RATTENFÄNGERSAGE Der Rattenfänger von Hameln ist die bekannteste deutsche Sage. Sie wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Man schätzt, dass mehr als 1 Milliarde Menschen sie kennt. Selbst in fernen Ländern gehört sie häufig zum Schulunterrichtsstoff. SAGE Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger sagten ihm diesen Lohn zu, und der Rattenfänger zog sein Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen alsbald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurückgeblieben, ging er aus der Stadt hinaus in die Weser; der ganze Haufen folgte ihm nach, stürzte ins Wasser und ertrank. Als aber die Bürger sich von ihrer Plage befreit sahen, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Mann, so dass dieser verbittert wegging. Am 26. Juni kehrte er jedoch zurück in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Pfeife abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahre an in großer Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Nur zwei Kinder kehrten zurück, weil sie sich verspätet hatten; von ihnen war aber das eine blind, so dass es den Ort nicht zeigen konnte, das andere stumm, so dass es nicht erzählen konnte. Ein Knäblein war umgekehrt, seinen Rock zu holen und so dem Unglück entgangen. Einige sagten, die Kinder seien in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen. Es waren ganze 130 Kinder verloren. (Nach Brüder Grimm "Deutsche Sagen") Der historische Kern der Rattenfängersage konnte bis heute nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Unter den vielen Interpretationen hat der Hinweis auf die von Niederdeutschland ausgehende Ostkolonisation den größten Wahrscheinlichkeitsgrad: Die "Kinder von Hameln" sollen auswanderungswillige Hamelner Bürger gewesen sein, die von adligen Territorialherren zur Siedlung in Mähren, Ostpreußen, Pommern oder im Deutschordensland angeworben wurden. Dabei wird davon ausgegangen, dass damals wie noch heute alle Einwohner als "Kinder der Stadt", "Stadtkinder" bezeichnet werden können. Die "Kinderauszugs-Sage" wurde später mit einer "Rattenvertreibungs-Sage" verknüpft. Diese bezieht sich mit Sicherheit auf die in der Mühlenstadt Hameln im Mittelalter besonders bedrohliche Rattenplage und ihre mehr oder minder erfolgreiche Bekämpfung durch wirklich professionelle "Rattenfänger". HISTORISCHE HINTERGRÜNDE Der historische Kern der Rattenfängersage lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ermitteln. Als gesichert kann jedoch gelten, dass die ursprüngliche Kinderauszugs-Sage erst Ende des 16. Jahrhunderts sekundär mit einer Rattenvertreibungs-Sage verknüpft wurde. Unter den vielen Interpretationen des Kinderauszugs kann die Deutung auf die von Niederdeutschland ausgehende Ostkolonisation die größte Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen: Die „Kinder von Hameln“ dürften Hamelner Jung-Bürger gewesen sein, die von adligen Territorialherren zur Siedlung im Osten angeworben wurden. Die Auswanderungsregion der Hamelner Kinder – zuvor hatte man an Siebenbürgen, Mähren, Pommern oder das Deutschordensland gedacht – wurde von dem Onomastikprofessor Jürgen Udolph 1997 präzisiert: Auswanderer hatten die Angewohnheit, neugegründete Orte in ihren Zielgebieten nach Orten aus ihrer alten Heimat zu benennen. Im Zuge der mittelalterlichen Ostkolonisation lassen sich Ortsnamen aus der Hamelner Region vor allem im heutigen Bundesland Brandenburg lokalisieren, insbesondere in den Regionen Priegnitz und Uckermark. So ist beispielsweise