Historischer Roman Mit Geschichte will man etwas, behauptete Alfred Döblin: entweder nur billigen und verherrlichen oder verändern. Er selbst begriff den historischen Roman als Instrument der Erkenntnis der Gegenwart. Die historische Belletristik war oft ahistorisch, indem dem (als unmenschlich dargestellten) politischen Handeln das Individuum gegenübersteht. Zur neuen Popularisierung des stark psychologisierenden Genres des Geschichtesromans trug u. a. Alfred Neumann bei. Alfred Neumann (1895 – 1952) Neumann entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Westpreußen, studierte Geschichte in München und wurde hier freischaffender Schriftsteller. Sein Durchbruch gelang ihm 1926 mit dem hist. Roman Der Teufel, in dem schon sein Grundthema feststeht: »die Psychologie der Macht und die politische Intrige«. Die Handlung ist schwer nachvollziehbar, wenn man kein Verständnis für den vielleicht auf Neumanns preußische Herkunft zurückgehenden Staatsgedanken hat. Oliver Necker, ein Zunftmeister der Barbiere in Gent, ein Mann mit einem fahlen, hageren und tückischen Gesicht, lebt in der Zeit des französischen Königs Ludwigs XI. (1423-1483) und seines Rivalen, des mächtigen Herzogs Karls des Kühnen von Burgund. Er wird Agent und später auch Vertrauter Ludwigs. Die Lust seines Lebens ist es, Schicksale in der Hand zu haben, zu wissen, was die anderen nicht wußten. Oliver erkennt im König unter der Oberfläche von hinterhältiger Gemeinheit und List, die er gegen die Fürstenliga anwendet, einen einsamen, leidenden Menschen, der um der Verwirklichung der Idee eines einheitlichen, starken Frankreichs willen sein Selbst zerstören muß. Auch Oliver ist bereit, alles für die in Ludwig verkörperte Idee des Königreichs zu opfern. Seine Loyalität wird jedoch auf eine harte Probe gestellt. Der König stellt auch Anne, der Frau Neckers, nach und schickt ihn auf eine Mission, um ihn vom Hof zu entfernen. Necker zögert zwischen Verrat des Königs und persönlicher Rache einerseits und der ihm anvertrauten politischen Mission andererseits. Als die Verhandlungen zwischen dem König und seinen Gegnern in eine Sackgasse geraten, entscheidet sich Oliver Necker einen Aufstand in Lüttich zu inszenieren, um den Herzog von Burgund erpressen und seinem König helfen zu können. Und als es nötig ist, opfert er alle Aufständischen. Die Ländereien der Frondeure fallen an die Krone zurück.. Olivers Frau Anne verübt Selbstmord (sonst hätte sie ihr Mann sowieso umgebracht), um den König seiner Frau wieder anzunähern. Die Geburt des Dauphins bedeutet das Todesurteil für den jüngeren Bruder des Königs, Karl von Valois, der zu den Frondeuren zählte und solange der Dauphin nicht da wa, auch der potentielle Thronfolger war. Als Karl der Kühne 1477 in der Schlacht bei Nancy fällt, reißt Ludwig XI. Dijon und einen großen Teil Burgunds an sich. Oliver versucht den Haß des Volkes gegen den Tyrannen Luwig auf sich zu lenken: er übernimmt das Amt des höchsten Justizbeamten, um den König zu entlasten. der Abscheu des Volkes, der sich an die geheiligte Person des Königs nur zögernd heranwagte, hatte jetzt das Ziel. der Teufel regiert das Reich und seinen Herrscher! Man begann den König zu beklagen und für ihn zu beten.“ Nach dem Tod des Königs stellt sich Oliver Necker dem Gericht. Sein Tod am Galgen rettet die Einheit Frankreichs. Macht und Menschlichkeit schließen einander aus, und um den Mächtigen nicht ganz unmenschlich erscheinen zu lassen, muss jemand den Sündenbock spielen. Ein Freund von Feuchtwanger und Klaus Mann war ein anderer jüdischer Münchner Romancier – Bruno Frank (1887 – 1945) FRANK entstammte einer großbürgerl Familie. Nach ausgedehnten Reisen im Mittelmeerraum und der freiwilligen Teilnahme am Ersten Weltkrieg lebte er in Oberbayern, ab 1924 in München als Nachbar Thomas Manns, dessen enger Freund er war. Am 28. 