteinander verknüpft sind, stellt O. den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken anhand der Theorien Piagets und Wygotskis über die kindliche kognitive Entwicklung und den kindlichen Spracherwerb vergleichend dar, widmet sich anschließend der Sapir-Whorf-Hypothese und stellt abschließend sinngemäß fest: Je mehr Sprachen jemand beherrscht, desto freier ist er, weil das Denken nicht nur von einer Sprache abhängig ist bzw. von dieser begrenzt wird. Kritisch anzumerken wäre an diesem hochinteressanten Kapitel, dass die Bewertung der einschlägigen Forschungsliteratur im Vergleich zu ihrer Darstellung stellenweise zu sehr die Oberhand gewinnt. Gegenstand von Kap. 4 ­ dem mit 66 S. umfangreichsten ­ sind ,,Theorien, Modelle und Methoden des Zweitspracherwerbs". Zu Beginn ihrer Ausführungen stellt O. fest, dass es aufgrund der Vielzahl der beim Spracherwerb miteinander interagierenden kognitiven, affektiven, sozialen und sprachlichen Faktoren keine universelle Theorie geben kann. Das Kap. ist in vier Abschnitte gegliedert: ,,Grundlagen der Betrachtung", ,,Zum Forschungsstand", ,,Von sprachsystemzentrierten Ansätzen zu individuumzentrierten Modellen" und ,,Individuumzentrierte Ansätze". Im Anschluss an eine kritische Auseinandersetzung mit behavioristischen und nativistischen Ansätzen konzipiert die Vfn. Sprachfähigkeit als Resultat, nicht als Voraussetzung kognitiver Entwicklung und definiert sie mit Bezug auf Stern als ,,Konvergenzprodukt zwischen den fortwährend auf das Kind eindringenden Sprachäußerungen seiner Umgebung und seinen inneren Sprachbedürfnissen und -fähigkeiten" (Stern 1976: 123; zit. nach Oksaar 2003: 87). O. stellt fest, dass bereits zu Beginn der 1990er Jahre zwischen 40 und 60 Theorien koexistierten; sie kritisiert das offensichtlich bestehende Desinteresse an einer Integration bzw. Synthese der verschiedenen Theorien und Ansätze und stellt auf der Basis der zuvor skizzierten Kulturbedingtheit von Sprache und der soziokulturellen Bedingungen ihrer Verwendung resümierend fest, dass die Zweitsprachenerwerbsforschung ,,neue Ansätze und Modelle braucht, die der intra- und interkulturellen Kommunikation in heterogenen Gesellschaften Rechnung tragen" (90). Dann erläutert und diskutiert sie zwei zentrale Spracherwerbshypothesen ­ i. e. die Kontrastiv-Hypothese und die IdentitätsHypothese. Im Anschluss an die Skizzierung der bereits 1977 von ihr entwickelten ,,interkorrelativen Methode" (i. e. die Integration korrelationaler (vgl. Labov, Bernstein) und interaktionaler Ansätze (vgl. Hymes, Gumperz)), bei der kommunikative Akte als Beobachtungs- und Analyseeinheit zur Untersuchung von Lernervarietäten betrachtet werden, erfolgen die kritische Darstellung und die Diskussion der Interlanguage-Hypothese, ihrer Merkmale sowie relevanter Phänomene (wie z. B. Fossilisierung und Pidginisierung). Zum Thema ,,Sprachkontakt und Kulturkontakt im Lernprozess" folgt einem kurzen historischen Abriss zur Erforschung von Code-switching-Phänomenen die von O. (1976) entwickelte Unterscheidung zwischen ,,situationalen Interferenzen" (i. e. Abweichungen von den pragmatischen Konventionen der jeweiligen Situation) und ,,Behavioremumschaltungen", also ,,de[m] alternativen Gebrauch von Verhaltensweisen aus zwei oder mehr (kulturell) unterschiedlichen Behavioremsystemen mit oder ohne linguistische und situationale Interferenzen oder Kodeumschaltungen" (147). Den Abschluss bilden die in Kap. 5 behandelten ,,Gesellschaftspolitische[n] Aspekte des Zweitspracherwerbs". O. beschreibt Migration als globales Phänomen, erörtert die Begriffe ,,Minderheit" und ,,Minorität" mit ihren Konnotationen im Detail und betrachtet die Zweitsprachenproblematik im Hinblick auf autochthone (i. e. alteingesessene) und allochthone (i. e. zugewanderte) Minderheiten. Relevant in Bezug auf künftige Forschungen erscheint die Forderung: ,,Minderheitenforschung sollte auch immer Mehrheitsforschung einbeziehen, da es sich um Zusammenleben handelt. Integration ist stets ein gesellschaftliches Phänomen, das auf Gegenseitigkeit aufbaut." (155) Da Sprache als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit eine wichtige Komponente der Identität eines Individuums darstellt, ist O. zufolge die Rolle der Erstsprache als soziales und kulturelles Medium für die Selbstidentifikation nicht hoch genug einzuschätzen. In Bezug auf die vom Europarat (1994) beschlossenen Rahmenkonventionen zum Schutz und zur Förderung nationaler Minderheiten stellt die Vfn. eine deutliche Kluft zwischen Theorie und Praxis fest. So herrsche in der europäischen Realität eine ,,Konformitätsideologie", die von einer weitgehend homogenen Bevölkerungsstruktur ausgehe und eine soziale und sprachlich-kulturelle Anpassung an die Mehrheitsbevölkerung fordere. Es folgt ein Plädoyer für eine verbesserte Bildungspolitik in multiethnischen Gesellschaften, die der Sprache und der Mehrsprachigkeit einen zentralen Stellenwert einzuräumen solle. Im Hinblick auf die Sprachenpolitik in der EU plädiert O. für einen frühestmöglichen Fremdsprachenerwerb, mit einem Fokus auf Kommunikation und Verständigung. Sie diskutiert die Problematik von Sprache als Machtfaktor und die Gefahr, dass die europäische Integration zur Aufgabe sprachlicher und kultureller Vielfalt führen könne. Abschließend widmet sich O. der internationalen Stellung des Deutschen als Zweitsprache, wobei sie 251 sich auf Wissenschaft und Wirtschaft konzentriert. Während in wirtschaftsbezogenen Kontexten ein genereller rückläufiger Gebrauchs des Deutschen festzustellen ist, scheint der Domänenverlust in der Wissenschaft in den jeweiligen Disziplinen unterschiedlich und in den Naturwissenschaften deutlich weiter fortgeschritten zu sein als in den Geisteswissenschaften. Da ,,Mehrsprachigkeit [...] den Blick für die Eigenart und die Leistungsfähigkeit der beherrschten Sprachen" schärft (185), bezeichnet die Vfn. abschließend Mehrsprachigkeit als ein wichtiges Ziel, das insbesondere Wissenschaftler im Visier haben sollten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es sich bei der vorliegenden Monographie um eine äußerst kenntnisreiche und lesenswerte Darstellung zentraler Aspekte des Zweitsprachenerwerbs handelt. O. liefert neben einer außergewöhnlich hohen Informationsdichte gleichzeitig tiefe und differenzierte Einsichten in die Thematik. Kritisch anzumerken ist lediglich, dass zwar jedes Hauptkapitel mit einer knappen Zusammenfassung abschließt, es für die Gesamtdarstellung jedoch keine vergleichbare Schlussbetrachtung gibt und sie damit etwas abrupt endet. Etwas störend ist ferner die hohe Zahl an Orthographie- und Interpunktionsfehlern, die durch ein sorgfältigeres Lektorat hätten vermieden werden können. Karin Aguado Michael Schart: Projektunterricht ­ subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache (mit CD) Schneider-Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2003, 285 S., 25,00 Schart beschäftigt sich in