Erwin Rotermund: Geschichtsroman Deutsche Literatur im Exil 1933-1945 in. Viktor Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. III/1. Königstein/Taunus: Atthenäum, 1984.S. 250 ff. Der historische Roman stellt neben dem antifaschistischen Zeitroman die wohl wichtigste literarische Gattung der deutschen Emigrantendichtung dar. Zumal die erste Hälfte der Exilzeit weist eine Fülle von Geschichtsromanen, historischen Erzählungen und Biographien auf. Mit einigem Recht hat man von einer literarischen Mode gesprochen. Von der Exilpresse und den Exilverlagen (vor allem Querido[1] und Allert de Lange[2]) wurde das Genus in besonderem Maß bevorzugt. Es fand seine Leser nicht nur unter den Exilanten, sondern auch, wie die zahlreichen Übersetzungen von führenden Autoren zeigen, in den verschiedenen Gastländern. Eine Reihe namhafter Romanciers – so Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger – waren bereits vor 1933 mit einschlägigen Werken hervorgetreten und unternahmen den Versuch, ihre früheren Erfolge zu wiederholen. Es darf ferner nicht übersehen werden, daß mehrere historische Romane des Exils bereits vor der ›Machtergreifung‹ des Nationalsozialismus konzipiert worden sind. Auch die auffallende Tatsache, daß die Emigranten die deutsche Geschichte weitgehend ausklammerten und die der Gastländer sowie antike Stoffe bevorzugten, findet in den Zwängen des literarischen Marktes eine gewisse Erklärung. Die Kritik hat den historischen Roman entsprechend stark beachtet. Nicht zu überhören sind die ablehnenden Stimmen. »Die Wahl eines historischen Stoffes«, so meinte Franz Carl Weiskopf bereits 1935 in seiner Zweijahresbilanz der Verbrannten (Hier spricht die deutsche Literatur!), bedeute »für einen emigrierten deutschen Schriftsteller in der Regel Ausweichen oder Flucht vor den Problemen der Gegenwart«. Kurt Hitler polemisierte noch 1938 gegen »das Belletristengezücht«, welches mit seiner »Wissenschaft des Nichtwissenswerten« Bewußtseinsverbildung betreibe (Profile). Angriffe solcher Art provozierten eine vielfältige, von den Autoren mitgetragene Apologie der Gattung, die zur Abklärung der geschichtsphilosophischen Prämissen, Verfahrensweisen und Intentionen historischen Erzählens unter den Bedingungen des Exils führte. Dabei bildeten sich Grundzüge einer die weitere dichterische Produktion nachhaltig beeinflussenden Theorie und Poetik des antifaschistischen Geschichtsromans heraus. In seinem wichtigen Vortrag Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans (1935) hat Lion Feuchtwanger vom Autor geschichtlicher Romane gefordert, in den »historischen Fakten« nichts anderes zu sehen, als ein realistisches Distanzierungsmittel, als ein »Gleichnis, um sich selber, sein eigenes Lebensgefühl, seine eigene Zeit, sein Weltbild möglichst treu wiederzugeben«. Die Geschichte erscheint mithin nur als Instrument, nicht als eigentlicher Gegenstand der Darstellung. Der Kritik am historischen Roman begegnet Feuchtwanger des weiteren mit Zweifeln an der »Wissenschaftlichkeit« der heutigen Geschichtsschreibung. Er betont deren subjektive Beliebigkeit bei der jeweiligen »Anordnung der Fakten«. Unter Berufung auf Nietzsches Kritik am Historismus formuliert er die Aufgabe, »das Vergangene, die Geschichte, für die Gegenwart und die Zukunft fruchtbar zu machen«. Der historische Roman sei eine gut verwendbare »Waffe« im jetzigen Stadium des »ewigen Kampfes« zwischen einer »winzigen, urteilsfähigen [...] Minorität gegen die ungeheure, kompakte Majorität der [...] Urteilslosen«. Im Sinne dieser Antithese, auf die Feuchtwanger die Vielgestaltigkeit geschichtlicher Prozesse reduziert, bezeichnet er seine eigenen einschlägigen Werke als »historische Romane für die Vernunft«, »gegen Dummheit und Gewalt«. Stärker als Feuchtwanger reflektiert Alfred Döblin in seinem Vortrag Wir und der historische Roman (1936) den Zusammenhang zwischen der Gattung und der Exilsituation. Es entstehe geradezu ein »gewisser Zwang zum historischen Roman«. Als Gründe und Motive hierfür werden der »Mangel an Gegenwart«, der »Wunsch, seine historischen Parallelen zu finden, sich historisch zu lokalisieren, zu rechtfertigen, die Notwendigkeit, sich zu besinnen, die Neigung, sich zu trösten und wenigstens imaginär zu rächen« genannt. Diese Typologie möglicher Intentionen führt der Autor allerdings nicht weiter aus. Gegen den politisch affirmativen deutschen Geschichtsroman des 19. Jahrhunderts stellt er schließlich eine Formel, mit welcher er sowohl seine Nähe zum Volksfrontgedanken als auch seine Auffassung von der künstlerischen Aktivität und Kreativität zu bezeichnen sucht: »kraftvolle Parteilichkeit des Tätigen«. Diese umfaßt einerseits die Entlarvung der sozialen Unterdrückung und der faschistischen Manipulation der »Volksmassen«, andererseits das Aufsuchen von »Beispielen für Tapferkeit, Kraft und Heroismus« im unermüdlichen Menschheitskampf »um Freiheit, Frieden, echte Gesellschaft« und »Einklang mit der Natur«. Die Geschichte erscheint Döblin mithin als ein Reservoir für zeitbezogene exemplarische Darstellungen des stetigen Ringens um die humanistisch-demokratischen Ideale. In die Reihe linksbürgerlicher Verteidiger des historischen Romans gehört auch Ludwig Marcuse (1894-1971), der in seinem Beitrag Die Anklage auf Flucht (»Das Neue Tage-Buch«, 8. 2. 1936) auf den schlichten Sachverhalt hinwies, daß die Autoren historischer Romane sich in anderen Gattungen oder in der politischen Tagespublizistik durchaus intensiv mit der »deutschen Gegenwart« auseinandergesetzt hätten: der »Vorwurf der Flucht« sei also »nachweisbar falsch«. Wichtiger noch war seine Unterscheidung von zwei »Gruppen« des Geschichtsromans. Die eine sei lediglich an der »historischen Fabel« interessiert, die »vergangene Wirklichkeit« fungiere nur als »Vorwand eines Erzählers«. Die andere Gruppe hingegen, die der »aktuellen Historien-Bücher«, sei »dadurch charakterisiert, daß sie Aussagen über die Gegenwart im historischen Material« mache. Marcuse verweist auf Schiller, Büchner und Heine und ordnet damit den zeitkritisch gemeinten historischen Roman des Exils der Tradition fortschrittlicher demokratischer Dichtung in Deutschland zu. […] Die Auseinandersetzung mit dem Genre in der linken Publizistik kulminiert schließlich in den verschiedenen einschlägigen Studien von Georg Lukács. Lukács' umfangreiches Werk Der historische Roman, 1937 in einer russischen Übersetzung erschienen, wurde erst 1954 in Deutsch publiziert. Größere Verbreitung unter den Emigranten dürfte der 1938 in der »Internationalen Literatur« veröffentlichte Aufsatz Der Kampf zwischen Liberalismus und Demokratie im Spiegel des historischen Romans der deutschen Antifaschisten gefunden haben, welcher wesentliche Aspekte der vorangegangenen Untersuchung wiederholt. Lukács geht es um die volle Integration des Geschichtsromans in die Strategie der Volksfront, als deren Ziel er, in Verkennung der wirklichen Lage in Deutschland, die Etablierung der »revolutionären Demokratie« mittels einer »demokratischen Revolution des deutschen Volkes« bezeichnet. Als eine der Hauptbedingungen für die notwendige »innere Konsolidierung« der Volksfront betrachtet Lukács den internen Kampf gegen