der Name des in der Nähe von Hameln gelegenen Ortes Hamelspringe (dieser Name bedeutet: „Ort, wo der Fluss Hamel entspringt“) als Hammelspring in den Landkreis Uckermark, Brandenburg, übertragen worden, obwohl dort überhaupt kein Fluss „Ham(m)el“ entspringt. Die Vermutung liegt außerdem nahe, dass der Ort Groß Spiegelberg bei Pasewalk ein weiteres Ziel der Hamelner "Kinder" gewesen war. Dagegen scheiden Siebenbürgen und Mähren entgegen früheren Annahmen als Zielgebiete der Hamelner Auswanderer aus, weil es dort keine nachweislich aus dem Wesergebiet stammenden Ortsnamen gibt. Die ältere Literatur verweist hier vor allem auf einen Ortsnamen Hamlíkov in Mähren, doch ist dieser, wie Udolph zeigen konnte, nicht von der Stadt Hameln abgeleitet. Insgesamt aber machen die namenskundlichen Belege für die Regionen Prignitz und Uckermark sowie der überlieferte Zeitpunkt des Kinderauszugs – das 13. Jahrhundert war die Blütezeit der deutschen Ostkolonisation – die Auswanderungstheorie sehr wahrscheinlich: Der Rattenfänger mag in Wirklichkeit ein Werber für deutsche Siedler im Osten gewesen sein, und die Legende (Rattenfänger-Sage) will nur den Verlust fast einer ganzen Generation, die wegen Perspektivlosigkeit ihre Heimat verlassen hat, lyrisch umschreiben bzw. als Racheakt eines Geprellten deuten. Vielleicht wollte man sich auch nicht die Blöße geben, dass eine gesamte Generation auswanderte, weil sie in dem damaligen Zunftwesen keine Zukunft sah und lieber gen Osten zog mit der Aussicht, dort einen eigenen Hausstand oder Betrieb aufzubauen. Mehrere Historiker nehmen an, die Sage vom Rattenfänger von Hameln solle vom Kinderkreuzzug inspiriert worden sein. Gegen diese Ansicht spricht jedoch u. a., dass der Kinderkreuzzug 1212 stattgefunden hat; das glaubwürdig überlieferte Auswanderungsjahr der Hamelner Kinder ist jedoch 1284. Dasselbe Argument ist auch gegen die Deutung der Rattenfängersage als Pesterzählung geltend zu machen, da Pestepidemien im mittelalterlichen Europa erst seit 1347 auftraten. Eine andere, weniger stark vertretene Theorie besagt, dass die Hamelner Kinder einem heidnischen Sektenführer aufgesessen sein können, der diese zu einem religiösen Ritus in die Wälder bei Coppenbrügge geführt hat, wo sie heidnische Tänze aufführten. Dabei habe es einen Bergrutsch gegeben, wodurch die meisten umgekommen seien. Noch heute lässt sich dort eine große Kuhle finden, die durch einen solchen Erdrutsch entstanden sein könnte. Deutsche Ostsiedlung Als mittelalterliche Deutsche Ostsiedlung (früher auch: Deutsche Ostkolonisation, neuerdings auch: hochmittelalterlicher Landesausbau in der Germania Slavica^[1]) bezeichnet man die mit der Einwanderung deutscher Siedler einhergehende Veränderung der Siedlungs- und Rechtsstrukturen in den zuvor überwiegend slawisch und teilweise baltisch bewohnten Gebieten östlich der Elbe und Saale, in der Steiermark und in Kärnten. In dem sich von Ostholstein und Franken bis nach Estland und Slowenien erstreckenden Gebiet wurden Städte und Kolonistendörfer nach deutschem Recht angelegt, bestehende Dörfer und frühstädtische Siedlungen erweitert und umstrukturiert. In den reichsnahen ehemaligen Marken und dem südlichen Ostseeraum wurde die wendische Vorbevölkerung bis auf wenige Enklaven assimiliert. Die Siedlungsbewegung nahm ihren Anfang im 9. Jahrhundert und erlebte ihren Höhepunkt an der Wende zum 14. Jahrhundert. Mitte des 14. Jahrhunderts brach die Siedlungsbewegung u. a. in Folge der großen Pestepidemien jener Zeit ab.