seiner im April 2002 an der Universität Jena eingereichten Dissertation mit dem Projektunterricht. Sein Erkenntnisinteresse ist explorativer Natur. Über die Rekonstruktion subjektiver Theorien von Lehrenden zum Projektunterricht will er mehr darüber in Erfahrung bringen, ,,wie DaF-Lehrende Projekte konzipieren, welche subjektiven Sichtweisen zu Einsatzmöglichkeiten, Ablauf und Effizienz dieser Unterrichtsform sie formulieren und wo sie deren Möglichkeiten und Grenzen" (3) sehen. Sein Ziel ist es aufzuzeigen, ,,auf welche Weise Lehrende den umstrittenen Projektbegriff auslegen, in eine praktikable Form bringen und ihn mit ihrer Vorstellung dessen in Einklang bringen, was für sie einen guten DaFUnterricht ausmacht" (3). Hinter dieser Fragestellung verbirgt sich die Einsicht, dass die von ihm selbst erfahrene Diskrepanz ,,zwischen den Ambitionen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien entspringen, und dem Scheitern des Versuchs, diese direkt in die Praxis zu implementieren" (20), nur dann gemildert werden kann, wenn die Distanz zwischen empirischer Erforschung der Praxis und denjenigen, die ,,vor Ort" agieren und Adressaten der Forschung sein sollen, verringert wird. Dies bringt Schart auch im Fazit seiner Studie zum Ausdruck: ,,Solange die Fremdsprachenforschung ihren Gegenstand nicht auch als ein soziales Phänomen begreift und sich in der Konsequenz aus dieser Einsicht konkreten Unterrichtssituationen zuwendet, solange sie ihre Argumentation nicht mit empirischen Erkenntnissen stützt, die vor allem realen Kontexten selbst entstammen und die Menschen vor Ort ­ Lehrende wie Lernende ­ als Forschungssubjekte aktiv einbezieht, ist es gerechtfertigt, dass Lehrende abstrakten Modellen mit großer Skepsis begegnen." (252) Schart setzt mit seiner Studie und deren Publikation diese Einsichten konsequent um. Nach einer überblickgebenden Einleitung setzt er sich zunächst intensiv mit forschungsmethodischen und -methodologischen Fragen seiner Studie und theoretischen Aspekten des Projektunterrichts auseinander (Kap. 2 und 3). Die hier entwickelten Positionen und Einsichten leiten ihn sowohl bei der Durchführung seiner Studie als auch bei der Darstellung ihrer Ergebnisse. Der Standpunkt, dass Erkenntnisse immer im Zusammenhang ihrer raumzeitlichen und personalen Entstehungszusammenhänge zu betrachten sind, lässt sich z. B. daran erkennen, dass der Vf. den ,,Gestus des Unpersönlichen" in seinem Bericht ablegt, dass er die Entwicklung nicht nur seiner Studie, sondern auch seiner Beziehung zum Gegenstand und zur Studie selbst intersubjektiv nachvollziehbar macht, indem er sie kritisch reflektiert. Der Gang der Studie, insbesondere aber der Analyse und der Interpretation der in ihr ,,konstruierten" Daten können darüber hinaus vom Leser nachvollzogen und damit ggf. relativiert werden. Dies ermöglicht auch die dem Buch beigelegte CD, auf der die Forschungsinstrumente und alle zentralen Daten in geeigneter Form zur Verfügung gestellt werden. In Kap. 4 stellt Schart quantitative Ergebnisse einer Fragebogenerhebung vor, die er mit Organisatoren und Lehrenden von Sommerkursen in Deutsch als Fremdsprache an deutschen Hochschulen durchgeführt hat. Die Grundlage von Kap. 5 bilden problemzentrierte, halbstandardisierte Interviews mit Lehrenden, die Schart über die Fragebogenerhebung für das zentrale Element seiner Studie gewinnen konnte. In der daraus resultierenden Darstellung von 13 Einzelfällen kommen die Lehrenden ausgiebig