Canetti, Elias, * 25. 7. 1905 Rustschuk/Bulgarien. + 1994 Romancier, Dramatiker, Aphoristiker. C.s Eltern Jacques u. Mathilde Canetti, geb. Arditti, waren Juden sephardischer Herkunft; die weitverzweigte u. traditionsbewußte Kaufmannsfamilie hielt streng auf ihre kulturelle Eigenart, u. diese prägte die Kindheit des Autors entscheidend mit, v. a. auch seine sprachl. Sozialisation: Deutsch war ausschließlich die »Zaubersprache« der Eltern, mit den Kindern wurde in dem althergebrachten span. Idiom gesprochen. Im Juni 1911 übersiedelte die Familie nach Manchester, wo C. die Schule besuchte. Nach dem Tod des Vaters 1911 ging die Mutter, zusammen mit C. u. dessen beiden jüngeren Brüdern Georg u. Nissim 1913 nach Lausanne, wo Mathilde Canetti ihrem Ältesten unter »Hohn und Qualen« die ersten grundlegenden Deutschkenntnisse vermittelte. Seit Herbst 1913 in Wien, erlebte C. hier den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit, in einer Wiener Volksschule auch dessen propagandistische Aufbereitung. Auf Wunsch des Großvaters Canetti sollte daneben der Besuch der Talmud-Thora-Schule die Beziehung zur jüd. Tradition u. Kultur verstärken; inzwischen war jedoch bereits die ausgedehnte Lektüre klass. Autoren in den Mittelpunkt von C.s Interesse gerückt. Im Sommer 1916 zog die Familie nach Zürich, wo C. ab 1917 das Realgymnasium der Kantonschule Zürich besuchte. Die »einzig vollkommen glücklichen Jahre« im Zürcher »Paradies« endeten im Herbst 1921, als C. auf heftiges Drängen der Mutter hin nach Frankfurt/M. übersiedelte u. hier mit den Tumulten u. Unruhen der Nachkriegszeit (Ermordung Rathenaus, Inflation) konfrontiert wurde. 1924 legte C. am Frankfurter Köhler-Realgymnasium das Abitur ab; im Herbst begann er ein Studium an der Universität Wien mit dem Hauptfach Chemie. Entscheidend für den weiteren persönl. u. literar. Werdegang C.s wurde die Begegnung mit Karl Kraus, den er im April 1924 zum ersten Mal in einer Vorlesung gehört hatte u. als dessen »ergebener Sklave« er sich bald sah. Unter der geistigen Führung dieser unbedingten Autorität rückten bereits während der Studienjahre zentrale Probleme des späteren Schaffens in seinen Blickpunkt: Fasziniert beobachtete C. im zeitgenöss. Wien v. a. das Phänomen der »Masse« u. dessen Erscheinungsformen; zu einem Schlüsselerlebnis wurde in diesem Zusammenhang der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927 u. die damit verbundenen blutigen Zusammenstöße zwischen Polizei u. Demonstranten. Zu diesen wichtigen Eindrücken zählte nicht zuletzt der tägliche Blick auf ein Spielfeld u. die Anlagen der Nervenheilanstalt Steinhof, den C. von den Fenstern seiner im Frühjahr 1927 gemieteten Wohnung aus hatte. Anläßlich von Sommeraufenthalten in Berlin 1928/29 lernte C. zahlreiche kritische Autoren u. Intellektuelle kennen, wie etwa George Grosz, Bert Brecht oder Isaak Babel. In Berlin gelang es C. auch, nach der Promotion zum Dr. phil. nat., im Frühjahr 1929 Arbeit zu finden: Für den Malik Verlag übersetzte er drei Bücher Upton Sinclairs aus dem Amerikanischen. Daneben begann er bereits mit der Niederschrift seines ersten Werks Die Blendung. 