Um kurz meine weiteren Rassen – und Milieubeziehungen klarzustellen: als ich ein halbes Jahr alt war, zogen meine Eltern nach Sellin in der Neumark; dort wuchs ich auf. Ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten, drei Stunden östlich der Oder. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden mehr dort kenne, Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Dort wuchs ich mit den Dorfjungen auf, sprach platt, lief bis zum November barfuß, lernte in der Dorfschule, wurde mit den Arbeiterjungen zusammen eingesegnet, fuhr auf den Erntewagen in die Felder, auf die Wiesen zum Heuen, hütete die Kühe, pflückte auf dem Bäumen die Kirschen und Nüsse, klopfte Flöten aus Weidenruten im Frühjahr, nahm Nester aus. Ein Pfarrer bekam damals von seinen Gehalt noch einen Teil in Naturalien, zu Ostern musste ihm jede Familie aus der Gemeinde zwei bis drei frische Eier abliefern, ganze Waschkörbe voll standen in unseren Stuben, im Herbst jeder Konfirmierte eine fette Gans. Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort, ein uralter gemauerter Backofen lag abseits im Garten. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum. Am zweiten Ostermorgen schlugen wir uns mit frischen Reisern wach, Ostaras Wecken, alter heidnischer Brauch; Pfingsten stellten wir Maien vor die Haustür und Kalmus in die Stuben. Dort wuchs ich auf, und wenn es nicht die Arbeiterjungen waren, waren es die Söhne des ostelbischen Adels, mit denen ich umging. Diese alten preußischen Familien, nach denen in Berlin die Straßen und Allen heißen, ganze Viertel, die berühmten friderizianischen und dann die bismarckschen Namen, hier besaßen sie ihre Güter, und mein Vater hatte einen ungewöhnlichen seelsorgerischen Einfluss gerade in ihren Kreisen. Alle diese Geschlechter der Schwedter Dragoner und der Fürstenwalder Ulanen, die Traditionshäuser der Bonner Preußen und der Heidelberger Sachsenpreußen, ihre Söhne war der zweite Schlag, mit dem ich groß wurde, später zum Teil in gemeinsamer Erziehung, und mit dem mich noch heute eine vielfältige Freundschaft verbindet. Brandenburg blieb auch weiter meine Heimat. Das Gymnasium absolvierte ich in Frankfurt a. d. O., zum Glück ein humanistisches, studierte dann auf Wunsch meines Vaters Theologie und Philologie, zwei Jahre lang entgegen meiner Neigung; endlich konnte ich meinen Wunsch folgen und Medizin studieren. Es war das dadurch möglich, dass es mir gelang, auf die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militär-ärztliche Bildungswesen in Berlin aufgenommen zu werden, auf das namentliche Söhne von Offizieren und Beamten zu Sanitätsoffizieren herangebildet werden. Eine vorzügliche Hochschule, alles verdanke ich ihr![1] Um zu Ende zu kommen: nachdem ich approbiert und promoviert hatte, kam ich als Militärarzt erst zum Infanterieregiment 64 nach Prenzlau, dem Regiment von Mars-la-Tour, dann zum 3. Pionierbataillon nach Spandau, dem Bataillon vom Übergang nach Alsen. Mit der Waffe hatte ich beim 2. Garderegiment zu Fuß gedient. Ich musste jedoch schon im ersten Jahr meiner Dienstzeit wieder ausscheiden, da sich bei einer Korpsübung, bei der ich den ganzen Tag im Sattel sitzen musste, ein angeborener Schaden herausstellte, der mich sowohl feld- wie garnison-dienstunfähig machte. Ich nahm den Abschied. In diesem Jahr meiner aktiven Offizierszeit erschien mein erster Gedichtband: Morgue, bei Alfred Richard Meyer in Wilmersdorf, der im gleichen Jahr, 1912, Marinetti, Carossa, Lautensack mit ihren ersten Veröffentlichungen herausbrachte. Schon diese erste Gedichtsammlung brachte mir von seiten der Öffentlichkeit den Ruf eines brüchigen Roués ein, eines infernalischen Snobs und des typischen – heute des typischen jüdischen Mischlings, damals des typischen – Kaffeehausliteraten, während ich auf den Kartoffelfeldern der Uckermark, die Regimentsübungen mitmarschierte und im Döberitz beim Stab des Divisionskommandeurs im englischen Trab über die Kiefernhügel setzte. Ich nahm den Abschied und dachte, es sei für immer; ich sah nicht voraus, wie bald ich den Waffenrock mit den Äskulapstäben wieder würde anziehen und vier Jahre lang ununterbrochen würde tragen müssen: am 1. August 1914.