zu Wort. Dieser Darstellung der je individuell-subjektiven Perspektiven zum Projektunterricht schließt sich in Kap. 6 ein stärker systematisierender Vergleich an. In einem fiktiven Dialog zweier Lehrender über den Projektunterricht stellt Schart die zentralen Argumentationslinien der verschiedenen subjektiven Theorien seiner Gesprächspartner noch einmal 252 neu zusammen (Kap. 6.2). In einem stärker strukturierenden Schritt ergänzt er diese narrative Inszenierung durch eine analytische Darstellung (Kap. 6.3). Demnach nehmen die je individuellen Projektbegriffe ihren Ausgang im beruflichen Selbstverständnis der Lehrenden. Zusammen mit ihren grundlegenden Einstellungen zum Gegenstand und zu den Zielen des Fremdsprachenunterrichts ergeben sich subjektive Konzepte, bei denen vier von Schart herausgearbeitete Argumentationsmuster je anders gewichtet werden. Kennzeichnend für ein formales Argumentationsmuster zum Projektunterricht ist ,,die Betonung des formalen Aspekts von Sprache bei einer gleichzeitig sehr starken Sensibilität für die Gestaltung von Sprachlehr- und -lernprozessen" (240). Dem steht die Betonung des inhaltlichen Aspekts der Projektarbeit gegenüber. Sie ist nur vor dem Hintergrund der Auffassung zu verstehen, dass eine systematische Sprachvermittlung ­ insbesondere in den Sommerkursen ­ ,,keine effektive Form des Fremdsprachenunterrichts darstellt" (240). Die Definitionen von Projektunterricht, die den personalen Aspekt besonders hervorheben, legen ihren Schwerpunkt auf die Organisation und Evaluation von Denkund Handlungsabläufen, während bei der Betonung des sozialen Aspekts die unterschiedlichen Aktivitäten aufeinander bezogen sein und zwischen den Kursteilnehmern zu einem Netzwerk führen sollen. Die Ergebnisse der Studie mögen bescheiden sein, betont Schart mehrfach, dennoch sei sie als ein erster Schritt in Richtung auf eine Art von Fremdsprachenforschung zum Projektunterricht zu verstehen, die die im Unterricht Agierenden zu Wort kommen lasse. Der ,,Trend zum Trivialen" (13f., 20f.) finde aber angesichts der bislang zu konstatierenden Schwierigkeiten bei der direkten Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis und angesichts der Auffassung von Fremdsprachenunterricht als einem sozialen Phänomen seine Berechtigung. Diese Einschätzung teile ich. So kann Scharts Studie von Forschern in der forschungsmethodologischen und -methodischen Diskussion, bei der reflektierenden Entwicklung ihres Selbstverständnisses als Forscher sowie bei der weiterführenden Erforschung des Projektunterrichts als Anregung und Ausgangspunkt gelesen werden. Lehrenden, die ­ sei es positiv oder negativ ­ Erfahrungen mit dem Projektunterricht haben, können insbesondere in der Darstellung der Einzelfälle und ihrer anschließenden Systematisierung wichtige Anregungen und Ansatzpunkte zur Entwicklung ihres Selbstverständnisses als Lehrende und ihres Unterrichts finden. Lars Schmelter Magdalena Lisiecka-Czop: Verstehensmechanismen und Lesestrategien von fremdsprachigen Fachtexten Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, 170 S., 35,30 (Danziger Beiträge zur Germanistik, 8) Die überarbeitete und aktualisierte Fassung der an der Universität Gdan´sk (Polen) verteidigten Dissertation füllt eine seit langem spürbare Lücke in der polnischen Glottodidaktik, was die empirischen Untersuchungen auf der DaF-Fortgeschrittenenstufe anbelangt. Die Vfn. fokussiert die Leseprozesse im Fachsprachenunterricht