die liberale Ideologie, die er durch die falsche Gleichsetzung von »Humanismus« und »Kompromiß« und die entsprechende falsche Entgegensetzung von »Humanismus« und »demokratischer Revolution« sowie vor allem durch eine tiefgreifende »Volksfremdheit« charakterisiert sieht. Bei der fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz setzt er, stark generalisierend, den Versuch der Überwindung liberaler Positionen, eine »Wendung zum Volk« und zu einem offensiveren Humanismus an: der »neue historische Roman der deutschen Antifaschisten« – Lukács geht auf Werke von Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Heinrich Mann und Stefan Zweig ein – erscheint ihm als ein »Spiegelbild« dieser Umwandlung, die freilich von ihrem Ziel noch durchaus entfernt sei. Lukács' Konzeption des antifaschistischen Geschichtsromans versteht sich demgemäß als Kurskorrektur der bisherigen Produktion und Wegweisung für die kommende. Als tendenziell geleistet erkennt er die Gestaltung des humanistischen Menschentypus im Sinne des »positiven Helden« an. Für die noch ausstehende Darstellung der Verbindung des Protagonisten mit dem Volk empfiehlt er die Beerbung des klassischen historischen Romans (Scott, Manzoni, Puschkin und Leo Tolstoi). In diesem werde der historische Held in vorbildhafter Weise tatsächlich von jenen Massenbewegungen aus gestaltet, deren Repräsentant er sei. Die »Größe des Volkes« und des »aus ihm gewachsenen, in ihm wurzelnden Menschen in den großen Krisen der Geschichte« ist nach Lukács das »Wesen« des klassischen historischen Romans. Die in ihm gestaltete Geschichte sei »unsere Geschichte«, sei »das notwendige historische Vorspiel unseres heutigen Lebens«. Der antifaschistische Autor habe zu zeigen, »wie der Kampf um die Demokratie organisch aus dem Leben des Volkes herauswächst«. Die Vergangenheit soll als »wirkliche Vorgeschichte« des Lebens der Gegenwart behandelt werden. Lukács wendet sich dagegen, die »antifaschistischen Ideale als subjektive, abstrakte [...] Bilder und Symbole« in die Geschichte zu projizieren und damit die Vergangenheit zum »bloßen Gleichnis« des gegenwärtigen Lebens zu machen. Einer der ersten bedeutenden Geschichtsromane des Exils ist Bruno Franks (1887-1945) Cervantes (1934). In ihm wird die abenteuerliche und leidvolle Entwicklung des spanischen Dichters zum realistisch-volkstümlichen Autor erzählt. Der »Lebenslauf der Produktion« (Ernst Bloch) in diesem historischen Künstlerroman kulminiert in der Konzeption des Don Quijote. Sie bedeutet für Cervantes den Durchbruch zur Überführung des Erlebten in die symbolisch-kritische Gestaltung der geschichtlichen Konstellation: »Würde man hinter seinem Hidalgo den Geist Spaniens erkennen, der großmütig blind hinter Gewesenem her war, während ringsum die Welt zu neuer Wirklichkeit aufwachte?« Franks Formierung der Cervantes-Figur läßt die Absicht erkennen, den genialisch-dämonischen Protagonisten des traditionellen Künstlerromans mit seiner gesellschaftlichen Abgehobenheit zu vermeiden. Cervantes ist mit den Qualitäten »Mut, Phantasie, Erbarmen« ausgestattet und agiert als Anwalt der Unterdrückten. Die herrschenden Gewalten erscheinen in deutlicher Analogie zum ›Dritten Reich‹. Im Seeräuberstaat Algier regiert die »kalte, lustvolle, methodische Grausamkeit in Person«. Auch die breite Darstellung der politisch-gesellschaftlichen Situation in Spanien weist eine Reihe mehr oder weniger weit reichender Parallelen zum NS-Regime auf (wirtschaftliche Krise, Arbeitslosigkeit, Armut, Repression gegen die unteren Schichten, Rüstungsanstrengungen, Rassenideologien usf.). Eine besonders starke Beleuchtung erfährt das verblendete, rückständige Bewußtsein der Volksmassen, das sich vor allem in der mystisch- irrationalen Religiosität und in der epidemischen Lektüre von Ritterromanen ausdrückt. Um die Eigenart Cervantes' zu profilieren, hat Frank König Philipp II. als weitere Hauptfigur eingeführt. Mehrere Kapitel sind dem düsterautoritären Herrscher allein gewidmet. Ob diese Figurenkonstellation ein gelungener Kunstgriff ist, scheint fraglich. Die Antithese zwischen der lebensvollen Humanität des Dichters und der todessüchtigen Misanthropie Philipps ist sicherlich plastisch gestaltet. Franks politische Interpretation des Königs ist – im Unterschied zu der späteren in Heinrich Manns Henri Quatre – jedoch nicht völlig eindeutig: zum einen ist er als Vertreter der geschichtlich-gesellschaftlichen Reaktion gezeichnet, zum anderen aber als Repräsentant einer historischen Kraft, die nach ihrem »eigenen Standpunkt«, nach dem ihr »innewohnenden Bestreben« (Ranke) zu würdigen ist. In der Sterbeszene (Escorial) läßt Frank den »eigenen Standpunkt« Philipps durch das Mittel der erlebten Rede zu Wort kommen. Über den Gegenspieler Heinrich IV. von Frankreich heißt es: »Wie er ihn haßte! Dieses Heinrich ganze Existenz war ein Hohn auf sein eigenes siebzigjähriges Königsdasein, auf sein ganzes strenges, entsagungsvoll dunkles Leben im Dienste der einen, der erhabenen, der ja doch einzig wahren Idee. Wie konnte Gott es zulassen, daß frecher Unglaube so triumphierte!« Fortschrittsdenken und historischer Objektivismus stehen sich in diesem Werk offensichtlich unvermittelt gegenüber. Stefan Zweigs Biographie Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam wurde 1934 veröffentlicht. Erasmus erscheint in ihr in idealisierter Überhöhung als »der erste bewußte Europäer« unter den abendländischen Schriftstellern, als »der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals«. »Sendung und Lebenssinn« des großen Kosmopoliten sieht Zweig in der »harmonischen Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität«. Diese Intention bringe Erasmus dazu, sich weder der Sache der alten Kirche noch der der Reformation zu verschreiben; er sehe auf beiden Seiten »Übertreibung« und »Fanatismus«. Zweig hat das von Johan Huizingas Erasmus (1924) beeinflußte Buch eine »verschleierte Selbstdarstellung« (Die Welt von Gestern) genannt – unschwer ist hinter Erasmus' Distanzierung von den beiden großen Heilslehren seiner Zeit Zweigs Ablehnung des Faschismus wie des Sozialismus zu erkennen. Darin, daß gerade der irenische Erasmus »in einen der wildesten Ausbrüche national-religiöser Massenleidenschaft hinabgerissen wurde«, hat für Zweig die »persönliche Tragik« des Humanisten bestanden. Den »Massenwahn« der Epoche charakterisiert der Autor mit deutlichem Gegenwartsbezug. Der Einfluß konservativer Massenpsychologie (Le Bon) verhindert eine einläßlichere Erfassung dieses wichtigen historischen Faktors. Noch fragwürdiger ist die Gestaltung des in manchen Zügen an Hitler gemahnenden Gegenspielers Martin Luther. Zweig charakterisiert das Verhältnis Erasmus' zum Reformator mit folgender Reihung: »Konzilianz gegen Fanatismus, Vernunft gegen Leidenschaft, Kultur gegen Urkraft, Weltbürgertum gegen Nationalismus, Evolution gegen Revolution«, und entwertet somit einen hochkomplexen historischen Zeitabschnitt zum bloßen Material geistesgeschichtlicher Antithesen. Die einzelnen Kapitel des Buches folgen der Chronologie des Lebenslaufs Erasmus', vermeiden jedoch detailliertere Mitteilungen der Lebensumstände. Die biographische Darbietungsweise geht vielmehr immer wieder in essay- und traktathafte Partien über. Der rhetorische Charakter des Werkes mag zu seiner offensichtlich starken Beachtung beigetragen haben. Thomas Mann erblickte in ihm nichts weniger als den »Mythos unserer Existenz (denn alles wiederkehrend Typische ist mythisch)«, die »Rechtfertigung der scheinbaren Zweideutigkeit«, unter der er leide und die ihn »unter Emigranten schon beinahe so verhaßt« gemacht habe »wie bei denen ›drinnen‹« (Brief an Zweig vom 8. 