Harro Segeberg: Pietistische Autobiographien und Bekenntnisbücher Wer die pietistischen Autobiographien und Bekenntnisbücher, Erweckungs- und Bekehrungsgeschichten liest, die zum Zwecke der »Erbauung« des inneren gottgefälligen Menschen verfaßt wurden, der begreift, daß für solche Frömmigkeit reflektierende Selbstbespiegelung als Weltabkehr im Sinne der Erneuerung und praktischen Weltverwandlung (Missionsgedanke) und als Weltflucht im Zeichen eitlen Leerlaufs bis hin zur schwärmerischen Ich-Auflösung dicht beieinander liegen. Das gilt für die in die repräsentative Sammlung von Johann Heinrich Reitz Historie der Wiedergebohrnen (Itzstein 1717) aufgenommenen Selbstbiographien und die 20000 im Herrnhuter Archiv aufbewahrten Lebensbeichten ebenso wie für die Paradigmen der Gattung: A. H. Francke, Anfang und Fortgang seiner Bekehrung, von ihm selbst beschrieben (1692); J. W. Petersen, Lebens-Beschreibung (1719); Adam Bernd, Eigene Lebensbeschreibung (1758); J. S. Semler, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt (1781); A. G. Spangenberg, Lebenslauf [. . .] von ihm selbst aufgesetzt (1784) sowie die im pietistischen Geist verfaßten Tagebuchaufzeichnungen von Lavater, Schubart, Moser, Haller, Hamann u. a. Diese Selbstbetrachtungen zeichnen sich formal durch Uniformität aus, inhaltlich bewegen sie sich in der angedeuteten widersprüchlich weitgespannten Alternative. Einerseits die subjektiv rationale Innerlichkeit als Ort der sich selbst gewissen unmittelbaren Gotteskindschaft, die, je mehr das Ich an die Stelle Gottes tritt und der psychologische Prozeß der Gottessuche in den Dienst des innerweltlichen Selbstbewußtseins genommen wird, über intensive Gewissenspflege kultur- und zivilisationskritisch verfährt (Gellert, Rousseau, Wieland, Jung-Stilling, U. Bräker, K. Ph. Moritz). Andererseits die subjektiv willkürliche Innerlichkeit, die gegenüber den endlichen Widerständen in Staat und Gesellschaft ihrer gottunmittelbaren Tiefe nicht Herr wird, sich selbst für das größte Wunder hält und jede mögliche Wirklichkeitskorrektur einbüßt; schließlich sprachlosen Schicksalsfiguren zum Opfer fällt (Hypochondrie, Melancholie, Außer-sich-sein, Raserei). Beispiele hierfür sind die krisenhaften Lebensgeschichten der genialischen Romanhelden im Umkreis des Sturm und Drang. Zwischen aktiver Welteroberung und passiver Weltabkehr kommen im Zuge der Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde recht unterschiedliche religiöse, wissenschaftliche und von den Ansprüchen der empfindsamen Moral angeregte gesellschaftskritische Motive bürgerlicher Lebenswirklichkeit zu Wort. Dabei werden die Selbstbiographien der Gläubigen, der Gelehrten, der Beamten und Schriftsteller aufgrund erfahrungstheoretischer Nutzung der epischen Fiktion und bestimmter narrativer Strukturen zunehmend literarisiert: die Grenzen zwischen autobiographischem Erbauungsbuch und empfindsamem Roman schieben sich ineinander. In sprachlicher Hinsicht charakterisiert den Pietismus ein ausgeprägter Sinn für Genesene, seelisches Geschehen, subjektive Entwicklungsgeschichte, jeweils bezogen auf das religiöse Erlebnis der Liebe zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Hoffnung. Davon zeugen neben den häufigen Verbalsubstantiven auf -ung (Eingebung, Entäußerung, Verbergung, Absterbung) und adjektivisch gebrauchten Partizipien (mitleidend, durchdringend; eingekehrt, geneigt, aufgeweckt) besonders die bewegungshaltigen Verben in der Sonderform der dynamisierenden, meist richtunggebenden Präfixbildung (ein-, hinein-, durch-, hin-, hinauf-, nach-, entgegen-, aufwärts-, empor-). Klopstock sowie der Sturm und Drang sind davon beeinflußt worden. Als die Geschichte eines originellen Charakters aus dem ursprünglichen Volke begrüßen