Wirtschaftsdeutsch. Hinterfragt werden kognitive, textlinguistische wie auch kodematische Aspekte der Rezeption und Verarbeitung von Fachtexten unter Einsatz unterschiedlicher Lesestrategien. Der Vfn. liegt daran, auf die kennzeichnenden Merkmale des fremdsprachlichen Lesens hinzuweisen. Dieses Forschungsvorhaben wird vor dem Hintergrund dreier Faktoren geführt: a) Die Leseprozesse finden im Sprachfachunterricht statt, was eine hohe allgemeine Sprachkompetenz erfordert und hiermit auch den Schwierigkeitsgrad des Lernmaterials zu bestimmen hat; b) die Spezifik der fremdsprachlichen Leseprozesse muss in Anbetracht der früher (teilweise) erlernten Lesestrategien im Muttersprachunterricht ergründet werden; c) die neuen Lesestrategien sollten im Hinblick auf die Fachtexttypologie ausgewählt und eingeübt werden. Das Buch besteht aus drei Hauptkapiteln. Nach der Einleitung verfolgt Kap. 1 die theoretischen Grundlagen des Leseverstehens. Es wird auf die Verstehensmechanismen in der psychologischen und psycholinguistischen Forschung eingegangen. Zwei Konzepte werden näher dargelegt: das Hamburger Verständlichkeitskonzept von Langer u. a., das vier Merkmale der Textverständlichkeit (Einfachheit, Gliederung ­ Ordnung, Kürze ­ Prägnanz, anregende Zusätze) festlegt, und der Ansatz von Groeben/Christmann, die vier das Verstehen von Texten erleichternde Dimensionen (stilistische Einfachheit, semantische Redundanz, kognitive Strukturierung, konzeptueller Konflikt) nennen. Aus der kognitiven Perspektive wird des Weiteren das mehrdimensionale Speichermodell vorgestellt. Die Wissensorganisation im Langzeitgedächtnis schildert die Vfn. anhand des Netzwerk-Modells von Klix. In diesem Zusammenhang erhält die jeweilige Textstruktur einen mehrdimensionalen Charakter. Der Darstellung von traditioneller Thema-RhemaGliederung folgt die Typologie der Vertextungskategorien von Wawrzyniak. Im Sinne der Textgrammatik werden referenzielle Textrelationen berücksichtigt, und zwar Person, Tempus, Modus und Nominalverflechtung. Die genannten Elemente tragen erheblich zur Steigerung der Textredundanz bei. Hervorzuheben ist, dass die Vfn. die Forschungsergebnisse interdisziplinär reflektiert, sodass sie sich von der noch vor kurzem allzu oft 253 praktizierten einseitigen linguistischen Betrachtung befreit zu haben scheint. Kap. 2 beschäftigt sich mit Textverstehen als glottodidaktischem Problem. Das Leseverstehen wird im Gefüge der inter- und intraindividuell gerichteten Kommunikationsprozesse thematisiert. Besondere Aufmerksamkeit wird den Dekodierungsprozessen von graphischen Kodes geschenkt. In diesem Umfeld wird auch das Strategienkonzept behandelt. Die Vfn. bezieht sich dabei auf die funktionale Strategientypologie von van Dijk / Kintsch und wendet sie im fremdsprachlichen Lehr-LernKontext an. Hervorzuheben ist nach unserer Auffassung, dass im fremdsprachlichen Kommunikationsgefüge die Metastrategien (vgl. 86), deren Kontroll- wie auch Steuerungsfunktion nicht zu unterschätzen sind, nicht vergessen wurden. Der (un)bewusste Einsatz dieser Strategien optimiert die Verstehensprozesse eines fremdsprachigen Textes immens. Den empirischen Teil dieser Studie findet der Leser in Kap. 3. Nach einem einleitenden Exkurs in die unterrichtliche Vermittlung von Fachsprachen, insbesondere im Bereich Wirtschaftsdeutsch, wird die Problematik der Textsortenauswahl wie auch der Textanalyse aufgenommen. Anhand eines Pressetextes, den die Vfn. in ihrem didaktischen Experiment mit