Christa Bürger: Institutionssoziologie Statt einer Interpretation Anmerkungen zu Kleists Erzählen Vorbemerkung „Der natürliche und vernünftige Ausgangspunkt beim literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist die Interpretation und Analyse der literarischen Werke selber."[1] Dieser offenbar unverwüstlichen Behauptung widerspricht eine institutionssoziologisch verfahrende Literaturwissenschaft.[2] Ihr geht es um Status und Funktion bzw. Funktionswandel der Literatur, wobei sie die Annahme macht, daß Produktion und Rezeption literarischer Werke durch jeweils epochale Rahmenbedingungen bestimmt sind. Der institutionelle Rahmen wiederum regiert die einzelnen Praxen des Umgangs mit literarischen Werken, wie Literaturgeschichte, Literaturkritik oder -didaktik und Interpretation. So gesehen, wäre in institutionssoziologischer Sicht auch die Interpretation als Verfahren mit zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Es wird daher im folgenden auch nicht darum gehen, Kleists Erdbeben in Chili zu interpretieren, sondern darum, in einer Problemskizze den Funktionswandel des Erzählens am Anfang des 19. Jahrhunderts zu erfassen. Die leitende Fragestellung könnte dabei sein: Lassen sich im Bereich der erzählenden Literatur Veränderungen ausmachen, die im Zusammenhang mit dem allgemeinen Funktionswandel der Literatur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert interpretiert werden können? Der Funktionswandel der Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts läßt sich am ehesten am Begriff der Nützlichkeit demonstrieren. Im Fortschrittsgedanken der Aufklärung gehen Moralerziehung, auf die Beherrschung der Natur gerichtete Vernunft und ästhetische Erfahrung eine enge Verbindung ein. Gerade der irrationale Charakter der Kunst, der für die Aufklärer eine potentielle Gefährdung eines auf Rationalität gegründeten gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt, wird zum Ansatzpunkt für eine Instrumentalisierung der Kunst zum Mittel der ,Erziehung des Menschengeschlechts'. Innerhalb der aufklärerischen Institution Literatur hat diese bürgerliches Norm- und Selbstverständnis zum 88 zentralen Gegenstand. Die bürgerlich-autonome Institution Kunst/Literatur grenzt dagegen das Nützliche aus dem Bereich der Kunst aus. Das Schöne wird zum Gegenprinzip der „herrschenden Idee des Nützlichen" (Karl Philipp Moritz), Zweckfreiheit zum entscheidenden Merkmal des Kunstwerks.[3] Eine institutionssoziologische Literaturwissenschaft unterscheidet sich von traditioneller u.a. dadurch, daß sie den autonomen Kunstbegriff nicht als Wesen der Kunst auffaßt, sondern als historisch gegebenen Rahmen. Sie kann dies deshalb, weil seit den historischen Avantgardebewegungen dieser Rahmen in Frage gestellt ist. Problemstellung Ich möchte von einem zeitgenössischen Rezeptionsdokument ausgehen. Das Erdbeben in Chili ist bekanntlich eine der frühesten Erzählungen von Kleist, bezeichnenderweise zuerst in einer der beliebten Unterhaltungszeitschriften erschienen, in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände[A1] , vom Autor bald danach in einen Band Erzählungen aufgenommen. Diese Erzählungen rezensiert Wilhelm Grimm in der Zeitung für die elegante Welt: „Die Erzählungen nun, welche Herr von Kleist dem Publikum übergibt, sind keineswegs französischer, sondern durchaus deutscher Art, und nur um so vortrefflicher. [...] Für die Menge sind sie freilich nicht geschrieben, die sich nichts lieber wünscht, als empfindungsselige Liebesgeschichten oder triviale Szenen aus dem häuslichen Leben, mit breiten Reflexionen und moralischen Nutzanwendungen ausstaffiert, oder tolle Abenteuerlichkeiten, von einer fieberkranken Phantasie ausgeboren. Hier ist alles außerordentlich, in Sinnes- und Handlungsart wie in den Begebenheiten; aber diese Außerordentlichkeit ist immer natürlich, und sie ist nicht um ihrer selbst willen da [...] [und so ein schönes Mittel, daß] jedes nicht unkräftige Gemüt sich daran erlabe und stärke, und der durch die einförmigen Gewöhnlichkeiten des Tages beschränkte Blick sich höher hebe und erweitere. Die Darstellung bedarf der kümmerlichen Aushülfe von Betrachtungen und Zurechtweisungen nicht, womit die gemeinen Erzähler ihren leblosen Produkten aufzuhelfen versuchen."[4] Auf den ersten Blick bietet das zitierte Rezeptionsdokument keine besonderen Interpretationsschwierigkeiten. Wilhelm Grimm argumentiert vom Standpunkt der Autonomieästhetik aus und mit deren Kriterien der Unterscheidung von ,hoher' und ,niederer' Literatur in der Absicht, Kleist aus dem Heer der Unterhaltungsschriftsteller herauszusondern und den Kunstwerkcharakter seiner Erzählungen nachzuweisen. Auf der Ebene der Publikumszuordnung ist das eindeutig: Im Unterschied zum „gemeinen Erzähler" schreibt Kleist (d.h. wenn man den ausgelassenen Gegenbegriff ergänzt: der „echte" Künstler) nicht für „die Menge" (die schlechten Gemüter), sondern für „die gebildeten Stände" („nicht un- 89 kräftige Gemüter"). Als außerordentlich widersprüchlich erweist die Rezension sich jedoch auf anderen Ebenen der Argumentation: des Gehalts und der Rezeptionshaltung. Es zeigt sich nämlich, daß Grimms Wertungen sich ändern mit dem System, auf das er sich bezieht: Moral und Abenteuerlichkeit erscheinen mit negativen Vorzeichen im Bereich der Trivialität, aber mit positiven im Bereich der Kunst. Um Kleist gegenüber trivialen Erzählern abzugrenzen, setzt Grimm »außerordentliche Begebenheit' als Wert gegen „triviale Szenen aus dem häuslichen Leben", gerät aber sogleich in Schwierigkeiten, weil ja Abenteuerlichkeit gerade das Grundprinzip der Unterhaltungsliteratur ist. Er nimmt daher eine Abenteuerlichkeit höherer Art an und bestimmt diese als „natürlich" und zweckbestimmt („nicht um ihrer selbst willen da"). Damit verzichtet Grimm jedoch auf eine zentrale Kategorie der Autonomieästhetik, für die Zweckfreiheit das Merkmal des Kunstwerks ist. Die Einführung der Kategorie des Natürlichen an dieser Stelle weist nicht nur auf die verdeckte Normativität des Grimmschen Kunstbegriffs, sondern macht uns auf den zweiten Widerspruch des Textes aufmerksam. „Moralische Nutzanwendungen", d.h. der Bezug auf Moral insgesamt, erscheinen als Merkmal der Trivialität. Gleichzeitig wird aber den Erzählungen Kleists durchaus eine moralische Wirkung zugesprochen, nur ist auch diese erklärt zu einer Moral von höherer Art. Die für die Autonomieästhetik, besonders in den sogenannten Popularästhetiken, charakteristische Forderung des Idealisierens (Überhöhungspostulat) ist erkennbar in Begriffen wie: erlaben, stärken, sich höher heben, erweitern. Vollends bei der Bestimmung der Rezeptionshaltung bzw. der Wirkung werden die Grenzen zwischen Trivialität und Kunst fließend. Diese Widersprüchlichkeit abzutun als analytische Schwäche des Kritikers Wilhelm Grimm, würde dem Problem, das sich darin verbirgt, nicht gerecht. Zweierlei wird man sagen können: die Dichotomie von ,hoher' und ,niederer' Literatur ist zumindest in dieser Epoche rational schwer begründbar. Sie beruht auf Setzungen (Kleist ist ein Künstler). Die Auratisierung des Kunstwerks verlangt offenbar nach einem Gegenprinzip. Die Institution Kunst grenzt das Triviale aus als Nicht-Kunst. Zum andern: Die Rezension Wilhelm Grimms verweist auf den zentralen Widerspruch der Autonomieästhetik, Kunst und Moral als voneinander getrennte Bereiche zu denken, die Autonomie der Kunst gegenüber der Moral behaupten und zugleich moralisch sein zu müssen.[5] Die Rezension enthält jedoch noch einen weiteren Hinweis, der uns helfen kann, die Frage nach dem Funktionswandel der Kunst zu beantworten: ich meine den darin behaupteten Gegensatz von französischer und deutscher Art. Grimm möchte der in der Epoche verbreiteten Meinung widersprechen, die französischen Schriftsteller hätten gegenüber ihren deutschen Kollegen einen notwendigen Vorsprung im „Fache der 90 Erzählungen", „weil sie als eine ganz in der Gesellschaft lebende und für sie gebildete, beständig konversierende Nation, da gleichsam von Hause schon einheimisch wären, wohin wir erst durch Kunst uns versetzen müßten".[6] Auch hier ist die Argumentation auf eine bezeichnende Weise widersprüchlich. Wenn wir sie rekonstruieren, lauten die einzelnen Schritte: die Erzählung ist ein Medium des gesellschaftlichen Lebens – wir haben in Deutschland keine literarische Öffentlichkeit, keine gesellschaftliche Bildung – die deutschen Erzählungen sind höheren Rangs, weil sie „aus der Individualität" des einzelnen Künstlers hervorgehen.