11. 1933). Im sozialistischen Lager, das sich vergebens um Verbindung mit dem weltberühmten Autor bemühte, stieß das Buch mehrfach auf Ablehnung. Zweigs Erasmus ist nach Lukács »in vieler Hinsicht der Typus des alten und nicht des neuen, jetzt heranwachsenden Humanisten, die Verherrlichung des Resignierens, des Kompromisses und nicht des Kampfes« (Der Kampf zwischen Liberalismus und Demokratie, 177). Zweigs Werk Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt (1936) hat mit dem Erasmus- Buch den Ausgangspunkt gemeinsam. Die Situation Sebastian Castellios, des Kritikers Calvins, gleicht der des Erasmus: »Wie immer in den Zeiten des Weltfanatismus steht der Humane machtlos und völlig allein zwischen den streitenden Zeloten.« Der Zeitbezug ist allerdings gegenüber der Erasmus-Biographie, von der der Autor zeitweilig geglaubt hatte, sie könne wegen ihrer auf einer »höheren Linie« liegenden Schreibweise auch in Deutschland gelesen werden, deutlich verstärkt. Calvins Genfer Theokratie dient als Gleichnis für den systematischen »Staatsterror« der Gegenwart – bereits die anachronistische Terminologie signalisiert diesen Bezug (»Machtergreifung«, »Jungvolk«, »Führer«, »Gleichschaltung«). Auffallend ist ferner der geschichtsphilosophische Optimismus des Schlußkapitels: »Diktaturen bedeuten im großen Plane der Menschheit nur kurzfristige Korrekturen, und was den Rhythmus des Lebens reaktionär hemmen will, treibt ihn nach kurzem Rückschlag nur noch energischer voran.« […] Der dem historischen Roman des Exils gemachte Vorwurf der Flucht vor der bedrängenden Gegenwart trifft trotz mancher denkbaren Differenzierungen am ehesten auf Klaus Manns Roman Symphonie Pathétique (1935) und auf Joseph Roths Napoleon-Buch Die hundert Tage (1936) zu. Die Wahl Peter Tschaikowskys zum Helden seines Werkes begründet Klaus Mann in der Autobiographie Der Wendepunkt mit seiner intimen Kenntnis von Werk und Psyche des Komponisten. Indem er an Tschaikowsky die »Fragwürdigkeit des Genies« und die »Gebrochenheit seines Charakters« hervorhebt, bezeichnet der Autor ein geistiges Profil, das nicht weit von dem des genialisch-pathologischen Protagonisten im traditionellen Künstlerroman entfernt ist. Dem Bild des an der Welt und sich selbst leidenden Künstlers entspricht die dem Komponisten zugesprochene Kunstauffassung. Im schroffen Kontrast zu allen Postulaten eines kämpferischen Humanismus ist wiederholt von der Verwandlung subjektiver Schmerzen und Erniedrigungen in Musik die Rede; Wesen und Funktion der Kunst sind auf Bekenntnis und Ausdruck reduziert. Im Gegensatz zu Bruno Franks Cervantes erscheint Tschaikowsky denn auch als »völlig unpolitischer Mensch«, der »nichts von der Masse« weiß (Der Wendepunkt). Joseph Roth hat die »Wirksamkeit jener bescheidenen Tröstungsversuche« verneint, »die aus historischen Rückblicken auf die finsteren Perioden der Vergangenheit bestehen und in die [...] Mahnung münden, doch ja nicht zu verzweifeln: vorgestern habe es beinahe schon so ausgesehen wie heute« (»Das Neue Tage-Buch«, 17. 10. 1936). Er sucht deshalb die so gesehene Tröstung mittels Geschichte durch den in ein historisches Kostüm gekleideten religiösen Trost zu ersetzen, indem er sich auf die private Existenz Napoleons konzentriert und dessen Abdankung nach der Schlacht von Waterloo als Zeichen christlicher Selbsterkenntnis deutet. Die Intention des Werkes schlägt sich negativ in der Ausklammerung der politischen Analyse Napoleons und seiner Gegner nieder; selbst ein solch zentraler Aspekt wie das Verhältnis des Kaisers zu den Ideen der Französischen Revolution kommt nicht zur Sprache. […] In dem ebenfalls an Parallelen zur Zeitgeschichte reichen Roman Der falsche Nero (1936) stellt Lion Feuchtwanger den Aufstieg des schauspielerisch-rhetorisch hochbegabten Töpfers Terenz zum Gegenkaiser des Ostens und den Sturz seiner Herrschaft dar. Terenz, Trebon und Knops sind satirische »Karikaturporträts« (Lukács) Hitlers, Görings und Goebbels'; die Überschwemmung der Stadt Apamea entspricht dem Reichstagsbrand – wie dort die Kommunisten, fungieren hier die Christen als Sündenböcke; die »Nacht zum fünfzehnten Mai« verweist auf den sog. Röhmputsch. Über die Darstellung der faschistischen Terrorpraxis versucht Feuchtwanger hinauszukommen, indem er zeigt, wie die Marionette Terenz von dem reichen römischen Exsenator Varro zum angeblich noch lebenden Kaiser Nero aufgebaut wird und wie sich dessen Macht schließlich auch gegen den Wegbereiter wendet. Damit soll die massive Unterstützung Hitlers durch konservativ-großbürgerliche Kreise und die sich entwickelnde Eigendynamik des Nationalsozialismus beleuchtet werden. Dennoch kommt – vor allem durch die dem Geschehen unterlegte individualpsychologische Motivation – die komplexe Genese des Faschismus kaum in den Blick. Feuchtwangers schon im Motto des Buches angezeigte Auffassung der Geschichte als eines ewigen Kampfes (»... und es geschieht nichts Neues unter der Sonne«) führt zu einer gleichnishaft-instrumentalen Verwendung des historischen Materials, die begrenzten Erkenntniswert hat. Ihr Vorzug ist die eindrucksvolle satirische Vergegenwärtigung des faschistischen Führerkultes, der Theatralik der Machtinszenierung und der Techniken der Massenmanipulation. Aktuelle Bezüge sind auch in Feuchtwangers Roman-Trilogie über den jüdischen Historiker Flavius Josephus (37- ca. 100 n. Chr.) unverkennbar. Im ersten Band (Der jüdische Krieg, 1932) steht der Kosmopolitismus Josephus' (Psalm des Weltbürgers: »Nicht Zion heißt das Reich, das ich euch gelobte,Sein Name heißt: Erdkreis«) für den Versuch des linksbürgerlichen jüdischen Intellektuellen ein, den nationalistischen und antisemitischen Strömungen am Ende der Weimarer Republik eine völkerverbindende geistige Idee gegenüberzustellen. Aufgrund der Exilerfahrungen veränderte sich die Konzeption des Werkes. Der illusionäre weltbürgerliche Standpunkt des Protagonisten gerät im zweiten Band (Die Söhne, 1935) ins Schwanken (Psalm vom Ich: »Ich will ich sein [...]