DIE ZEIT, 22.04.1966 Nr. 17 - 22. April 1966 http://www.zeit.de/1966/17/Sebastian Sebastian Erzählung von Robert Walser In dem Wahne, der ihm sagte, daß es eine Ehre sei, dem Glück und der eleganten Lebensweise zu huldigen, und daß es eine Schande sei, Unglück zu haben, Mißerfolg über sich ergehen lassen zu müssen, arm zu sein und redlich sich einen beliebigen Unterhalt zu suchen, stand eines Tages ein junger Mann namens Sebastian am Spieltisch. Eine Stunde nach dem Einsatz der Barschaft, über die er nachgerade noch verfügte, stand er als elender Bettler da. Er hatte all sein Geld verloren. Eine dumpfe plumpe Nacht gab ihm einen Schlag vor die törichte Stirne, er taumelte, und eine grauenvoll-hänselnde Stimme schrie ihm unter einem gellenden, freilich nur für Sebastians Ohren hörbaren entsetzlichen Gelächter zu: ,,Elender!" Arm an Besinnung, reich an Verzweiflung und Gedankenarmut, verließ er den liederlichen Saal des verzweifelten Glücksspieles und ging auf die Straße -- späte Nacht war es, und alles war still -- Sebastian ging nach Hause. ,,Komm uns nicht mehr vor die Augen", hatten schon etliche Wochen früher bei einer Unterredung die Eltern Sebastians zu dem jungen Mann gesprochen, eine sehr verderbliche und sehr bequeme Sprache, welche an vielen Orten und unter manchen verschiedenen Umständen geführt wird, und womit Eltern, die sehr an der bürgerlichen Eitelkeit, an der Hoff an und am oberflächlichen Stolz hängen, der schlechten Auffassung überrasch Ausdruck geben, die besagen will, daß f es ihnen lieber sei, das Kind gar nicht mehr wiederzusehen, als arm und verlegen -- Sebastian wußte, daß seine Erscheinung den Eltern willkommen sei, sobald es nur eine ,,glänzende" Erscheinung wäre, daß es ihm aber verboten sei, vor genannte nahestehende Leute zu treten mit einer Haltung, die Niedergeschlagenheit und Gedemütigtheit ausdrückte. So beschloß er denn jetzt, im fürchterlichen Gefühl, dazu berechtigt und genötigt zu sein, etwas Schlechtes zu begehen. Der Verfasser will in dem straffen Gang seiner Erzählung nicht eher weiterfahren, als bis er ausgerufen hat: Eltern, saget doch, wann werdet ihr aufhören, eure Kinder mit der Zuchtrute eines ganz falschen und ganz niedrigen Ehrbegriffs in das Elend und von da, wie wir sogleich sehen werden, in die Schlechtigkeit zu treiben? Da ihn eine bescheidene Arbeit, verbunden mit dem Verzicht auf aristokratisches Gebaren, eine Entehrung und mithin ein Ding der Unmöglichkeit dünkte, fiel ihm sein Revolver ein, und indem er sich auf dieses Ausstattungsstück besann, das von jeher bei jungen Leuten zu finden gewesen ist, die an gleichsam bösartigen Lebensbegriffen kranken, so war er, kann man sagen, bereits auf dem Wege zum bald darauf folgenden Verbrechen. Er hatte also doch ,,wenigstens noch" einen Revolver, Sich selbst mit dem zierlichen Mordwerkzeug zu töten, hatte er weder Geist noch Mut genug. Er fand den traurigen Mut zum Mord, da er den schöneren, wenngleich immer noch in jeder Hinsicht verwerflichen, zum Selbstmord nicht zu finden und zu fassen vermochte. Er hatte sich zu Bett gelegt und war unter wilden, erbärmlichen Vorstellungen eingeschlafen und hatte jetzt einen Traum, der wahrhaft diabolisch glitzerte und strahlte. Es erschien ihm ein Goldklumpen, ein Gigant von lauter massivem Gold, er tastete mit seinen Händen an der Traumesherrlichkeit fieberisch herum. Eine unnennbare Wonne verknüpfte sich mit einer unnennbaren Angst: Er schrie und er erwachte. Brennender Durst quälte ihn. Er stand auf, ging zum Waschtisch und trank einige Gläser Wasser. Sebastian war kein Rohling und Bösewicht von Haus aus, im Gegenteil, er war eher sogar zart. Es fehlte ihm nicht nur nicht, sondern er hatte eher zu viel von jener Sensibilität, wofür das Wort Empfindsamkeit vielleicht nicht ganz das rechte Wort ist, die gefährlich sentimental sein kann, die nur gleich an das Extreme denkt, an grelles Licht oder ohne weiteres an düsteren, senkrecht in die tiefste Niedergeschlagenheit hinabstürzenden Schatten. Es mangelte ihm nur wahre Führung und Erziehung. Er war insofern kein wahrhaft gebildeter Mann, als alle Leute ihn sogleich für einen charmanten, gebildeten jungen Mann nahmen, als auch so: wer gebildet ist, dem sehen es wenige, und auch die nicht im ersten Augenblick an. Doch weiter, Verfasser, weiter! Wo hältst du dich auf? Vorwärts mit dieser Novelle. Ein Zorn erfaßte ihn darüber, daß er sich mit verbrecherischen Gedanken schon so ganz besudelt habe. Er klagte, indem er sich anzog und sich auf die Promenade begab, Welt und Menschen in unbändiger Wildheit an, und anstatt daß er besser sich selbst mit Vorwürfen überschüttet hätte, griff er die Gesellschaft und den Staat an, in denen er lebte. Er nahm sich, wütend wie er war, vor, die erste beste Gelegenheit zu benützen, und er war noch keine dreihundert Schritte weit gegangen, als ihm auch schon das ahnungslose Opfer in die mörderische Berechnung lief. Ein stattlicher älterer Herr grüßte ihn. ,,Der kommt wie bestellt, an dem übe ich's aus", dachte der Mörder. In diesem Augenblick war er schon ein solcher. Die Gelegenheit, sich schurkisch zu erweisen, machte ihn zum Schurken. Sie gingen zusammen an den Strand, und dort setzten sie sich, Sebastian ließ den Herren unter zarten Höflichkeitsbezeugungen vorn Platz nehmen, auf ein leeres Boot, wo beide in eine, man möchte fast sagen, aufrichtige Naturbewunderung fielen, wozu ein reizender, blauer Morgen Anlaß genug darbot. In aller Heimlichkeit zog Sebastian seinen Revolver aus der Tasche, achtete nicht eines schrecklichen Erbebens in seiner armen Seele, sondern schoß hinterrücks den Mann, der unbefangen auf das schöne Meer hinausschaute, tot, wonach er mit hastigen Händen in des Erschossenen Rock hineingriff, um ihn zu plündern. Zu seinem Entzücken (in welche Kategorie muß man ein so abscheuliches Entzücken tun?) fand er Banknoten, einen ganzen Haufen. Mit dem Leichnam ruderte er rasch ins Meer hinaus, dort draußen warf er ihn ins Wasser. Es war keine lebendige Seele in der Nähe gewesen. Kein Laut weit und breit. Er kehrte zurück. Eine frühere Stimme hatte Sebastian zugerufen: ,,Elender!"; eine andere rief ihm nun zu: ,,Mörder!" Und: ,,Ich bin verloren", setzte er selber murmelnd hinzu. Er war wie zu einer Art von Stein geworden. Das Unermeß- Robert Walser, der 1878 in Biel geborene, 1956 in geistiger Umnachtung gestorbene, unter anderem von Kafka, Musil und Benjamin so bewunderte Schriftsteller, hat wenige längere Prosasiücke geschrieben; die Erzählung ,,Sebastian", im Winter 1914/15 von Efraim Frisch im ,,Neuen Merkur" und seitdem nicht wieder gedruckt, ist eins von ihnen. Nachdem sich das deutsche Publikum lange mit einer einzigen, nicht sehr umfangreichen Walser-Auswahl; von Walter Höllerer in der Bibliothek Suhrkamp herausgegeben., .begnügen mußte., s.alL.flobert Walser nun endlich eine Vollständige, kritische Ausgabe zuteil werden. Sie wird zwölf Bände zählen und im Herbst 1968 abgeschlossen vorliegen; Herausgeber ist Jochen Greven, Verleger Helmut Kossodo, Genf, Im gleichen Verlag erscheint im Herbst 196B eine Walser-Biographie von Robert Mächler. Die Erzählung ,,Sebastian" ist im ersten Band enthalten, der im Mai erscheinen soll und nur solche Texte enthält, die bisher in Buchform nicht vorlagen. Sein Titel ,,Phantasieren -- Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit". liehe des Schlechten, das er verübt hatte, raubte ihm fast die Besinnung, er war einer Ohnmacht näher als der Überlegung des Schrittes, den er nun, wie aus etwas Mitternächtlichem heraus, unternahm, und der dahin zielte, sich zu verloben. Man staune nicht allzusehr. Einen Verzweifelten treibt es unwillkürlich zu neuen Verzweifeltheiten. Er selbst wußte kaum, was er tat, was er beabsichtigte zu tun. Eine Übermacht, eine übermächtige, furchtgejagte Ohnmacht trieb ihn zu dem neuen Verbrechen. Auf eine begangene Untat will die neue folgen, genau wie eine Wohltat die andere nach sich zieht. Da er gemordet hatte, zählte er nicht mehr zu den Vernünftigen. Wenn er nun also etwas Unvernünftiges zu tun im Begriff stand, so setzte er zuallerletzt sich selber in Erstaunen. Unvernünftige Handlungen erscheinen. Unvernünftigen nicht unvernünftig; Unmöglichkeiten kommen unmöglichen Leuten nicht unmöglich vor, und solch ein Verruchter war Sebastian schon, daß ihm eine neue Verruchtheit fast zu einem lebhaften Bedürfnis geworden war, falls eine Besinnung in ihm lebte und er noch nicht ganz und gar vom Dämon erfüllt war. Er ging mit eiligen Schritten, dem Scheine nach in jeder Hinsicht Herr seiner selber, in Wirklichkeit aber Knecht aller bösen Triebfedern, die begangene Ungeheuerlichkeit mit dem Mantel der neu zu vollführenden zu verdecken, nach dem Hause zu, worin im Schütze zartsinniger elterlicher Vorsicht und Achtsamkeit Emma Orelli wohnte, ein reiches schönes Mädchen, die dem jungen Mann bereits bei einer früheren passenden Gelegenheit erlaubt hatte zu hoffen, daß er ihr gefalle, da sie selber sich nicht hatte verbieten mögen, sich zu sagen, daß sie den Wunsch habe, begehrenswert auch ihm zu erscheinen. ,,Liebe ich ihn?" hatte sie sich bereits einigemal, indem sie das reizende Köpfchen hatte hängen lassen, gefragt und war jedesmal bei dieser Frage so tiefsinnig, so nachdenklich geworden, daß es die Eltern merkten, die dann mit: ,,Was ist dir, mein Kind?" an sie herangetreten waren. ,,Nichts, liebe Eltern, nichts", hatte sie dann, hochrot wie die sommerlich prangende Rose im Gesicht, vergewissern wollen. Die Eltern hatten dann gelächelt. Jetzt schritt mit raschen Schritten, dem Tiger in Menschengestalt gleich, Sebastian auf das Haus zu, um sich im Sturm zu erklären, um dringend sich eine Erklärung zu holen. Das schöne schlanke Mädchen, zu der Zeit gerade in voller blühender Entfaltung, dem Apfelbaum an Schneeweiß und üppigzarter Röte ähnlich, eine wunderbare menschliche Pflanze, so zart, und doch wieder so kräftig treibend, mit unter dem Sommergewand wie Täubchen hervorguckenden Füßen, die Arme so voll, das Wangenpaar ein Morgenhimmel, das Haar blond und reich, eine Gestalt, auf welche eine Fürstin noch stolz hätte sein dürfen, wenn Fürstinnen nicht nach höherer Schönheit trachten als nach weiblicher und äußerer (obwohl es vielleicht beim Weib keine höhere gibt), spazierte im Garten, unter dem Grün, durch dessen Blätterwerk die Sonne mit lieblichen Flecken auf die reizende Erscheinung fiel, als Sebastian anlangte und sich ihr alsogleich zu Füßen warf. ,,Nicht mehr länger", rief er mit der so zu Herzen gehenden Stimme der Erschütterten aus, ,,ertrage ich und erdulde ich diese Ungewißheit, diese Unruhe. Mein verehrtes Fräulein, meine Angebetete! So sagen Sie mir doch, sagen Sie mir doch, ob Sie -- nein, nein, nicht so, nicht so. Ich wollt', ich hab', ganz anders, ich, ich liebe Sie. Ach, wenn Sie wüßten. ..Und ich will,, ich will jetzt wissen. Ich will wissen, ob ich der glücklichste . oder ob ich der betrogenste, der verrateriste, der unglücklichste 'Mariff^üf dem Erdboden bin. Erschrecke ich Sie? Ö nein, treten Sie nicht zurück. Treten Sie mich lieber mit Füßen, als von mir zurückzutreten. Retten, retten Sie mich aus -- dem Abgrund..." Er biß sich auf die Lippen. Fast hätte er zu viel gesagt. -- ,,Stehen Sie doch auf. Mein Gott, was ist mit Ihnen? Sind Sie wahnsinnig?" rief sie aus. In diesem Augenblick war Sebastian so sehr Sieger, daß er weit davon entfernt war, es zu ahnen. Jetzt liebte sie ihn. Sie bat ihn, ihr zu folgen. Eine Viertelstunde später schon überließ sie sich, glücklich darüber, daß ihr Geschick beschlossen sei, seiner Umarmung und seinen Küssen. Es brauchte nur der Einwilligung der Eltern, und sie erhielten sie. Der Verbrecher, so hoch gehoben, kannte sich selbst nicht mehr, er vergaß, wer er sei. Er lebte in einem Rausch, und wenn er nicht glücklich zu sein vermochte, so war er doch trunken durch seinen Sieg in der Liebe. Die Eltern gedachten sich freilich gelegentlich näher nach seinem bisherigen Leben zu erkundigen. Die guten alten Leute, nicht fähig, der Tochter den schönsten Wunsch zu verwehren, schüttelten ein wenig die Köpfe. Es werde ja wohl alles in Ordnung sein -- Sebastian gefiel und mißfiel ihnen. Acht Tage später. Wir befinden uns im Kabinett der Polizeidirektion. Der Vorsteher oder Direktor hat den bewährten Agenten Michalik zu sich gebeten; dieser ist eben eingetreten. Händeschütteln. ,,Ich freue mich", sagte Seine Exzellenz zum bescheiden dastehenden Kriminalisten, ,,daß ich Ihnen, den wir, wie? Sie wissen müssen, so hoch halten, heute vieder einmal eine Arbeit übertragen darf. Ich ti es in der Voraussetzung, daß Sie bereits erfahr.n haben, um was es sich handelt. Dieser feige Schurke. Doch. Sie werden ihn uns bald überliefert haben, ich weiß es. Wenn ich mich in dieser Angelegenheit, wie schon so oft, wieder nit unbedingtem Vertrauen an Sie wende und mir Ihre Hilfe erbitte, so werden Sie mir erhüben, Ihnen zu dem fraglos zustande, und, wie ich überzeugt bin, rasch zustande kommenden guten Ergebnis zu gratulieren. Bitte! Sie haben uns zu oft schon Beweise von Ihrer Tüchtigkeit, Besonnenheit, Kaltblütigkeit und. überraschenden Energie gegeben. Was ich da sage, wäre für jeden andern eine zu starke Schmeichelei, ein. zii übertriebenes Lob. Für Sie, der Sie Leistungen gezeigt haben, die alles Lob, das man denselben hat zollen wollen, beschämt haben, kann es kaum noch ein Lob geben, und es ist nicht möglich, sich zu sagen, daß man Ihnen schmeichle, wenn man Sie rühmt. Doch genug, S.e werden an Ihre jetzige Aufgabe, mit der Hingabe, der Pflichttreue, der Unermüdlichkeit, der Ausdauer, und mit dem Eifer gehen, die an Ilrer werten Persönlichkeit kennenzulernen S.e uns schon genugsam Gelegenheit gegeben htben. Ihr Dienst ist uns eine Ehre. Ihre Erfolge sind uns eine Freude, und wir begleiten alle Ihre Bemühungen sowohl mit dem höchsten amtlichen Interesse als mit dem Wunsch, dieselben mit dem Erfolg, den sie nach sich ziehen, gekrönt zu sehen." Beide Herren verbeugten siit voreinander und nahmen Abschied; der Dstektiv begab sich ohne Zögern an seine Arbeit. Weh dir, Sebastian, dein Verfolger ist bereits hinter dir! Was der Detektiv Michalik auch immer in Angriff nahm, dem widmete er eine le.denschaftliche Aufmerksamkeit. Er übte seinen Beruf mit Geist aus, und er war bekannt dsfür. Ganz nur eiserner Wille, wenn es zu aibeiten galt, war er in der Zwischenzeit ein se.tsamer Kauz von Träumer, der tagelang, zum moralischen Verdruß seiner Zimmerwirtin, im Bett liegen und Pfeife rauchen konnte, eine Art ins Große gehender Untätigkeit, die ihm erlaubte, den seltsamsten Gedanken nachzuhängen, eine stille Romantik zu pflegen und im ütrigen die ruhige Kraft für zukünftiges kriminalistisches Schaffen zu gewinnen. Jetzt, weh dir, armes geplagtes Verbrecherherz, kam so reiht wieder die Tatenlust in des Michalik Kopf, und der bisherige Träge loderte auf in dem feurigen Bestreben, zu zeigen, was er zu leisten imstande sei. Er verschaffte sich ein Bild des Ermordeten, dessen Gesichtszüge sowie Leibesbeschaffenheit samt zuletzt getragenem Anzug er bis in das Genaueste auf seinem eigenen Gesicht und auf dem eigenen Leib vor dem Toilettenspiegel, mittels einer feinen Kunst und Sachkenntnis, Nachahmungsgabe, Verständnis für die Charakterisierung, wiederherstellte. Als wieder lebendig gewordener Toter ausstaffiert, mehr als nur zum Verwechseln ähnlich, trat er am nächsten Tag auf die helle Straße, in der Vermutung, daß er eine Begegnung mit seinem Freunde haben -werde. Michalik nannte scherzeshalber den^ den er suchte^ seinen Freund,, und in der Tat fjflegte er die armen Teufel, die er der Gerechtigkeit in die Hände zu liefern hatte, nicht so sehr wie ein Künstler rein beruflich, mithin also menschlich, ja fast freundschaftlich zu betrachten. Gaben ihm ja die Verbrecher und ihre Untaten doch eigentlich Gelegenheit, sich auszuzeichnen, einen Beruf zu betreiben und einen Platz in der Gesellschaft auszufüllen. Er verabscheute den nicht, dessen Spur er suchte; eher interessierte er sich einfach lebhaft für ihn, derart, daß er ein leises Erbarmen gar noch mit ihm hatte. Der vielfache v erkehr mit sogenannten schlechten Subjekten luacht nachlässig in der Entrüstung und mäßig und bedächtig im Besserdünken, er macht groß und gütig, er bildet ein nahes freundliches Verhältnis aus zwischen Verfolger und Verfolgtem, zwischen Gesetzesverfechter und Gesetzverletzer. -- Solcherlei sanfte Gedanken waren es, die dem Michalik, diesem edlen Herzen und feinen Kopf unter den Geheimagenten, vorkamen, als plötzlich einer, der ihm begegnete, jäh vor ihm zurücktaumelte, als habe eine rücksichtslose Faust ihn von hinten angepackt und angegriffen. Sebastian war's. Der Tote war ihm erschienen. Das war die erste Begegnung. Michalik, der seinen Beruf gewissermaßen edelmännisch aufzufassen liebte, ging ruhig nach Hause, ohne sich weiter nach dem befremdlichen Gesellen umzuschauen, den eine so offensichtliche, panikartige Furcht vor ihm ergriffen hatte. Klug, wie er war, hatte er sich bei dem Vorfall wie ein beliebiger Spaziergänger benommen, der über das Schrecken und Entsetzen ausdrückende Benehmen des jungen Mannes höchstens ein wenig verblüfft oder erstaunt oder unangenehm betroffen war. Innerlich freute er sich über die Richtigkeit seines voraussetzenden Gedankens, und er fühlte sich mit Genugtuung im Besitz aller seiner Talente. ,,Der entgeht mir nicht", sagte er zu sich selber, ,,ich kann ihn einstweilen ruhig noch umherlaufen lassen, das bißchen Freiheit mag ich ihm gern gönnen." Zu Hause angekommen, legte er die Maske, die ihm einen so guten Dienst erwiesen hatte, sorgsam ab, und indem er zum Entschluß kam, andern Tages einen wiederholten netten kleinen Versuch zu machen, setzte er sich in den weichen Lehnstuhl und begann zu träumen. Als alternder, vereinsamender Junggeselle träumte er jedesmal, wenn er so dasaß, von der Lieblichkeit, vom Segen, von den süßen, tiefen und ernsten Reizen der Ehe, von einer Frau, die ihm angehören und der auch er angehören würde, von den Kindern mit den unschuldig-lieben Kinderfragen und -gesichtern, von Kinderaugen und kindlichen Spitzbubenstreichen, von ihrem erquickenden Lachen und von der Frau unendlich holdem, mütterlichem Wesen, von einer Liebe, Sorgfalt und Treue bis ins Unendliche, von der Herrlichkeit der liebenden Dienstbarkeit und von der Unfreiheit himmlischem Zauber. Wie er da ein prächtiger Kerl von Vater, von Gatte, von Erzieher, von Wächter und von noch manch anderem wäre. Von einem Sehnen und von einer Aufrichtigkeit, die nie aufhören, von einer Liebe, die, indem sie dem Manne Fesseln anlegt, ihn erst zum Manne macht, zum Gott macht. ,,Wie ich da schon wieder Luftschlösser baue. Wahrhaftig, ich sollte mich schämen", sprach er lachend. Hierauf griff er nach einem Buch und sank in die Fesseln der Lektüre. Inzwischen schalt sich Sebastian einen rechten Dummkopf, daß er sich von dem Phantom, das er zerstreuterweise so nannte, hatte Angst einjagen lassen. Auch er fing an zu lachen, doch nicht so fröhlich wie der andere. Es war ein irres, schrilles, trauriges Lachen. Die zweite Begegnung Michaliks mit Sebastian ähnelte insofern der ersten, als sie an fast ein und derselben Stelle auf der Promenade, inmitten eines zahlreichen eleganten Spaziergängerpublikums, stattfand. Sie unterschied sich aber dadurch von ihrer Vorgängerin, daß sie mehr Ernst annahm, länger dauerte und daß'sie den Schein eines dramatischen Auftritts bekam. Sebastian, den gestrigen Vorfall leichtfertig verlachend, war eben an einer Gruppe von Damen und Herren vorbeigegangen, wobei es zu einem gegenseitigen Grüßen gekommen, war, als er, nach einigen weiteren Schritten, die furchtbare Totenerscheinung vom vergangenen Tag zu seinem nicht zu beschreibenden, höllischen Entsetzen, wie aus dem Erdboden, heraus, dicht vor sich auftauchen sah. Die Überrumpelung war eine so vollkommene, daß Sebastian das Gleichgewicht verlor. Er schauderte an allen seinen Gliedern, und der jähe Schrecken raubte ihm den Atem. Nur äußerst mühsam vermochte er sich angesichts des Schreckensbildes aufrecht zu halten. Der andere, welcher das letztemal still und wie achtlos weitergegangen war, blieb diesZEIT ONLINE 1966