damit als Gegenstand der Gestaltung durch das Theater erscheinen. Die (wie auch immer beunruhigte) ästhetische Distanz des Zuschauers ist ein Phänomen des dramatischen Theaters, sie wird in den neuen performance-^iinlichen Thea-, terformen strukturell (faktisch mehr oder weniger auffallend und provozierend) erschüttert. Wo immer diese beunruhigende Grenzverwischung geschieht, wandert in postdramatisches Theater, auch wo es insgesamt dem klassischen Theater^mit seiner behaupteten klaren Trennung von Bühne und $m&$®mmä$' zuzugehoren scheint, die Qualität einer Situation im emphatischen Siöri des "Wortes ein. í Í. Ereignis ISituation Mit der Analyse eines Theaters, das seinen Zeichencharakter zürückrümmt und zur stummeii Geste tendiert, zur Ausstellung von Vorgängen, als wolle man rätselhafte Gegebenheiten zu einem unbekannten Zweck zur Kenntnis bringen, wurde eine neue Ebene des Fragens nach den postdramatischen Theaterzeichen erreicht. Nicht mehr die Frage nach ihrer Kombinatorik, nicht mehr allein die Unehtscheidbarkeit von; Signifikant (Realem) und Signifikat, sondern die Frage, welcher Metamorphose der Zeichengebrauch unterliegt, wenn er von seiner »pragmatischen« Einbettung in das Ereignis Und die Situation des Theaters insgesamt nicht mehr abzulösen ist, sein Gesetz nicht mehr von der Repräsentation i'm Rahmen dieses Ereignisses herleitet oder von seinem Charakter als dargebotener Realität» sondern von der Intention, ein Ereignis herzustellen oder zu ermöglichen. In diesem postdramatischen Eteignistheater geht es um das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten, die in dem Moment, da sie geschehen, ihren Lohn dahin haben und keine bleibende Spuren des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen müssen. [:.'■ Es bedarf keiner ausfuhrlichen Begründung, daß auf diese l Weise das Theater in die Nähe des belanglosen »Events« gera- l ten kann. Diese Frage soll uns im Moment jedoch nicht so sehr . beschäftigen wie seine damit gegebene Verwandtschaft zu Happening und Performance Art. Beide sind durch den Bedeü-; tungsyerlust des Textes mit seiner eigenen literarischen Kohä- : renz charakterisiert. .Beide bearbeiten die körperliche,' affektive ; und räumliche Beziehung von Akteuren und Zuschauern und I erkunden die Möglichkeiten der Partizipation und Interaktion, ; gegenüheisdemsßrgeknis*; So wird«faeflfC» bestimmt atetaseß' ^* I : zfeföroi& *6«uatiäBk Den Begriff der Situation neben den gebräuchlicheren des Ereignisses zu stellen, hat den Sinn, das Umfeld der exi-stenzphilosophischen Thematisierung von Situation (Jaspers, Sartre,' Merleau-Ponty) als einer ungesicherten Sphäre der zugleich möglichen und aufgezwungenen Wahl und der virtuellen Transformierbarkeit der Situation ins Spiel zu bringen. Spielerisch schafft Theater eine Lage, bei der man sich dem Wahrgenommenen nicht mehr einfach »gegenüber« stellen kann, sondern beteiligt ist und daher, akzeptiert, daß man, wie es QaAaHgfflwam^a^^^^^ast:, so in ihr steht, <&&maa 4^ißi£ege?wMMGll7^ Der Begriff Situation ruft aber neben der Ausarbeitung des Konzepts vor allem durch Sartre auch die Erinnerung an die Situa-? tioiiisten wach. Ihnen ging es um eine Praxis, die in der Idee .der sKonstruktion von Situationen« (Guy Debord) ihr Zentrum hat. An die Stelle künstlich fingierter Scheinwelten sollte eine im konkreten Material des Alltagslebens hergestellte Situation, eine nur für eine gewisse Zeit geschaffene, herausfordernde Umgebung entstehen, in deren Kontext die Besucher 180 181 f selbst aktiv werden, ihre kreative Aktivität entdecken oder entwickeln können sollten. Nicht zuletzt sollte dadurch eine höhere Surfe auch des Gefühlslebens erreicht werden,1transzendental< im kantisqhen Sinne: die Zeit befreit sich aus ihrer Verankerung und stellt sich im Reinzustand dar.«233 In einem ähnlichen Sinn wie das »Zeit-Bild« des modernen Kinos ist postdramatisches Theater als Zeitkristall zu verstehen, liefert auf seine "Weise ein direktes Bild der Zeit »im Reinzustand«. "Wird; Zeit dergestalt zum Gegenstand einer »direkten« Erfahrung, so treten logischerweise insbesondere Techniken der Zeit-Verzerrung in den Vordergrund. Erst eine vom Gewohnten abweichende Zeiterfahrung provoziert nämlich ihre ausdrückliche. Wahrnehmung, läßt sie von der beiherspielenden unaus-drücklichen Gegebenheit in den Rang eines Themas aufsteigen. Ein theaterästhethisch neues Phänomen ist damit gegeben. Rückt nämlich die Absicht ins Zentrum, die Spezifik des Theaters als Dantellungsmodus zu benutzen, um Zeit als solche, Zeit als Zeit zum Gegenstand theateiästhetischer Erfahrung zu machen, so wird zum ersten Mal die tatsächlich meßbare Zeit des Theatervorgangs selbst zum Gegenstand der künsderi-schen Bearbeitung und Reflexion. Sie wird bewußt gemacht, ihre Wahrnehmung intensiviert und ästhetisch organisiert. Präsenz und Spiel der Darsteller, Präsenz und Rolle des Publikums, reale Dauer und Situierung der Aufiuhrungszeit, das schiere Faktum der Versammlung als eines gemeinsamen Zeit-Raums - all diese immer gegebenen, aber als solche implizit gebliebenen Voraussetzungen von Theater treten als hier und jetzt von allen Anwesenden gemeinsam verbrauchte, nicht im Rahmen eines fiktiven Erzählkosmos re-präsentierte Zeit hervor. ; ■ i. DuraHon Bewußt gemachte Dauer ist ein enter bedeutender Faktor der Zeitverzerrung in gegenwärtiger Theatererfahrung. Elemente einer durativen Ästhetik lassen sich in zahlreichen Theaterarbei- : ten der Gegenwart feststellen, besonders auffallend bei Jan . : Fahre, Einar Schleef, Klaus-Michael Grüber (»Hamlet«, »Die Bakchen«), Christof Marthaler,aber auch in einer Vielzahl von Aufführungen, in denen Stillstand, gedehnte Pausen, die abso- \ lute Dauer der Inszenierung als solche zur Geltung gebracht \ werden. Die Fragmentierung der Erfahrungs-Zeit durch All- \\ tag, Medien, Lebensorganisatiön mit ihren desaströsen Folgen für die Erfahrungsfähigkeit ist von Kluge, und Negt beschrieben worden.234 Theater dürfte ein wesentlicher Bereich des Widerstands gegen die soziale Zerstückelung und Parzellierung der Zeit bleiben, und eine erste Voraussetzung dafür ist ein Theater, »das sich Zeit nimmt«. Zeitdehnung ist ein hervorste-*-chender Zug des postdramatischen Theaters. Robert Wilson schuf ein »Theater der I^angsamkeit«. Seit Wilsons »Erfindung« kann man erst von einer eigentlichen Ästhetik der Duratiöh sprechen. Eine doppelte Erfahrung entsteht; einerseits wird der Zuschauer überrascht, gequält, sinnlich verfuhrt oder geradezu _' • hypnotisiert,das .überaus'langsame. Vergehender'Zeit spüren;' Alle Wahrnehmung ist bekanntlich Differenz^Wahrnehmühg, und so fühlt man deutlich den Untersclüed der Wahrnehmungsrhythmik zum üblichen Lebens- und Theatertempo. , Zeit kristallisiert und transformiert die wahrgenommene, z.B. verlangsamte Bewegung in eine »Form der Zeit«. Das visuelle \ Objekt aäf der. Bühne scheint Zeit in sich au&uspeichern. Aus dem Zeitverlauf wird ein »Continuous Present«, um mit Wilsons Vorbild Gertrude Stein zu sprechen, Theater ähnelt sich' einer kinetischen Skulptur an, wird Zeitskulptur. Das gilt zunächst für die menschlichen Körper, die sich durch Slow Motion in kinetische Skulpturen verwandeln, aber auch für das 330 331 Theatertableau insgesamt, das aufgrund seiner »mcht-naturli-chen« RJjythmilt den Eindruck einer eigenen Zeit erweckt - in der Mitte zwischen der Achronie einer Maschine und der mi t~ vpUziehbaren Lebenszeit menschlicher Akteure, die hier die Anmut des Marionettentheaters gewinnen. Worauf es ankommt, ist der Umstand, daß Dauer hier nicht etwa Dauer abbildet. Weder referiert die Verlangsamung auf der Bühne auf die JUngsamkeit eines fiktiven Universums, das mit unserer Erfahrungswelt verknüpft wäre235, noch kann davon die Rede sein, die Veriangsamung nehme prinzipiell per Ironie oder Antiphrase auf die Brutalität öder Heftigkeit des »realen« Lebens Bezug; . Theater referiert vielmehr auf seinen eigenen Prozeß, Wenn eine Aufführung von Robert Wilson 6 Stunden dauert, so ist die entscheidende theatrale Erfahrung nicht die zunächst im Vordergrund stehende objektive Dauer, die »Uhrzeit«, sondern die immanente Erfahrung der Zeitdehnung. Natürlich ist andererseits die Zeiterfahrung nicht ganz unabhängig von der realen Dauer der ÄutBhrung. Es wäre daher ein interessantes Problem der Auxruhruhgsanalyse, wie solche Theaterformen zu beschreiben sind, bei denen sich die autonome Theater-Zeit so eng verzahnt mit der (bewußt gesuchten) Dauer und Langsamkeit des Dargestellten, daß sich für die Wahrnelimung »Theaterdauer« und »erzählte Dauer« kaum voneinander abheben. Was bedeutet die »Ausrahmung« des Theaters aus dem Alltag durch eine zeitliche Ausdehnung, die in keinen »normalen« Tagesrhythmus paßt, m den vierstündigen Theater-JEpen von Peter Brook, Ariane Mnouchkine oder Robert Lepage? In welchem Verhältnis stehen hier Repräsen-tation (Zeit des Dramas, Zeit der Inszenierung) und Präsenz der Zeit (Auurihrungsdauer, Performance Text)? Wie verhält sich das physische und physiologische Zeiterleben der Dauer zum Rhythmus der Aufführung? 2. Zeit und Photographie Roland Barthes kommt in seiner Photographiestudie auf einen Zusammenrang von Theater und Photographie zu sprechen, der unmittelbar die Zeitdimension betrifft. Er betont, daß sich die Photographie mit der Kunst nicht über die Malerei berühre, sondern — über das Theater: »Die camem obsatm hat, im ganzen gesehen, die perspektivische Malerei ebenso wie die PHOTOGRAPHIE wie auch das DIORAMA hervorgebracht, und alle drei sind Künste der Bühne; wenn ich aber die PHOTOGRAPHIE in engerem Zmammenhang mit dem THEATER sehe, so aufgrund einer eigenmmlichen Vermittlung (vielleicht bin ich der einzige, der es so sieht): der des TODES. Die ursprüngliche Beziehung zwischen Theater und TOTENKULT ist bekannt: die ersten Schauspieler sonderten sich von der Gemeinschaft ab; indem sie die Rolle der TOTEN spielten: sich schminken, bedeutete, sich als einen zugleich lebenden und toten Körper zu kennzeichnen: der weiß bemalte Oberkörper im totemistischen Theater, der Mann mit dem bernalten Gesicht im chinesischen Theater, die Schminke aus Reispaste im indischen Katha Kali, die Maske des japanischen No. Die gleiche Beziehung finde ich nun in der PHOTOGRAPHIE wieder; auch wenn man sich bemüht, in ihr etwas Lebendiges zu sehen (und diese Verbissenheit, mit der man >Lebensnähe< herzustellen sucht, kann nur die mythische Veileugramg eines Unbehagens gegenüber dem Tod sein), so ist die PHÖTOGAPHIE doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von >Lebendem Bilde die bildliche Darstellung x. des regloser^, geschminkten Gesichtes, in der wir die Toten sehen.«237 Die zeremonielle und rituelle Statik des Wüsontheaters bezeugt einen Zusammenhang von Theater und Photographie. Es ist bekannt, daß Wilson nicht selten als Ausgangsmaterial für 332 333