/Und nicht gestellt zwischen Völker«.). Der zuerst in englischer Sprache publizierte dritte Band (Josephus and the Emperor, 1942; deutsche Ausgabe: Der Tag wird kommen, 1945) schließlich schildert, wie Joseph durch die Terrorherrschaft des judenfeindlichen Kaisers Domitian zur endgültigen Umorientierung veranlaßt wird. Er entscheidet sich für das nationale Engagement und kommt in Galiläa beim Aufstand der radikalen Sekte »Eiferer des Tages« durch die Hand eines römischen Soldaten um. Im Gegensatz zum Falschen Nero wird Geschichte in der Josephus-Trilogie nicht zum Gleichnis der Zeitrealität instrumentalisiert, sondern in ihrer Faktizität ernster genommen. Der höhere Grad an Geschichtlichkeit beeinträchtigte allerdings den Wert des Werkes für die direkte Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie und Herrschaftsform. Im Zeitalter des radikalen deutschen Nationalismus konnte die starke Betonung des nationalen Moments trotz ihrer spezifischen historischen Begründung als Plädoyer für den aufkommenden Zionismus mißverstanden werden – wider die Absicht Feuchtwangers, der die »jüdische Hitlerei« bei bestimmten Zionisten ablehnte. In seinem großen Werk Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938) erzählt Heinrich Mann »die Geschichte einer anderen ›Machtergreifung‹: die des Bourbonenprinzen Heinrich von Navarra, der als Anwalt Frankreichs gegen die Machtpolitik des Hauses Habsburg und die Kräfte der Gegenreformation den Bürgerkrieg beendet, die französische Nation einigt, sich als rechtmäßiger Erbe zum König macht, gegen erneut wachsende äußere und innere Widerstände den ›Großen Plan‹ eines europäischen Staatenbundes entwirft, schließlich aber doch den Kräften der Reaktion unterliegt« (Werner, 338). Mit der Darstellung Henris intendiert Heinrich Mann einen humanistischen Gegenentwurf zum ›Führer‹-Kult und zum soldatisch-heroischen Menschenbild des Faschismus. Er stattet seinen Protagonisten, den er in Gestaltung und Lehre als den »vollständigsten Menschen« von »allen Königen« bezeichnet, mit den zentralen Tugenden der vollkommenen humanen Persönlichkeit aus: mit Vernunft, Mäßigung und Toleranz, Freiheits- und Gerechtigkeitssinn, Güte und Kreativität, Liebes- und Leidensfähigkeit. Besonderen Wert legt er auf die skeptische Einstellung Henris. Sie wird dem Helden von seinem Mentor Michel de Montaigne vermittelt, der auf die Frage nach der rechten Religion sein berühmtes »Was weiß ich?« spricht. Die kontemplativ-individualistische Position des historischen Montaigne erfährt freilich eine wichtige Modifikation: der Philosoph widerruft angesichts der positiven Entwicklung Henris seine anfängliche Empfehlung grundsätzlicher Handlungsabstinenz: »Mäßigung und Zweifel [...] wären dennoch durchaus verderblich gewesen, gesetzt, die Humanisten hätten nur denken gelernt, nicht aber auch reiten und zuschlagen. [...] Das muß man wissen: wer denkt, soll handeln, und nur er.« Hiermit ist für den antifaschistischen Intellektuellen bürgerlich-humanistischer Provenienz das Postulat »tatkräftiger Vernunft« aufgestellt, dem Heinrich Mann in den Tagen des französischen Exils selbst zu genügen suchte. Es hat sein philosophisch- theoretisches Gegenstück in den Thesen von Max Horkheimers Exil-Aufsatz Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938), der für einen »aktiven Humanismus«, eine »Kritik der Lebensformen, unter denen die Menschheit jetzt zugrunde« gehe und die »Anstrengung, sie in vernünftigem Sinn zu verändern«, plädiert. Ihre Verwirklichung findet die humanistische Persönlichkeit Henris in der Verbindung mit seinem Volk. Die politische und sozial-reformerische Praxis, aber auch sein alltägliches Verhalten ist von der Devise Ciceros »Nihil est tam populare quam bonitas« geprägt. Wenn auch in Manns konkreter Darstellung des Volkes die kritische Bewertung überwiegt – es erscheint vielfach als rein affektisch bestimmte und leicht manipulierbare Menge – liegt doch dem Werk insgesamt eine ideale positive Volksauffassung zugrunde. Dem Volk werden demokratische Tugenden wie Toleranz, Gerechtigkeit und Freiheitsliebe als »Anlagen« zugesprochen (Gestaltung und Lehre), die freilich der Förderung durch den König bedürfen, wie umgekehrt der große Herrscher auf die Impulse des Volkes angewiesen ist. Die besondere Charakterisierung des Protagonisten und seines Verhältnisses zum Volk lassen bereits Heinrich Manns eigentümliches Verhältnis zum historischen Stoff erkennen. Er hat sich eingehend mit den Quellen, vor allem mit der Memoirenliteratur, mit bekannten Darstellungen der Epoche (Michelet, Ranke) sowie der legendenhaften Überlieferung befaßt. Die dennoch durchaus anti-historistische Absicht Manns zeigt sich in dem das gesamte Werk bestimmenden Gegensatz zwischen der Welt des »Guten Königs«, des »Abgesandten der Vernunft und des Menschenglücks«, und der seiner verschiedenen Widersacher. Die Gegenspieler Heinrichs erscheinen, wie bereits Hermann Kesten 1939 hervorgehoben hat, durchweg in grotesk-pejorisierender Reduktion: »Die Bösen sieht Heinrich Mann einfach [...]. Katharina von Medici ist bei ihm eine Hexe, König Philipp der Zweite von Spanien ist [...] ein wollüstiger, bigotter Trottel, ein Phantasie-Philipp, Karikatur und Vision. Seine Jesuiten sind Gespenster hinter Thronstühlen«. Basis einer solchen antithetischen Konstruktion der historischen Auseinandersetzungen ist Heinrich Manns dualistische Geschichtsauffassung. Ähnlich wie Feuchtwanger setzt er einen ewigen Kampf zwischen Vernunft und Widervernunft, Gut und Böse, Humanität und Barbarei an. Mit dieser Grundvorstellung verbindet sich in allerdings spannungsvoller Weise die Annahme eines tendenziellen Fortschritts im geschichtlichen Ablauf. Im Henri quatre liegt mithin genau das vor, was Siegfried Kracauer 1971 am Verfahren des »Allgemeinhistorikers« kritisiert hat: dessen »auffälligster Kunstgriff« bestehe darin, den »unbezähmbaren Gehalt seiner Schilderung« vor das »historische Medium« von »großen philosophischen Ideen« – Kracauer nennt »Fortschritt«, »Evolution« und den »Modellbegriff zyklischen Wechsels« – zu spannen, »die den Anspruch erheben, den ganzen Geschichtsverlauf zu decken und zu erklären« (159). Jedoch: was dem Historiker wegen der durch diesen Kunstgriff erreichten unzulässigen Glättung von »bestehenden Rissen, Verlusten, Fehlstarts, Inkonsistenzen« (160) zu Recht angelastet wird, muß den Autor historischer Romane nicht unbedingt treffen. Heinrich Mann will nicht am Objektivitätsideal der Historiographie gemessen sein. Er hat selbst von einem »wahren Gleichnis« gesprochen (Ein Zeitalter wird besichtigt); die »historische Gestalt« werde zum »angewendeten Beispiel unserer Erkenntnisse« (Gestaltung und Lehre). Die beabsichtigte exemplarisch-didaktische Funktionalisierung der geschichtlichen Faktizität läßt sich denn auch in der erzählerischen Darstellung klar erkennen: der in zahllose kleinste Einheiten verschiedenster Prägung aufgelöste Erzählvorgang ist mit kommentierend-sententiösen Partien durchsetzt, die sich jeweils am Schluß der neun Kapitel des ersten Bandes zu in klassischem Französisch abgefaßten ›moralités‹ ausweiten und in der Allocution d'Henri Quatrieme am Ende des zweiten Bandes ihren Höhepunkt erreichen. Verweist die exemplarische Darstellung der volksverbundenen humanistischen Herrscherpersönlichkeit Henris und die seiner Gegenwelt bereits unmißverständlich auf die politisch-gesellschaftliche Gegenwart der dreißiger Jahre, so ist ein solcher Bezug in den zahlreichen direkten Analogien und Parallelen zur Zeitgeschichte womöglich noch gesteigert. Schon in der Rezeption der Exilanten sind gegen die zeitgeschichtlichen Gleichsetzungen – sie finden sich vor allem im ersten Roman und sind größtenteils stark satirisch gefärbt – Einwände erhoben worden. Thomas Mann monierte, »die öftere Zuspitzung des Historischen ins Aktuelle (streife) das Journalistische« (Brief an René Schickele vom 31. 