[7]7 Wieder wird ein Mangel umgedeutet als Wert; die Gedankenfigur, die das leistet, ist die Berufung auf ein ,Höheres'. Ceci n'est pas un conte Wir stoßen hier auf die in der Grimmschen Rezension verborgene Programmatik. Als Einschränkung der Prosagattungen erscheint darin deren Einordnung in einen auf normative Diskussion orientierten Kommunikationszusammenhang, gerade das also, was das Interesse der Aufklärung an der Prosaerzählung begründete. Abgelehnt wird von Grimm eine Funktionsbestimmung des Erzählens, die dieses als Medium einer „beständig konversierenden Nation" auffaßt, d. h. als Medium einer literarischen Öffentlichkeit. Die neue, deutsche und eben Kleistische Weise, Geschichten zu erzählen, „überwindet" diese Einschränkung. Die verdeckte Programmatik Wilhelm Grimms, so wird man schließen dürfen, steht in Opposition zum bürgerlich-aufklärerischen Literaturbegriff. Da die Erzählungen von Diderot, die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts entstanden sind, als Paradigma aufklärerischen Erzählens gelten können, soll an ihnen die Funktion dieses Erzählens erörtert werden. Man wird der Diderotforschung folgen können, wenn sie den Zusammenhang der Contes mit dem Journalismus der Frühaufklärung betont. Als Teil des Projekts der Aufklärung weisen diese Erzählungen folgende Merkmale auf: Sie vernachlässigen das Moment der Originalität (wir erinnern nur an die beherrschende Rolle, die dagegen der Begriff der unerhörten Begebenheit' später in der Novellenprogrammatik in Deutschland spielt) zugunsten der Konstruktion, d.h. der Verarbeitung und Verknüpfung von bereits bekannten, erlebten, gehörten oder gelesenen Ereignissen oder Geschichten. Sie sind zweitens wirkungsorientiert. Ziel der Konstruktion ist die Erschütterung des Rezipienten, denn diese gilt dem Aufklärer als Voraussetzung für eine an die erzählte Geschichte anschließende, auf die Einsicht in soziale Zusammenhänge gerichtete Reflexion. Diderots Contes dürfen Ansprüche auf einen Titel erheben, den Hermann Broch einer seiner Novellen gegeben hat: Methodologische Novelle (1933); sie sind wie diese „methodisch konstruiert" und stellen „nur 91 eine, und vielleicht nur zufällige Lösung aus der Fülle der zu Gebote stehenden Lösungsmöglichkeiten dar".[8] Wenn Diderot die Verbindung von exemplarischem Handlungsverlauf und alltäglichen Details, die Konfrontation von Norm und charakteristischer Abweichung fordert, so ist dies zu verstehen als Aufforderung zum experimentierenden Erzählen. Zur Grundstruktur der methodologischen Erzählungen Diderots gehört der Dialog. Das entspricht der Neigung des Enzyklopädisten, gegenüber Ereignissen, Phänomenen und Personen eine Distanz zu beziehen, die ihm erlaubt, alles in Frage zu stellen. Im Dialog entdeckt Diderot die Möglichkeit, das Disparateste zu vermitteln. Denn im Medium der Konversation wird die Wirklichkeit als gemeinsame Konstruktion erfahrbar, in die neben den Fragmenten einer begriffenen Wirklichkeit auch die Traumvision und die Phantasien des Wahnsinns sich integrieren lassen. Im experimentierenden Erzählen und Besprechen erscheint die Wirklichkeit als menschliche Arbeit. Dieses Programm unterscheidet sich auch hierin grundsätzlich von dem der idealistischen Ästhetik, die in der Rezension von Wilhelm Grimm wirksam ist, daß es nicht um Idealisierung der Wirklichkeit geht, sondern um deren Bearbeitung. (Ich werde auf diesen Aspekt zurückkommen.) Das dialogische Grundprinzip der Diderotschen Contes ist mehr als ein künstlerisches Verfahren. Es geht darin nicht so sehr ums Geschichtenerfinden. „Methodisch konstruiert" sind die Contes auch deswegen, weil sie vorführen, welche Funktion dem Erzählen zukommt und wie man mit Geschichten umgehen soll. Der Dialogpartner von Diderots Erzähler kennt oft die zu erzählende Geschichte schon und hat bereits ein Vorurteil. Erzählt wird, damit man sich über ein Ereignis, eine Handlung im Gespräch –konversierend, räsonnierend –verständigen und zu einem Urteil darüber kommen kann. Diderots Leser, der Dialogpartner seiner Erzählungen, erwartet keine überraschende Wendung, keine unerhörte Begebenheit', sondern eine bestimmte Beurteilung menschlichen Handelns. Die Dialektik des dialogischen Erzählens besteht in der Konfrontation eines dem „gesunden Menschenverstand" sich verdankenden, bloß Oberflächenphänomene wahrnehmenden Urteils (dem des Zuhörers) mit dem reflektierten des Aufklärers (des Erzählers). In Ceci n'est pas un conte werden zwei Kontrastgeschichten erzählt: beide Male wird ein Liebender bzw. eine liebende Frau, die ihrem Geliebten Vermögen, Ansehen und Gesundheit geopfert haben, von diesem verlassen. Dem „gesunden Menschenverstand" muß daher der geliebte Partner als undankbar, grausam und berechnend erscheinen. Trotzdem gelingt es dem Erzähler im Verlauf eines die Geschichte begleitenden Diskussionsprozesses, das Vorurteil, die abstrakten Begriffe des Zuhörers, zu erschüttern. Am Schluß der Conte kann die Frage, wer in der Geschichte das Opfer und wer der Schuldige ist, offen bleiben. Die Abstraktheit des morali- 92 sehen Urteils wird korrigiert durch eine Reflexion, die den konkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen menschlichen Handelns nachgeht. Entstanden in der Epoche des Übergangs von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, sind Diderots Erzählungen als Werkzeuge in jenem schwierigen Lernprozeß zu verstehen, dessen Ergebnis die moralische Autonomie der Subjekte zu sein hätte. Die Methode der Contes findet in Hegels listigem kleinen Aufsatz Wer denkt abstrakt? (1807) ein Echo. Bezeichnenderweise stellt auch Hegel sich vor, daß die Lösung der aufgeworfenen Frage in einer aufgeklärten Gesellschaft, konversierend also, gefunden werden sollte. Die Pointe des Hegelschen Aufsatzes besteht in der Umkehrung eines verbreiteten Vorurteils. Dieses will, daß es auch in der Welt des Denkens eine Rangordnung gibt, und wertet den abstrakten Begriff gegenüber dem ,gemeinen' Verstand, der sich aufs Konkrete einläßt, als das Höhere. Hegel führt die Wertopposition in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurück, indem er das abstrakte Denken, das ihm als das niedrigere gilt, dem gemeinen Mann zuweist, das konkrete dem gebildeten, wobei er demonstriert, was Dialektik ist: sich einlassen auf die Sachen. Die Beispiele, die er nun entwickelt, sind zugleich Modelle aufklärerischen Erzählens. „Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich [...] Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt. Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb [...]. Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen."[9] Geheime Geschichte Geschichtenerzählen als integriertes Element philosophischer Demonstration – das Beispiel Hegel scheint mir geeignet, um den erstaunlichen Reichtum aufklärerischer Erzählformen deutlich zu machen und darauf hinzuweisen, daß die Tradition des experimentierenden, räsonnierenden Erzählens keineswegs auf Frankreich beschränkt ist. Daß es dabei nicht um die Vermittlung bürgerlicher Normvorstellungen geht, sondern gerade um deren Problematisierung, sollte ebenso erkennbar geworden sein. 93 Wenn wir derzeit eine Krise der Kunstautonomie erleben, so könnte dies uns fähig machen anzuerkennen, daß im Funktionswandel des Erzählens zwischen Aufklärung und Autonomie auch etwas verloren gegangen ist, nämlich die Möglichkeit, im öffentlichen Medium der Literatur gesellschaftliche Probleme kollektiv zu bearbeiten. Ich möchte im folgenden versuchen, Kleists Erzählen innerhalb dieses Funktionswandels zu verorten. Vorab muß dazu in Erinnerung gebracht werden, daß nicht nur seine Beiträge für die Berliner Abendblätter, sondern durchaus auch die Novellen in der Tradition der Kriminalgeschichte und der Schauererzählung zu sehen sind. Um deren Problematik zu erörtern, greife ich noch einmal auf Hegels Aufsatz zurück. Zwischen dem gemeinen Verstand und der gebildeten Gesellschaft gibt es für ihn noch eine Gruppe, an deren Aufklärbarkeit er offenbar zweifelt: die Leser des Morgenblattes für gebildete Stände, die ein schlechtes Interesse an der Kriminalität an den Tag legen. Sie verfallen nämlich in die „entgegengesetzte Abstraktion", indem sie das Rad, auf das der Verbrecher geflochten ist, mit Blumen bestreuen. Dies stellt für Hegel „eine Kotzebuesche Versöhnung, eine Art liederlicher Verträglichkeit der Empfindsamkeit mit dem Schlechten" dar.[10] Die Kriminalgeschichte als ästhetisch anerkanntes Genre wird in Deutschland mit dem Namen Schillers zusammengebracht. In seiner Vorrede zum deutschen Pitaval Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit (1792) versucht Schiller, die deutsche Übersetzung mit dem Argument zu rechtfertigen, man dürfe die Befriedigung der Lektürebedürfnisse neuer Leserschichten nicht „mittelmäßigen Skribenten und gewinnsüchtigen Verlegern" überlassen, sondern müsse den „allgemeinen Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen" „zu edleren Zwecken benutzen)". Diesen Zweck bestimmt Schiller als „Menschenkenntnis und Menschenbehandlung“, welche im Medium der Unterhaltung erworben werden können. Wichtig ist dem Aufklärer Schiller vor allem, wie diese Rechtsfälle erzählt werden, so nämlich, daß „die Zweifelhaftigkeit der Entscheidung, welche oft den Richter in Verlegenheit setzte, auch dem Leser (mitgeteilt wird)“.