123 Seine Lektüre: Barockromane: Asianische Banise oderBlutiges, doch mutiges Pegu,168, von Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphauen, ein höfischer Roman. Des christlichen deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wundergeschichte, 1659, abenteurerlicher Ritterroman von Andreas Heinrich Buchholz (1607 – 1671) eine neue Sprache zu hören, aber sie entzückte und rührte ihn bis auf den Grund seines Herzens. Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des gerechten Himmels - war ein Ausdruck für ihn, dessen Schönheit er nicht genug zu rühmen wußte. Goldbedeckte Thürme - welche herrliche Kürze! und so bewunderte er das ganze Buch durch, die Menge von Metaphern, in welchen der Styl des Herrn von Ziegler gleichsam schwomme. Ueber alles aber schien ihm der Plan dieses Romans ein Meisterstück der Erdichtung zu seyn, und der Verfasser desselben war in seinen Augen der größte Poet, den jemals Teutschland hervorgebracht hatte. Als er im Lesen dahin kam, wo Balacin seine Banise im Tempel errettet, und den Chaumigrem ermordet, so überlief ihn der Schauer der Empfindung dergestalt, daß er fortlief, in einen geheimen Winkel niederkniete, und Gott dankte, daß Er doch endlich den Gottlosen ihren Lohn auf ihr Haupt bezahle, und die Unschuld auf den Thron setze. Er vergoß milde Thränen[1], und lase mit eben der Wärme auch den zweyten Theil durch. Dieser gefiel ihm noch besser; der Plan ist verwickelter, und im Ganzen mehr romantisch. Darauf lase er die zween Quartbände von der Geschichte des christlichen teutschen Großfürsten Hercules, und der Königlich Böhmischen Prinzessin Valiska, und dieses Buch gefiel ihm gleichfalls über die Maßen; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 62. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54895 (vgl. Stilling-Leben, S. 123-124)] 123/124 Was das für eine Glückseligkeit sey, eine solche neue Schöpfung von Geschichten zu lesen, gleichsam mit anzusehen, und alles mit den handelnden Personen zu empfinden, das läßt sich nur denen sagen, die ein Stillings Herz haben. Es war einmal eine Zeit, da man sagte: der Hercules, die Banise und dergleichen, ist das größte Buch, das Teutschland hervorgebracht hat. Es war auch einmal eine Zeit, da mußten die Hüte der Mannspersonendreyeckigt hoch in die Luft stehen, je höher, je schöner. Der Kopfputz der Weiber und Jungfrauen stand derweil in die Queere, je breiter, je besser. Jetzt lacht man der Banise und des Hercules, eben so, wie man eines Hagestolzen lacht, der noch mit hohem Hut, steifen Rockschößen, und ellenlangen herabhangenden Aufschlägen einhertritt. Anstatt dessen trägt man Hütchen, Röckchen, Manschettchen, liest Amourettchen, und buntschäckigte Romänchen, und wird unter der Hand so klein, daß man einen Mann aus dem vorigen Jahrhundert, wie einen Riesen ansieht, der von Grobheit strotzt. Dank sey's vorab Klopstock, und so die Reihe herunter bis auf - daß sie dem unteutschen tändelnden Ton die Spitze geboten, und ihn auf die Neige gebracht haben. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 63. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54896 (vgl. Stilling-Leben, S. 124-125)] 125 Alles, was er in der Natur sahe, jede Gegend idealisirte er zum Paradies, alles war ihm schön, und die ganze Welt beynah ein Himmel. Böse Menschen rechnete er mit zu den Thieren, und was sich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr böse in seinen Augen. Ein Mund, der anders sprach, als das Herz dachte, jede Ironie, und jede Satyre, war ihm ein Gräuel, alle andre Schwachheiten konnte er entschuldigen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 64. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54897 (vgl. Stilling-Leben, S. 125)] 128/129 Die Geschichte der wahnsinnigen Anna: Alles, was er in der Natur sahe, jede Gegend idealisirte er zum Paradies, alles war ihm schön, und die ganze Welt beynah ein Himmel. Böse Menschen rechnete er mit zu den Thieren, und was sich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr böse in seinen Augen. Ein Mund, der anders sprach, als das Herz dachte, jede Ironie, und jede Satyre, war ihm ein Gräuel, alle andre Schwachheiten konnte er ent-schuldigen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 64. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54897 (vgl. Stilling-Leben, S. 125)] »Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frauen, wie sie so an der Thür stund und zitterte: Kommt, Altmutter, und wärmt euch!« Sie kam herzu. Nun gieng sie auch wieder ganz bebend, kam und stand krumm neben Stillingen. »Sie gieng aber zu nah ans Feuer stehn; - ihre alte Lumpen fiengen an zu brennen, und sie wards nicht gewahr. Der Jüngling stund und sah das. - Er hätt's doch löschen sollen, nicht wahr, Schulmeister? - Er hätt's löschen sollen?« Stilling schwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte so eine dunkle Ahndung, die ihn sehr melancholisch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; sie sagte: »Nicht wahr, er hätte löschen sollen? - Gebt mir eine Antwort, so will ich auch sagen: Gott lohn euch!«Ja! erwiederte er, er hätte löschen sollen. Aber, wenn er nun kein Wasser hatte, nicht löschen konne! - Stilling stund auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er sich's nicht merken lassen. »Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den Augen heraus weinen sollen, das hätte so zwey hübsche Bächlein gegeben zu löschen.« Sie kam wieder und sah ihm scharf ins Gesicht; die Thränen stunden ihm in die Augen. »Nun, die will ich dir doch abwischen!« Sie nahm ihr weißes Schnupftüchlein, wischte sie ab, und setzte sich wieder still an ihren Ort. Alle waren still und traurig. Drauf giengen sie zu Bett. Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meynte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe für lauter Mitleid und Erbarmen zerspringen wollte. Er besann sich, was da wohl seine Pflicht wäre? - Sein Herz sprach für sie um Erbarmung, sein Gewissen aber forderte die strengste Zurückhaltung. Er untersuchte nun, welcher Forderung er folgen müßte? Das Herz sagte: Du kannst sie glückselig machen. Das Gewissen aber: Diese Glückseligkeit ist von kurzer Dauer, und dann folgt ein unabsehlich langes Elend darauf. Das Herz meynte: Gott könnte die zukünftigenSchicksale wohl recht glücklich ausfallen lassen; das Gewissen aber urtheilte: man müßte Gott nicht versuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er, um ein Paar Leidenschaften zweyer armer Würmer willen, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schicksale, wobey so viele andre Menschen interessirtsind, zerreißen und verändern solle. Das ist auch wahr! sagte Stilling, sprang aus dem Bett, und wandelte auf und ab, ich will freundlich gegen sie seyn, aber mit Ernst und Zurückhaltung.[Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 71. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54904 (vgl. Stilling-Leben, S. 128-130)] 134 ziemlich viele unter seinen Bauern, die ihm begonnten, recht feind zu werden. Die Ursache davon ist nicht zu entwickeln; Stilling war einer von denen Menschen, die niemand gleichgültig sind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn hassen; die erstern sahen auf sein gutes Herz, und vergaben ihm seine Fehler gern; die andern betrachteten sein gutes Herz als dumme Einfalt, seine Handlungen als Fuchsschwänzereyen, und seine Gaben als Prahlsucht.Diese wurden ihm unversöhnlich feind, und je mehr er sie, seinem Charakter gemäß, mit Liebe zu gewinnen suchte, je böser sie wurden; denn sie glaubten nur, es sey bloß Schmeicheley von ihm, und wurden ihm nur desto feindseeliger. Endlich begieng er eine