polnischen Germanistikstudenten einsetzte, wird geschildert, wie unterschiedliche Textarbeitsmethoden das Verstehen von Fachtexten beeinflussen können. Die Probandengruppe, die mit breiter Palette von Lesestrategien vertraut gemacht wurde, erzielte weit bessere Leistungen als traditionell arbeitende Lerner, die nur Fragen zum Text beantwortet und sich mehr mit dem Wortschatz beschäftigt hatten. Folgende Faktoren waren für die Erfolgsgruppe fördernd: Sie bestimmte Textadressat und Textfunktion, sodass sie auch leichter andere semantische Relationen im Text, auch mit Hilfe ihres bisherigen Wissens, erkennen konnte. Dadurch bereitete ihr auch die Ausfüllung eines von der Vfn. erstellten Informationsnetzwerkes keine Probleme. Die mühelose Kennzeichnung von Makropropositionen scheint auch ein Prädikator dafür zu sein, dass die mit mehreren Lesestrategien arbeitenden Studenten ihr Wissen auch besser in Bezug auf dessen semantische, pragmatische und kommunikative Relevanz verarbeiten können. Die nach dem Experiment durchgeführten Rezeptionsprotokolle haben überdies nachgewiesen, dass reiche Verarbeitungstechniken auch zu einer besseren Strukturierung von wiedergegebenen Informationen beitragen, sodass die Lernenden die wichtigsten Informationen rasch dem Text entnehmen konnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verstehen von fachsprachlichen Texten in einer Fremdsprache von den Lernern ein großes Potenzial an Verarbeitungstiefe erfordert, die grundsätzlich durch den Einsatz von eingeübten Lesestrategien gewährleistet werden kann. Aus den empirischen Daten folgt, dass der traditionell gestaltete Fachsprachunterricht im Sinne der puren Wortschatzarbeit wenig effizient ist. Im Falle eines Fachtextes verlaufen daher die Verstehensprozesse grundsätzlich auf der semantischen Wortebene, was die mentale Rekonstruktion von Text-Mikro- und -Makropropositionen stark beeinträchtigt. Dieses Buch liefert damit auch eine teilweise mittelbar geäußerte Kritik an der den unterrichtlichen Alltag charakterisierenden Textarbeit. Der Strategieneinsatz muss nämlich ­ was bisher selten der Fall war ­ im fremd(fach)sprachlichen Unterricht auch thematisiert werden, damit die Lerner effiziente Wege entdecken und erproben können. Der Band leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Leseprozesse in der polnischen Glottodidaktik. Zu wünschen wäre eine Nachfolgepublikation, die den wissenschaftlichen Erfahrungsrahmen um praktische Tips bei der fachsprachlichen Textarbeit ergänzt. Sie könnte die verdienstvolle Arbeit der Vfn. umso mehr herausstellen. Krzysztof Nerlicki 254 255 Schreibhinweise für Autoren Zum Druck werden nur Arbeiten angenommen, die an keiner anderen Stelle veröffentlicht sind bzw. werden sollen. Eine entsprechende (formlose) Erklärung erbitten wir als Anlage (s. u.). Das Manuskript (Artikel ca. 15 S., Rezensionen max. 4 S.) soll in drei Exemplaren, in reformierter Rechtschreibung, im Format DIN A4, einseitig, mit Computer oder Maschine linksbündig geschrieben, eingereicht werden. Alle folgenden Angaben gelten sowohl für den Text als auch für Anmerkungen und Literaturangaben: Computer: Maschine: Times New Roman, zweizeilig (Abstand zwischen den Zeilen mindestens 8 mm), 14 pt, eineinhalbzeilig (1,5), je Seite max. 30 Zeilen, Seite oben: 2,5 cm, unten: 2,0 cm, je Zeile max. 60 Anschläge (mit Leerzeichen). links: 2,5 cm, rechts: 8,0 cm; Schicken Sie uns nach Möglichkeit Ihren mit einem gängigen Textverarbeitungsprogramm (DOS) erstellten und/oder als ASCII-Datei gespeicherten Text auch auf Diskette. Beispiele und Aufgaben stehen eingerückt und werden fortlaufend nummeriert: (1) . . . (2) . . . Anmerkungen werden im Text mit fortlaufenden Ziffern markiert (hochgestellt, ohne Klammern) und stehen am Ende des Beitrags vor dem Literaturverzeichnis. Literaturverweise stehen in Kurzform im Text, z. B.: ,,. . . wie Schmidt (1992: 15ff.) hervorhob . . .". Das Literaturverzeichnis wird am Ende des Beitrags in alphabetischer Folge der Verfassernamen gegeben, z. B.: Eismann, Volker/Thurmair, Maria (1993): Wie schwer soll die deutsche Grammatik sein? In: DaF 4, 238­245. Götze, Lutz (Hg.) (1987): Deutsch als Fremdsprache. Situation eines Faches. Bonn-Bad Godesberg. Pfeiffer, Waldemar (1989): Ein sprachdidaktisches Konzept für Mehrsprachigkeit. In: J. Buscha/J. Schröder (Hg.), Linguistische und didaktische Grammatik. Leipzig, 39­47. Als Anlagen erbitten wir: ­ Namen mit akademischen Titeln, Dienstanschrift, Privatanschrift, Telefonnummer(n), Faxnummer(n), E-Post-Adresse(n), ­ max. neun Zeilen Zusammenfassung des Beitrags (einschließlich Überschrift), ­ Urheberrechtserklärung (s. o.). Autorenverzeichnis HD Dr. Karin Aguado, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremdsprache, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Doz. Dr. Emilija Bojkovska, Universität ,,Hll. Kyrill und Method" Skopje, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur, Bul. Krste Misirkov bb, MAK ­ 1000 Skopje, Makedonien Prof. Dr. Gabriele Diewald, Universität Hannover, FB Literatur- und Sprachwissenschaften, Seminar für deutsche Sprache und Literatur, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover Prof. Dr. Csaba Földes, Universität Veszprém, Germanistisches Institut, Füredi u. 2, Pf. 158, H ­ 8201 Veszprém, Ungarn Prof. Dr. Gerhard Helbig, Universität Leipzig, Philologische Fakultät, Herder-Institut, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig Prof. Dr. Silke Jahr, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Philosophische Fakultät, Institut für Deutsche Philologie, Rubenowstraße 3, 17489 Greifswald Dr. Günter Kempcke, Waldstraße 2, 12527 Berlin Dr. Erik Kwakernaak, Rijksuniversiteit Groningen, Universitair Onderwijscentrum Groningen (UOCG), Landleven 1, NL ­ 9747 AD Groningen, Niederlande Stefan Mummert, Monash University Melbourne, School of Languages, Cultures and Linguistics, Clayton 3800, Australien Dr. Krzysztof Nerlicki, Universität Szczecin, Institut für Germanistik, ul. Rycerska 3, PL ­ 70­537 Szczecin, Polen Dr. Beate Rues, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Philosophische Fakultät, Institut für Germanistische Sprachwissenschaft, Fürstengraben 28­30, 07740 Jena Prof. Dr. Günter Schmale, Université de Metz, Faculté des Lettres et Langues, Département ďAllemend, Ile du Saulcy, F ­ 57045 Metz CD 1, Frankreich Prof. Dr. Lars Schmelter, Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Europalehramt, Bismarckstraße 10, 76133 Karlsruhe Dr. Thérse Studer, Université de Genve, Département de langue et littérature allemandes, 12, boulevard des Philosophes, CH ­ 1211 Genve 4, Schweiz 256 Csaba Földes: Germanistik und ihre Variationen an der Schwelle neuer Herausforderungen im europäischen Hochschulraum. DaF 4/2005, 195­203. Im Rahmen der Schwerpunktdiskussion ,,Inlandsgermanistik versus Auslandsgermanistik" setzt sich der Beitrag mit derzeitigen Entwicklungen (Bologna-Prozess etc.) und