Helmut Arntzen: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften Seit 1918 arbeitet Musil daran, Anfang 1929 beginnt er mit der Reinschrift, 1930 erscheint der erste und der zweite Teil. Der an der traditionellen Romanform des 19. Jhs orientierter Leser wird dadurch irritiert, daß die Stränge aller Teilgeschichten fallengelassen werden und die Geschichte Ulrichs sich in Exkursen zu verlieren scheint. Eine Befriedigung bieten geistreiche Bemerkungen, Pointen, die zitierfähig sind. Ulrich ist nicht einfach eine Figur im Sinne der Mimesis, ein empirisch und psychologisch bestimmtes Individuum, sondern nur ein Name, hinter dem sich ein Bewußtsein als historischer Zustand und als geschichtlicher Prozeß verbirgt. Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht - Wege zu Musil – 254-255 Isothere ? Mißverhältnis zwischen einer quasi präzisen Erfassung der Realität und der „altmodischen“ Feststellung: ein schöner Augusttag 1913. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Absichtlich widersprüchliche Formulierungen nehmen die Schreibweise, die sich nicht eindeutig festlegen läßt, vorweg: Die Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. /…/ Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. /…/ Es lenkt von wichtigerem ab. Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben (Kap.4) 261-263 Kakanien, (8. Kap.), Dort in Kakanien Mann ohne Eigenschaften, !!! 32- 35 Dort in Kakanien /…/ gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. Natürlich rollten auf diesen Straßen Automobile; aber nicht zu viel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. /…/ Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern großen Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungslust an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie. Österreich, mit einem Namen, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, dass Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Geistiger Umsturz (Kap.15) – Charakteristik der Zeit um die Jahrhundertwende: Wege zu M 299 300/301 Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurde Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit der brustkranken Mädchen angebetet; man begeisterte sich für Heldenglaubensbekenntnis und das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche… , aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herhausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernen Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Im ersten Teil des ersten Buches, dem diese Textproben entnommen ist, sieht man, wie die Universalien dieses Werkes über den Figuren, dem Besonderen, Oberhand gewinnen. Ulrich ist nicht vor allem Figur eines Romans im Sinne der Mimesis, sondern ermöglicht die Darstellung eines Bewußtseins (als historischen Zustand und uns als geschichtlichen Prozesses), das sowohl die Person Ulrich, den Typus Mann ohne Eigenschaften und die Kategorie Möglichkeit repräsentiert. Der zweite Teil des ersten Bandes – S. 83 ff. – behandelt die Parallelaktion. Reichsgraf Leinsdorf und Ermelinda Tuzzi, die Frau eines Sektionschefs im Außenministerium. 202, Der Roman stellt dar, daß alles Handeln in Wahrheit Sprechen ist und also die Romanhandlung notwendig immer mehr in Gespräche übergeht. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Gespräche der Parallelaktion nur Gerede bleiben und dass das Gerede die universelle Erscheinung der Wirklichkeit der Epoche ist. Worüber Leinsdorf, Diotima und Arnheim[1] immer sprechen mögen, es ist Gerede sowohl im Sinne einer Reihung von Leerformeln, die nur die Funktion haben, den Schein von Reflexion und Gespräch aufrechtzuerhalten.. Leinsdorf spricht immer von Besitz und Bildung, Arnheim von Seele und Geschäft. Scheinbar ein neuer Handlungsstrang ist die Geschichte des Mörders Mosbrugger. Das Bild der Anstalt, in der Clarisse, ihr Bruder, der General Stumm von Bordwehr und Ulrich ihn besuchen, verwandelt sich in das Bild der Parallelaktion. Die satirische Kraft der Figurendarstellung liegt in der Art, wie im Roman mit dem Zitat gearbeitet wird. Das Fremde soll substituieren das Eigene, das nicht mehr vorhanden ist., das Herbeizitieren des Fremden erweist sich als Unfähigkeit eigenen Sprechens. Das Paradoxe liegt darin, daß gerade dieser Mörder einer Prostituierten, dessen Worte Hmhm, soso sind, in seinem Bewußtsein reflektiert, daß jeder von denen (den Wissenschaftlern) sprach, wie es ihm paßte, und das es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehen, wie sie wollten (235). Während alle die Sprache instrumentalisieren, wie es ihnen paßt, und glauben sie zu beherrschen, sieht Mossbruggers wildes Denken ein, daß die Sprache das Beherrschende ist. Der General Stumm ist nicht nur deshalb ein Außenseiter innerhalb der Parallelaktion, weil er Vertreter der Kriegsministeriums in einem Unternehmen ist, in dessen Lexikon das Wort Frieden eine besondere Rolle spielt, sondern vor allem infolge seiner Naivität, die sich noch nicht die Überredungsfunktion der Sprache zu eigen gemacht hat, und alles wörtlich und ernst nimmt, was aus dem Munde der Akteure kommt. Seine Naivität spiegelt diese Welt wie bei einer anderen komischen Figuren der Weltliteratur Sancho Pansa. Clarisses eigentümliches Sprechen stützt sich auf Nietzsche-Zitate und –Parahrasen. Ulrich zwingt kurzfristig die anderen Figuren, aus der Monotonie des Geredes der Parallelaktion auszubrechen und auf sein Sprechen einzugehen. Er hat die Funktion eines Katalysators, auf den das Bewußtsein der anderen reagiet, sei es nur dadurch, daß ihnen ihr Gerede als dieses bewußt wird. Das Beherrschende an der Sprache erfährt auch Ulrich, als er sich nach einem Erlebnis sehnt. In seiner Begegnung mit Bonadea in Diotimas Schlafzimmer, die nur auf ein neues sexuelles Erlebnis hinauszulaufen scheint, begreift Ulrich die Sprachlichkeit allen Erlebens. Er schaut in den Winterabend hinaus, und es kommt ihm vor, „die Stadt sei in sie (in eine mildkalte Oktobernacht nämlich) eingehüllt wie in eine ungeheure Wolldecke. Dann fiel ihm ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht.“ (580) Ulrichs Weg in den anderen Zustand ist der Weg zu einer neuen Sprache, die im Begreifen eines eigenen Sprechens als dessen beginnt, das nicht Meinungen anhäuft, sondern das Leben als Gleichnis begreift. Zur Trennung von der Welt als gängiger Kommunikation, als Universum der Sprachspiele, kommt es in einem langen Prozeß, der mit dem Tod des Vaters endet. Der dritte Teil heißt Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher) Die Zwillingsschwester Agathe ist eine Metamorphose Ulrichs: eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst (694), eine vernachlässigte Möglichkeit seiner selbst Das Neue wird nur in Gesprächen sichtbar, wird als Sprechen bestimmt. Das Neue dieser Gespräche äußert sich formal darin, dass das epische Präteritum über wenige Kapitel hin vom Präsens abgelöst wird. Mittelpunkt ihrer Gespräche und der Veränderung des üblichen Sprechens durch Korrekturen bildet die Moral, als das Allgemeine und Verbindliche, das sich nur im Einzelfall realisiert. Sie stellen fest, daß „jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht (749), auf den Punkt von formulierter Allgemeinheit zur realisierter Individualität. Die Aporie führt bei Ulrich zu einem rigorosen Sprachzweifel. Moral fixiert eine „innere Bewegung“, aber das Fixierte sei von dieser Bewegung „völlig verschieden“. Er demonstriert, dass wir moralische Sätze nicht wörtlich nehmen dürfen. Dass nicht nur der Gegensatz von Innerem, von Unbestimmten, sprachlich kaum Umzusetzenden und dem Äußeren, Bestimmten, als Sprache oder Moral Existierendem liegt, sondern dass in der Sprache selbst eine Dichotomie liegt: 749: Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keine wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, dass alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man falsch ergänzt hat. Ulrich äußert sich so, als zeige sich die Verwirklichung des anderen Zustands darin, dass etwas, das konventionell amoralisch sei, eine neuen moralische Bedeutung gewinne. Und Agathe schlägt konsequent vor, das Testament des Vaters zu fälschen, ihrem konventionell guten Ehemann Hagauer sein Erbteil zu nehmen und es Ulrich zu geben. Alle gelangen so an einen Punkt, wo es keinen Ausweg mehr zu geben scheint: die Geschwister, Clarisse, die Parallelaktion. Agathe scheint im Selbstmord die einzig mögliche Tat zu erblicken. 220 Aber selbst diese Tat wäre in einer Welt aus Gerede leicht nur noch ein Zitat der Verzweiflung. Ironischerweise wird sie von dem Pädagogikprofessor Lindner und von dessen Sprechen ins Leben zurückgeholt. Im ersten Teil war das Gerede Topos[2] eines chaotischen wie nichtigen allgemeinen Bewusstseinzustandes, dem Ulrich als Ironiker zusah und den er nur kommentierte. Jetzt muß Ulrich erfahren, wie aus dem Gerede etwas Neues, der Krieg wird. Ulrich kann sich nicht vorstellen „wie es weitergehen wird“ (1039). Ulrich und Agathe verlassen endgültig einen historisch sozialen Zusammenhang, den General Sturm von Bordwehr kommentiert: 1040. das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d´Arc, der könnte uns vielleicht helfen. Und Graf Leinsdorf sagt – auf Anregung der Drangsal eine neuen Sitzung an, bei der der Feuermaul irgendein langes Gedicht von sich vorlesen wird, da wird es ruhiger zugehen. Damit endet drittes Teil des zweiten Buches. Der Rest erschien erst postum: zuerst 1943 als Privatdruck, erweitert 1952 als eine neue Ausgabe von Adolf Frisé. 222 Lindner scheint der tätig gute Mensch zu sein, der das Gerede der Parallelaktion überwunden hat. Er ist der Tugut der ersten Sitzung der Parallelaktion. (1049) Er verdrängt, daß auch sein Wohltun ein sprachlich Vermitteltes ist , also nichts Unmittelbares., er spricht also in Zitaten, auch wenn er mit sich selbst redet. Sein Problem, daß er sein eigenes Denken und Tun nicht als Uneigentliches, als Zitat erkennen will und daß dadurch beides Phrase wird. 224 Indem Ulrich die Erfahrung des anderen Zustandes als Gleichnis bezeichnet, hebt er die sprachliche Vermitteltheit als jene Erfahrung hervor und eröffnet damit die Möglichkeit, die Dichotomie von anderem Zustand und kritischer Sprachreflexion aufzuheben. 1084 f. Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. /…/ Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr. Sprache ist nicht bloßes Verstandesmedium, sie besitzt Zauberkraft. 226 Im Garten erlebt Ulrich den „uralten Zauber, daß der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt. (1088). Mit der Benennung wird die Welkt auf eine magische Weise erschaffen. Dennoch ist das Benennen noch kein Begreifen. Sprache kann nur das Einzelne des Erlebnisses und der Erfahrung nur streifen, so dass dieses unvergleichbar, welteinsam bleibt. (1090). Die Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Vergleichbaren und dem Eigentlichen tut sich wieder auf, die nur in annäherndem Denken vorstellbar ist. Die Tatparole der Parallelaktion führt zum Krieg, die Tat Clarisses, die in der Befreiung Moorsbruggers vielleicht sich gezeigt hätte, ist Wahnsinnstat., auch der Inzest der Geschwister in der Reise ins Paradies ist als eine scheiternde Tat konzipiert worden. Der Roman scheint nur die latente Katastrophe des Geredes und die offenbare der metasprachlichen Tat zu kennen, die Sprachlichkeit des sich nicht begreifenden Sprechens und die Sprachlosigkeit der sprachverwerfenden, Chaos erzeugenden Tat. Die Reduktion des Romans auf diese Formel würde ihn aber mit einem Lehrbuch gleichsetzten. Das, was ist, ist die Epoche als bloß geredetes Sprechen. Der Widerstand ist das widersprechen als Versuch zu einem anderen Sprechen zu kommen, das ein „anderer Zustand“ wäre. Der Romanschluß wird unter dem Stichwort Utopie der induktiven Gesinnung skizziert. (1882 ff.). Musils später Wunsch, das Lehrmoment im Buch zu verstärken, eine praktische Formel aufzustellen (1837) widerstritte dem Anliegen, das Problem als literarische Darstellung vorzulegen. Grundlegend sollte die Vorstellung von den toten und lebenden Gedanken sein , die man schon in einem Tagebuch-Heft etwa um 1900 findet: Jeder Mensch ist ein Friedhof seiner Gedanken 230 Meinungen liegen in der Mitte zwischen Begründung und Willkür (1128) In unserer bisherigen Empirie verkümmert das, was unter lebenden Gedanken vorzustellen ist, zu privater Subjektivität. Ein lebender Gedanke ist einer, der zum Mittelpunkt einer augenblicklichen Kristallisation unseres ganzen Wesens zu werden scheint (1917) 233 Literatur ist insgesamt das ständige Gleichnis von der Sprachlichkeit der Wirklichkeit und damit von der eigenen Gleichnishaftigkeit. ________________________________ [1] Tycoon /tajku:n/ - Magnat [2] Masc.