1932 begegnete C. Hermann Broch, mit dem ihn später herzl. Freundschaft verband; Weitere Bekannte dieser Zeit waren Alban Berg, Robert Musil u. der Bildhauer Fritz Wotruba; durch eine kurzzeitige Beziehung zu Gustav Mahlers Tochter Anna geriet C. auch in den Kreis um die Witwe des Komponisten, Alma Mahler-Werfel u. Franz Werfel. Im Febr. 1934 heiratete er seine langjährige Freundin Veza Taubner-Calderon; während der kurz davor stattfindenden Bürgerkriegskämpfe hatte der damalige Sozialdemokrat Ernst Fischer in C.s Wohnung Unterschlupf gefunden. Das nur von Auslandsreisen (Straßburg, Zürich, Paris u. Prag) unterbrochene Leben in Wien endete nach der Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland: Im Nov. 1938 verließen C. u. seine Frau Wien u. gingen zunächst nach Paris; ab Jan. 1939 lebten sie in London. Angesichts der polit. Entwicklung gab C. in London die Arbeit an fiktionalen Texten vorläufig auf u. widmete sich intensiv anthropolog., ethnolog. u. sozialhistor. Studien zur Problematik Masse und Macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb C., dessen Bekanntheitsgrad im dt. Sprachraum bis Anfang der 60er Jahre verschwindend klein war, in London; im Frühjahr 1954 unternahm er eine Reise nach Marrakesch, es folgten Aufenthalte in Frankreich u. Italien. 1963 starb seine Frau Veza, danach hielt er sich häufig bei seinem Bruder Georg ( 1971) in Paris auf. Als international anerkannter Autor wurde er 1970 Mitgl. der Berliner Akademie der Künste u. korrespondierendes Mitgl. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 1971 heiratete er Hera Buschor, 1972 wurde die Tochter Johanna geboren; zweiter Wohnsitz neben London ist seit dieser Zeit Zürich. Mit dem Nobelpreis für Literatur 1981 fand C.s kompromißloses u. kritisches Lebenswerk seine verdiente Würdigung. C.s gattungsmäßig auffällig diskontinuierl. Werk wird in seiner Gesamtheit von zwei Strukturelementen dominiert: einer phantasievollen Umsetzung individueller biographischer Erfahrungen in literar. Tableaus, deren Konzeption u. Disposition jedoch auf der intellektuellen Anstrengung beruht, diese Erfahrung zu »erkennen« und sie gleichsam mit wissenschaftl. Präzision festzuhalten. Ausgangspunkt dafür ist C.s Selbstverständnis als Autor, wie er es in der Rede Der Beruf des Dichters (gehalten 1976 in München, abgedruckt in: Das Gewissen der Worte. Mchn. 1975) formuliert hat: C. bezeichnet sich hier als »Hüter der Verwandlung«, der verpflichtet sei, gegen einseitige Fixierungen u. starre ideolog. Denkweisen eine »Vorstellung von der Variabilität menschlicher Sitten und Möglichkeiten« wachzuhalten. Aufzusuchen habe der Dichter die neue Dimension menschl. Lebens in der literar. Tradition, v. a. aber in Märchen u. Mythen; erst die dadurch ermöglichte radikale »Verwandlung« könne zeigen, was »ein Mensch hinter seinen Worten« wirklich sei. C.s großes Erstlingswerk, der Roman Die Blendung (Wien/ Lpz./Zürich 1936, recte 1935. Neuaufl. Mchn. 1948. Mchn: Hanser 1963. 41980), entstanden 1930/31 u. urspr. als Teil einer Romanreihe Comédie Humaine an Irren mit dem Titel Kant fängt Feuer geplant, demonstriert die Folgen wahnhafter Fixierungen für die soziale Realität an extrem negativen Beispielen: In grotesker Überzeichnung erzählt C. von einer Welt, in der es nur mehr Krüppel gibt, körperl. u. geistig Entstellte, Unmenschen, die sich gegenseitig belauern u. denen die Fähigkeit zur gesellschaftl. Kommunikation längst abhanden gekommen ist. In drei dialektisch angeordneten Kapiteln Ein Kopf ohne Welt, Kopflose Welt u. Welt im Kopf schildert C. den verzweifelten Kampf des Sinologen u. Büchermenschen Peter Kien gegen die Vertreter »weltlicher« Instinkte u. Macht. Mit der Aufnahme der dummdreisten, geldgierigen Haushälterin Therese hat der weltfremde Gelehrte Kien zum erstenmal die Masse in sein Haus der reinen Wissenschaft gelassen, das in der Folge Stück für Stück von dieser erobert wird. Kien, dem auch sein Bruder Georges, der in Paris als Psychiater lebt, nicht mehr helfen kann, verbrennt schließlich sich u. seine geliebten