[11] Es mag verwundern, daß Schiller mit keinem Wort die Arbeit eines zu seiner Zeit außerordentlich bekannten, heute vergessenen Schriftstellers erwähnt, dessen seit 1778 herausgegebene Skizzen exakt seinen eigenen Vorstellungen entsprechen müssen. August Gottlieb Meißner hat solche Rechtsfälle gesammelt und – gemäß seinem aufklärerischen Literaturbegriff – sich verschiedener operativer Kleinformen bei der Bearbeitung bedient: Anekdote, Fabel, Dialog, Brief etc. Immer wieder hat er seine Leser zur Mitarbeit aufgefordert. Seine Skizzen versteht er als Diskussionsanstoß für eine aufgeklärte bzw. aufzuklärende Öffentlichkeit. Auch Meißner hat über die Funktion des Erzählens von (erlebten, gehörten, gelesenen) wirklichen Begebenheiten nachge- 94 dacht. Er bedauert, daß die Öffentlichkeit nur die Schicksale von durch ihren Rang und ihre Herkunft herausgehobenen Rechtsbrechern zur Kenntnis nimmt, nicht das der vielen Namenlosen. „Wie oft würden wir in den Kriminalakten einer bestaubten Gerichtsstube manche Begebenheit antreffen, die zur geheimen Geschichte des menschlichen Herzens uns bessere Aufschlüsse als ganze Quartanten so genannter tiefsinniger Menschenkenner, lieferte. Wie oft würden wir die Macht des Lasters und der Tugend dicht in einander verfliessen sehn, und eben denjenigen bewundern, oder wenigstens beklagen, den wir kurz vorher verabscheuten [...] wie zweifelhaft würden wir oft seyn, wenn wir entscheiden sollten, ob das, was menschliche Gesetze mit dem Tode bestraften, und bestrafen mußten, vor den Augen des Weltrichters Barbarey oder Edelmuth seyn werden."[12] Dem Erzähler Meißners geht es, ähnlich wie dem Diderots, um das Problem der Beurteilung menschlicher Handlungen. Er stellt daher Exempel „von gemischter Güt' und Grausamkeit" vor. Man würde Meißner wohl kaum gerecht, sähe man darin nur eine Anlehnung an die aristotelische Forderung nach dem gemischten Charakter. Sein Interesse gilt vielmehr Rechtsfällen, die die Sicherheit abstrakter Bewertungen von Menschen und Schicksalen erschüttern sollen.[13] Der Begriff der „geheimen Geschichte", den Meißner in seinem Erzählprogramm entwickelt, hat traditionsbildend gewirkt. In der Tat ist in ihm viel Aufklärerisches enthalten: die Möglichkeit einer Geschichte des Alltags, montiert aus den Erfahrungen und Schicksalen der kleinen Leute, als Stoff für das öffentliche Räsonnieren. In diesem Sinn verwendet Achim von Arnim den Begriff in seinem Novellen-Zyklus Der Wintergarten ([A2] 1808). Er bearbeitet darin eine Episode aus der Chronik Froissarts, den er als vorbildlichen Geschichtsschreiber rühmt, weil er „die Geschichte ganz als Memoiren behandelte wie Herodot, und mir als Vorbild einer geheimen Geschichte unsrer Zeit vorschwebt, die noch geschrieben werden muß."14 Die Augenzeugenberichte, aus denen diese geheime Geschichte einer Epoche sich zusammensetzt, haben nicht den Status von abgehobenen Kunstwerken, sie erscheinen auch meist nicht als l'inzelveröffentlichungen, sondern als Kalendergeschichten oder als Anekdote, Exempel, Kriminalbericht in Almanachen und Zeitschriften, wobei die Kalender vorwiegend von der bäuerlichen Bevölkerung und kleinen Handwerkern gelesen werden, die Almanache und Zeitschriften von den „gebildeten Lesern aller Stände" in den Städten. Seit 1789 läßt sich ein wachsendes Bedürfnis nach solchen Geschichten beobachten, zugleich fällt auf, daß in ihnen das dialogische Moment außerordentlich entwickelt ist.15 Es sind Geschichten, über die redend, im Gespräch, reflektiert wird, also „Nutzanwendung" durchaus. Es kann nicht darum gehen, eine vergessene Literatur ihrer angenommenen Volkstümlichkeil wegen aufzuwerten, den Kalender als Ausdruck 95 einer existierenden Geschichte von unten zu glorifizieren. Wohl aber wird man sehen dürfen, daß in den erzählenden Gattungen der Zeitschriften ein wichtiges Element der Aufklärungsbewegung weiterlebt oder wenigstens doch potentiell, latent vorhanden ist. Zu erinnern ist an Herders gegen die Kunstautonomie geschriebene Adrastea, wo Memoiren und Maximen (gegen deren primären Rezeptionskontext) als Grundform menschlichen Zusammenlebens gedeutet werden. „Leben ist Aeußerung seiner Kraft; von dem aber was Seele und Hand wirkt, will auch das bewegliche Ruder der Vernunft, die Zunge, reden. Durch dies Sprechen über sich klärt sich der Handelnde selbst auf."16 Ausdrücklich fordert Herder dazu auf, daß jeder sich und der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegt über sein eigenes Leben, denn nur durch die wahrhaftige Erforschung der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen lassen sich die „drückendsten Hinderniße der Menschenbildung hinwegthun". „Die aus dem Fegefeuer jugendlicher Quaalen ertönenden Stimmen" müssen endlich gehört werden. So wird das Erzählen und kommentierende Besprechen von Geschichten, das Herder als „Conversation der Geister" beschreibt, zum Instrument der Beförderung der Humanität.17 Wie erklärt es sich, daß das Geschichtenerzählen und das Reflektieren über Geschichten so schnell in Mißkredit gerät? Die Polemik Hegels gegen die zeitgenössischen Zeitschriften (wie zuvor die Schillers gegen die Kultur der Lesegesellschaften) richtet sich gegen die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sich ausbreitende Trivialliteratur, die besonders von Hegel wegen ihres Versöhnungsgestus (dieser trägt bei Hegel den Namen Kotzebue) verworfen wird, d.h. weil sie einem historisch bereits überwundenen normativen Niveau verhaftet bleibt. Wie verhält sich dazu die Argumentation von Wilhelm Grimm? Hier wird nicht mit fehlender (oder zweifelhafter) normativer Qualität argumentiert, sondern einerseits Reflexion als integrativer Bestandteil des Erzählens überhaupt abgelehnt, andererseits jedoch ein normativer Begriff des Menschen („Menschennatur und Welt in ihrer ursprünglichen Kraft") und der Kunst (Mittel zur Erhebung) unterstellt. Die Kleist-Rezension Wilhelm Grimms ist kein vereinzeltes, zufälliges Rezeptionsdokument, sie faßt vielmehr eine Tendenz zusammen, die seit der Romantik wirksam ist und die im folgenden anhand der poetologischen Bemerkungen der Brüder Schlegel zur Novelle erörtert werden soll. Diese Tendenz geht dahin, die Gattung der Novelle bzw. das Erzählen aus der aufklärerischen Institution Literatur herauszulösen. 96 , Novellentheorie' Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Germanistik, daß sie programmatische Äußerungen von Schriftstellern als Theorie behandelt, d. h. etwas zum Rahmen von Interpretation macht, was Gegenstand historischer Untersuchung sein müßte.18 In ihren programmatischen Äußerungen versuchen die Brüder Schlegel zunächst einmal einen Gattungsbegriff zu konstruieren. Historisch argumentierend, bestimmen sie die Novelle als eine moderne Gattung,19 die entsteht im Zusammenhang mit der Aussonderung von Ständen, und soziologisch argumentierend, ordnen sie die Novelle den höheren Ständen zu, in denen sich zuerst ein Bedürfnis nach geselliger Unterhaltung entwickelt. Für August Wilhelm Schlegel liegt bei Boccaccio deswegen das Modell der Gattung vor, weil sein Decamerone Novellenerzählung und ,Novellentheorie' in einem ist. Die funktionsgeschichtliche Bedeutung der Schlegelschen Gattungsdefinition scheint mir in ihrer Verwendung des Begriffs der ,Unterhaltung' zu liegen. Er bleibt in der Schwebe /.wischen divertissement und Konversation und vermag auf diese Weise /ahlreiche Konnotationen freizusetzen. Der mit dem Stichwort divertissement angesprochene Konnotationsanteil ruft die Erinnerung an diejenige Institutionalisierung der Literatur wach, die von der Aufklärungsbewegung bekämpft worden war, die höfisch-feudale. Andererseits schließt der Begriff bestimmte Konnotationen auch aus: alle diejenigen, die auf das Räsonnement einer literarischen Öffentlichkeit hinausgehen. Mit Goethes Unterhaltung deutscher Ausgewanderten (1795) werden l Interhaltung und geselliges' Verhalten zu normativen Begriffen: „Es war nur ein Gesetz in der Gesellschaft, das aber strenge beobachtet wurde, nichts Bestimmtes von den Begebenheiten der Zeit zu reden und dafür allerlei < ieschichten aus andern Zeiten und Ländern zu sammeln, die dann gemein-ii haftlich genossen wurden.". Achim von Arnims „übellaunige Wintergesellschaft" will, so konsequent wie Goethes Ausgewanderte die Französische Revolution, die Besetzung Berlins durch die Napoleonischen Truppen verdrängen.20 Geselligkeit interessiert nur mehr als Lebensform, nicht als Rahmenbedingung I iir die rationale Diskussion normativer Probleme. Indem jedoch das Geschichtenerzählen abgekoppelt wird vom Räsonnieren, wird Geselligkeit zum Gegenstand des Genusses für den Leser. Anders als bei Diderot ist geselliges Verhalten nicht das Ergebnis des Räsonnements (also Arbeitsprodukt), sondern ein fester Rahmen, als dessen Modell der aristokratische Salon gelten kann. Der Leser genießt beides, die erzählte Geschichte und da- dargestellte Geselligkeit, als .außergewöhnliche Begebenheit' und .ils besondere Lebensform. 97 Der Rückbezug von Unterhaltung auf die ständische divertissement-Kultur zeigt sich auch in der von den Brüdern Schlegel vorgezeichneten Traditionslinie. Die Geschichte der Novelle, als deren „Meister" Boccaccio, Cervantes und Goethe gelten sollen, hat ihre Blütezeit bereits hinter sich; sie wird in ein vergangenes Zeitalter projiziert, „wo Ritterthum, Religion und Sitten den edlern Theil von Europa vereinigten". Die Namen von Voltaire oder Diderot verzeichnet diese Geschichte nicht. Man wird daraus schließen dürfen, daß es den Brüdern Schlegel darum geht, das Erzählen aus der aufklärerischen Institution Literatur herauszulösen und ihm in der Novelle eine abgehobene Kunstform zuzuweisen. Diese Behauptung läßt sich mit einer weiteren Beobachtung absichern. Die Programmatik der Brüder Schlegel gibt einen normativen Gattungsbegriff zu erkennen, ganz im Gegensatz zur Vielzahl freier Erzählformen, die in der Epoche der Aufklärung entwickelt worden sind –eine Bemühung, die angesichts der von den Brüdern, besonders aber von Friedrich Schlegel gern in Anspruch genommenen experimentellen Freiheit immer wieder überrascht. Die ästhetische Norm, auf die die Novelle verpflichtet wird, ist der klassische Symbolbegriff. Die Novelle soll, „um acht zu seyn, von der einen Seite durch seltsame Einzigkeit auffallen, von der andern Seite eine gewisse allgemeine Gültigkeit haben".21 Sie soll „in der wirklichen Welt zu Hause seyn", aber diese zugleich „veredeln", wenn auch nicht „über Gebühr".22 Das Idealisierungspostulat, auf die Novelle angewendet, bestimmt diese als „Gegenmittel" einer „durchaus anstößigen" Wirklichkeit. Die Motive dürfen „gemein" sein, doch müssen sie so organisiert werden, daß sie mit „den Gesetzen und Gesinnungen der feinen Gesellschaft", wo die Novelle „ihren Ursprung und ihre Heimath hat",23 vereinbar sind. Dies ist die Leistung der „überlegnen Ansicht" des „gebildeten" Erzählers.24 Nun wäre es im strengen Wortsinn einseitig, wollte man nur das normative Moment der Schlegelschen Novellenprogrammatik sehen und diese als einen Versuch deuten, die Emanzipation des Geschichtenerzählens von Gattungszwängen, die durch die Aufklärung eingeleitet worden ist, rückgängig zu machen und eine deutlich abgegrenzte Gattung, die Novelle, dem klassischen Idealisierungspostulat zu unterwerfen. Vielmehr enthalten die Reflexionen der Brüder Schlegel durchaus moderne Momente, etwa wenn die Prosa als die „ursprüngliche und wesentlich eigne Form" der Novelle betrachtet25 oder die Subjektivität zu ihrem Gehalt erklärt wird.26 Jedoch macht Friedrich Schlegel hier sogleich wieder eine Einschränkung: Subjektivität ist „indirect und gleichsam sinnbildlich darzustellen", weil „diese indirecte Darstellung des Subjectiven für manche Fälle angemessener und schicklicher sein kann".27 Die Rückwendung auf höfisch-feudale Normvorstellungen (die bienseance-Forderung der doctrine classique) ist hier kaum zu überhören. 98 Wichtiger scheint mir ein anderer Gedanke der Brüder Schlegel. „Deswegen muß es nun auch in der modernen Poesie eine eigenthümlich historische Gattung geben, deren Verdienst darin besteht, etwas zu erzählen, was in der eigentlichen Historie keinen Platz findet, und dennoch allgemein interessant ist. Der Gegenstand der Historie ist das fortschreitende Wirken des Menschengeschlechts, der jener wird also dasjenige seyn, was immerfort geschieht, der tägliche Weltlauf, aber freylich damit er verdiene aufgezeichnet zu werden. Die Gattung, welche sich dieß vornimmt, ist die Novelle. [...] Die Novelle ist eine Geschichte außer der Geschichte, sie erzählt folglich merkwürdige Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Anordnungen vorgefallen sind."28 Die Bestimmung der Novelle als „eigenthümlich historische Gattung" läßt erkennen, daß August Wilhelm Schlegel sehr wohl die Tradition kennt, von der er sich abgrenzen will: Diderot, dessen Name nicht fällt, bezeichnet seine Erzählungen auch als contes historiques. Und die Formulierung im letzten Satz erinnert an Schiller oder Meißner und deren Versuche, eine Geschichte des bürgerlichen Alltags im Medium von Erzählungen zu schreiben, welche die „Erfahrung von wirklich geschehenen Dingen mittheilen (sollen)".29 Die Zurücknahme erfolgt wieder durch Friedrich Schlegel, der den Zusammenhang von Novelle und Geschichte im Wortspiel auflöst: [Es ist die Novelle] Eine Geschichte also, die streng genommen, nicht zur Geschichte gehört, und die Anlage zur Ironie schon in der Geburtsstunde mit auf die Welt bringt".30 Die Geschichte, die die Novelle erzählt, soll nur noch „für sich" und „einzeln" interessieren; ironisch hebt sie stets die latente (aufgrund ihrer „sinnbildlichen" Darstellungsweise sich ergebende) Beziehung von Subjektivität und Geschichtsverlauf wieder auf. Schlegels Novellendefinition zielt letztlich auf die Konstituierung der Gattung als reine Kunstform, die jeden beliebigen Inhalt zum Anlaß haben kann.31 Isolierung Die wenigen Selbstzeugnisse, die es von ihm gibt, erlauben es nicht, Kleist bestimmte ästhetische Vorstellungen zuzuweisen; wir wissen nicht, welche Bedeutung er dem Erzählen gegeben hat. Wir sind daher darauf angewiesen, aus den Erzählungen selbst und aus den Rahmenbedingungen, in denen sie publiziert und rezipiert (oder nicht rezipiert) worden sind, eine Funktionsbestimmung seines Erzählens zu erschließen. Nun hat Kleist seine Erzählungen zunächst in Zeitschriften veröffentlicht, sie aber sehr bald in einem Band Erzählungen herausgegeben. Anders als z.B. die Novellen von I iidwif; Ticck oder Achim von Arnim, die durch eine, sei es 99 auch lockere, Rahmenerzählung verbunden sind, haben wir es bei den Erzählungen Kleists mit auf eine geradezu aggressive Weise isolierten, für sich abgeschlossenen Einzelwerken zu tun. Was der Verzicht auf den Rahmen in dieser Epoche bedeutet, läßt sich an einer Bemerkung Arnims ablesen. Im Schlußbericht seines Zyklus' Landhausleben rechtfertigt sich der Ich-Erzähler gegenüber dem Vorwurf, er habe „gegen die ManicT, welche im ,Wintergarten' beobachtet wurde", verstoßen. „Sie hätten je der Erzählung ihren geselligen Rahmen und die dabei gewonnene Kritik gelten lassen sollen". Die Argumente des Ich-Erzählers operieren auf vet schiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Materialentwicklung (will man nicht einfach von literarischen Moden' sprechen) ist der Verzicht anl den Rahmen gleichbedeutend mit der Emanzipation des Erzählens vom Räsonnieren, von der Kritik. Auf der Ebene der normativen Entwicklnnr, geht die Argumentation in unterschiedliche Richtungen: Einmal wird Kritik überhaupt abgewertet als eine Art Krankheit, wobei der Angril'l auf die Aufklärung verdeckt bleibt, zum andern wird sie reduziert aul die Beurteilung des ästhetischen Werts der einzelnen Erzählungen; die im Rahmen bereits vorweggenommene Kritik erscheint dann als Eingriff in die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten, als Beschneidung du ästhetischen Kompetenz der Leser. ,„Die Erfahrung hat mich belehrt', entgegnete ich, ,daß diese Zwischenreden der Gesellschaft von den meisten Lesern, eben weil sie nur Bruchstücke ein« fortlaufenden Geschichte sind, überschlagen oder überlaufen werden. Kritisch« Urteil über die Geschichten scheint aber außerdem ein gänzlicher Mißgriff, weil jeder Leser, wenn er nun einmal diese unselige Richtung zur Kritik hat, sich In ber selbst seinen Weg schafft, gegen einen fremden Stangenzaun aufbäumtl wenn er aber von diesem Unheil noch frei geblieben, dieses Beurteilen von I )in gen, die ihm leben, als Eingriff in die Rechte des freien Daseins verabscheuen muß.' "32 Daß Arnims Rechtfertigung durchaus zeitgemäß ist, zeigt die Reak tion Wilhelm Grimms auf das Landhausleben. Dieser kritisiert mit autO nomieästhetischen Argumenten auch die einzelnen Erzählungen wegen der Vielfalt der darin enthaltenen Darstellungselemente. Arnim veni.u h lässige die strenge Trennung von Novelle und Abhandlung, von Erzählen und Räsonnieren. Grimm geht aus von einem zeitgenössischen Leser, der mit bestimmten Voreinstellungen rezipiert: er will entweder Kunst oder etwas ganz anderes, Philosophie, Wissenschaft etc. „Wer [Novellen] liest, will sich durch solche Betrachtungen, die er doch m. In recht versteht, in seinem Plaisir [nicht] stören lassen. Die Poesie selbst, meine ic h. darf klagen, daß Du ihr mehr auferlegt hast, als ihre Schultern trugen können und sollen".33 Offenbar hat sich die Rezeptionshnltung der bürgcrlichi'n (gebildetn) 100 Leser gegenüber der aufklärerischen Institution Literatur radikal verändert. Grimm hält die Leser bereits gar nicht mehr für fähig, ein anderes als ein „rein ästhetisches" Interesse zu entwickeln, einen ästhetischen Gegenstand als Anlaß zur Reflexion zu benutzen. Für Wilhelm Grimm ist die Dichotomisierung der Leser in Bildungselite und Kulturkonsumenten eine sozusagen natürliche' Gegebenheit. Sie stellt für ihn kein Problem dar. Um das literatursoziologische Faktum' in ein Problem zurückzuf ormulieren, gehe ich von einer in der Epoche überaus erfolgreichen Distributionsform aus, der Chrestomathie. Was hat es zu bedeuten, wenn zu Beginn des 19. Jahrhunderts und in immer neuen Auflagen bis 1825 Anthologien mit ausgewählten Passagen aus dem Werk Jean Pauls erscheinen? Der bekannteste Herausgeber, Pö-litz, rechtfertigt sein Unternehmen folgendermaßen: Das Schöne und Treffliche in seinen Schriften steht so isoliert da, daß es gewöhnlich aus dem Zusammenhang, in welchem es vorkommt, herausgerissen und einzeln aufgeführt werden kann, ja daß es durch dieses Isolieren noch überdies gewinnt. –Kein Schriftsteller der neuern Zeit hat ferner so oft und so häufig Sentenzen, als Jean Paul. Sie werden aber in dem Ganzen eines belletristischen Werkes nicht so innig gefühlt und nicht so genau bezeichnet als wenn sie aus allen gesammlet und zu einem neuen Ganzen zusammengestellt werden. Durch diese Zusammenstellung [...] (wird) eine Sammlung gebildet, die, da sie so vieles U eberspannte, Mystische, Halbwahre und aus einer einseitigen Ansicht der Gegenstände Geflossene ganz von sich ausschließt, einen reinen, bleibenden und be-hiedigenden Genuß gewähren kann."34 Jean Paul stellt für eine autonomieästhetische Literaturauffassung ein Problem dar: Seine Romane lassen sich schwer unter die Kategorie der organischen Ganzheit fassen. Daß man sie –ohne in ihre Form einzugreifen –als Beispiel für eine nicht-autonome, nicht-organische Literatur-Auffassung betrachten kann, dafür fehlen dem in der idealistischen Ästhetik verhafteten Zeitgenossen die Voraussetzungen. Zugleich ist jedoch Jean Paul gerade deswegen ein so beliebter Schriftsteller, weil er (im Gegensatz zur autonomen ,hohen' Literatur der Epoche) den normativen Orientierungsbedürfnissen der Zeitgenossen entgegenkommt -durch Sentenzen. Was nun entsteht, ist ein außerordentlich schiefes Gebilde. Aus den (von nicht-organischen und moralisch bzw. politisch unzuverlässigen Stellen gereinigten) Einzel werken Jean Pauls werden An-ihologiestücke herausgezogen; diese sollen, obwohl die Auswahl ausdrücklich von einem moralisch-praktischen Interesse („nahrhaftes Buch") geleitet ist, eine harmonische Ganzheit des Gesamtwerks sugge-i icicn. Es liegt auf der Hand, daß damit einmal die Möglichkeit einer al-ternativen Literaturvorstellung unterlaufen wird, die nämlich das Werk nicht als isolierte Totalität, sondern als Medium gegenwärtiger Reflexion betrachtet,>!l dals1 /.um andern das Werk selbst seines kritischen Ge- 101 halts beraubt und den herrschenden Norm- und "Wertvorstellungen dienstbar gemacht wird.36 Das Beispiel der Jean-Paul-Chrestomathie sollte deutlich gemacht haben, daß die von der autonomen (.hohen') Literatur nicht beantworteten normativen Orientierungs- und Sinnbedürfnisse der Leser in falscher Weise Befriedigung finden: durch die Instrumentalisierung von Einzelwerken.37 In dem Maße, wie die materiellen Bedingungen für die Ausbildung einer kritischen Öffentlichkeit schwinden, wächst auch die Gefahr, daß das Festhalten an bürgerlich-aufklärerischen Literaturvorstellungen repressiv wirkt oder eingeholt wird durch die sich ausbreitende Unterhaltungsliteratur. Von hieraus läßt sich eine Erklärung gewinnen für das, was man den .Solipsismus' der Kleistschen Novelle nennen könnte. Wir wissen aus einer Briefmitteilung Clemens Brentanos, daß Kleist nur widerstrebend und aus Gründen materieller Existenzsicherung Erzählungen geschrieben hat, und daß dieser Kompromiß mit den Forderungen des literarischen Marktes „ihn grenzenlos gedemütigt hat".38 Kleist fürchtet die Trivialität, und dazu besteht durchaus Grund. Denn trotz der Förderung durch den in der eleganten und gebildeten Gesellschaft Dresdens angesehenen Adam Heinrich Müller scheitert nicht nur das gemeinsame Zeitschriftenprojekt des Pböbus, sondern das Urteil über Kleists Erzählungen lautet dort: „flach". Man findet darin „Reminiszenzen von Iffland", was gleichbedeutend ist mit der Ausgrenzung der Erzählungen aus dem Bereich der .hohen Kunst'. Ausdrücklich rechtfertigt Müller gegenüber dem in Fragen der Kunst sicher nicht ganz unzuständigen Friedrich von Gentz die Aufnahme der Erzählungen in ein Kunstjournal. Interessant ist diese Rechtfertigung deswegen, weil sie von der Unsicherheit der Zeitgenossen hinsichtlich der Funktion der Literatur zeugt. Müller spricht den Kleistschen Erzählungen Kunstcharakter zu, obwohl deren Gehalte ins Gebiet der Moral übergreifen. Zur Begründung dient ihm das Idealisierungspostulat der Autonomieästhetik. Zur Kunst gehören Kleists Novellen nicht nur „wegen der unvergleichlichen Kunst der Darstellung", sondern wegen „moralischer Hoheit" „und königlicher (im Gegensatz der gemeinen natürlichen und pöbelhaften) Wahrheit".39 Als Titel für einen Band mit Erzählungen schlägt Kleist seinem Verleger zunächst „Moralische Erzählungen" vor,40 verzichtet aber bezeichnenderweise dann auf die an Cervantes erinnernde Bezeichnung. Der nackte Titel Erzählungen, mit dem er sich begnügt, gibt einen Hinweis auf seine damit verbundene Absicht. Er will nicht in Konkurrenz treten mit den Moralischen Erzählungen (1794) des „Lieblingsschriftstellers" August Lafontaine, dem August Wilhelm Schlegel eine seiner polemischsten Rezensionen gewidmet hat,41 sondern für das Erzählen die Aufnahme in den Bereich der ,hohen Literatur'-erzwingen. Auf den Prozeß der 102 Dichotomisierung der Literatur, der die deutsche Kultur teilt in eine autonome Kunst für wenige und eine Unterhaltungsliteratur für die vielen, gibt Kleist eine radikale Antwort; und man kann fragen, ob nicht der Preis, den er für die Legitimierung der Erzählung zahlt, hoch ist. Kleist /.erreißt den Zusammenhang von Erzählen und Räsonnieren, der für die aufklärerische Institution Literatur konstitutiv war. Seine Erzählungen weisen den Rezipienten als teilnehmenden und urteilenden Dialogpartner ab. Kleist verzichtet darauf, bestimmbare, d.h. historisch-gesellschaftlich lokalisierbare Rezipienten anzusprechen bzw. im Novellenrah-men auftreten zu lassen, wie dies bei Diderot, aber auch bei Achim von Arnim und Tieck der Fall ist. Derselbe Prozeß der Materialentwicklung, aus dem die Novelle als ,reine' Kunstform hervorgeht, entzieht diese der öffentlichen Diskussion.42 Das Aporetische dieser Antwort mag eine Stelle aus Georg Lukäcs' früher Heidelberger Ästhetik verdeutlichen, die eine der radikalsten Aus-lormulierungen der Autonomieästhetik darstellen dürfte und damit zugleich den Punkt bezeichnet, wo diese umschlägt in Ästhetizismus: „Im Ästhetischen dagegen geht die Intention der Bereitschaft auf einen außer jeden Zusammenhang, Medium oder Sphäre gesetzten, isolierten und unvergleichbaren Gegenstand [...] Der Schaffensprozeß erscheint in dieser Beleuch-i iing als ein merkwürdiges Ineinander von Aktivität und Kontemplation, als eine Aktivität, deren Tendenz darauf ausgeht, eine ihr subjektiv-metasubjektiv aufgegebene Objektswelt für die Kontemplation (die Vision) als außer ihr seiende, wirkliche, in sich abgeschlossene Totalität (Werk) aus sich herauszustellen. Das (iciichtetsein dieses Aktes geht immer auf ein vollständig isoliertes Objekt [...] Auch der Receptive [d.i. der Rezipient] vermag nur dann in seinem Erlebnis das Ästhetische Verhalten zu realisieren, wenn er seinem Objekt als [...] einzig wirklichem gegenübersteht; taucht nur der Gedanke der Möglichkeit eines anderen ()bjekts auf, was notwendigerweise geschehen muß, wenn die Möglichkeit eines Zusammenhanges, in dem dieser Gegenstand steht oder in den er eingefügt werden kann, zugegeben ist, so ist die Erlebnisimmanenz verlassen [...] Die hier geforderte Immanenz ist aber so stark, daß ihr nicht einmal ein polemischer Ac-cent zu der .ausgeschlossenen' Wirklichkeit zukommt."43 Die hier vorgeschlagene Konfrontation eines erzählerischen Werks •US dem Anfang des 19. Jahrhunderts mit einem Stück ästhetischer Theorie aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubt uns, eine Tradi-noiiskonstruktion vorzunehmen. Das ästhetische Verhalten in Produk-tion und Rezeption ist bei Lukäcs beschrieben als radikale Isolierung des ästhetischen Gegenstands. Und die Isolierung darf in der Tat als das (irundprinzip des Kleistischen Erzählens angesehen werden. Rahmenlos präsentieren sich die Novellen einem namenlosen Rezipienten, dem sie ,ils isoliertes Kunstwerk gegenübertreten. Kleist isoliert auch innerhalb dl i Erzählungen dieeinaelne Begebenheit. Die Isolierung der Begebenheit 103 scheint mir mehr zu sein als ein innerästhetisches Kunstmittel. Die Kleistforschung hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die Situation, das vom Zufall gelenkte Ereignis, das Zentralproblem des Kleistischen Erzählens ist. Und man hat durchaus bemerkt, daß in den Novellen einzelne, isolierte Ereignisse beziehungslos nebeneinanderstehen. Diese Diskontinuität des Erzählens wird jedoch wieder aufgelöst, und zwar mittels einer doppelten Versicherung: Sie wird einmal zum „künstlerischen Gesetz" erklärt, dann als auf der Ebene der Syntax (in der gerühmten' Kleistischen Konjunktion „dergestalt, daß") und eines als Erfahrungstotalität verstandenen Ich zur Einheit gebracht dargestellt.44 Anders, wenn wir das Moment der Diskontinuität ernst nehmen: Die Isolierung der Begebenheit läßt sich dann deuten als ein Verfahren, das es Kleist ermöglicht, die Novelle als autonomes Kunstwerk zu setzen. Das oft Gewaltsame dieser Isolierung zeugt aber zugleich von einer tiefen Unsicherheit des Produzenten, ob nicht doch bloß eine triviale Geschichte erzählt wird, deren Interesse in einer Abfolge wechselnder Reize besteht, welche durch stoffliche (Schauer-)Effekte hervorgerufen werden. Wir haben an dem Zitat des frühen Lukäcs eine Gefahr der Kunstautonomie ablesen können - deren Umschlagen in den Ästhetizismus. Der Begriff der Erlebnisimmanenz, wie er bei Lukäcs verwendet wird, reduziert in der Tat die Rezeption des Einzelwerks (das aus allen möglichen Beziehungen auf die Wirklichkeit herausgerissen werden muß) auf den Augenblick der Reizauslösung und -beantwortung. Damit ist aber ungewollt das autonome Werk in die Nähe des Trivialen gerückt, das in den traditionellen Wertungstheorien als „zuständliche, stimmungsgetragene und auf das Ich bezogene Haltung" charakterisiert wird.45 Die Ambivalenz des Kleistischen Erzählens zwischen radikalisierter Kunstautonomie und Trivialität (die auch bestimmten Werken des Ästhetizismus eignet) ermöglicht heute die poststrukturalistisch inspirierte Kleist-Lektüre von Mathieu Carriere. „[Kleists] Genie, sein geheimer Aktionsplan besteht darin, Sprachtechniken erfunden und ausgeformt zu haben, die jedes Gefühl, jede Begehrensposition in Affektmaschinen verwandeln [...] die Sprache, die noch spricht ist voll von Gewalt, Grausamkeit und Anmut. Das mysteriöse Objekt des Anfangs oder Endes, ist der Affekt: Affekt als unsignifikante, nicht subjektivierte Einheit, die zwischen den Agencements kreist und sie mit Energie versorgt [...] Affekte zirkulieren machen, heißt unbewußtes Begehren produzieren; und die abstrakteste, wirkungsvollste, geheimste Maschine wäre die, welche die Fäden der Geschichte selbst bewegt. Wesen, Personen werden zu Marionetten, ungeschickt und anmutig, je nach den Einbrüchen des reinen Außen'."46 Es geht mir hier nicht darum, die in dieser Interpretation aufweisbaren Denkmotive des Poststrukturalismus-zu kritisieren, sondern um Tra- 104 ditionskonstruktion. Die ästhetizistisch-poststrukturale Lektüre macht in der Tat Kleist nachträglich zum Trivialautor, indem „das Schauerliche" zur geheimen Wahrheit eines vom Bewußtsein eines produzierenden Subjekts abgekoppelten Erzählens erklärt wird, zur „elektrischen Spannung",47 die die isolierten Ereignisse zur Affektmaschine auflädt. Wirksam in dieser sind die stereotypen Reizmomente kunsthandwerklicher lugcndstiltexte: Liebe und Tod, Nomade und Marionette, Schauer und Wollust, freischweifende Affekte als Stimuli des genießerisch Rezipierenden. Interpretation und Wertung Das Erdbeben in Chili ist, wie alle Erzählungen Kleists, so oft interpretiert worden, daß auch außerhalb des institutionssoziologischen Forschungsrahmens die Einsicht sich herstellen müßte, daß man mit dem In-tei pix-tieren an ein Ende kommen kann. Die Frage, wie denn mit dem Einzelwerk umzugehen sei, scheint mir gleichwohl berechtigt. Und es dürfte aus dem bisherigen Gang der Überlegungen deutlich geworden lein, daß hier die Ideologiekritik ihren Platz hat. Ich möchte auf eine sy-Itematische Erörterung von Begriffen wie Aktualität', ,Historizität', .Anwendung' in diesem Zusammenhang verzichten und statt dessen ein paar konkrete Probleme diskutieren. Angenommen, wir hätten es mit einem romantischen Märchen zu tun, z.B. mit Tiecks Blondem Eckbert, so konnten wir dieses als Stufe innerhalb einer bestimmten Materialentwicklung betrachten. Ich gehe dabei von zwei methodologischen Annah-111,11 aus: daß 1. die historische Einschätzung eines Einzelwerks nur gelei-Itet werden kann unter Berücksichtigung des künstlerischen Material-Itandes, auf den es sich bezieht (hier: Bearbeitung des Volksmärchens), und 2. daß Abweichungen vom gewählten künstlerischen Material (Ver-Inderungen des Motiv- oder Formenbestandes z.B.) als Indiz für eine re-konstruierbare Textintention aufzufassen sind. Zu fragen wäre dann nach dem historischen Gehalt der in der Bearbeitung erkennbar werden-den Aktualisierung des Mythos gegen die rebellische Rationalität des Volksmärchens: romantische Wirklichkeitsflucht oder geheime Kritik dd klassischen Idealität, in der die tragische Seite des Geschichtsprozes-iei zum Ausdruck kommt, wie sehr auch die Kritik auf das Leiden an der I Igenen Individualität beschränkt sein mag?48 Im Falle des Erdbeben in Chili könnten wir ausgehen von der Tatsache, daß es eine ganze Serie von Nacherzählungen zu dieser (wie zu ande-n n Novellen Kleists) gibt.^49 Diese Nacherzählungen „unterscheiden sich in nichts von Tausenden anderer Erzählungen kriminalistischen, schicksalhaften oder sensationellen Zuschnitts. Erst in dieser Konsumgerechten Präsentation in auflagenstarken Unterhaltungsblättern 105 „waren diese Erzählungen einem größeren Leserkreis preiswert zugänglich".^50 Eine solche Erscheinung fordert die Frage nach der Differenz der Nacherzählungen zum Original geradezu heraus, und es liegt nahe, die Frage als eine nach dem Unterschied zwischen Kunstwerk und Unterhaltungsprodukt zu formulieren, d. h. aber, das Problem der Wertung festlegen auf den Nachweis der Literarizität bzw. Trivialität eines Textes. Dies ist die Fragestellung z.B. Wolfgang Kaysers, den die Nähe Kleists zur zeitgenössischen Erzählliteratur, speziell zur Schauergeschichte, beunruhigt. Er möchte der (vorab feststehenden) Distanz des Kleistischen Erzählens von der Unterhaltungsliteratur sich versichern und will daher „dieses Erzählen selbst zum Gegenstand einer Betrachtung [machen]".51 Es dürfte, so meine ich, gar nicht leicht sein, der Verführung durch die Aura des (kanonisierten) Kunstwerks zu widerstehen. Wir brauchen dazu ein Wertkriterium, das unabhängig von ästhetischen oder stilistischen Fragen (da wir ja stets bereits ein Vorurteil über die Kunst bzw. den Stil eines Autors mitbringen), aber nicht unabhängig von der Frage der Form operieren kann. Als ein solches Kriterium soll mir die Leistung des Einzelwerks für eine Diskussion gesellschaftlicher Normen gelten. Dies Kriterium scheint mir implizit einigen neueren Interpretationsversuchen des Erdbeben in Chili zugrunde zu liegen, in denen es gelingt, die traditionelle, eine Gelegenheitsäußerung Goethes zum Gattungsgesetz erhebende Festlegung der Novelle auf den Gegensatz von Chaos/Leidenschaft/Freiheit und Ordnung/Einschränkung/Gesetz zu überwinden.52 In seinem überzeugenden Versuch einer progressiven Deutung Kleists, die an die geschichtsphilosophische Reflexion der Dialektik der Aufklärung anschließt, arbeitet Peter Hörn das anarchistische Moment der Novelle heraus. Das Erdbeben ist dieser Interpretation zufolge nicht blinde Naturkatastrophe, sondern eine Art Geschichtsexperiment, das erkennbar macht, was sich hinter der „Fassade" der „Rechtsstaatlichkeit" verbirgt - „die nach Rousseau durch die Vergesellschaftung verformte und verdorbene Natur des Menschen".53 In dieser Sicht wird die berühmte Szene des kurzen Glücks der wiedervereinigten Liebenden, jene „schönste Nacht", die sie erleben, „als ob es das Tal von Eden gewesen wäre" (15), zur zentralen, zur Demonstration des Kleistischen Anarchismus. Sie soll zeigen, „daß der Mensch zwar ohne Herrschaft, also in Anarchie, aber nicht ohne Gemeinschaft leben", d.h. sich selbst verwirklichen kann.54 Diese Aktualisierung einer Erzählung eines Autors ist im Recht gegenüber einer politischen Kritik, die sich an dessen persönlicher Haltung festmacht. Man erinnert sich an die Kleist-Rezeption von Georg Lukäcs, der den Autor „einen verirrten altpreußischen Junker" nennt.55 Ist sie aber auch plausibel? In einer neueren Arbeit über die Geschichte der Berliner Abendblätter gibt Dirk Grathoff eine detaillierte Analyse der politi- 106 sehen Einstellung Kleists, die zwar die These eines reaktionären Kleist, der mit der Vorstellungswelt der Christlich-Deutschen Tischgesellschaft übereinstimmen soll, zu widerlegen vermag,56 aber keinen Anhaltspunkt für eine so weitreichende Deutung von Kleists politischen Anschauungen wie diejenige Horns zuläßt. Grathoff zufolge haben wir es bei Kleist mit einem Liberalen zu tun, der eine von Staats- und Regierungsinteressen unabhängige publizistische Position vertreten und in seiner Zeitung ebenso Gegner (auch reaktionäre wie A. H. Müller) wie Verteidiger der Stein-Hardenbergschen Reformen zu Wort kommen lassen will. Kleists l'orderung nach „einer liberalen Ordnung der Dinge" entspräche der nach einer politischen Öffentlichkeit.57 Ich möchte, um die progressive Deutung Horns ideologiekritisch zu ergänzen, nicht bei den politischen Anschauungen Kleists ansetzen, sondern bei der Form der Novelle. Deren Grundprinzip, hatte ich behauptet, seien Isolierung und Diskontinuität. Einen Hinweis auf das Besondere tles Kleistischen Erzählens können wir gewinnen, wenn wir uns ansehen, was in der oben genannten Nacherzählung ausgelassen wird bzw. welche I lemente bei Kleist ausgearbeitet werden. In der Nacherzählung fehlt gänzlich der Mittelteil mit der ausgemalten Idylle und damit jeder Hinweis auf eine die Standesgrenzen sprengende menschliche Gemeinschaft. Mitgeteilt wird nur, was für den Fortgang der Handlung wichtig ist (daß Josephe das Kind Don Fernandos stillt). Es fehlen aber auch die detaillierten Beschreibungen sowohl des durch die Naturkatastrophe verursachten menschlichen Elends wie der durch die aufgehetzte Menge verübten Greueltaten am Schluß der Erzählung, wo der Blick des Betrachters auf der mit barocker (oder kalendermäßiger?) Grausamkeit ausgemalten Ermordung der Opfer einer Lynchjustiz zu verweilen gezwungen ist. Gerade in diesen Augenblicken scheint der sonst eilig und gerafft berichtende Erzähler Kleists die Erzählung gleichsam stillzustel-len.58 Die Gefahr des Kleistischen Erzählens scheint mir darin zu liegen, daß es in Einzelmomente zerfällt, die nicht miteinander vermittelt sind.59 I )ies ist wohl auch der Eindruck der ersten Rezipienten und durchaus solcher, die Kleist nahegestanden haben: „Das genauere Auszeichnen seiner Gestalten und Verhältnisse wird zuweilen Manier, welcher er, um der zu ängstlichen Wirklichkeit ein Gegengewicht zu ge-I.. n, plötzlich das Geheimnis als Geheimnis entgegenwirft, und solches auch un-entworren läßt, wodurch sowohl der erwähnte Zusammenhang, wie das Gefühl des Lesers gestört bleibt."60 „Gestört" bleibt das „Gefühl des Lesers", weil er zwischen den Schreckensbildern des Anfangs und des Endes der Erzählung und der Idylle im Mnuluil keine Beziehung herstellen kann. Gesellschaft und Natur star-icii den Betrachter an als Bilder des Grauens oder der Seligkeit, die als 107 isolierte genossen werden, aber so auch jede Beziehung auf die Wirklichkeit verlieren. „Jeder seiner Gänge wird nur dorthin führen, an den Rand des großen Abgrundes, und kann früher niemals stehen bleiben und anderswo nimmer stehen bleiben, als am Rande eines solchen Abgrundes. Und der tiefste Sinn der Formen ist dieser: hinführen zum großen Augenblick eines großen Verstummens und die ziellos dahinschießende Buntheit des Lebens so zu gestalten, als eile sie nur um solcher Augenblicke willen."61 In dieser Konzentration auf den Blick in den Abgrund treffen sich Sage, triviale Schauererzählung und Ästhetizismus. So erzählt die Sage, sie lenkt den gebannten Blick des Zuhörers auf die Schreckensbilder, die sie als Warnzeichen aufrichtet, um dem an Natur und Herrschaft ausgelieferten Menschen zu zeigen, welche Strafen ihm drohen, wenn er die gesetzten Grenzen zu überschreiten wagt. Wie in der Sage die trotz der Warnung zurückblickenden Sennen sehen, wie die von ihnen selbst gebastelte und in einem blasphemischen Akt getaufte, damit lebendig gemachte Puppe ihren Kameraden bei lebendigem Leib schindet und dann die blutige Haut auf dem Hüttendach ausbreitet, so blicken wir auf die Schreckensbilder in den Erzählungen Kleists, die unvertraut sind, aber doch immer auch erwartet: Kleists Novellen haben teil am Mythos des Banns.62 In einer Studie zur Schauererzählung im 19. Jahrhundert argumentiert Jörg Schönert ganz auf der Ebene immanenter Materialentwicklung, wenn er den Funktionswandel der Schauererzählung beschreibt. In der Aufklärung sei die durch den Schauer vermittelte Angst als kollektive Erfahrung angelegt, die Angst werde in der Reflexion aufgelöst, so daß das Abweichende als zu bearbeitender Teil menschlicher Praxis erfahren werden konnte. In der „Schauerromantik" werde eine individualisierte Figur zum Träger der Angst. „Der sich damit ergebende Verlust an kollektiver Identifikation wird allerdings in dem spezifischen und nachhaltigeren Angst-Erlebnis [...] durch .verdichtete' Erfahrung ausgeglichen."63 Die objektivistische Betrachtungsweise vermag die Frage nicht zu beantworten, wie wir ein Erzählen zu beurteilen haben, das seinen Rezipienten einem der Sage vergleichbaren Bann ausliefert.64 Ich möchte nicht mißverstanden werden: mit dem Hinweis auf die Sage sollen Kleists Erzählungen nicht einer Gattung „Schicksalsnovelle" (H. Pongs) zugerechnet werden. Es geht mir um etwas anderes. Ich fürchte, Carriere trifft etwas Richtiges, wenn er im Anschluß an Gilles Deleuze und Felix Guattari von der Affektmaschine spricht, als die sich ihm Kleists Werke darstellen. —- 108 „Ein Buch hat also kein Objekt mehr [...] Man fragt nie, was ein Buch bedeuten will [...] man fragt, womit ein Buch funktioniert, in welchen Verbindungen es Intensitäten strömen läßt, in welche Vielheiten es seine Vielheit einführt und verwandelt"65 Der Preis, den Kleist zahlt, um die Anerkennung seiner Erzählungen .ils Werke der Kunst zu erzwingen, scheint mir der ihrer Abtrennung von der Diskussion gesellschaftlicher Normen zu sein; wir fragen weniger nach der Bedeutung seiner Novellen, als nach ihrem formalen Funktionsmechanismus. Die textimmanente Einordnung dieser Novellen, die deren Kunstwerkcharakter behauptet, behielte dann recht, daß Kleist „Gegebenheiten und nichts anderes erzählt" und „durch strenge künstlerische Architektonik das Undurchdringliche aller Wirklichkeit sichtbar machen kann" und daß er gerade dadurch „die Novelle als gesellige Un-iirhaltungsform radikal [aufsprengt]";66 nur würde man diese ,Beschrei-bung' zum Ausgangspunkt für die Kritik einer Materialentwicklung machen müssen. 109 180 Anmerkungen Christa Bürger, Statt einer Interpretation. Anmerkungen zu Kleists Erzählen . 14 A. v. Arnim, Der Wintergarten, in: ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, hg. von W.Migge, München 1963, S. 303 f. 15 Vgl. dazu L. Rohner, Kalendergeschichte und Kalender, Wiesbaden 1978, S.46f., S.85. 16 Herder, Adrastea, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, Berlin 1885, Bd. 23, S. 224. 17 Ebd., S. 228 f. und S. 238. Vgl. dazu die Bremer Dissertation von O. Frels, Der Literaturbegriff des späten Herder. Eine Studie zur Kritik der Autonomieästhetik um 1800 (1981). 18 Vgl. dazu die Einleitung in: Novelle, hg. von J.Kunz, Darmstadt 1968. 19 F.Schlegel, Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio (1801), in: Novelle, S.43. —. Bürger (Institutionssoziologie) ISI 20 A. v. Arnim, Der Wintergarten, in: ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 2, S. 132 und S. 127. 21 A. W. Schlegel, Vorlesungen, in: Novelle, S. 45. 22 Ebd., S. 49. 23 F. Schlegel, Nachricht, S. 41. 24 A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 49. 25 Ebd., S. 45. 26 F.Schlegel,Nacfcn'cfo,S.41. 27 Ebd., S. 40 f. 28 A. W. Schlegel, Vorlesungen, S. 44 f. und S. 50. 29 Ebd., S. 45. 30 F. Schlegel, Nachricht, S. 41. 31 Vgl. ebd., S. 41 f. 32 A. v.Arnim, Landhausleben, in: ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 3, S. 518 f. 33 W.Grimm, Brief an Arnim vom 20.9. 1827, zit. nach A.v.A., Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 3, S. 795. 34 C. H. L. Pölitz, Jean Pauls Geist oder Chrestomathie der vorzüglichsten, kräftigsten und gelungensten Stellen aus seinen sämtlichen Schriften, zit. nach: H. Verschuren, Jean Pauls ,Hesperus' und das zeitgenössische Lesepublikum, Assen 1980, S. 83. 35 So liest z.B. Caroline Herder Jean Paul, wenn sie „einzelne Bilder" der Romane als „Materialien der jetzigen Zeit" auffaßt, die an die Lebenswelt der Subjekte anschließbar sind (vgl. ihren Brief an Jean Paul vom 26.6. 1797, zit. nach H. Verschuren, Jean Pauls ,Hesperus', S.48). Auch ihr Vergleich der Romane Jean Pauls mit dem Straßburger Münster zielt wohl nicht auf organische Ganzheit des Kunstwerks, sondern eher auf die Fähigkeit des Rezi-pienten, dessen einzelne Momente lebenspraktisch einzuholen. 36 Vgl. dazu B. Lindner, Das Opfer der Poesie. Zur Konstellation von Aufklärungsroman und Kunstautonomie am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, S. 294 ff. 37 Zum Problem der Dichotomie vgl. Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, hg. von Ch.B./P.Bürger/J.Schulte-Sasse, Frankfurt 1982. 38 C.Brentano, Brief an A.V.Arnim vom 1.12. 1811, zit. nach Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von H. Sembdner, München 31964, Bd. 2, S. 895. 39 A.H. Müller, Brief an Gentz vom März 1808, zit. nach H. Sembdner (Hg.), Kleists Lebensspuren, S.212. 40 Vgl. dazu ebd. 41 Vgl. dazu A.W.Schlegel, Mode-Romane, Lafontaine, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von E.Böcking, Leipzig 1846/47, Bd. 12. 42 Diese Entwicklung wiederum, so könnte man sagen, macht die Vorliebe der traditionellen Germanistik für die Novellenform verständlich. 43 G.Lukäcs, Heidelberger Ästhetik (1916-1918), hg. von G. Märkus/F.Benseier, in: ders., Werke. Bd. 17, Darmstadt, Neuwied 1974, S. 107 ff. 44 „Poetische Bewältigung der Wirklichkeit heißt damit für (Kleist) nichts weiter als: . . . die zufallsbestimmte Wirklichkeit im Medium der Sprache zur sinnlichen Gegenwart bringen und sie damit einordnen in einen sie übergrei- 182 Anmerkungen fenden Zusammenhang. Die Antinomien der Situation', Zufall und Einheit, sind dann aufgegangen im sprachlichen Gefüge der Dichtung" (H.-P. Herrmann, Zufall und Ich. Zum Begriff der Situation in den Novellen Heinrich von Kleists, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 11 (1961), S.97 und passim). 45 J. Schulte-Sasse, Literarische Wertung, Stuttgart 21976, S. 8. 46 M. Carriere, Für eine Literatur des Krieges, Kleist, Basel, Frankfurt 1981, 1117 f. 47 Ebd., S. 21. 48 Vgl. dazu: Traditionserhellung II: Romantische Remythologisierung, in: Ch.B., Tradition und Subjektivität, Frankfurt 1980, S. 149 ff. 49 Diese Tatsache dürfte für eine stilistisch interessierte Literaturwissenschaft um so aufregender sein, als die Änderungen, die Kleist gegenüber den Zeitschriftenfassungen seiner Erzählungen für die Buchausgabe vorgenommen hat, geringfügig sind (vgl. dazu K. Kanzog, Prolegomena zu einer historischkritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists [. ..], München 1970). 50 Vgl. dazu A. Estermann, Nacherzählungen Kleistscher Prosa, in: K. Kanzog (Hg.), Text und Kontext, Berlin 1979, S. 81 (dort ist auch je ein Beispiel zum ,Bettelweib' und zum .Erdbeben' abgedruckt). 51 W.Kayser, Kleist als Erzähler, in: W.Müller-Seidel (Hg.), Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1967, S. 230. 52 Vgl. die bekannte Äußerung Goethes aus den Wahlverwandtschaften, wo er vom „Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebändigten" spricht, auch zit. in: J.Kunz (Hg.), Novellen, S. 33. 53 P.Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1978, S. 114. 54 Ebd., S. 128. 55 G. Lukäcs, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1952, S. 22. 56 D.Grathoff, Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter, in: K.Peter u.a., Ideologiekritische Studien zur Literatur, Frankfurt 1972, S. 152. 57 Vgl. ebd., S. 85: „Kleists Wendung an ein größeres Publikum war sicherlich insofern politisch motiviert, als er sich . . . der politischen Bedeutung der Presse bewußt war und einen Beitrag zur besseren Information und damit zur politischen Bewußtwerdung und Mobilisierung des ,Volkes' leisten wollte. Diesem Moment kommt eine fortschrittliche Bedeutung zu, weil es gegen die absolutistische Politik des ,Volksverwaltens' in Preußen gerichtet war." 58 Diese Behauptung widerspricht der These von H.H.Holz, für den Kleists Hinwendung zum „Erzählstil der Faktizität" den Versuch darstellt, „im Horizont des versagenden Sprechens der Sprache die Gewähr der Wahrheit abzuringen" (Macht und Ohnmacht der Sprache, Frankfurt, Bonn 1962, S. 149). 59 Wenn wir annehmen wollen, daß die Analyse von D. Grathoff nicht einfach die Kategorien des Öffentlichkeitsbuches von Jürgen Habermas in Kleists publizistische Aktivitäten hineinliest, sondern daß seine Behauptung, derzu-folge Kleist sich um die Herstellung einer räsonnierenden Öffentlichkeit bemüht, plausibel ist, so ergäbe sich daraus, daß auch dessen literarische Arbeit insgesamt zerfällt in eine auf Öffentlichkeit geöffnete und eine diese ausschließende. ---- Schneider (Sozialgeschichtliche Werkinterpretation) 183 60 Caroline de la Motte-Fouque, Gespräch über die Erzählungen von H. v. Kleist (1812), zit. nach H. Sembdner, Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Bremen 1967, S.629. 61 G.Lukäcs, DieSeeleund die Formen, Neuwied/Berlin 1971,S.164f. 62 Vgl. dazu Tradition und Subjektivität, Kap. 10, sowie meinen Aufsatz ,Die soziale Funktion volkstümlicher Erzählformen –Sage und Märchen', in: H.Ide (Hg.), Kritisches Lesen, Stuttgart 1971, S. 26-56. 63 J. Schönert, Behaglicher Schauer und distanzierter Schrecken, in: Literatur in der sozialen Bewegung, Tübingen 1977, S.52. 64 Ich fürchte, R.Wilkenings eindringliche Untersuchung des Perspektivismus im Erzählen Kleists, die in ihrem Interpretationsteil zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie P.Horn, überträgt allzu abstrakt auf dieses die Begriffe der Rezeptionsästhetik, wenn der Verfasser –ohne eine solche Behauptung durch rezeptionshistorische Dokumente zu stützen –meint, „sein integrierender Standpunkt (ermöglicht es dem Leser), die perspektivisch verengten Blickwinkel der Figuren und des Erzählers kritisch zu beurteilen" (Studien zum textinternen Perspektivismus und seiner leserorientierenden Funktion im Erzählen Heinrich von Kleists, dargestellt an der Novelle ,Das Erdbeben von Chili', Diss. Bremen 1978, S.233). 65 G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 7. 66 B. v. Wiese, Novelle, Stuttgart 21964, S. 55. ________________________________ [1] R. Wellek/A. Warren, Theorie der Literatur, Frankfurt, Berlin 1963, S. 119. [2] Zur methodologischen Ausrichtung der folgenden Anmerkungen vgl. P. Bürger, Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie [...], in: ders., Vermittlung — Rezeption — Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt 1979, S. 173-199. [3] Vgl. dazu Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hg. von Ch. B./P.Bürger/J.Schulte-Sasse, Frankfurt 1980. [4] Zit. nach H. Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren, Frankfurt 21977, S.305f. [5] Vgl. dazu P.Bürger: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt 1983, Kap. III [6] Zit. nach H. Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren, S.305. Vgl. z.B. auch K.A.Varnhagen von Enses Besprechung der Novellensammlung Achim von Arnims von 1812 in: ders., Literaturkritiken [...], hg. von K.F.Gille, Tübingen 1977, S.4f. [7] Heinrich von Kleists Lebensspuren, S. 307. [8] H.Broch, Methodisch konstruiert, in: ders. Die Schuldlosen, München 21965, S.58; 1933 erstmalig erschienen u.d. Titel Methodologische Novelle. [9] Hegel, Wer denkt abstrakt?, in: ders., Werke, hg. von E. Moldenhauer/ K.M.Michel, Frankfurt 1970, Bd.2, S.57. [10] Ebd., S. 579 [11] Schiller, Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von G. Fricke/H. G. Göpfert. München ^41967, Bd. 5, S. 864 ff. [12] A. G. Meißner, Skizzen, in: Erzählende Prosa der Goethezeit, hg. von M. Beaujean. 2Bde., Hildesheim 1979, Bd.l, S.29f. (Herv. von mir). Das Urteil der Herausgeberin über Meißner ist für unseren Zusammenhang nicht uninteressant: „Er blieb, wie die meisten mittelmäßigen Talente dieser Zeit, innerlich stets der Aufklärung verhaftet" (ebd., S.513). [13] Ebd., S. 30. ________________________________ [A1] Es erschien von 1807 bis 1865 in Stuttgart und Tübingen: der Umfang war nicht groß: nur vier- bis sechseitig, aber bis zu sechsmal wöchentlich, die Auifmachung entsprach dem Zeitungsstil. Johann Friedrich Cotta gründet das Blatt 1807 als eine süddeutsche Variante des Berliner „Freimüthigen“ . Eine Ankündigung in der verlagseigenen „Allgemeinen Zeitung“ gibt Auskunft über den Inhalt des publizistischen Projekts, das „mit Ausnahme jedes politischen Gegenstandes Alles umfassen soll, was dem gebildeten Menschen interessant seyn kann“. Obwohl die Gebrüder Schlegel zum ersten Jahrgang noch Beiträge liefern, wird das „Morgenblatt“ ab 1808 zum anti-romantischen Kampfblatt. Es liefert heftige Polemiken zunächst gegen die Heidelberger und später die schwäbische Romantik, die erst in den Jahren nach 1811 langsam abflauen. Später zählen zu bewährten Mitarbeitern Heine, Gutzkow, Lenau, Fontane, Mörike, Hebbel u.a. Annette von Droste-Hülshoff veröffentlichte im Morgenblatt 1842 erstmals ihre Novelle Die Judenbuche. Die allgemeine Buchmarkt- und Zeitschriftenkrise setzt auch Cotta zu, auch wenn seine Organe – bis auf das Literatur-Blatt, das 1849 eingestellt wird – bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein bewähren. Nach 1848 bedeutet jedoch die Integration von Feuilletons in die Tageszeitungen eine erneute Herausforderung – substantielle Informationen über literarische Neuerscheinungen kann der Leser sich zunehmend hier verschaffen, und der Unterhaltungsaspekt kann auch von Wochenschriften abgedeckt werden. [A2] eine Gesellschaft meist namenloser, typisierter Gestalten vor, die in einem Landhaus vor den Toren Berlins vom einfallenden Winter überrascht wird. Die Rahmenhandlung spielt in der Gegenwart der EntstehungszeitIn traditioneller Konstruktion – man denke an Boccaccios Decamerone und Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten – werden die eingelegten Geschichten von Personen der Rahmenhandlung erzählt, vom jeweiligen Erzähler knapp eingeleitet und von den Zuhörern kommentiert.