die Sturm-und- Drang-Autoren den ersten Teil der Autobiographie Johann Heinrich Jungs Heinrich Stillings Jugend (1777 von Goethe herausgegeben). In der dritten Person erzählt der Verfasser von sich selbst und seiner Kindheit unter Bauern, Kohlenbrennern und Handwerkern. Lyrische, epische und dramatische Partien wechseln einander ab. Eingestreute Märchen, Fabeln und Sagen kommen dem Interesse an Volksdichtung entgegen. In der bekenntnishaften Selbstbiographie, die – ausgehend von einem Bekehrungserlebnis – das Leben als Weg zu Gott und in gefühlsmäßiger Hingabe an seine Leitung schildert, entwickelt der Pietismus eine literarische Form, an die die Seelenanalyse in den Romanen von Empfindsamkeit und Sturm und Drang anknüpfen kann. Jung-Stilling selbst will »in einem romantischen blumichten Kleide« zunächst den Straßburger Autoren, dann einem breiten Publikum »die Fußstapfen der göttlichen Fürsicht... auf eine angenehme Art« zeigen (Antwort auf einen Leserbrief, 1779). Die Außenwelt wird dabei nur als Grundlage zur Entfaltung der individuellen Innerlichkeit, als Mittel göttlichen Handelns in und am Subjekt einbezogen. Die Autobiographie Die Autobiographie als literarische Form der Selbstdarstellung verdankt ihr Entstehen einem sozialhistorischen Vorgang: der Auflösung ständischer Gesellschaftsformen. Denn die Idee einer autonomen Individualität, die sich in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft heranbildet, konnte anders nicht entstehen. Funktion und Wert des Einzelnen waren in traditionalen Gesellschaften klar definiert und unabänderlich vorgegeben durch die Zugehörigkeit zu Ständen und korporativen Verbänden; die Eingliederung in diese Welt vollzog sich mit Hilfe institutionalisierter Machtordnungen, die – poetisch verklärt – zum Beispiel als Artusrunde oder Gralsritterschaft in die Literarhistorie eingegangen sind. Die bürgerliche Autobiographie dagegen beruht auf der Annahme einer unvermeidlichen Spannung zwischen Ich und sozialer Umwelt. Diese Form der Selbstdarstellung beschreibt daher das Hineinwachsen des Ichs in die Gesellschaft als Prozeß der Individuation. In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Rollenerwartungen findet der Einzelne zur eigenen unverwechselbaren Identität, zur Übereinstimmung mit sich selbst, bei der gesellschaftliche Erwartung und subjektiver Anspruch in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt sind. Soziale Grundlage der literarischen Gattung ist – seit ihrem Entstehen in der italienischen Renaissance – der qualitative Gesellschaftswandel vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter: nicht mehr Geburt, sondern individuelle Leistung, als Kaufmann, Unternehmer oder Künstler, entscheiden über Rang, Ansehen und Geltung unter den Mitmenschen. Literarische Selbstdarstellung also entstand als spezifisch bürgerliche Autobiographik. Für die deutsche Entwicklung galt lange Goethes Dichtung und Wahrheit als glanzvolle literarische Spiegelung einer geglückten selbstbewußten Individuation, die den Aufstieg des jungen Goethe zum führenden Dichter der Zeit schildere. Davon abweichende Beispiele der Selbstdarstellung wurden kaum in ihrem spezifischen Anspruch wahrgenommen. Die künstlerische Leistung des Weimarer Klassikers krönte – so gesehen – eine Gattungsgeschichte, die an der Wende zum 18. Jahrhundert mit sehr viel anspruchsloseren und sehr nüchternen Zweckformen begonnen hatte: der religiösen Autobiographie des Pietismus, der Berufsautobiographie berühmter Gelehrter oder Popularautoren und den abenteuerlichen Lebensgeschichten von Pilgern, Kaufleuten, Handwerksburschen oder Soldaten. Pietistische und Gelehrtenautobiographie verschränkten sich dabei schon früh; die religiöse Konfession wurde ergänzt durch den Bericht über das erfolgreiche Wirken als Schulmann, Prediger oder Theologieprofessor. Während sich diese Typenmischung in den Lebensgeschichten prominenter Pietisten immer mehr säkularisierte, steigerte sich die religiös motivierte Erforschung der eigenen Innerlichkeit zur Bekenntnisliteratur pietistischer Tagebücher und Seelenprotokolle, die zur Verständigung innerhalb einer engeren Gemeindefrömmigkeit bestimmt waren. Die wissenschaftliche Seelenanalyse der Spätaufklärung – noch heute als Vorform empirischer Psychologie bedeutsam – entwickelte sich jedenfalls in erklärter Distanz zur pietistischen Frömmigkeit. Im Sammelwerk Gnothi sauton [= Erkenne Dich selbst] oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793), das Karl Philipp Moritz (1756-1793) zusammen mit K. F. Pockels und S. Maimon herausgab, wurden die Selbstbeobachtungen der Pietisten, die zum Teil auch als Mitarbeiter gewonnen wurden, überwiegend als Material zur Kritik an »Religionsempfindelei« und religiöser Hypochondrie verwendet. Im empirischen Interesse ist Moritz seinen Zeitgenossen Forster und Lichtenberg verwandt: Wissenschaft verfuhr hier vorurteilsfrei, unbelastet von Autorität und überliefertem Glauben und war gleichzeitig verknüpft mit literarischer Praxis. Ohne die wissenschaftliche Erkenntnisschärfe von Moritz ist dessen autobiographisches Werk nicht denkbar. Exemplarisch hat der Verfasser in den neurotischen Störungen seiner Lebensgeschichte die ökonomischen und sozialen Druckverhältnisse seiner Zeit erhellt. Die distanzierenden Momente der autobiographischen Erzählerrolle, in welcher der Autor seine eigene Persönlichkeitsbildung aus der erinnernd-vorgestellten Rückschau entwickelt, weitet Moritz aus zur Fiktionalisierung der eigenen Person in der Romanfigur Anton Reiser. Der Abstand des Erzählers begünstigt die objektivierende Sehweise. In die literarisch gestaltete Empirie spielt die kühle Strenge der wissenschaftlichen Analyse hinein; die Sprache des Erzählers argumentiert, wenn sie kommentiert, auffällig häufig begrifflich-abstrakt. Besonderes Augenmerk richtet Moritz auf die Verflechtung von äußerem und innerem Druck. Die pietistisch-sektiererische Frömmigkeit des Vaters und seine fast sadistischen Erziehungsmethoden werden sichtbar als Reflexhandlungen eines verarmten, gedrückten und verachteten Kleinbürgers. Moritz führt mit seinen Schustern, Hutmachern, Oboisten und Essigbrauern Angehörige einer Schicht in die Literatur ein, die bisher, auch im Roman, nicht als literaturfähig galt. An der Einförmigkeit ihres Handwerkerdaseins wird anschaulich, wie Herkommen und überlieferter Brauch die wirtschaftliche Emanzipation (etwa durch Wettbewerb) verhindern. Mit selbstkritischer Schärfe arbeitet Moritz heraus, wie der neurotische Selbst- und Weltverlust der Romanfigur, bei der stets Verzweiflung und Allmachtsphantasien miteinander wechseln, die Flucht in die fiktionalen Welten der Literatur nahelegen und Reisers Faszination für deren Versinnlichung auf der Theaterbühne erklären. Der Anton Reiser wird zum Theaterroman, mit scharf gesehenen Episoden aus dem zeitgenössischen Theaterleben. Darin ist der Reiser, trotz aller Unterschiede, Goethes Wilhelm Meister verwandt. Die Konzentration auf die zergliedernde Introspektion verbindet Moritz zwar mit dem Erziehungsroman seiner Zeit. Doch die Grundtendenz des Reiser läuft auf die Desillusionierung der aufklärerischen Bildungsidee hinaus: Entwicklung, auch im Sinne einer nur partiellen Vervollkommnung, findet nicht statt. Moritz veröffentlichte den autobiographischen Roman zwar als anerkannter Ästhetiker und Universitätsprofessor. Dennoch verzichtet der Erzähler auf ein sozial- integratives Lösungsmodell. Nichts stört daher die Schlüssigkeit der Analyse, in der Moritz für sich selbst und den Leser seine eigene Entwicklung auf einer bestimmten Stufe gleichsam aufgehalten hat. Nur im Erzählerkommentar sind Reisers Fehlreaktionen gekennzeichnet. Moritz' weitere Entwicklung ist damit angedeutet. Der Eigennutz der Reiserschen Kunstliebe wird vom »echten Kunsttrieb« getrennt: Moritz bereitet seine frühklassische Ästhetik vor, die die Autonomie und Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks betont. Entsprechende Grundgedanken seiner 1788 entstandenen Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen sind in die Schlußpassagen des Romans eingearbeitet. Die Romane um Andreas Hartknopf (Andreas Hartknopf. Eine Allegorie 1786; Andreas Hartknopfs Predigerjahre, 1790) markieren dagegen den Abstand Moritz' zu den militaristischen Spielarten der pädagogischen Spätaufklärung (vor allem die Philanthropisten werden hart attackiert) und kündigen gleichzeitig mit ihrer Abkehr vom Stil psychologischer Analyse den Übergang zu symbolisch- verdichteten Darstellungsformen an. * * * Doch zurück zur Autobiographie. Je mehr sie sich der plebejischen Lebenswelt nähert, desto deutlicher schwindet der Anspruch individueller Bedeutsamkeit. »Was anders, als ich, nicht Ich«, mit dieser orthographischen Reflexion grenzt sich Ulrich Bräker (1735-1798) mit seiner Darstellung: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (1789) vom großen Vorbild Stilling und auch von Rousseau ab. Das Ich der Autobiographie versteht sich hier als Spiegel der Zeit und nicht als Sujet einer anspruchsvoll-individuellen Lebensgeschichte, die sich als unwiederholbar-einzigartig empfände. Als Hirtenjunge und Tagelöhner unter Kleinbauern und Hausierern aufgewachsen, wird Bräker durch die List preußischer Werber in die Armee Friedrichs II. verschlagen, aus der er in der Schlacht bei Lowositz (1756) desertiert; zurückgekehrt in die Schweizer Heimat, erliegt er als Garnhausierer und Heimweber der Konkurrenz von Großhändlern, Verlegern und Baumwollfabrikanten. Hart stoßen sozialkritische Realitätserkenntnisse und pietistische Überzeugung aufeinander. Hungersnöte sind als »goldene Zeit... für Händler, Becken und Müller« erkannt und stellen gleichzeitig das »Vertrauen auf die göttliche Vorsehung« auf die Probe. Seine Unfähigkeit zur Tugend asketischer Sparsamkeit, die den einmal erzielten Gewinn nicht aufzehrt, sondern in gewinnbringende Geschäfte investiert, wird von Bräker als sündhaftes Versagen erlebt. Am weitesten reicht die Einsicht, wenn der Plebejer ganz aus seiner Sozialperspektive die »Großen« der Welt beurteilt; so bereitet ihm die Flucht aus dem preußischen Heer keine Gewissensbisse. Das Wüten friderizianischer Soldaten hat Bräker nicht nur präzis beschrieben, sondern auch als Resultat sadistischer Züchtigungsrituale, erniedrigender Disziplinierung und kärglicher Besoldung erkannt. Dem ambitionierten Autodidakten verhilft das Schreiben als Reflexion seiner gesellschaftlichen Leiderfahrung häufig zu neuem Lebensmut; der Übersetzer und Kommentator von Shakespeare-Dramen (Etwas über William Shakespeares Schauspiele, 1780), der Autor, der sich in der traditionsreichen Gattung der Totengespräche versucht (Gespräch im Reiche der Toten, 1788), erfährt jedoch auch die prekäre Lage desjenigen, der zwischen die Klassengrenzen gerät: dem in der Toggenburger Moralischen (Lese-) Gesellschaft nur als Außenseiter aufgenommenen Plebejer antworten in seiner eigenen Lebenswelt Hohn und Spott über seine ganz und gar nutzlose Lese- und Schreibsucht, die vom alltäglichen Gewerbe nur abhalte. Bräker schließt die Autobiographie resigniert: »Siehst du Junge, – siehst, wies einem geht in der Welt – wann er nicht auf seinem Posten bleibt.« * * * Die Kenntnis von Armut, Elend und dumpfer Passivität, der »dicksten Finsternis auf den weimarischen Dörfern«, prägt in Friedrich Christian Laukhards (1758-1822) Schrift Leben und Schicksale (5 Tle., 1792-1802) das skeptische Urteil des Autors über den äußeren Glanz der Weimarer Kultur. Die selbstkritische autobiographische Bestandsaufnahme verbindet sich mit memoirenhafter Stoffülle, die durch den Untertitel zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge didaktisch beglaubigt werden soll. Die abenteuerliche Lebensgeschichte wird hier zur Zeitgeschichte; Laukhard demonstriert den Erkenntnisreichtum einer Darstellungsmethode, bei der das Ich in einer Mischung aus impressionistisch-naiver Offenheit und reflexiv-scharfsichtiger Kommentierung den Eindrücken der Welt sich aussetzt. Fülle wie Reichweite der Realitätssicht legen das Urteil nahe, daß die Widersprüche der Epoche kaum anders als in den offenbaren Zerrissenheiten dieser Selbstdarstellung zum unverfälschten Ausdruck kommen konnten. Stets Objekt eines wechselvollen Schicksals, in das auch eigene Leichtfertigkeit den Autor immer tiefer verstrickt, schildert Laukhard Niederungen des Lebens, auf die von den Höhen der geistig-literarischen Kultur am Ende des Jahrhunderts kaum noch ein Blick fällt: das rüde Leben und Treiben der Studenten, deren Ausschweifungen und Prügeleien für ein angepaßtes Berufsleben im voraus entschädigen müssen, die Enge der deutschen Durchschnittsuniversität, deren Professoren die mangelnde Qualität ihrer Lehre in strenger Schematisierung zu verbergen bemüht sind, und vor allem: die hemmungslose Grausamkeit unzurechnungsfähiger Winkeldespoten in der Pfalz sowie das Elend der bäuerlichen Bevölkerung in Hessen-Kassel, deren männliche Jugend zum Militär nach Amerika verschachert wird. Die Schärfe des Blicks entschädigt den Leser für die mangelnde literarische Durchdringung der Stoffülle, die Laukhard – nach eigenem Bekenntnis – auch deshalb derart auswalzt, weil er stets auf das Buchhonorar blicken mußte. Laukhard ist sich darüber im klaren, welche überraschende Wendungen seiner Lebensgeschichte er dem Leser erklären muß: der Sohn eines freigeistigen Pfarrers aus der Pfalz schlägt sich nach einem gescheiterten Studium als glückloser Magister und Universitätslehrer durchs Leben, läßt sich – auf der Flucht vor Gläubigern – als preußischer Soldat anwerben, läuft, ausgeschickt als Spion, im Feldzug gegen Frankreich ins republikanische Lager über, tritt nach der Rückkehr sogleich in die Armee der Emigranten und dann in ein Kontingent der Reichsarmee ein, um endlich, nach dürftigen Jahren als freier Schriftsteller und Privatlehrer, eine feste Anstellung als Pfarrvikar zu finden. Laukhards Kommentar zum Eintritt ins Freikorps der Emigranten gilt für sein gesamtes Leben: nur nach der »individuellen Lage des Handelnden« kann darüber geurteilt werden. Zur eigenen Schwäche und Verführbarkeit – die nie verschwiegen wird – kommt die äußere Determiniertheit des Schicksals: ohne Vermögen und ohne hilfreiche Beziehungen, bleibt Laukhard für die längste Zeit seines Lebens der amtlose Intellektuelle, der sich Gesinnungstreue nur selten erlauben kann. Schonungslos gegen sich selber offenbart sich hier einer, der bekennt, sein Leben nicht gemeistert zu haben. Schärfe des Urteils und unschätzbare Realitätstreue zeichnen vor allem die Berichte aus Frankreich aus. Hart bis zur Mitleidlosigkeit mit dem Leser, läßt Laukhard ihn an der buchstäblichen Verwesung und Auflösung der Interventionstruppen teilnehmen – nach jener berühmten verlustreichen Kanonade bei Valmy, der Goethe welthistorische Perspektiven abzugewinnen bemüht war. Überzeugend weist Laukhard die Notwehrsituation der Französischen Republik in der militärischen und politischen Krise von 1792/93 auf, ohne das Ausmaß des Terrors zu verharmlosen. Das Recht der Revolution freilich erschließt sich für ihn nur dem klassenspezifischen Urteil: »nicht die verzehrende, (sondern) die erwerbende Klasse« müsse man danach fragen. Begann die Autobiographie, im Pietismus wie in der Kritik an ihm, als Selbstanalyse zerquälter Individuen, die sich in die Wirren der eigenen Psyche vertieften, so steht am Ende die Forderung nach dem Ausgreifen ins Dasein. Ein fortschreitender Anspruch auf Selbstbestimmung geht einher mit einem Zuwachs an Weltgehalt und Wirklichkeit. Ein Beispiel dafür gibt Johann Gottfried Seumes (1763-1810) Schrift Mein Leben (1809/1810, erschienen 1813). Im Bewußtsein, mit Kraft und Ausdauer gegen eine feindliche Umwelt eine trotz vieler Irrtümer aufrechte und zähe Individualität herausgebildet zu haben, kann Seume seine Lebensgeschichte knapp und straff erzählen. Ihre Details sind stets so angeordnet, daß sie auf die Verwicklung des Individuums in ein gesellschaftliches Ganzes verweisen. Die heftige Sozialkritik entspringt immer konkreten Erlebnissen. So erlebt Seume als Kind eines Böttchers[1] und Bauern, wie Hungersnöte und Mißernten in Verbindung mit zeitraubender harter Fronarbeit den aufbegehrend-stolzen Vater buchstäblich zu Tode zermürben. Nach der unverhüllten Ausbeutung lernt Seume dann die Schattenseiten patriarchalisch-feudaler Fürsorge kennen. Als Stipendiat eines adligen Grundherrn kann er zwar Schule und Universität besuchen, mit der Zweckbestimmung, Theologe zu werden; die Kenntnis antiker Autoren, die Lektüre religionskritischer Werke der Aufklärung wie des Bayleschen Dictionnaire historique et critique bringen jedoch den Bruch mit der kirchlichen Orthodoxie, der ein weiteres Theologiestudium unmöglich macht: Seume muß dafür auch mit der Aufgabe seiner materiellen Existenzsicherung als Stipendiat bezahlen. Nach der dadurch erzwungenen Flucht aus Leipzig wird Seume von Werbern aufgegriffen und als Soldat vermieteter hessischer Truppen für die Engländer in den Krieg gegen die Amerikanischen Kolonien geschickt. Sein Verhalten in Amerika ist nicht frei von Merkwürdigkeiten: obwohl er stets bedauert, nicht für die Unabhängigkeit der Kolonien kämpfen zu können, sieht er im Ende des Krieges vor allem die verpaßte Chance zu persönlichem Fortkommen. Man kann dies widerspruchsvolle Verhalten nur erklären als Reflex der Lage des plebejischen Intellektuellen, dem nur der Ausnahmezustand des Krieges die Chance zum sozialen Aufstieg eröffnet, da dann der »Kastengeist« (Seume) der Ständegesellschaft teilweise außer Kraft gesetzt ist. (Sogar Friedrich II. akzeptierte im Siebenjährigen Krieg Bürgerliche als Offiziere, um in Friedenszeiten sogleich wieder das Adelsmonopol für das Offizierskorps zu befestigen.) Mit der Rückkehr nach Deutschland und der geglückten gefahrvollen Flucht aus militärischem Söldnerdienst endet die Autobiographie. Seine Teilnahme als kaiserlich-russischer Offizier im Kampf gegen den polnischen Freiheitshelden Kosciuszko hatte Seume in einigen früheren apologetischen Schriften bereits zu rechtfertigen gesucht und dabei bedenkliche Ausflüge in die Gedankengänge absolutistischer Real- und Machtpolitik unternommen. Die Autobiographie selber spart diese Lebensabschnitte aus. Die Entschiedenheit aufklärerischer Sozialkritik in den großen Reisebeschreibungen erwächst erst wieder aus der erneuten Entscheidung für die gesellschaftliche Außenseiterposition als Korrektor bei Göschen und als freier Schriftsteller. [Geschichte der deutschen Literatur: Die Spätaufklärung (Harro Segeberg). Geschichte der deutschen Literatur, S. 880 (vgl. Zmegac-GddL Bd. I/1, S. 376 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] ------------------------------- [1] Handwerker, der hölzerne Gefäße herstellt . bednář.