den sich daraus ergebenden Aufgaben für unser Fach auseinander. Er stellt Überlegungen zu aktuellen Grundsatzfragen im Hinblick auf die Fachtypologie (,,eigenkulturelle", ,,fremdkulturelle" und ,,Anrainergermanistik"), die Konzeptualisierung, die Verortung und die Zielsetzung der Germanistik in ihren mannigfaltigen Ausprägungen an und diskutiert diese in ihrem mehrsprachigen und multikulturellen europäischen Referenzrahmen.. Erik Kwakernaak: Kasusmarkierung bei niederländischsprachigen Deutschlernenden. Entwurf eines Erwerbsszenarios. DaF 4/2005, 222­231. Die Spracherwerbsforschung geht davon aus, dass Fremd- bzw. Zweitsprachenlerner die grammatischen Strukturen der Zielsprache in natürlichen Sequenzen erwerben. Doch sie kann spezifische Fragen, z. B. zum Erwerb der deutschen Kasusmarkierungen durch Niederländischsprachige, nur bruchstückhaft beantworten. In diesem Beitrag wird angenommen, dass der Erwerb dieser Kasusmarkierungen bei Sprechern von Ausgangssprachen mit einem dem Niederländischen entsprechenden reduzierten Kasussystem (u. a. Französisch, Englisch) ähnlich verläuft. Mithilfe der Ergebnisse des DiGSProjektes wird versucht ein hypothetisches Erwerbsszenario zu entwerfen und zu begründen. Silke Jahr: Sprachhandlungstheoretische Ansätze bei der Textarbeit im DaF-Unterricht. DaF 4/2005, 215­221. Damit Fremdsprachenlerner kommunikative Ziele umsetzen können, sollten im FU Sprachhandlungsstrukturen an umfangreichen sprachlichen Äußerungen behandelt werden. Dafür wird ein Basisinventar an Sprachhandlungen vorgeschlagen, die leicht voneinander abgrenzbar sind. Übungen zu Texten verdeutlichen Anwendungsmöglichkeiten und zugleich die Kontextabhängigkeit der verwendeten sprachlichen Mittel. Günter Schmale: Wortspiele mit phraseologischen Ausdrücken in deutschen Talkshows. DaF 4/2005, 210­214. Anhand eines Korpus von 32 deutschen Talkshows werden die konversationelle Organisation und die kommunikativen Funktionen von vier verschiedenen Typen von Wortspielen untersucht: Aktualisierung einer fiktiven wörtlichen Bedeutung, Modifikation einer Phraseologismus-Konstituente, deren Gebrauch in einer anderen Konstruktion und situationsbedingte Wortspiele. Als konversationelle Grundfunktion der analysierten Wortspiele kann Belustigung des Publikums angenommen werden, gleichzeitig demonstriert der Talkmaster seine dominierende Rolle und seine rhetorische Kompetenz. Thérse Studer: Westschweizer Germanistik im Vergleich. DaF 4/2005, 203­209. Der Artikel vergleicht das Deutschstudium an den drei Westschweizer Universitäten mit der Auslandsgermanistik in anderen Ländern Europas. Dabei zeigt sich, dass das Fach Deutsch in der frankophonen Schweiz von neueren auslandsgermanistischen Entwicklungen weitgehend unberührt geblieben ist, unterscheidet es sich doch in Angebot und Selbstverständnis kaum von einer traditionell ausgerichteten ,,Inlandsgermanistik". Beate Rues: Varietäten und Variation in der deutschen Aussprache. DaF 4/2005, 232­237. Der Unterricht im Fach Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache soll dazu befähigen, mit Muttersprachlern ungehindert zu kommunizieren. Eine für den Muttersprachler möglichst unauffällige Aussprache ist hierzu optimal. Der Beitrag geht der Frage nach, welche gesprochene Form des Deutschen, welche Varietät und welche Ausspracheformen hierzu geeignet sind. Ein Varietätenmodell und typische Ausspracheformen des standardsprachlichen überregionalen Gesprächs werden vorge- stellt.