10. 1935) und gab damit zugleich einen Hinweis, der die Eigenart der zeitgeschichtlichen Parallelen erklären helfen kann. Der erste Band des Werkes ist größtenteils in den drei ersten Exiljahren enstanden. Seine Genese fällt mithin in einen Zeitraum intensiver politisch-publizistischer Tätigkeit Manns, der nachhaltig satirisch und polemisch bestimmt war: von seinem Überlegenheitsgefühl her kritisierte der Autor den Faschismus damals stark personalisierend; er versuchte die Nationalsozialisten als die »Minderwertigen« und »Zukurzgekommenen« satirisch zu depotenzieren. Dieselbe Intention liegt auch den aktualisierenden Analogien des Romans zugrunde. Eine besondere Rolle kommt dabei den Allusionen auf die theatralische Machtinszenierung, die Ideologie und die Propaganda des Faschismus zu. Der Herzog von Guise – »blonder Held« der Frauenträume, gottgesandter »Führer«, »Verführer und Menschenbehandler« genannt – wird vom Volk »mit der erhobenen rechten Hand« gegrüßt. Sein ideologischer Wegbereiter ist der Pfarrer Boucher, »ein Redner von neuer Art«, dessen »verkümmerte Gestalt« samt dem »holdseligen« gewinnenden Lächeln deutlich auf Goebbels verweist. Boucher predigt den »Haß gegen die Gemäßigten« und bekämpft ihren Versöhnungswillen mit dem anti-liberal-völkischen Vokabular der NS-Demagogie: (»Schmachfriede«, »der Boden und das Blut«, »zersetzende Freiheit«, »Zinsknechtschaft«, das »Volkhafte«). Lion Feuchtwanger erschien »die Art, wie der Dichter an einigen Stellen die Parallele jener Menschen und jener Zeit mit unseren Menschen und unserer Epoche unterstreicht, beinahe überflüssig« angesichts der durchgehenden Aktualität des gesamten Romans (»Das Neue Tagebuch« 4, 1936, Nr. 3). Als in den Text integrierte Signale für eine zeitbezogene Anwendung der exemplarischen Aussage und zugleich als Versuch einer Lenkung der Lesersympathie haben die direkten Analogien in diesem bedeutendsten historischen Roman der Volksfront jedoch durchaus ihren Sinn. Der für Manns Werk charakteristische antifaschistisch-politische Optimismus fehlt der Kaiserreich- Trilogie von Alfred Neumann (1895-1952) durchaus. Die Konzeption der ersten beiden Bände (Neuer Cäsar, 1934; Kaiserreich, 1936) hatte der Autor bereits vor 1933 ausgearbeitet. Sie handeln vom Aufstieg Louis Bonapartes, der Geschichte der Zweiten Republik sowie des Zweiten Kaiserreichs; der dritte Band (Volksfreunde, 1940), der den Aufstand der Commune schildert, stellt gleichsam einen ironischen Epilog auf die Bedeutsamkeit jener Epoche dar. Neumann »versteht Geschichte als psychologische Biographie« (Schröter, in: Grimm/Hermand, 122). So verkörpert Jacques Offenbach in Kaiserreich den heiteren, selbst das Abgründige der »Unterwelt« genießenden Zeitgeist, während der zwischen Unruhe und Geduld, Undeutlichkeit und Entschlußkraft schwankende paradoxe Charakter Louis Bonaparte als Agent der »Zeit« die Geschichte von Restauration, Republik und Diktatur über sich hinaustreibt. Die psychologisierende Darstellungsweise Neumanns läßt die politischen wie sozialen Verhältnisse nur als äußerlichen Hintergrund autonomer Charakterentwicklung gelten. Zugleich suggeriert sie ein letztlich humanes, geistgemäßes Prinzip, das als Entwicklungsgesetz selbst die Geschichte der Kriege und Diktaturen prägt. Diese Annahme einer Vernünftigkeit der Historie, der die Könige und Putschisten, die Revolutionäre und Demokraten lediglich dienen können, bleibt ebenso pauschal wie inhaltlich unbestimmt. Die elitäre Einsicht des Autors in die vermeintliche »Wahrheit« verbindet sich mit Distanziertheit gegenüber aller politischen Aktivität, als deren Motive Neumanns Geschichtsbild nur individuellen irrationalen Idealismus oder aber gesetzlose Willkür und persönliche Niedertracht kennt. Alfred Döblins Südamerika-Buch Das Land ohne Tod (1937, 1938) ist einer der eigenwilligsten historischen Romane des Exils. Die Fahrt ins Land ohne Tod, der erste Teil des Werkes, das ursprünglich den Titel Amazonas führen sollte, bietet eine poetisch überhöhte hymnische Schilderung des südamerikanischen Urwalds mit dem »Wunderwesen Strommeer«, die deutlich auf des Autors frühere Naturdarstellung und -philosophie zurückweist. Dadurch jedoch, daß Döblin den mit dem mythischelementaren Naturbereich verwobenen Indianervölkern die brutale Welt der europäischen Konquistadoren gegenüberstellt, gelangt er über eine bloße Wiederholung behandelter Sujets hinaus. Döblin intendierte eine Abrechnung mit der neuzeitlichen Entwicklung Europas; er hat das Werk 1936 ausdrücklich als »europäisches Schlußbuch« bezeichnet. Die grausame Zerstörung der indianischen Kulturen ist überdies zweifellos mit Blick auf die Ereignisse der Gegenwart beschrieben worden, ein Aspekt, der im zweiten Teil (Der blaue Tiger), der die religiöse Eroberung Südamerikas zum Inhalt hat, womöglich noch klarer hervortritt: Gründung, Blüte, Erstarrung und zwangsläufiger Untergang des Jesuitenstaats in Paraguay, welcher als christliche Republik utopisch-weltfremder Prägung erscheint, deuten auf das Schicksal der Juden in den dreißiger Jahren hin. So warnte Döblin, der sich an der damaligen Zionismus-Diskussion intensiv beteiligte, unter Hinweis auf die südamerikanische Jesuitenrepublik vor der Etablierung eines jüdischen Staates in Palästina. Döblin hat eine Fülle von ethnographischen, historischen und biographischen Darstellungen benutzt und das historische Material unter Einschaltung zahlreicher fiktionaler Elemente sehr frei behandelt. Das gilt für die Chronologie, aber auch für die Figurenzeichnung. Der Autor läßt z. B. eine der Hauptfiguren des ersten Teils, den aufgrund seines Eintretens für die Indianer berühmt gewordenen Dominikaner Las Casas[3], entgegen der Überlieferung nicht in einem spanischen Kloster seine Tage beschließen; der innerlich zum Indianertum Konvertierte wird vielmehr im Urwald wegen eines von Weißen begangenen Verbrechens von den von ihm Missionierten getötet. Kurt Kersten hat in einer Rezension des ersten Teils gerade diese mit »großer Anteilnahme« geschilderte »müde, zweifelnde, verzweifelnde Gestalt«, die, von ihrem Gewissen gepeinigt, »durch den Blutsumpf watet und keines großen Entschlusses fähig ist«, von Döblins eigenem Postulat der »Parteilichkeit des Tätigen« her kritisiert und dem Autor ferner vorgeworfen, er reiße »den Vorhang vor den Geheimschränken der Historie« nicht auf und verurteile lediglich die »Soldateska«: »Es ist als ob jemand einen Roman über die SA und SS schriebe und nur sie richte« (»Das Wort«, 1938, H 1). In der Tat stehen die Untaten der Eroberer im Vordergrund; die gelegentlichen Stellen über politische, wirtschaftliche und soziale Motive der Conquista ergeben keinen zureichenden Begründungszusammenhang für das historische Geschehen. Ebensowenig vermag die wiederholte Reduktion der geschichtlichen Aktionen auf die Triebsphäre zu überzeugen. Eine umfassende Sinndeutung suchte Döblin allerdings im sechsten und siebten Buch des zweiten Teiles, die in der Nachkriegsausgabe von 1947/1948 als selbständiger dritter Teil mit dem Titel Der neue Urwald veröffentlicht wurden, nachzutragen. Im Zentrum stehen phantastische Geistergespräche, in denen Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno von Twardowski, dem polnischen Faust, als geistige Wegbereiter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für den katastrophalen Verlauf der neueren Geschichte verantwortlich gemacht werden. In der Reaktion Brunos kann man Döblins Absicht erkennen, das Lob der technischen Entwicklung und die pessimistische Einsicht in den deplorablen Zustand der Menschheit zu vereinbaren: die Herrschaft der »Gewaltigen« und »Bösen« auf der Erde habe sich der »Gaben« der neuzeitlichen revolutionären Denker bemächtigt und diese mißbraucht. Die Frage, ob Wissenschaft und Technik nicht vielmehr jeweils ein gesellschaftlich- geschichtliches »Projekt« sind, dem bestimmte Herrschaftsinteressen nicht erst nachträglich oktroyiert werden (Herbert Marcuse), wird vom Autor nicht aufgeworfen. Er läßt Giordano Bruno für das Leiden plädieren, aus dessen »Seele« »Hilfe, Besinnung, der rächende Arm« komme. Die befriedete menschliche Gesellschaft wird in die Zukunft verlegt: »Ich brauche noch fünfhundert Jahre. [...] Die Welt ist im Fluß«. In solchen Wendungen wie auch in zentralen Symbolen des Werkes drückt sich Döblins naturphilosophische Grundvorstellung eines dauernden Wechsels von Verhärtung und Verflüssigung, von Erstarrung und Belebung aus, durch die er in diesem welthistorischen Roman die gesamte Geschichte der Neuzeit seit der Zeitenwende der Renaissance zu erfassen sucht. Der gegenwärtige Weltzustand wird im Schlußteil des Werkes (Der neue Urwald) mittels einer lockeren Addition verschiedener Erzählungen dargestellt. Dabei geht Döblin auch auf den Faschismus in Deutschland ein, der jedoch nur als typisiertes Hintergrundsgeschehen zu der sich zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtergreifung der NSDAP abspielenden Handlung erscheint. Ansatzweise kommen auch ideologische Aspekte des Faschismus zur Sprache (Polemik gegen den Kulturbetrieb der Republik, Konzept des nationbildenden Kriegserlebnisses, Apologie des Irrationalen). Das Hauptgewicht liegt jedoch auf verschiedenen Einzelschicksalen, die Twardowski als Belege für das be hauptete »Elend« der zeitgenössischen Menschheit dienen. In der Darstellung des Intellektuellen Klinkert, der dem »instrumentalen Denken« das Wort redet, bis es von den Faschisten in die Tat umgesetzt wird, zeigt sich übrigens eine bemerkenswerte Parallele zu Theodor W. Adornos und Max Horkheimers ebenfalls im Exil entwickelten Konzeption der Dialektik der Aufklärung (1947). Bert Brechts 1938/1939 entstandenes Fragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar ist »zugleich Roman einer Caesar-Biographie«; der Autor »macht die Darstellung selbst zum Gegenstand des Romans« (K.-D. Müller, 98). Der fiktive Erzähler des Werks, ein junger Anwalt, der Caesar für den »Gründer des Imperiums« und einen der »größten Männer der Weltgeschichte« hält, will zwanzig Jahre nach dem Tod seines »Idols« dessen Biographie schreiben. Diese Absicht scheitert aufgrund der widersprüchlichen Informationen, welche der Erzähler über Caesar erhält. Er gibt seine identifizierende Haltung gegenüber dem Gegenstand seiner Verehrung allmählich auf und bezieht eine Position des distanzierten »geduldigen Zuwartens«. Es zeigt sich schließlich, daß geschichtliche Ereignisse und Prozesse nicht von vorgeblich einmaligen welthistorischen Persönlichkeiten abhängen, sondern primär auf ökonomischen Veränderungen beruhen. Brecht widerlegt hiermit die im 19. Jahrhundert in verschiedenen Schattierungen verbreitete und im Faschismus erneuerte Auffassung, daß »Männer« die Geschichte »machen« (Heinrich von Treitschke) und argumentiert speziell gegen die traditionelle Mythologisierung Caesars, die sich – wie z. B. Friedrich Gundolfs Caesar-Buch (1924) und Mirko Jelusichs Roman Cäsar (1930) beweisen – bis in die zwanziger Jahre hinein gehalten hat. Den zentralen Erkenntnisprozeß des Erzähler-Biographen schildert Brecht mittels der avantgardistischen »Technik der Perspektivenmontage« (Werner, 348). Die Jahre 63 bis 61 vor Chr. mit dem Aufstand des Catilina als Mittelpunkt erscheinen sowohl in den mitgeteilten Tagebüchern von Caesars Sekretär Rarus als auch in Schilderungen mehrerer noch lebender Zeitgenossen des Politikers. Eine besondere Rolle spielt dabei der als materialistischer Mentor des Erzählers fungierende Bankier Mummlius Spicer, der Rarus' Tagebücher mit Hilfe seiner ökonomischen Kenntnisse zu kommentieren versteht. Die divergierenden Aussagen über Caesar, der nie direkt in Erscheinung tritt und kein eigentliches Charakterprofil erhält, werden vom Autor permanent miteinander konfrontiert, um den Leser zu einer kritisch-vergleichenden Betrachtung und damit zur Einsicht in die wahre Gesetzmäßigkeit der Geschichte zu bringen. Es geht Brecht jedoch keineswegs um einen materialistisch-dialektisch verbesserten Historismus. Der Rezipient soll vielmehr dazu befähigt werden, die am historischen Modell erprobte kritische Reflexion auch auf den aktuellen Geschichtsprozeß anzuwenden. Die Möglichkeit dazu wird durch eine Reihe von Parallelen unmißverständlich signalisiert. So entspricht dem drohenden Sklavenaufstand die revolutionäre Situation in Deutschland seit 1929/1930, verweist der Aufstieg Caesars zum Konsul auf die Erfolge Hitlers vor der ›Machtergreifung‹ und gemahnen die Plebejer Roms an die kleinbürgerliche Massenbasis des ›Führers‹. Die Bezeichnung Caesars als »Handlanger« und »Stellvertreter« der Kaufleute (»City«) schließlich läßt an Brechts Faschismusauffassung im Drama Die Rundköpfe und die Spitzköpfe denken, in dem Iberin- Hitler ebenfalls lediglich als Beauftragter der herrschenden Oberschicht fungiert. In einem Brief an Karl Korsch hat Brecht von dem ursprünglich als Schauspiel geplanten Werk allerdings gesagt, es solle kein »anspielungsstück« werden, »die verhältnisse« lägen »sosehr anders als in der antike«. In der Tat: trotz aller Analogien hat der Autor den dargestellten Zeitraum nicht gleichnishaft zubereitet, sondern, wie die auf intensiven Studien beruhende Faktentreue beweist, in seiner Besonderheit ernstgenommen. Die aktuellen Parallelen haben ihre deutliche Grenze: so bedeutet Caesar in Brechts Konzeption, wie aus der Ablösung der Bürgerkriege durch die Pax Romana ersichtlich, »immerhin einen fortschritt«, und »dieses fortschreiten falle für die neuen diktaturen« weg (ebd.). Man hat Brechts Caesar-Roman als »die avancierteste Position des historischen Exilromans« (Werner, 351) bezeichnet. Aufgrund seiner experimentellen Verfahrensweisen steht das Fragment tatsächlich im Gegensatz zum stukturell-formalen Traditionalismus fast aller übrigen Geschichtsromane der Emigration. Dem Autor ist dies durchaus bewußt gewesen. So behauptete er in deutlicher Wendung gegen die Konzeption Lukács', von »unseren Theoretikern« für seinen Roman »nicht den allergeringsten Fingerzeig« bekommen zu können und lehnte jene »Anballung von allerhand Konflikten persönlicher Art in langen, breit ausgemachten Szenen mit Interieur« ab, die für den bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts typisch seien (Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie, ca. 1938). Den dringenden Vorschlag Walter Benjamins und Fritz Sternbergs, »doch mehr menschliches interesse hineinzubringen, mehr von altem roman« (Arbeitsjournal, 26. 2. 1939), hat Brecht nicht befolgt. In diesem Fall war er nicht bereit, aufgrund der Exilsituation ästhetische Konzessionen zu machen und zugunsten des antifaschistischen Tageskampfes am allgemeinen formalen Rückschritt der Poesie teilzunehmen. Vornehmlich aus diesem Grund blieb einer der wichtigsten historischen Romane der Emigration ein Werk für die Schublade. Mit Brechts Caesar-Fragment teilt Thomas Manns Roman Lotte in Weimar (1939) das Thema der großen Persönlichkeit. Auch Mann behandelt seinen Gegenstand nicht unkritisch: »Was Sie da ›Identifikation‹ nennen [...] schließt ja nicht eine Menge skeptischer Kritik am ›Großen Manne‹ aus, der zugleich als Wunder und als ›öffentliches Unglück‹ erscheint [...]. Handelt es sich doch um einen deutschen Großen Mann – und das sind die bedenklichsten« (Brief an Harry Slochower, 6. 9. 1940). Im dritten Kapitel des Werkes hat die solchermaßen als ambivalent gesehene »Größe« ihre anspruchsvollste Definition durch Goethes Sekretär Dr. Riemer gefunden, der monistisch- spinozistisch von der »Einerleiheit des Alls mit dem Nichts«, des »Teuflischen« mit dem »Göttlichen« spricht: »Da Gott das Ganze ist, so ist er auch der Teufel, und man nähert sich offenbar dem Göttlichen nicht, ohne sich auch dem Teuflischen zu nähern, so daß einem sozusagen aus einem Auge der Himmel und die Liebe und aus dem anderen die Hölle der eisigsten Negation und der vernichtendsten Neutralität hervorschaut.« Entsprechend zwiespältig wird die »absolute Kunst« aufgefaßt: sie ist »zugleich die absolute Liebe und die absolute Vernichtung oder Gleichgültigkeit«. Die Auseinandersetzung mit der »Größe« stellt, da Thomas Mann in diesem Werk den umfassenden Versuch einer »unio mystica« mit dem »Vater« Goethe unternimmt, auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen menschlichen und künstlerischen Existenz dar. Ihre strukturelle Realisierung läßt zunächst wiederum an Brechts Caesar-Buch denken. Thomas Mann bedient sich ebenfalls der Perspektivenmontage. Die ersten Kapitel beschreiben Goethe aus dem Blickwinkel der jeweiligen Gesprächspartner Lottes, wobei die Persönlichkeit des Dichters durch die Klagen über seine problematischen Züge und ethisch-sozialen Mängel unmißverständlich relativiert wird. Im siebten Kapitel, in dem Goethe erstmals erscheint, und im achten Kapitel setzt sich in der Beschreibung der alltäglichen Lebensführung des Genies dessen kritische Relativierung fort. Gegenläufig dazu erfolgt jedoch den gesamten Roman hindurch eine mythisierende Anerkennung der überragenden Persönlichkeit des Dichters, die zumal im Schlußkapitel zu einer Neubegründung der »Größe« führt: Goethe, der zu seiner Größe Verzicht und Opfer anderer brauchte, deutet sich selbst als ein die erhöhende Verwandlung des Menschlichen bewirkendes Opfer. Neben der persönlichen Intention der Goethe- Nachfolge findet sich in dem Roman eine zeitbezogene, die am deutlichsten in der kritischen Passage über die nationalen Laster der Deutschen zu erkennen ist: »Daß [...] sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, [...] und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, [...] ist miserabel« (7. Kap.). Georg Lukács hat Lotte in Weimar eine »Ehrenrettung in Deutschlands gräßlichster Selbsterniedrigung« genannt und die Aktualität der politisch-künstlerischen Leistung Thomas Manns in der Gestaltung Goethes als »höchster Verkörperung, die die progressiven Kräfte des deutschen Bürgertums je erreicht haben« (Auf der Suche nach dem Bürger, 1945), gesehen. Solch einseitige Wertung, die den Roman als exemplarische Rezeption des klassischen bürgerlichen Erbes im Sinne der Volksfront-Programmatik begreift und über die skeptisch-nihilistischen Aspekte der Mannschen Goethe-Auffassung bzw. Selbstauslegung hinwegsieht, ist nur aus der Zeitsituation heraus zu verstehen. Das gleiche gilt für Stefan Zweigs und Hermann Kerstens bewundernde Rezensionen aus dem Jahr 1939 (vgl. Dahlke, 347 ff.), welche die hochartistische, eine Überfülle von Quellenmaterial integrierende Form und Sprache des Werkes durchweg mit Kategorien der klassischen Ästhetik zu charakterisieren suchen und damit hinter dem Goethe in den Mund gelegten modernen Traditions- und Kunstverständnis des Autors zurückbleiben: »Fromme Zerstörung, lächelnd Abschiednehmen ... Bewahrende Nachfolge, die schon Scherz und Schimpf. Das Geliebte, Heilige, Alte, das hohe Vorbild auf einer Stufe und mit Gehalten zu wiederholen, die ihm den Stempel des Parodischen verleihen und das Product sich späten, schon spottenden Auflösungsgebilden wie der nacheuripideischen Komödie annähern lassen ...« (7. Kap.). Am Ende der Reihe der im Exil geschriebenen historischen Romane steht ein Werk, das die Grenzen dieser Gattung und des Romans überhaupt sprengt: Hermann Brochs 1944 in der fünften Fassung abgeschlossenes Buch Der Tod des Vergil (1945). Der Autor hat dessen aktuellen Bezug mehrfach ausdrücklich betont. So nennt er in einem Brief an Hermann Weigand »Bürgerkrieg, Diktatur und ein Absterben der alten religiösen Formen« als »Parallelen zwischen dem ersten vorchristlichen Jahrhundert und dem unseren« (12. 2. 1946). Das »Unheil« der Zeit wird dem nach Italien zurückkehrenden todkranken Dichter Vergil vor allem im Verhalten der Volksmassen, wie er sie bei Ankunft der kaiserlichen Flotte in Brundisium erlebt, offenkundig. Er sieht die den Herrscher erwartende Menge als »dumpfbrütendes Massentier«; beim Erscheinen Augustus' bricht sie in »Jubelgeheul« aus, »sich selbst anbetend in der Person des Einen« (Kap. Wasser – Die Ankunft). Im Unterschied jedoch zur elitären Verachtung, wie sie im Gefolge von Le Bons Psychologie des Foules in vielen Schattierungen zu finden ist, formuliert der Roman in Übereinstimmung mit Brochs massenpsychologischen Reflexionen der vierziger Jahre die Humanisierung des zum »Großstadtpöbel« und damit ins »Gegenmenschliche« verkehrten Menschen als Aufgabe. Daran, daß der Dichter solche »Hilfeleistungs- Hoffnungen« erfüllen könne, läßt Broch allerdings seinen Vergil zutiefst zweifeln. Dieser glaubt nicht mehr, daß die »Macht der Schönheit« in der Lage ist, »ihn, den Dichter, zum Erkenntnisbringer in der wiederhergestellten Menschengemeinschaft (zu) erhöhen, enthoben der Pöbelhaftigkeit und ebenhiedurch auch die Pöbelhaftigkeit selber aufhebend« (Kap. Feuer – Der Abstieg). Der Zweifel an der Kunst gipfelt in dem großen Gespräch zwischen Augustus und Vergil im Kapitel Erde – Die Erwartung, in dem Broch die mittelalterliche Legende, nach welcher der Dichter die Aeneis zu verbrennen beabsichtigte, aktualisiert. Gegen die Auffassung des Kaisers, die Aeneis sei »das Werk des römischen Volkes und seiner Größe«, setzt Vergil die Meinung, sein Werk sei »ein Suchen nach Erkenntnis, ohne Erkenntnis zu werden, ohne Erkenntnis zu sein«. Als eigentliches, nicht erreichtes »Ziel« der Dichtung nennt der Dichter »die Erkenntnis des Todes.« Was Broch dem Werk Vergils durch dessen Autor an dieser Stelle abspricht, suchte er selbst in seinem Roman zu leisten. Wiederholt bezeichnete er die Arbeit am Vergil als »private Todesvorbereitung« angesichts der tödlichen Bedrohung durch den Faschismus. Er führt den Erkenntnisprozeß des sterbenden Vergil als einen grenzenlosen Bewußtseinsstrom vor, dessen symbolträchtige lyrisch-ekstatische Passagen auf mystische Teilhabe an der Totalität alles Seienden abzielen. Solche »Mystik der Todeserkenntnis« ist freilich »im gleichen Maße, in dem sie sich ausweitet und auch die sprachliche Artikulation durch die repetitorische Form der endlosen Satzketten an die Grenze des Verständlichen [...] ausdehnt, mit einem Verlust an realem politischem Gehalt verbunden« (Durzak, 1978, 122). Broch versuchte denn auch immer wieder, die Radikalität des Stils mit seiner besonderen Wirkungsabsicht zu rechtfertigen: er wolle »den Leser nacherleben lassen«, »wie man sich der Erkenntnis des Todes durch Zerknirschung und Selbstauslöschung annähert« (Brief vom 10. 5. 1945 an Aldous Huxley); darum habe er dem Rezipienten die nicht-rationale Form »endloser Litaneien« auferlegt, in der ihm selbst seine Erkenntnis zugekommen sei. Zugleich hat Broch allerdings die mit seiner Diktion gegebene Gefahr völliger Esoterik gesehen und auf seine Massenpsychologie als »etwas Sozialeres« verwiesen. In dieser behandele er dieselbe Problematik wie im Vergil: er frage »nach den Prozessen, welche den Menschen zu Verlust und Wiedergewinnung seiner vérités fondamentales, kurzum seiner religiösen Haltung führen«. Von seinen massentheoretischen Arbeiten versprach er sich »einige praktische Wirkung« für die »Wiederhumanisierung der Welt, einschließlich Deutschlands« (ebd.). Trotz der demokratisch-utopischen Prophetie, die auch der Roman formuliert – Vergil sagt Augustus »ein Reich der Menschengemeinschaft« voraus, das vom wissenden Menschen, von der »Würde« und »Freiheit« der »menschlichen Einzelseele« und von »ihrer göttlichen Ebenbildhaftigkeit« getragen sein werde –, konnten von dem dichterischen Werk solche sozialethischen Wirkungen nicht ausgehen. Es fand, im Gegensatz zu den meisten Geschichtsromanen des Exils, nach Kriegsende eine primär ästhetisch-literaturkritische Rezeption, die ihm als eine James Joyce' Ulysses kongeniale künstlerische Leistung einen Standardplatz in der modernen Prosa zuerkannte. Der historische Roman des Exils stellt samt begleitender Theorie den Kulminationspunkt in der Entwicklung dieser durchaus problematischen, vielfach zur Unterhaltungsliteratur herabgesunkenen Gattung dar. Charakteristisch für ihn ist der Versuch einer radikalen »Überwindung des Historismus«. Kaum einer dieser Romane will im Sinne Leopold von Rankes »zeigen, wie es eigentlich gewesen«, für keinen ihrer Autoren ist die dargestellte »Epoche [...] unmittelbar zu Gott«. Die dichterische Praxis deckt sich mit den in verschiedenen theoretischen Äußerungen zu findenden heftigen Attacken auf das Objektivitätsideal der Geschichtswissenschaft. Das jeweils besondere antihistorische Verhältnis zum gewählten geschichtlichen Gegenstand läßt sich an den verschiedenen Verfahrensweisen ablesen: neben dem Rückgriff auf die Historie als »wirkliche Vorgeschichte« des gegenwärtigen politischen Lebens (Lukács) steht die modellhafte Formierung sowie die gleichnishaft-exemplarische Erfassung der historischen Faktizität. Daß dabei die Formen exemplarischer Darstellung der Geschichte dominieren, ist angesichts der aktuellen zeitpolitischen Situation ohne weiteres einleuchtend. Der Rückgriff auf das historische exemplum hat allerdings auch seinen fragwürdigen Aspekt. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert war die exemplarisch- didaktische Geschichtsbetrachtung im Zuge einer gewandelten historischen Erfahrung so gut wie verschwunden. Indem man die Geschichte als fortschreitende Erziehung des Menschengeschlechts bzw. als Abfolge einzigartiger Kräfte ansah, entfiel die Möglichkeit, einzelne vergangene Zusammenhänge auf die eigene Situation beispielhaft-unmittelbar anzuwenden. »Die je einzelne Belehrung geht in der pädagogischen Gesamtveranstaltung auf. Die List der Vernunft verbietet, daß der Mensch direkt aus der Geschichte lernt, sie zwingt ihn indirekt zu seinem Glück« (Koselleck). Das Gros des historischen Romans im Exil aktualisiert demgegenüber den Topos, die Historie sei Lehrmeisterin des Lebens. Heißt es bei Hegel lakonisch: »Was die [...] Geschichte lehrt, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals aus der Geschichte gelernt [...] haben«, so spricht Heinrich Mann ebenso lapidar von »Gestaltung und Lehre« und vom »wahren Gleichnis« seines Henri Quatre-Romans. Der vom Geschichtsroman des Exils unternommene Versuch, den Historismus und damit den älteren historischen Roman zu überwinden, erscheint somit teilweise auch als ein gewisser Rückschritt zu naiveren Formen geschichtlicher Erfahrung und Darstellung. Bei den linksbürgerlichen Autoren kann der Rekurs auf das historische exemplum zugleich als ein Ausdruck ihres sich aus dem Schwanken zwischen Fortschrittsdenken und der Annahme zyklischer Abläufe ergebenden geschichtsphilosophischen Dilemmas angesehen werden. ------------------------------- [1] Im April 1933 bot der holländische Verleger Emanuel Querido Fritz Landshoff an, eine deutsche Abteilung in seinem Verlag zu gründen. Landshoff nahm das Angebot an und ging nach Amsterdam. Er gewann zahlreiche der ehemaligen Kiepenheuer-Autoren für das Unternehmen. Darunter auch Anna Seghers. Ihr Roman „Der Kopflohn“ gehörte zu den neun deutschsprachigen Büchern, mit denen Querido im Herbst 1933 seine Produktion begann. Daneben erschienen u.a. Alfred Döblins „Jüdische Erneuerung“, Lion Feuchtwangers „Die Geschwister Oppenheim“. Die Bücher mußten auf Umwegen über Belgien, Frankreich und die Schweiz nach Wien, Prag, Budapest und anderswo geschickt. Das kostete den Verlag Zeit und Geld. Mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich im März 1938 und der Angliederung des Sudetenlandes im September 1938 verlor der Querido Verlag wichtige Absatzgebiete. Als Folge daraus wurden die Produktionspläne stark reduziert. Querido und seine Frau wurden später in Auschwitz umgebracht. Andere Mitarbeiter des Verlages konnten als „Untergetauchte“ überleben. Landshoff, der im Frühjahr 1942 in London war, konnnte in die USA emigrieren. [2] Gerard de Lange knüpfte nach der Machtergreifung Kontaktte zu Hermann Kesten (1900-1996), dem ehemaligen Lektor im Berliner Verlag Gustav Kiepenheuerund seinem Verlagskollegen Walter Landauer (1904-1944). Nach dem frühen Tod von Gerard de Lange im Jahre 1935 (Delirium), wurde A.P.J. Kroonenburg der deutschsprachigen Abteilung Zwischen 1933 und Juni 1940 haben sie 90 deutschsprachige Ausgaben besorgt. Walter Landauer starb im KZ Bergen-Belsen. Hermann Kesten war im Mai 1940 in Frankreich und konnte in die USA flüchten.Der Verlag wurde gezwungen, sein Verlagsprogramm aufzugeben und der Rest der augelegten bücher wurde erst nach 1945 verkauft. [3] Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, hrsg. von Michael Sievernich, mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger (it 3162), Frankfurt am Main 2006 (ISBN 3-458-34862-X) Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder. Insel, Frankfurt 1966, ISBN 3-458-32253-1 (Nachdruck 1990, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger)