Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. 1931. Eine Satire auf die Berliner Zustände am Ende der zwanziger Jahre und in der Wirtschaftskrise. Dr. Jakob Fabian, ein Germanist, 32, war bisher Adressenschreiber, jetzt erfindet er Reklametexte für eine Zigarettenfirma (eine Zigarette groß wie der Kölner Dom). Er kann eine ironische Distanz zu allem Unfug um ihn bewahren und auf den Sieg der Anständigkeit warten. Er genießt wenigsten seine erotischen Abenteuer, besucht sogar geheime Etablissement für sexuell Abartige und bei seinen Journalistenfreunden sieht er, wie Nachrichten manipuliert werden. Seine tiefere Beziehung zu Cornelia Battenberg endet damit, daß sie – um den arbeitslosen Freund zu ernähren – , sich mit einem Filmagenten einläßt und Fabian verläßt. Sie kommentiert das in ihrem Abschiedbrief: Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht. (162). Auch sie ist eine Akademikerin aus der Provinz wie Fabian und völlig desillusioniert, weil sie weiß: Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. „Da bin ich,“ sagen wir freundlich lächelnd. „Ja,“ sagt er, „da bist du,“ und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger denkt er, nun hab ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben, und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Der Erzähler kommentiert das: wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Ein anderer Handlungsstrang ist mit Fabians Freund Labude verbunden, der sich mit einer Arbeit über Lessing habilitieren will. Er ist ein Sohn reicher Eltern, sein Vater ist Justizrat, während Fabian kleinbürger ist. Nachdem Labudes Habilschrift nicht angenommen worden ist, erschießt er sich. Ein sinnloser Tod, weil die Ablehnung nur von einem Konkurrenten erfunden wurde. Labude ist die Verkörperung der vita activa, Fabian der vita contemplativa, beide suchen ein säkularisiertes, nie näher bestimmtes Heil, das man wohl mit einer gerechten Gesellschaft gleichsetzten kann Fabian ist gezwungen in die Provinz zurückzukehren und bei seinen Eltern Zuflucht zu suchen. Eine Stelle in einer rechtsgerichteten Zeitung lehnt er ab und stirbt, als er versucht, einen ertrinkenden Jungen zu retten, obwohl Fabian selbst nicht schwimmen kann. Es ist ein symbolischer Tod: in den trüben Wassern der damaligen Zeit kann der Moralist nicht schwimmen. Der ursprüngliche Titel war Der Gang vor die Hunde. Berlin sieht nur äußerlich noch so aus wie vor dem Krieg: im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang. Die Figuren sind satirisch überzeichnet, das Erzähltempo wird vom schnellen Szenenwechsel geprägt, eine einfache, parataktische Syntax, und witzige Dialoge sowie die schnodderige[1] Sprache machen den Reiz des Buches aus. Als ein typisches Spiel mit solchen moralisch zwiespältigen Situationen kann folgender Satz aus dem Titel des dritten Kapitel dienen: Es ist richtig, das Falsche zu tun. Wie verstehen Sie das? Der Satz stammt vom Wirtschaftsredakteur Malmy, der weiß, dass er mit seiner Berichterstattung hilft, Pflasterchen auf einen Körper mit Blutvergiftung zu legen. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen[2] sind begreiflicherweise falsch.(32) Wenn die betrunkenen Kollegen später am Abend den Ausführungen Malmys zuhören (müsssen), gibt es Zwischenrufe eines gefräßigen Gastes, der nur mehr Geld verlangt, mehr interessiert ihn das System nicht. Malmy ist angewidert: Wegen solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten; Ich denke nicht daran. Es wird weeitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun.(39) In dem 11. und 12. Kappiel wird eine naive Reaktion eines anderen Moralisten beschrieben, zu der der paradoxe Satz aus dem vierten Kapitel paßt: Es ist richtig, das Falsche zu tun. Ein aus der Irrenanstalt entwichener Erfinder neuer Textilmaschinen, der sein Kapital in der Tasche herumträgt und sich weigert es zu verkaufen, weil er nur tragische Folgen seiner Erfindung sieht: Er hat einmal gesehen wie ein kleines Mädchen von einem Pferd niedergetrampelt wurde, als die Polizei auf demonstrierende Arbeiter losritt. Die Demonstrationen gab es, weil mit den neuen Maschinen die Produktivität stieg und die überflüssigen Arbeiter entlassen wurden. Der Erfinder schreibt sich die schuld an allem zu und wird als psychisch Kranker von seiner Familie unter Kuratell gestellt. Das Perverse der Gesellschaft wird vor allem in Sachen eroticis deutlich. In den Kunstateliers weiß man nicht richtig, welche Betätigung die vordergründige und welche die akzidentelle , nur zufällige ist: die Kunst oder die Kopulation. Weniger aus Lust an der Sache als aus Willenlosigkeit macht das Fabian angewidert mit: Eine Dame, die den widerstrebenden Fabian aus dem Institut für gesitige Annäherung (Kap. 1)mit nach Hause schleppt, ist wider Erwartung verheiratet. Während des sich anbahnenden Geschlechtsaktes betritt der Ehegatte das Zimmer, legt aber keine Eifersucht an den Tag, sondern er kommt nur, um seiner vertraglich festgelegten Pflicht zu genügen, jeden Liebhaber seiner Frau zu inspizieren. Nach dem Vorlesen der betreffenden Paragraphen dieses „modernen“ Ehevertrags flieht der erschreckte Fabian und die betrunkene Frau singt: auch der Mensch ist nur ein Tier. Während in der Wirtschaft gilt alle gegen alle , gilt im Sex jeder mit jedem. Der Roman will zeigen, daß der Mensch trotz der besten Anlagen, Gesinnungen und Vorsätze sich dem Gesetz der Geschichte nicht entziehen kann. Berlin, dieses Sündenbabel, Sodom und Gomorrha in einem, ist die Quintessenz des Bösen. In 10 Tagen spielt sich alles ab. Der Name Fabian assoziiert den römischen Feldherrn Fabius genannt Cunctator („der Zauderer“), der wegen seiner abwartenden Strategie gegenüber Hannibal berühmt wurde. „Fabian Society war eine 1883 gegründete Vereinigung britischer Sozialisten, die im Gegensatz zu Marx eine allmähliche, gesetzliche Sozialisierung erstrebte und die Grundlage für die Labour Party schuf . Auch sie wurde nach Fabius Cunctator benannt. Benjamin schrieb über Kästners, Tucholskys und Mehrings Lyrik eine grausame Kritik mit dem Titel: Die linke Melancholie. Mögliche Titel der Seminararbeiten: Antinomien, die es früher nicht gab. Vgl. Leiß/Stadler, 122: Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit. Dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Ich bin Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zur linken Melancholie und dem Lebensprinzip von Jakob Fabian im gleichnamigen Roman Erich Kästners. 6. Kapitel 60 Hermann SCHULZE-DELITZSCH (1808-1883) sozial engagierter Genossenschaftsgründer und Anwalt der Deutschen Genossenschaften, Publizist, liberaler Parlamentarier und Politiker. Er war Patrimonialrichter[3]. In mehreren Schriften begann er ab 1850, die Genossenschaftsidee zu popularisieren, zu erklären und dafür zu werben, wobei er zunächst von den in Delitzsch[4] gesammelten Erfahrungen ausging. Zur Unterstützung von Arbeitern propagierte er Sparvereine (auch: Konsumvereine) für die Beschaffung bzw. Gewährleistung der Lebensgrundlagen (Nahrung, Heizung, Wohnung) samt daran angeschlossenen Kranken-, Sterbe- und Invalidenkassen zur Absicherung alltäglicher Risiken. Ein weiterer nützlicher Genossenschaftstyp ist der Vorschuß- oder Kreditverein, über den normalerweise von der Kreditvergabe ausgeschlossene Gruppen Kleinkredite bewilligt bekommen können (die Vergabe größerer Summen wird an die Stellung eines Bürgen oder die Beibringung anderer Sicherheiten geknüpft). Ein großes Potential sah S.-D. auch in Vereinigungen von Handwerkern. Diese sollten die Kräfte der einzelnen Gewerbetreibenden bündeln, um die Rohstoff- sowie Kreditbeschaffung zu erleichtern bzw. zu ermöglichen. 61 ich verbrächte die Zeit damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wußten: Nun werden wir eingezogen. … Wir sollten ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln[5], doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahlzeit.« 62 Wie reagiert Labude auf Fabians Klagen? ich lief melancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!" 63 Wie kam es zu der Schießerei, deren Zeugen Fabian und Labude waren? "Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er schon." 64 Warum denkt Fabian, er kam noch glimpflig davon, wenn er vom Krieg nur ein krankes Herz erwischt habe? Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. 65 Wem entschuldigt sich Fabian "meine Heiterkeit ist nicht gerade höflich." und wie reagiert dieser Angesprochene? 65 Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht." "Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über die Straße. "Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten." 65 Der Erzähler spricht von Spielgefährten, wie werden die beiden Verletzten beschrieben? Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe aus. "Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist. "Du Untermensch!" rief der eine. "Du Affe!" rief der andere. Der Kommis[6] griff in die Tasche. 66 Mit welchen Argumenten reagiert der angeschossene Mitglied der linken Arbeiterpartei, wohl ein Kommunist, auf das Zureden von Fabian? Er ergumentiert nicht gegen die Aussage[7], sondern, gegen den Sprecher: "Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser, "und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort." Fabian: Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist. Wie schätzen Sie die Behauptung des Arztes ein; ist sie treffend? Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe. Was ist das Kabarett der Anonymen? Ein findiger Kerl hat Halbverrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber. (Caligula[8] als Besitzter schnauzt das Publikm an, fast wie im Grünen Kakadu) ------------------------------- [1] (ugs. abwertend): provozierend lässig, den angebrachten Respekt vermissen lassend, schnippisch, neomalený, nejuhlazený [2] die radikale Änderung des Systems, bei dem man den blutvergifteten Körper enthauptet. [3] (früher): zur zeit der noch privat ausgeübter Rechtsprechung vonseiten des Grundherrn über seine Hörigen. [4] 28.000 Einwohner, im Norden Sachsens im Regierungsbezirk Leipzig [5] vrtět se (netrpělivostí): zappeln; j-n zappeln lassen: nechat koho v nejistotě. ein Autor, der unterm Tisch mit den Füßen zappelt, vor sich ein Glas Wasser, strahlt er über beide Backen und zappelt vor Freude mit Ärmchen und Beinchen, als mache er einen Luftsprung, liegt mit dem Rücken auf dem Boden und zappelt vor Lachen mit den Beinen. [6] [i:] fanz. commetre - beauftragen [7] "Daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen. [8] Synonym für Grausamkeit und Perversion der bestialischsten Art geworden. Sein richtiger Name lautet Gaius Julius Caesar Germanicus ,der dritte Kaiser Roms. Er genoss es so sehr, anderen Leid zuzufügen, dass er befahl,Menschen zu töten,um sie aus nächster Nähe beobachten und dabei regelrecht mitfühlen zun können,wie sie starben.