[2] Der Antisemitismus ist eine so ernste Frage, dass ich mir erlaube, ihm einige weitere Sätze zu widmen. Ein >Judenproblem< hatte ich nie gekannt. Es wäre völlig ausgeschlossen gewesen, dass in meine Vaterhaus ein antisemitischer Gedanke gefasst oder ausgesprochen worden wäre, ein Gedanke gegen ein Volk, aus dem Christus hervorgegangen war, und mein Vater hielt, um 1900, den > Vorwärts <, kein Stöckersches Blatt – den > Vorwärts < in einem Dorf Ostelbiens, damals ein starkes Stück! Auf der Schule, während des Studiums war es nicht anders. Auf der militärärztlichen Akademie, der ich meine Ausbildung verdanke, gab es nicht wenige > Mischlinge <, aber man erfuhr das erst nach 1933, als sie aus den Listen der Sanitätsoffiziere gestrichen werden mussten, vorher hatte sich niemand um diese Herkunftsfragen gekümmert. In den entscheidenden Jahren hatte ich dann in Berlin viele jüdische Bekannte. Derjenige Arzt, dem ich körperlich und seelisch die meiste Hilfe verdankte, war eine jüdische Ärztin. Der einzige Mensch, der mir in den Jahren um 1930 wirklich nahe stand, mit dem ich am häufigsten meine damaligen Junggesellenabende verbrachte, der einzige, den ich vielleicht als Freund bezeichnen könnte, war ein Jude, auch während meiner Wehrmachtsjahre hielt das an und heute – von New York aus – ist es nicht anders. Betrachte ich das Judenproblem statistisch, würde ich sagen, während meiner Lebensperiode sah oder las ich drei Juden, die ich als genial bezeichnen würde: Weininger, Else Lasker – Schüler, Mombert. Als Talente allerersten Ranges würde ich nennen: Sternheim, Liebermann, Kerr, Hoffmansthal, Kafka, Döblin, Carl Einstein, dazu Schönberg und dann kam die unabsehbare Fülle anregender, aggressiver, sensitiver Prominenten, von denen ich einige kennenlernte: S. Fischer, Flechtheim, Cassirer, die Familie Ullstein – meine Auswahl ist gering und unzulänglich, ich verkehrte nicht viel in hohen Kreisen.[3] Aber noch einen Gedanken muss ich aussprechen, er ist mir zu oft gekommen, wenn ich an 1933 zurückdachte: wenn die, die dann Deutschland verließen und noch heute so sehr auf uns herabsehen, so klug und so weitsichtig waren, wie es Klaus Mann ja ohne Zweifel war und wie es viele von den anderen vielleicht auch waren – warum haben sie das Unheil nicht von sich und von uns abgewendet? Ihnen gehörte die Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit hörte ihnen zu, sie hatten Beziehungen zu Braun, Severing, Brünning, ihnen standen Teile der prominenten Presse zur Verfügung, ebenso Theater, gewisse Botschaften und internationale Gremien, aber außer dem berühmten Vortrag von Thomas Mann in der Berliner Philharmonie 1932 entsinne ich mich keiner tatsächlichen Aktion von ihrer Seite – warum haben sie, wenn sie Bescheid wussten, das Unheil nicht abgewendet von sich, von uns, von Europa, von der ganzen Welt, konnten vielleicht auch sie die Macht nicht sehen…oder sollte das dann Kommende doch tatsächlich unabwendbar, eine Art Geologie, gewesen sein?[4] ------------------------------- [1] Benn Gottfried: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstausdrücke. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH. Frankfurt am Main, 1984. S. 360 -361 [2] Ebda. S. 362-363 [3] Ebda. S. 397-398 [4] Ebda. S. 411-412