2. 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, verließ FRANK Deutschland u. ging mit seiner Frau u. deren Mutter, der Operettendiva Fritzi Massary, in die Schweiz; er lebte zunächst abwechselnd in Frankreich, London u. im Salzburgischen, bis er 1937 endgültig in die USA emigrierte, wo er zum Kreis dt. Emigranten in Hollywood gehörte. Sein literarisches Interesse konzentriert sich über viele Jahre auf die Gestalt Friedrichs des Großen, der erstmals in drei Erzählungen (Tage des Königs. Bln. 1924) im Mittelpunkt steht. Neben dem psychologischen Einblick in die menschlich Tragik des aufgeklärt-absolutistischen preußischen Königs, dessen verklärte und trivialisierte Darstellung in den 20er Jahren populär war, geht es FRANK auch um die soziale u. politisch Dimension der geschichtlichen Epoche, um Friedrichs humanitäre Staatsidee. Kritischer ist FRANKs Sicht im Roman Trenck. Der Roman eines Günstlings (Bln. 1926), in dem die Tragödie des Herrschers die eigentliche Geschichte der legendären Titelfigur, des gestürzten und verfolgten ehemaligen Günstlings des Königs, dominiert. Baron Friedrich von Trenck (1726 – 1794) war Kadett in der Leibeskadron des preußischen Königs, später sein sein Adjutant[1]. Er verliebte sich in die Schwester des Königs Amalie, die aus dynastischen Gründen den schwedischen Kronprinzen heiraten soll. Als sie es ablehnt, wird sie gezwungen, im Kloster zu leben. Im zweiten schlesischen Krieg kämpft er u. a. auch gegen seinen Vetter, den Pandurenoberst Franz von der Trenck. Die Preußen verdächtigen den Vetter des Mordbrenner eines Verrats, seine Liebesbriefe an Amalie werden abgefgangen. Der Romans erzählt von seiner Haft in der Festung Glatz, seiner Flucht, Versuch, dem angeklagten Pandurenoberst beizustehen und seinem Exil in Russland. Dann verbüßt er 9 Jahr Kerker in Magdeburg. Amalie lässt ihn befreien, erst nach dem Tode Friedrichs 1786 darf er wieder nach Berlin zurückkehren. Aus dem Bericht des Ministers Alvensleben erfährt der Leser, dass sich 1793 Trenck der Französischen Revolution zur Verfügung stellte und 1794 guillotiniert wurde. Der zu Beginn des Exils entstandene historischbiographische Roman Cervantes (Amsterd. 1934. Mchn. 1980) um den Dichter des Don Quijote zeigt FRANK als hervorragenden Vertreter des in der Exilliteratur so häufig anzutreffenden historischen Romans: FRANK läßt in diesen anspielungsreichen, auf die Gegenwart hin orientierten u. stark autobiographisch geprägten Künstlerroman seine ersten Erfahrungen nach der Emigration einfließen. Feuchtwanger Zu Weltberühmtheit brachte es Lion Feuchtwanger, der anfangs noch moderne psychische Konflikte historisch ausstaffierte, sich dann aber die Erhellung der Bewegungsgesetze der Geschichte vornahm; zentral in seinen historischen Romanen war ihm der »Antagonismus zwischen Macht und Erkenntnis«, den er v. a. in Stoffen aus der Geschichte der Judenheit (Jud Süß. Mchn. 1925. Josephus-Trilogie. 1932-45) gestaltete. Bevor aber die Verlage bereit waren, diesen großen Wurf über die Entstehung antisemitischer Stereotypen herauszugeben, war Feuchtwanger gezwungen, einen dünneren historischen Roman zu schreiben, in dem die jüdische Problematik nicht zentral steht. Nur Mitleid mit Ausgegrenzten und Verachteten bewegt Margarete Maultasch dazu, die nach Pogromen im Rheinland flüchtenden Juden sich in Südtirol niederlassen zulassen. Sie bringen dem Land Geld und Prosperität. Jud Süß zuerst 1925 Der erste historische Roman von Lion Feuchtwanger stellt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des jüdischen Finanzrats Josef Süß Oppenheimer als exemplarisch für das Schicksal des jüdischen Volks dar. In Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg lieferte der Autor eine als Warnung zu verstehende, beklemmende Analyse antisemitischer Mechanismen. Josef Süß Oppenheimer steigt dank seiner Finanzbegabung und gewandten Umgangsformen in den 1730er Jahren als geheimer Finanzrat von Herzog Karl Alexander (1684 bis 1737) zum mächtigsten Mann Württembergs auf. Mit dem Herzog durch ein Band wechselseitigen Nutzens verbunden und ebenso machthungrig, genusssüchtig und prunkliebend wie dieser, beschafft Jud Süß durch steuerliche Ausbeutung des Landes die Mittel für Karl Alexanders militärpolitische wie repräsentative Vorhaben. Doch als der Herzog seiner Tochter Naemi nachstellt und diese sich nur durch einen Sprung in den Tod vor der Vergewaltigung zu retten weiß, kommt es zum Bruch. Jud Süß verrät Karl Alexanders Pläne, im protestantischen Württemberg eine katholische Militärautokratie zu errichten, und lässt sich nach dem plötzlichen Tod des Herzogs gefangen nehmen. Lange aufgestauter Unmut entlädt sich nun gegen ihn, der als Angehöriger einer allseits verachteten und vielfach verfolgten Minderheit zum Sündenbock gemacht wird. Er wird zum Tod verurteilt, die mögliche Rettung durch einen Übertritt zum Christentum schlägt Jud Süß aus, denn er hat nach Naemis Tod zu seinen jüdischen Wurzeln, seiner kulturellen Identität zurückgefunden und hält an seinem Glauben fest. Feuchtwangers Darstellung, die auf einer Oppenheimer-Biografie von 1874 fußt, hält sich weitgehend an die historische Überlieferung. Doch Naemi ist eine erfundene Figur. Der chronologisch erzählte Werdegang von Josef Süß Oppenheimer lässt sich unter dem Aspekt von Assimilation und (gescheiterter) jüdischer Emanzipation lesen, als Auseinandersetzung mit den Verlockungen der Macht und ihrem Preis oder als Weg vom Aktivismus zu einer kontemplativen Lebensphilosophie, die Feuchtwanger nach dem Ersten Weltkrieg als vorbildlich erschien, da das Handeln durch den Krieg diskreditiert worden war. Jud Süß wurde zum Weltbestseller und begründete Feuchtwangers Geltung als Romancier. Der antisemitische Hetzfilm Jud Süß (1940) von Veit Harlan (1899–1964) beruhte nicht, wie oft angenommen, auf Feuchtwangers Roman. Lion Feuchtwangers Aufffassung des Genres des historischen Romans wird im Buch Das Haus der Desdemona oder Größe u. Grenzen histor. Dichtung. Mchn. 1984 (zuerst Rudolstadt 1961) behandelt. Wie unüberschaubar die Geschichte dieses kommerziell erfolgreichen Genres ist, zeigt die Datenbank "Der deutschsprachige Historische Roman" 1780 bis 1945 (und der DDR), die sie auf der URL http://www.uibk.ac.at/germanistik/histrom/register.html finden, und die eine Fundgrube für vergleichende Studien darstellt. Sie verzeichnet 6700 historischen Romane von 2500 Autoren. Zu beinahe 2000 Romanen finden Sie auch Textbeispiele (Titelseiten, Vorwörter, Leseproben, Illustrationen) darin. Folgende Tabelle zeigt anhand der Zahl der erschienenen Titel die Beliebtheit des Genres zwischen 1918 und 1945. Sie kulminiert in den Jahren 1935-1938, als sowohl Exilautoren als regimetreue Autoren in Deutschland, und z. T. auch die Innere Emigration dieses Genre bevorzugten. 1918 56 1919 57 1920 79 1921 57 1922 92 1923 56 1924 83 1925 116 1926 85 1927 90 1928 83 1929 89 1930 79 1931 86 1932 78 1933 102 1934 108 1935 156 1936 169 1937 167 1938 153 1939 122 1940 124 1941 104 1942 81 1943 68 1944 30 1945 10 ________________________________ [1] dem Kommandeur einer militärischen Einheit zur Unterstützung beigegebener Offizier;