Unvorsichtigkeit, die ihn vollends um die Preysinger Schule brachte, wie gut die Sache auch an seiner Seiten gemeynt war. Er band sich nicht gern an die alte gewöhnliche Schulmethode, sondern suchte allerhand Mittel hervor, um sich und seine Schüler zu belustigen; deswegen ersann er täglich etwas neues. Sein erfinderischer Geist fand vielerley Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen spielend beyzubringen. Viele seiner Bauern sahen es als nützlich an, andere betrachteten es als Kindereyen, und ihn als einen Stocknarren. Besonders aber fieng er ein Stück an, das allgemeines Aufsehen machte. Er schnitte weiße Blätter in der Größe wie Karten; diese bezeichnete er mit Nummern; die Nummern bedeuteten diejenigen Fragen des Heydelbergischen Catechismus, welche die nehmliche Zahl hatten; diese Blätter wurden von vier oder fünf Kindern gemischt, so viel ihrer zusammen spielen wollten, alsdann wie Karten umgegeben und gespielt; die größere Nummer stach immer die kleinere ab, derjenige, welcher am letzten die höchste Nummer hatte, brauchte nur die Frage zu lernen, die seine Nummer anwies, und wenn er sie schon vorhin gekonnt hatte, so lernte er nichts bis den andern Tag, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 78. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54911 (vgl. Stilling-Leben, S. 134-135)] 135 Nach der Entlassung, die er selbst einreichen sollte, um den Bauern zuvorzukommen und in Ehren entlassen zu werden, wieder bei seinem Vater yu Hause: 138 Stillings Melancholie, als er der Herbst beginnt- nach Wilhelm das Erbe seiner Mutter: Es war nunmehro Herbst, und die Feld-Arbeit mehrentheils vorbey, daher mußte er fast immer auf dem Handwerk arbeiten, und dieses war ihm auch lieber, seine Glieder konnten es besser aushalten. Dennoch aber fand sich seine tiefe Traurigkeit bald wieder, er war, wie in einem fremden Lande, von allen Menschen verlassen. Dieses Leiden hatte so etwas ganz besonders und unbeschreibliches; das einzige, was ich nie habe begreifen können, war dieses: So bald die Sonne schien, fühlte er sein Leiden doppelt, das Lichtund Schatten des Herbstes brachte ihm ein so unaussprechliches Gefühl in seine Seele, daß er für Wehmuth oft zu vergehen glaubte, hingegen wenn es regnigt Wetter und stürmisch war, so befand er sich besser, es war ihm, als wenn er in einer dunklen Felsenkluft säße, er fühlte dann eine verborgene Sicherheit, wobey es ihm wohl war. Ich hab unter seinen alten Papieren noch einen Aufsatz gefunden, den er diesen Herbst im October an einem Sonntag Nachmittag verfertiget hat; es heißt unter andern darinnen: Gelb ist die Trauerfarbe Der sterbenden Natur, Gelb ist der Sonnenstral; Er kommt so schief aus Süden, Und lagert sich so müde Langs Feld und Berge hin; Die kalte Schatten wachsen, Auf den erblaßten Rasen Wirds grau von Frost und Reif, Der Ost ist scharf und herbe, Er stößt die falben Blätter, Sie nieseln auf den Frost u.s.w. An einem andern Ort heißt es: Wenn ich des Nachts erwache, So heults im Loch der Eulen, Die Eiche saust im Wind. Es klappern an den Wänden, Die halb verfaulten Bretter, Es rast der wilde Sturm Dann ists mir wohl im Dunkeln, Dann fühl ich tiefen Frieden, Dann ists mir traurig wohl u.s.w. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 84. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54917 (vgl. Stilling-Leben, S. 138-139)] 139 Sein Freund Kaspar, der Eisenschmelzer, sein einziger Freund in Leindorf, der ihm Mut machen konnte: eine edle Seele, warm für die Religion, mit einem Herzen voller Empfindsamkeit. Der November hatte noch schöne Herbsttage, deswegen giengen Caspar und Stilling Sonntags Nachmittags spazieren, alsdann flossen ihre Seelen in einander über; besonders hatte Caspar eine veste Ueberzeugung in seinem Gemüth, daß sein Freund Stilling vom himmlischen Vater zu weit was anders, als zum Schulhaltenund Schneiderhandwerk bestimmt sey; er konnte das so unwidersprechlich darthun, daß Stilling ruhig und großmüthig beschloß, alle seine Schicksale geduldig zu ertragen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 87. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54920 (vgl. Stilling-Leben, S. 140-141)] 144 Mit diesem Abenteuer gekoppelt klingt die darauffolgende Anschuldigung viel bedrohlicher als sie sich letztendlich herausstellt: Dialekt als Mittel einer Desavouierung, Stillings Verteidigung ohne Anführungsstriche: Der Inspector räusperte sich, drehte sich gegen die Männer, und sprach: »Ist das air Schoolmaister?« Ja, Herr Oberprediger! »So! arächt! Ihr sayd also der Schoolmaister von Kleefeld?« Ja! sagte Stilling. » 'r sayd mer ain schöner Kerl! wärt wärth, daß man aich aus dem Land paitschte!« Sachte! sachte! redete der Präsident ein, audiatur et altera pars. »Herr Präsident! das k'hört ad forum ecclesiasticum. Sie habä da nichts z' sagä.« Der Präsident ergrimmte und schwieg. Der Inspector sahe Stilling verächtlich an, und sagte: »Wie 'r da stäth, der schlechte Mensch!« Die Männer lachten ihn hönisch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wollte sagen: wie Christus vor dem Hohenpriester! allein er nahms wieder zurück, trat näher, und sagte: was hab ich gethan? Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig! Der Inspector lachte hönisch, und erwiederte: »Als wenn 'r nit wüßt, was'r selbstan begangä hat! fragt air K'wissä!« Herr Inspector! mein Gewissen spricht mich frey, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 94. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54927 (vgl. Stilling-Leben, S. 145-146)] 146 Die Bauern (Rehkopf an deren Spitze) haben ihn auf dem Amt – direkt beim Inspektor Weinhold - verteidigt und wollten eine konkrete Anschuldigung hören. 150 Stilling bekam vom Pastor Goldmann eine Empfehlung an den Hofprediger Herrn Schneeberg in Lahnburg (Anmerkungsapparat: Oranienstein bei Dietz), der ihm eine Stelle als Bergwerkverwalter in Aussicht stellt. Diesem Gespräch ging eine Warnung des Richters Goldmann: 152/153 Nun will ich weißagen, was euch wiederfahren wird: Gott wird durch eine lange und schwere Führung alle eure eitle Wünsche suchen abzufegen; gelingt ihm dieses, so werdet ihr endlich nach vielen schweren Proben, ein glücklicher großer Mann, und ein vortrefliches Werkzeug Gottes werden! Wenn ihr aber nicht folgt, so werdet ihr euch vielleicht bald hoch schwingen, und einen entsetzlichen Fall thun, der allen Menschen, die es hören werden, in die Ohren gellen wird.« Stilling wußte nicht, wie ihm ward, alle diese Worte waren, als wenn sie Goldmann in seiner Seelen gelesen hätte. Er fühlte diese Wahrheit im Grund seines Herzens, und sagte mit inniger Bewegung und gefaltenen Händen: Gott! Herr Vetter! das ist wahr! ich fühl's, so wirds mir gehen. Goldmann lächelte, und schloß das Gespräch mit den Worten: Ich beginne zu hoffen, ihr werdet endlich glücklich seyn. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 108. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54941 (vgl. Stilling-Leben, S. 155-156)] 155 Hofprediger Herrn Schneeberg in Lahnburg: Lassen Sie Ihren äußern Aufzug und Betragen in Kleidung, Essen, Trinken und Aufführung, immer mittelmäßig bürgerlich seyn, so wird niemand mehr von Ihnen fordern, als Ihre Aufführung ausweist; komm ich in ein schön meublirtes Zimmer, bey einen Mann in kostbarem Kleide, so frag ich nicht lang eh, wes Standes er sey, sondern ich erwarte eine Flasche Wein und Confect; komm ich aber in ein bürgerlich Zimmer, bey einem Mann in bürgerlichem Kleide, ey so erwarte ich nichts weiter, als ein Glas Bier und eine Pfeife Toback. Stilling erkannte die Wahrheit dieser Erfahrung, er lachte und sagte: Das ist eine Lehre, die ich nie vergessen werde. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 112. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54945 (vgl. Stilling-Leben, S. 158)] 156 Zurück bei Goldmann in Rothhagen, der ihm doch von der Stelle abrät: O Vetter! Vetter! wo wills doch mit euch hinaus? - Das ist eine Stelle, die euch Gott im Zorn giebt; wenn ihr sie bekommt, das ist dergerade Weg zu eurem gänzlichen Verderben, und das will ich euch beweisen: sobald ihr da seyd, fangen alle Hofschranzen an, euch zu besuchen, und sich bey euch lustig zu machen; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 113. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54946 (vgl. Stilling-Leben, S. 159)] 157 man führt die Geistlichen nicht so leicht in Versuchung als andere Leute. Sie haben gut sagen! - Hört, Vetter! alle moralischen Predigten sind nicht einen Pfifferling werth, der Verstand bestimmt niemahlen unsre Handlungen, wenn die Leidenschaften etwas stark dabey interessirt sind, das Herz macht allezeit ein Mäntelchen darum, und überredet uns: schwarz sey weiß! - Vetter! ich sag euch eine größere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer starken Leidenschaft Gott liebt, den hilft alles moralisiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tüchtig, moralisch gut zu werden. Dieses sey euch ein Notabene, Vetter Stilling! und nun bitt ich euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter seinen ehrlichen Abschied, und bewillkommt die arme Nähnadel mit Freuden, so lang bis euch Gott hervorziehen wird. Ihr seyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn ihr auch nur ein Schneider seyd. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 114. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54947 (vgl. Stilling-Leben, S. 159-160)] 157 Auch Stilling sieht das ein: Ja, es ist wahr! - Mein Herz ist die falscheste Creatur auf Gottes Erdboden, immer meyn ich, ich hätte die Absicht nur mit meinen Wissenschaften Gott und dem Nächsten zu dienen - und wahrlich! - es ist nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu können. - O! wo krieg ich Kraft, mich selber zu überwinden? [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 115. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54948 (vgl. Stilling-Leben, S. 160)] 159 Zu Hause kann er es nicht aushalten: nach Michaelis 1760 kam er heim. Wenn er nun weiter nichts zu thun gehabt hätte, alsauf dem Handwerk zu arbeiten, so würde er sich beruhigt und in die Zeit geschickt haben; allein sein Vater stellte ihn auch ans Dreschen. Er mußte den ganzen Winter durch des Morgens früh um zwey Uhr aus demBett, und auf die kalte Dreschtenne. Der Flegel war ihm erschrecklich. Er bekam die Hände voller lichter Blasen, und seine Glieder zitterten für Schmerzen und Müdigkeit, allein das half alles nichts, vielleicht hätte sich sein Vater über ihn erbarmt, allein die Mutter wollte haben, daß ein jeder im Hause Brod und Kleider verdienen sollte. Dazu kam noch ein Umstand. Stilling konnte mit dem Schullohn niemals auskommen, denn der ist in dasigen Gegenden, ausserordentlich klein; Fünf und zwanzig Reichsthaler des Jahrs, ist das Höchste, was einer bekommen kann; Speise und Trank geben einem die Bauern um die Reihe. Daher können die Schulmeister alle ein Handwerk, welches sie in den übrigen Stunden treiben, um sich desto besser durchzuhelfen. Das war aber nun Stillings Sache nicht, er wußte in der übrigen Zeit weit was angenehmeres zu verrichten; dazu kam noch, daß er zuweilen ein Buch oder sonst etwas kaufte, das in seinen Kram diente, daher gerieth er in dürftige Umstände, seine Kleider waren schlecht und abgetragen, so daß er aussahe als einer der gern will und nicht kann. Wilhelm war sparsam, und seine Frau in einem noch höhern Grad; dazu bekam sie verschiedene Kinder nach einander, so daß der Vater Mühe genug hatte, sich und die Seinigen zu nähren. Nun glaubte er, sein Sohn wäre groß und stark genug, sich seine Nothdurft selbsten zu erwerben. Als das nun so nicht recht fort wollte wie er dachte, so wurde der guteMann traurig, und fieng an zu zweifeln, ob sein Sohn auch wohl endlich gar ein liederlicher Taugenichts werden könnte. Er fieng an(,) ihm seine Liebe zu entziehen … [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 118. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54951 (vgl. Stilling-Leben, S. 162-163)] 162 bei einem Schneidermeister in Florenburg (für einige Wochen) – Herbst 1761. Besuch bei der Großmuttger Margarethe, die ihm über ein weit zurüpckliegendes Gespräch mit ihrem seligen Mann erzählt: Ja! sagte er: Margrethe! wenn ich doch noch erleben mögte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm - wird noch in die Klemme kommen, so stark als er jetzt das Christenthum treibt, wird ers nicht ausführen, er wird ein frommer ehrlicher Mann bleiben, aber er wird noch was erfahren. Denn er spart gern, und hat Lust zu Geld und Gut. Er wird wieder heyrathen, und dann werden seine gebrechliche Füße dem Kopf nicht folgen können. Aber der Junge! der liebt nicht Geld und Gut, sondern Bücher, und davon läßt sichs im Bauernstand nicht leben. Wie die beyden zusammen stallen werden, weiß ich nicht! - Aber der Junge wirddoch am End glücklich seyn, das kann nicht fehlen. Wenn ich eine Axt mache, so will ich damit hauen; und wozu unser Herr Gott einen Menschen schafft, dazu will er ihn brauchen.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 122. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54955 (vgl. Stilling-Leben, S. 165)] 163 mit einemmahl überdachte er sein kurzes und mühseeliges Leben. Er sunk auf die Knie, weinte laut, und betete feurig zum Allmächtigen um Gnade und Erbarmen. Nun stund er auf, seine Seele schwomm in Empfindungen und Kraft; er setzte sich neben den Hollunderstrauch, nahm seine Schreibtafel aus der Tasche und schrieb: Hört ihr lieben Vögelein, Eures Freundes stille Klagen! Hört ihr Bäume groß und klein Was euch meine Seufzer sagen! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 124. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54957 (vgl. Stilling-Leben, S. 166-167)] 165 Seine sonderbare Gemützsbeschaffenheit in Florenburg war wohl auf die Tochter des Meisters, Lieschen, zurückzuführen: Er war traurig, aber mit einer so zärtlichen Süßigkeit vermischt, daß man wünschen sollte, auf solche Weise traurig zu seyn. Die Quellen von diesemseltsamen Zustand hat er nie entdecken können. Doch glaub ich die häußlichen Umstände seines Meisters trugen viel dazu bey; es war eine so ruhige Harmonie in diesem Hause; was einer wollte, das wollte auch der andere. Dazu hatte er auch eine große wohlgezogene Tochter, die man mit Recht unter die größten Schönheiten des ganzen Landes zählen mußte. Diese sung unvergleichlich, und konnte einen Vorrath von vielen schönen Liedern. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 127. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54960 (vgl. Stilling-Leben, S. 168)] 166 Lieschens Vision einer armen Mutter eines unehelichen Kindes: zusammen mit der wahnsinnigen Anne erinnert es mich an Viktorka in Babička. »Heinrich, ich kann und darf dir nicht sagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzählen: Es war einmahl ein Mädgen, das war gut und fromm, und hatte keine Lust zu unzüchtigen Leben; aber sie hatte ein zärtliches Herz, auch war sie schön und tugendsam. Diese gieng an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenster stehen, der Vollmond schien so schönin den Hof, es war Sommer, und alles draussen so still. Sie bekam Lust, noch ein wenig heraus zu gehen. Sie gieng still zur Hinterthür hinaus in den Hof, und aus dem Hof in die Wiese die daran stieß. Hier setzte sie sich unter eine Hecke in den Schatten, und sung mit leiser Stimme: Weicht quälende Gedanken!« (Dieses war eben das Lied, welches Liesgen den Sonntag Abend mit Stilling sung, als sie so ausserordentlich traurig wurde.) »Nachdem sie ein paar Verse gesungen hatte, kam ein wohlbekannter Jüngling zu ihr, der grüßte sie, und fragte: Ob sie wohl einklein wenig mit ihm die Wiesen herunter spatzieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er sie sehr nöthigte, so gieng sie mit. Als sie nun eine Strecke zusammen gewandelt hatten, so wurde dem Mädgen auf einmal alles fremd. Sie befand sich in einer ganz unbekannten Gegend, der Jüngling aber stund lang und weiß neben ihr, wie ein Todter der auf der Bahre liegt,und sah sie erschrecklich an. Das Mädgen wurde Todbange, und sie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnädig seyn möchte. Nun drehete sie der Jüngling auf einmahl mit dem Arm herum, und sprachmit hohler Stimme: Da sieh wie es dir ergehen wird! Sie sahe vor sich hin eine Weibsperson stehen, welche ihr selbsten sehr ähnlich oder wohl gar gleich war; sie hatte alte Lumpen anstatt der Kleider um sich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben so ärmlich aussahe. Sieh! sagte der Geist ferner! das ist schon das dritte unehliche Kind das du haben wirst. Das Mädgen erschrak und sunk in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich selber kam, da lag sie in ihrem Bett uns schwitzte vor Angst, sie glaubte aber, sie hätte geträumt. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 129. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54962 (vgl. Stilling-Leben, S. 169-170)] 168 Pastor Stollbein bietet ihm die Stelle des Rectors an der latzeinischen Schule zu Florenburg. Stilling wird aber Opfer der Rivalitäten des Pastors mit den Bürgern, die ihm auch – unabhängig voneinander – die Stelle anbieten. Stilling beginnt Nur der undurchsichtige reiche Franzose sieht gleich diese Entwicklung voraus: Er zog also auf Neujahr 1762 nach Florenburg bey dem Schöffen Keylhof ein, und fieng seine lateinische Information an. Als er einige Tage da gewesen war, that ihm Herr Stollbein in geheim zu wissen, er möchte einmal zu ihm kommen, doch so, daß es niemand gewahr würde. Dieses geschah auch an einem Abend in der Dämmerung. Der Pastor freute sich von Herzen, daß die Sachen eine solche Wendung nahmen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 135. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54968 (vgl. Stilling-Leben, S. 174)] 171/172 Unter denen, die bey Keylhof kamen, war ein gar sonderlicher Mann, ein Franzos von Geburt, der hieß Gayet. So wie nun niemand wußte, wo er eigentlich her war, desgleichen ob er lutherisch oder reformirt war, und warum er des Sommers eben sowohl wolleneOber-Strümpfe mit Knöpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, so wußte auch niemalen jemand, mit welcher Parthie ers hielte. Stilling hatte diesen wunderlichen Heiligen schon kennen gelernt, als er in die lateinische Schule gieng. Gayet konnte niemand leiden, der ein Werkeltags-Mensch war; Leute, mit denen er umgehen sollte, mußten Feuer undTrieb und Wahrheit und Erkenntniß in sich haben; wenn er so jemand fand, dann war er offen und ver-traulich. Da er nun zu Florenburg niemand von der Art wußte, so machte er sich ein Plaisir daraus, sie alle zusammen, den Pastor mitgerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachsen und Informator bey Keylhofwar, so kam er oft hin, um ihn zu besuchen. Dieser Gayet saß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieses war aber nie sein Ernst, sondern nur, seine Freude an ihnen zu haben. Einsmals, als ihrer sechs bis acht recht ernstlich an der Schulsache überlegten, fieng er an: »Hört, ihr Nachbarn, ich will euch was erzählen! Als ich noch mit dem Kasten auf dem Rücken längs die Thüren