Bücher. Ihre Wurzeln hat diese großangelegte Metapher von der Selbstzerstörung der Kultur, die Kien angesichts der drohenden Masse triumphierend inszeniert, in der Realität Wiens zur Zeit der 20er Jahre, die C. anhand der sprachl. Physiognomien seiner von Obsessionen getriebenen Figuren genau dokumentiert; so nehmen etwa die zitierten u. hier steht C. in der Nachfolge von Karl Kraus verbalen Machtphantasien des sadistischen Hausbesorgers Benedikt Pfaff das Grauen des Faschismus vorweg. Im besonderen jedoch ist die auch sonst an autobiographischen Bezügen sehr reiche Blendung die literar. Antwort C.s auf das Erlebnis des Justizpalastbrandes von 1927. Angeregt durch die Lektüre von Georg Büchners Woyzeck schrieb C. im Winter 1931/32 das satir. Drama Hochzeit (als Manuskript gedr. Bln.: S. Fischer 1932. Mchn.: Hanser 1964. 21976), eine Parabel auf die materielle u. sexuelle Gier einer korrupten Gesellschaft: Das Haus, um dessen Besitz seine Bewohner u. die Hochzeitsgesellschaft mit allen Mitteln kämpfen, wird zusammen mit den Insassen durch eine Erdbebenkatastrophe vernichtet. Ihr Profil erhalten die Figuren des Stücks durch »akustische Masken«, die jeweiligen persönlichen u. stark eingegrenzten Sprachgewohnheiten, die C. zu einem Mosaik kleinbürgerlich-patholog. Lebenswelt verwebt. (Die Uraufführung am 3. 11. 1965 am Staatstheater Braunschweig löste einen Theaterskandal aus.) Von Herbst 1933 bis Jan. 1934 entstand das dreiaktige Stück Komödie der Eitelkeit (Mchn. 1950: nicht ausgeliefert. Neuaufl. Mchn. 1964. Urauff.: Braunschw. 6. 2. 1965), das von C. zunächst in Wien, u.a. im Hause Zsolnay-Mahler, vorgelesen worden war. Ein Gedankenexperiment bildet den dramaturg. Ausgangspunkt: In einem totalitären Staat werden alle Spiegel u. Photographien verboten, in der Folge tritt jedoch gerade das Gegenteil des Bezweckten, die Isolierung des Ichs aufzuheben, ein; das Fehlen jegl. Spiegelbilds führt zu schweren Störungen des Gemeinschaftslebens u. zu grotesken Exzessen, etwa der Einrichtung von »Spiegel-Bordellen«. Ein für die »Philosophie« C.s zentrales Thema, den Kampf gegen die absolute Macht des Todes, greift das 1952 verfaßte Drama Die Befristeten auf (Urauff. 6. 11. 1956 in engl. Übers. u. d. T. The Numbered im Playhouse Oxford. Ersch. Mchn. 1964). C. entwirft hier die Vision einer Gesellschaft, in der jedermann bei seiner Geburt vom allein wissenden »Kapselan« eine Kapsel mit seinem Sterbedatum umgehängt bekommt, die Lebensdauer wird außerdem für alle sichtbar im Namen festgelegt. Als schließlich der Protagonist Fünfzig die bloße Fiktion der vorgegebenen »Fristen« aufdeckt, sind seine Leidensgenossen nicht mehr fähig, die soziale Ungerechtigkeit einer derart unumschränkten Herrschaft des Todes u. der dadurch entstandenen neuen gesellschaftl. Hierarchie zu durchschauen. C.s Dramen sind Variationen über eine Welt in Angst u. Individuen, die vor dieser Angst unrettbar in die Isolation treiben; als solche bilden sie poetische Illustrationen zu jenen »Thesen« C.s, die er in seinem theoretischen, die Grenzen herkömmlicher Wissenschaften sprengenden Hauptwerk Masse und Macht (Hbg. 1960. Düsseld. 21971) entwickelt: Ausgehend von dem sozialen Phänomen der »Berührungsfurcht«, die in der Masse verlorengehe, beschreibt er zunächst mögl. Erscheinungsformen u. Strukturen der Masse, ihre Symbole (Feuer, Meer, Regen, Fluß, Wald, Korn, Wind, Sand, Haufen, Steinhaufen, Schatz) u. ihren Rhythmus. Materialbasis dieser Typologie der Masse bilden v. a. die Mythen u. Riten der Naturvölker, Erkenntnisse der Anthropologie, Soziologie, Psychologie u. Geschichte. Nach Darstellung der »Meute«, einer historisch älteren Form der Masse, geht C. auf konkrete nationale Massensymbole u. schließlich auf den inneren Mechanismus der Macht, deren Ökonomie u. Elemente (Gewalt, Geschwindigkeit etc.) ein. Die ersten, ursprünglichen »Akte der Macht« sieht C. in den elementaren Lebensäußerungen des »Ergreifens und Einverleibens« der Beute, im Essen u. Verdauen. Wer ißt, hat getötet u. selbst überlebt, daher definiert C.: »Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht«. Damit wird für ihn der Lustgewinn des Überlebenden, erreicht durch den Tod des anderen, zum Ausgangspunkt sozialer u. polit. Interaktion. Die Befehle des »Machthabers«, so C., seien im Grunde verdeckte Todesdrohungen. Neben weiteren Aspekten der Macht u. dem Zusammenhang von Herrschaft u. Paranoia behandelt er hier auch den Begriff der »Verwandlung«, der für sein Werk entscheidende Bedeutung besitzt: Anhand zahlreicher Beispiele (Sklaverei, Kastensystem etc.) demonstriert C., wie sehr Verwandlungsfähigkeit u. -möglichkeit eine humane soziale Ordnung mitbestimmen müßten. Eng verflochten mit den in Masse und Macht entwickelten sozialphilosophischen Anschauungen C.s dokumentieren seine aphorist. »Aufzeichnungen« (v. a. Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972. Mchn. 1973 u. Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. Mchn. 1987) diesen für C. so spezif. Zugang zu sozialen Verhaltensweisen auch in einem sehr persönl. Kontext. C.s Sprachgebrauch »Aufzeichnungen« für Aphorismen verweist dabei auf die kontrapunktische Funktion dieser für ihn unverzichtbaren Textgattung: Sie fixiert biographisch getreu den Weg seiner Gedankenarbeit. Wesentlich für C.s Auseinandersetzung mit Macht als gesellschaftl. Realität sind die essayist. Analysen von Franz Kafkas Briefen an Felice Bauer (Der andere Prozeß. Mchn. 1969) u. der Briefe von Karl Kraus an Sidonie von Nádherny (Der neue Karl Kraus. In: Das Gewissen der Worte), in denen er mit psycholog. Feingefühl die diffizilen Versuche der beiden Autoren nachvollzieht, ihre Macht- bzw. Ohnmachtsbedürfnisse durch den Briefwechsel mit einer Frau zu kompensieren. Weit über bloße Bestandsaufnahme von biographischen Fakten u. Informationen hinaus geht C. in den seit 1971 entstandenen drei Bänden seiner Autobiographie: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend [Zeitraum 1905-1921] (Mchn. 1977), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931 (Mchn. 1980) u. Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937 (Mchn. 1985) sind vielmehr Beiträge zur Interpretation von C.s Lebensu. Werkgeschichte. Indem er durch Voru. Rückgriffe die zeitl. Reihenfolge der Ereignisse durchbricht u. anhand textinterner Verweise u. Kommentare die Identität von Erfahrenem u. Geschriebenem entfaltet, Einflüsse dokumentiert u. die Wirkungsgeschichte mitreflektiert, erschafft sich der Verwandlungskünstler C. seine spezif. Wirklichkeit. & WEITERE WERKE: Fritz Wotruba. Wien 1955 (Ess.s). Welt im Kopf. Hg. Erich Fried. Wien 1962 (Werkausw. mit bibliogr. Anhang). Aufzeichnungen 1942-48. Mchn. 1965. Die Stimmen v. Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. Mchn. 1968. Alle vergeudete Verehrung. Aufzeichnungen 1949-60. Mchn. 1970. Macht u. Überleben. Drei Essays. Bln. 1972. Die gespaltene Zukunft. Mchn. 1972 (vier Ess.s u. drei Interviews mit Theodor W. Adorno, Horst Bienek u. Joachim Schickel). Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. Mchn. 1974. Das Gewissen der Worte. Mchn. 1975 (ges. Ess.s, darunter: Georg Büchner; Das erste Buch: Die Blendung; Der neue Karl Kraus).