gieng und Hüte feil trug, so komm ich auch von ungefehr einmal ins Königreich Siberien, und zwar in die Hauptstadt Emugi; nun war der König eben gestorben, und die Reichsstände wollten einen andern wählen. Nun war aber einUmstand dabey, worauf alles ankam; das Reich Kreuz-Spinn-Land gränzt an Siberien, und beyde Staaten haben sich seit der Sündfluth her immer in den Haaren gelegen, bloß aus der Ursache: Die Siberier haben lange in die Höh stehende Ohren, wie ein Esel, und die Kreuz-Spinn-Länder haben Ohrlappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beyden Völkern; jedes wollte behaupten, Adam hätte Ohren gehabt wie sie. Deswegen mußte inbeyden Ländern immer ein rechtgläubiger König erwählt werden; das beste Zeichen davon war, wenn jemand gegen die andere Nation einen unversöhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, so hatten die Siberier einen vortreflichen Mann im Vorschlag, den sie nicht so sehr wegen seiner Rechtgläubigkeit, als vielmehr wegen seiner vortreflichen Gaben zum König machen wollten. Nur er hatte hoch in die Höhe stehende Ohren, und auch herabhangende Ohrlappen, er trug also in dem Fall auf beyden Schultern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man wählte ihn. Nun beschloß der Reichsrath, daß der König mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten König zu Felde ziehen sollte; das geschah. Allein, was das einen Allarm gab! - Beyde Könige kamen ganz friedlich zusammen, gaben sich die Hände und hießen sich Brüder. Alsofort setzte man den König mit den Zwitterohren wieder ab, und schnitte ihm die Ohren ganz weg, nun konnt er laufen.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 137. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54970 (vgl. Stilling-Leben, S. 175-176)] 176 Versöhnung Stollbeins, der seinen tod nahe wußte, mit Johann Stilling. 176 176 Abschied vom Vater, Stilling zieht auf die Wanderschaft:Aber - du - wenn ich deine ersten Jahre - und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte - und du bist nun fort - so ists um Stillings Freude geschehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten.« - Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beyde Hände vor die Augen, krümmte sich ineinander und weinte laut. Diese Scene war Stilling unausstehlich, er wurde ohnmächtig. Als er wieder zu sich selber kam, stand sein Vater auf, drückte ihm die Hand und sagte: Heinrich! nimm von niemand Abschied, geh, wann dir der himmlische Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehst, schreib mir oft, wie esdir geht! Nun eilte er zur Thür hinaus. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 147. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54980 (vgl. Stilling-Leben, S. 182-183)] 179 Reisepaß 180 Abschiedsgedicht als Schluß des zweiten Teils: Wohlan! ich wende meine Blicke Nach unbekannten Bergen hin, Und schaue nicht nach euch zurücke, Bis daß ich einst vollendet bin. Erbarmer! leite mich im Segen, Auf diesen unbekannten Wegen! Nun stund Stilling auf, trocknete seine Thränen ab, nahm seinen Stab in die Hand, den Reisesack auf den Rücken, und wanderte über die Höhe ins Thal hinunter. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 152. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54985 (vgl. Stilling-Leben, S. 186)] ------------------------------- [1] Vgl. Walter Erhart/Britta Hermann, 506: die Empfindsamkeit, …in der bürgerilche Männer nicht wenige der später als “weiblich” gekennzeichneten Praktiken entwickeln, sich durch weinen und Gefühl ihrer Menschlichkeit versichern sowie Zärtlichkeit und Sich-Selber-Fühlen als Distinktionsmerkmale gegenüber aristokratishcer Etikette und frühbürgerlichem Verstandesdenken einsetzten. Im Gegenzug aber werdem dem aristokratischen Standesmenschen die Züge des verweichelichekten “weibischen” Höflings verliehen: