Fritz Mauthner: Erinnerungen, 1. Bd.: Prager Jugendjahre. München: Georg Müller, 1918, S. 32 ff. IV. Erste Sprachstudien. Bitterer wird meine Stimmung, wenn ich daran denke, was Klippschule und Gymnasium mit meinem Sinne für Sprachen angefangen haben; und auch sonst wäre mancherlei zu sagen über die besonderen Verhältnisse, die das Interesse für eine Psychologie der Sprache bei mir bis zu einer Leidenschaft steigerten. Dieses Interesse war bei mir von frühester Jugend an sehr stark, ja, ich verstehe es gar nicht, wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals (die Verhältnisse haben sich seitdem durch den Aufschwung der Slawen und durch die bessere Assimilierung der Juden ein wenig verschoben) genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen: Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner Vorfahren verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. Ich weiß es aus späteren Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu stellen liebte: warum heißt das und das Ding so und so? Im Böhmischen so, und im Deutschen so? Mein Vater, der in seiner Weise sich für einen musterhaften Gebrauch der deutschen Sprache einsetzte, würdigte mich manchmal einer Unterhaltung über solche Belustigungen des Verstandes und des Witzes, trotzdem er sonst nicht leicht ein persönliches Wort an eines seiner Kinder richtete. Er schien dadurch einige Achtung für meine gelehrte Laufbahn äußern zu wollen. Er verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren. So erinnere ich mich, daß er mir gegenüber einmal das Wort mischen als ein vermeintliches Wort der ihm verhaßten Judensprache heftig tadelte, man müßte gut deutsch melieren dafür sagen; mein Vater wußte nicht, daß sowohl mischen als melieren von dem lateinischen miscere stammt; diese Unkenntnis braucht dem eifrigen Sprachfreunde um so weniger angekreidet zu werden, als noch heute Forscher wie Kluge und Paul eine sogenannte Urverwandtschaft zwischen mischen und miscere für möglich halten. Ich kam in meiner kindlichen Sprachvergleichung hie und da zu überraschenden Entdeckungen. So hatte ich als Kind das Zeug, mit dem mir beim Waschen die Hände getrocknet wurden, in meinem Kuchelböhmisch hantuch genannt, das Wort in meine deutsche Sprache mit hinübergenommen und kam in meinem fünften Jahre auf den gelehrten Einfall: hantuch bedeute ein Tuch für die Hand, wäre also ein deutsches Wort1 . 1 Meine liebe und verehrte Freundin Lilli Lehmann hat ihre Jugend ebenfalls in Prag verbracht. Als ich ihr einmal von dieser meiner ersten etymologischen Entdeckung erzählte, gab sie mir lachend aus ihrer eigenen Erinnerung eine ähnliche Leistung zum besten. Sie war von ihrer Mutter oder erst im Ursulinerinnenkloster Man wird mir nun glauben, daß ich als achtjähriger Junge darauf brannte, in der Schule nicht nur ein tadelloses Deutsch zu lernen, sondern auch zu erfahren, warum die böhmischen Deutschen so oft anders redeten, als die richtigen Deutschen in der Gartenlaube schrieben, warum die böhmischen Juden ein noch schlimmeres Kauderwelsch sprachen. Meine Hoffnung wurde gröblich getäuscht. Ich lernte auf der Klippschule ebensowenig Deutsch und gar Tschechisch und Hebräisch, wie ich später auf dem Gymnasium Lateinisch oder Griechisch lernte. Endlos wurden Deklinationen und Konjugationen gebüffelt und wieder gebüffelt, alle Formen der Dingwörter und der Zeitwörter im Deutschen, im Tschechischen und im Hebräischen so behandelt, als ob die lateinische Grammatik die Mustergrammatik für alle Sprachen der Welt wäre. Ich muß daran erinnern, daß meine Klippschule eine von jüdischen und slawischen Tendenzen herumgezerrte Anstalt war; ich muß vorwegnehmen, daß mein erstes Gymnasium wohl mit Recht eine besonders elende Mittelschule genannt werden konnte; aber das Wesentliche meiner Erfahrungen dürfte auch zu den Erfahrungen anderer Schüler gehören. Die geradezu idiotische Art, durch Paradigmen in die Sprachen einführen zu wollen, wird die Freude an jeder Sprache gerade dem begabten Kinde verekeln. Ich habe später oft geweint, als ich lateinische Paradigmen auswendig lernen mußte, anstatt die mit ahnungsvollem Zittern ersehnten lateinischen Autoren lesen zu dürfen. Und man weiß, wie auch heute noch und sogar auf bessern Gymnasien (nicht nur Cicero, der es verdient hat) selbst Homeros, der Köstliche, nur zu dem Zwecke gelesen wird, um an seinen Worten die grammatischen Regeln einzuüben. Neuerdings hat sich eine vernünftigere Art ausgebildet, wenigstens moderne fremde Sprachen den jungen Leuten beizubringen. Ich weiß nicht, ob in meiner Jugend die französische und die englische Sprache ebenso idiotisch gelehrt wurde wie die Muttersprache und wie die lateinische. Denn auch das muß ich gleich vorausschicken, daß auf den österreichischen Gymnasien damals kein englischer und kein französischer Sprachunterricht bestand; man konnte Französisch und Englisch, auch Italienisch treiben, wie man Tanzen oder Schwimmen lernte; verboten war es nicht. Ich habe später einige moderne Sprachen ohne Lehrerhilfe so gelernt, daß ich einen berühmten Dichter mit einem Wörterbuche in der Hand so lange langsam dechiffrierte, bis mir die Sprache geläufig wurde. Ich werde ja noch darauf zurückkommen, wie ich in all den Jahren der Volksschule und des Gymnasiums nicht ein Sterbenswörtchen über die Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Literatur vernahm, natürlich noch weniger jemals ein Sterbenswörtchen über Schönheit und Kraft unserer deutschen Muttersprache; wie ich dagegen von fanatischen Tschechen doch einigermaßen in die Geschichte der tschechischen Sprache und in die philologische Kenntnis eines gefälschten tschechischen Literaturkleinods eingeführt wurde. Niemand von meinen Lehrern hat je daran gedacht, meinem Sprachhunger ein bißchen Futter zu reichen. Auf jener Klippschule zahlte mein Vater drei Jahre lang Schulgeld dafür, daß ich für die Zwecke des Besitzers wie ein Zirkuspferd abgerichtet wurde. Unser Hofmeister war nur kein Erzieher gewesen; der Besitzer der Privatschule war ein schlechter Schulleiter und ein schlechter Mensch: er verprügelte die unbegabten Kinder, mit denen kein Geschäft zu machen war, und versuchte die begabten Kinder aufzublasen, wie betrügerische Händlerinnen mageres Geflügel aufblasen. abgerichtet worden, jedesmal nach Landessitte kißt'hant zu sagen, wenn sie von einer Dame angesprochen wurde; auch sie hielt diese Formel lange für ein tschechisches Wort und kam erst viel später darauf, daß die Formel ich küß' die Hand bedeutete. V. Das Piaristen-Gymnasium. Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, trotz meiner ursprünglichen Wunderkindschaft, da ich endlich als reif für die Parva des Gymnasiums entlassen wurde. Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, fleißig und ehrgeizig wie einer, nach meiner geistigen Entwicklung für die Arbeit des Obergymnasiums vorbereitet, als ich endlich in die unterste Klasse des Untergymnasiums aufgenommen wurde. Und doch freute ich mich, als ich zum ersten Male als Student den Weg zum Gymnasium gehen durfte (in Österreich nennt man alle Gymnasiasten Studenten, wie man jeden Mann aus dem Volke adelt); ein Abzeichen für Gymnasiasten oder gar für jede einzelne Klasse gab es bei uns nicht, meine gute Mutter hatte es aber erlangt, wer weiß wie schwer, daß ich als Symbol meiner neuen Würde eine schwarze Samtmütze bekam. Die Mütze hatte den Stürmen dreier Jahre widerstanden und war wirklich nicht mehr ganz reinlich, als sie bei Gelegenheit einer Knabenschlacht zwischen Gymnasiasten und Realisten ein unrühmliches Ende fand. Wieder war es die Mutter, die durch heimlichen Ankauf einer neuen Mütze ein drohendes Unheil von mir abwandte. Mein Vater hätte niemals verstanden, daß ein Gymnasiast die Realschüler befehden müßte und in der Hitze des Gefechts seine Mütze einbüßen könnte. Als ich mit dem Bewußtsein, von unserm Dienstmädchen Student genannt zu werden, zum ersten Male den Weg zum Gymnasium einschlug, ahnte ich unklar, daß noch nicht die rechte Höhe erreichte, was in meinem Kopfe an kleinen Kenntnissen beisammen war: der ganze Wust von Jahreszahlen großer Schlachten, von Namen der Könige, der Berge und der Flüsse, von Paradigmen und von Gedichten. Wie ein Rausch kam es über mich, daß ich jetzt Lateinisch und Griechisch lernen und alle Wahrheit und Schönheit aus den alten Quellen schöpfen würde. Ein einsichtsvoller Privatlehrer hätte mich damals gewiß binnen zwei Jahren dazu bringen können, Lateinisch zu verstehen, es besser zu verstehen als die Lehrer an meinem Gymnasium; und in der gleichen Zeit die griechische Sprache zu erlernen, wäre mir einfach wie eine Belohnung erschienen. Ich hungerte förmlich nach den alten Sprachen. Die ersten lateinischen Schulbücher nahm ich mit heiliger Andacht in die Hand und empfand es als eine Schande und als eine Entweihung so köstlicher Schriften, daß ich sie um den halben Preis beim Antiquar kaufen mußte. In dieser Stimmung setzte ich mich in eine Klasse von etwa fünfundsechzig Knaben, die mir ganz und gar nicht andächtig zu sein schienen; so wenig aber ich selbst mir anmerken ließ, welche Sehnsucht nach Wahrheit und Schönheit mich erfüllte, so wenig wird mancher andere Kamerad sein Herz auf der Hand getragen haben; vielleicht hatte ich viele Genossen in meiner Inbrunst und dann in meiner Enttäuschung. Die bessern Elemente waren wie immer in der Minderzahl; etwa vierzig von den Schülern gehörten nicht auf eine Gelehrtenschule, auch nicht in deren unterste Klasse. Wie immer entschieden die schlechtern Elemente über den Fortgang der Studien; wir brauchten beinahe ein halbes Jahr, bevor wir mensa deklinieren konnten. Ich schreibe nicht einen Roman, in welchem die Leiden eines deutschen Kindes an sich erzählt werden sollen; ich schreibe meine Schulerinnerungen nieder, wenn auch mit einer erziehlichen Absicht für Eltern und Lehrer. Ich gebe meine eigenen Erinnerungen und muß darum auf einige Besonderheiten meines ersten Gymnasiums aufmerksam machen. Und auf einige Einrichtungen des österreichischen Gymnasiums überhaupt. Ich muß immer wieder hervorheben, daß ich das Unglück hatte, auf eine ganz besonders elende Schule zu geraten; man würde eine Anstalt wie das damalige Prager Piaristengymnasium in ganz Deutschland vergebens suchen, hoffentlich auch vergebens im heutigen Österreich. Ich trat in die Prima oder Parva ein. Man zählt in Österreich bekanntlich die Gymnasialklassen nicht von sechs bis eins, sondern von eins bis acht. Der Knabe betritt das Gymnasium als Primaner oder Parvist und verläßt es als Oktavaner. Die alten scholastischen Bezeichnungen für jede der acht Klassen fingen zu meiner Zeit an, in Vergessenheit zu geraten. Und wie schon der kleine Parvist Student genannt wurde, so hieß jeder Lehrer, auch wenn er nur zur Probe oder zur Aushilfe angenommen war, Herr Professor. Auch meine Lehrer hießen Professoren, trotzdem sie eigentlich hochwürdige geistliche Herren waren. Denn mein erstes Gymnasium war eine Anstalt der Piaristen. Es ist mir lieb, daß dieses Neustädter Gymnasium von Prag seitdem in eine ordentliche Staatsanstalt umgewandelt worden ist; so darf ich zugeben, daß nicht mehr für die gegenwärtigen Verhältnisse gilt, was ich zu erzählen habe. Die Stätte ist die alte geblieben: die Ecke des Grabens und der Herrengasse, die vornehmste Stelle der vornehmsten Straße Prags. Dort steht noch heute die Piaristenkirche, ein geschmackloser Bau. Nach der Herrengasse zu ging das Kloster und eine niedere Klosterschule, nach dem Graben zu das Klostergymnasium, auch dieses ein klosterähnlicher Bau, von welchem lange gewölbte Gänge zu den Wohnungen der geistlichen Herren führten. Wir mußten oft den Weg machen, an Kruzifixen und Heiligenbildern vorbei, die breite Treppe hinauf, in die sogenannten Zellen der hochwürdigen Herren Professoren; das waren plump möblierte Junggesellenzimmer, in denen es merkwürdig viel Schlummerrollen und andere Handarbeiten gab, von den Müttern der Schüler gestiftet. Die geistlichen Herren ließen uns Hefte und Bücher aus ihren Zellen holen und wieder dahin zurücktragen; es galt für eine Auszeichnung, diese kleinen Ministrantendienste zu verrichten. Die wirklichen Ministranten, die fromm bei der Messe zu schaffen hatten, wurden als künftige Theologen betrachtet und waren wochentags häufig die Laufjungen der Professoren. Es waren Galgenstricke unter ihnen und diese waren es, die das Geschäft der Aufklärung in der Klasse besorgten. Von ihnen hörten wir, daß die Ordensleute bei ihren Mahlzeiten und auch sonst ein üppiges Leben führten; von ihnen hörten wir, was an unanständigen Anekdoten über die Piaristen im Umlauf war. Das schadete uns nicht viel; es gibt auf jeder Knabenschule solche Freunde der geschlechtlichen Aufklärung. Aber wir erfuhren gerade von diesen Ministranten auch ­ und es wurde uns bald von Schülern der höheren Klassen bestätigt ­, daß unser Gymnasium allgemein für das weitaus schlechteste der drei Prager Gymnasien galt. Ich konnte es zuerst gar nicht fassen, daß es ein Gymnasium geben könnte, dessen Lehrer uns die ganze Wahrheit und Schönheit nicht darreichen konnten oder wollten. Und als mir mit der Zeit klar wurde, daß das Urteil der öffentlichen Meinung recht hatte, da half das auch nicht. Was blieb mir übrig? Das Gymnasium der Altstadt, das in der Nähe unserer Wohnung lag, war vollkommen tschechisch geworden, und das Gymnasium der Kleinseite, jenseits der alten Nepomukbrücke am Fuße des Laurenziberges, war für einen Parvisten zu weit entfernt. Mit diesem Grunde wurde ich abgespeist, wenn ich über unsere Lehrer klagte. So schlug ich denn jeden Morgen den Riemen um meine Bücher, wanderte durch eine Reihe dunkler, schmutziger Durchhäuser täglich nach dem Piaristengymnasium und ließ mir bei der Heimkunft von den lachenden Dienstmädchen entgegenrufen: Piaristen, schlechte Christen! Ich habe in diesem Klostergymnasium fünf Jahre verloren. Vom Herbst 1861 bis zum Ausbruch des Krieges von 1866 habe ich dort die Bänke gedrückt und für die Schule nichts, aber auch gar nichts gearbeitet, weil die Lehrer nichts von mir verlangten. Noch einmal: ich möchte meine Erfahrungen an dieser Anstalt nicht generalisiert wissen, möchte selbst nicht generalisieren. Auch wäre es ein Irrtum, die Schuld ausschließlich und ohne weiteres auf den geistlichen Charakter der Anstalt zu schieben. Die Lehrer waren geistliche Herren, aber der Unterricht war schon ziemlich verweltlicht. Von den fünfundsechzig Schülern der Parva waren beinahe die Hälfte Juden, und an einigen Protestanten fehlte es auch nicht. So gab es keine Glaubenseinheit, und wenn die Herren Piaristen mitunter über Luther und über die Juden ihre Witze rissen, so taten sie das zu ihrem Vergnügen und nicht aus Glaubenseifer. Ich weiß von österreichischen Gymnasien aus jener Zeit, in denen wirklich ein streng katholischer Geist herrschte und die dennoch Musteranstalten waren. Wir wurden nicht mit allzuviel Frömmigkeit geplagt. Der Unterricht wurde freilich an jedem Tage durch ein Gebet eröffnet und durch ein Gebet geschlossen; aber nur der Katechet, wenn er zufällig die erste Stunde zu geben hatte, machte die Sache mit einiger Würde ab. Die anderen Lehrer hatten ungefähr die gleiche Gewohnheit angenommen: sie schlugen in dem Augenblick, da sie das Katheder betraten, eilfertig oder zerstreut ein Kreuz und gaben damit den Schülern ein Signal, das lateinische Gebet zur Mutter Gottes herunter zu plärren. Wir erlangten darin eine gewisse Virtuosität; vor den erwünschteren Stunden beteten wir viel rascher als vor den unangenehmen, aber meistens taktmäßig und langsam. Inzwischen nahm der geistliche Lehrer seine erste Prise ­ sie schnupften alle ­, wischte sich die Finger an der neuen oder alten Kutte ab, schneuzte sich und überblickte die Klasse bissig oder gelangweilt, wie ein böser Hund oder wie eine alte müde Katze. Viele Protestanten und Juden sprachen die Gebete mit. Es gehörte zum Ganzen wie die Frühstückssemmel, die auch ohne Unterschied der Konfession beim Schuldiener gekauft wurde. Als wir später auf dem weltlichen Gymnasium der Kleinseite einen kirchenfeindlichen Lehrer hatten, der das Gebet mit gutgespielter Zerstreutheit zu vergessen liebte, da wurde er häufig von ordentlichen Schülern an seine Pflicht gemahnt; vielleicht waren sie fromm, vielleicht wollten sie auch nur die gefürchtete Stunde um einige Minuten kürzen. Gerade dort auf dem weltlichen Gymnasium nahmen viele die Religion ernster und innerlicher; aus Knaben waren Jünglinge geworden. Bei den Piaristen sorgte schon die Körperlichkeit der Lehrer dafür, das Göttliche zum Spott werden zu lassen. Einen einzigen, sinnigen und kränklichen, magern und kleinen Mann ausgenommen, waren sie alle so beschaffen, daß die Schülerkarikaturen nicht viel an ihrem Umriß zu verändern brauchten. Es war einer unserer Schülerwitze: der faule Bauch der Piaristen fange bei der Stirn an. Namentlich die drei Hauptlehrer des Untergymnasiums waren Kolosse, hätten Modelle für Grützner werden können. Der eine hatte ein rohes, erschreckend gemeines Knechtsgesicht, der zweite feine, aber lüsterne Pfaffenzüge, der dritte sah so apathisch aus, als hätte er anstatt sechzig Schülern sechzig Pflastersteine vor sich, die er in die Erde rammen müßte. Aber dick waren sie alle drei, fabelhaft dick, dick von Müßiggang und Kreuzherrnbier. Der mit dem gemeinen Knechtsgesicht, ein jähzorniger und böser Mensch, warf im Laufe der Jahre zweimal den Kathedertisch mit der eigenen Körperfülle um, als er aufsprang, um einen von uns beim Schopf zu packen. Nein, die Religion spielte auf dem Piaristengymnasium keine große Rolle. Und die heiligste Pflicht eines Lehrers, die religiöse oder moralische Pflicht der Gerechtigkeit, wurde nicht erfüllt. Ich ahnte damals noch nicht, daß die Korruption fast auf allen Schulen zu Hause ist, daß der ärmere Schüler bei der Gebrechlichkeit des Weltlaufs immer im Nachteil ist gegen den Schüler, dessen Eltern bestechen können und wollen. Ein förmliches Institut der Bestechlichkeit war es, das meine Entrüstung über meine geistlichen Lehrer weckte, noch bevor ich ihre geistige Unfähigkeit begreifen konnte. Zwar daß die Ministranten bevorzugt wurden und noch weniger Latein zu lernen brauchten als wir, schien mir weniger bedenklich; es waren Kinder unbemittelter Eltern und hatten sich das Wohlwollen des Ordinarius immerhin durch eigene Arbeit erkauft. Nur die Rigoristen unter uns nahmen auch das übel. Aber die ganz schamlose Einrichtung der Bestechung, von der ich berichten will, war doch wohl eine dem Klostergymnasium eigentümliche Erscheinung. Es war den Geistlichen verboten, Privatunterricht zu erteilen. Dafür entschädigte sich unser Klassenlehrer ­ von andern Lehrern des Gymnasiums kann ich das nicht mit Bestimmtheit bezeugen ­ durch die schlichte und sinnreiche Begründung eines Privatissimums, das immerhin ein paar hundert Gulden im Jahre abwarf. Zweimal wöchentlich blieben die kleinen Schüler, deren Eltern die Ausgabe erschwingen konnten, nach der Schule im Klassenzimmer beisammen und der gute Ordinarius diktierte ihnen die Hausarbeiten in die Feder, die er vorher selbst aufgegeben hatte. Christliche Barmherzigkeit war auch dabei; denn die Freischüler, deren Väter keinen Kreuzer aufbringen und darüber ein schönes Armutszeugnis vorzeigen konnten, durften an dieser Privatstunde gratis teilnehmen; aber das Fernbleiben zahlungsfähiger Schüler wurde mit Recht als Hochmut und Gemeinheit ausgelegt. Ich war meines Erinnerns der einzige in der Klasse, der an diesen Nachhilfestunden nicht teilnahm; aus Rechtsgefühl und aus Trotz, wie ich wohl sagen darf. Auch war ich zu stolz, meiner Mutter zu sagen, daß sie den Vater um die zwei Gulden für jedes Semester bitten sollte. Gerade weil ich das Fernbleiben von dieser Lumperei eigentlich fast freiwillig auf mich nahm, empfand ich doppelt mit den Schülern, die amtlich ein Armutszeugnis vorgelegt hatten, und die ihre Armut überaus häufig mit Sticheleien und anderen Schändlichkeiten zu büßen hatten. Mein Zorn gegen die Schulkorruption, von diesen Privatstunden entfacht, hat vorgehalten; und heute noch predige ich bei jeder Gelegenheit das Ideal, die Gerechtigkeit, das unzulänglich gesicherte Fundament des Staates, wenigstens in der Schule gelten zu lassen. Ich habe meinen alten Zorn gegen die Schulkorruption neben manchen andern rebellischen Gedanken (mehr Sachen als Worte) leidenschaftlich genug dargestellt in meinem Wörterbuch der Philosophie (Artikel Schule II. S. 388ff.); ich möchte einen guten Leser gern auf dieses Kapitel verweisen. Ich weiß jetzt, daß auch Lehrer Menschen sind, daß auch anderswo, auf Volksschulen und auf Universitäten, Gefälligkeiten des Vaters oder der Mutter, Geschenke in Naturalien oder in Geld, auch leiseste Winke eines einflußreichen Vaters, das Fortkommen eines Schülers begünstigen. Ich weiß jetzt, daß die Korruption so allgemein ist wie Gestank in den Städten, und gerate nicht mehr über jedes Schmieren in knabenhafte Aufregung. Aber eine so schamlos öffentliche Bestechung wie die, die ich eben geschildert habe, ist doch erzählenswert. Die meisten von uns fanden gar nichts an dieser Privatstunde; geschmiert wurde doch und die zwei Gulden waren ja nicht der Rede wert. Auch von dem krassesten Falle einer individuellen Korruption wurde unter den Mitschülern mit mehr Heiterkeit als Zorn gesprochen. Der Sohn eines reichen und sehr einflußreichen Mannes war von einer Unfähigkeit, die an Kretinismus grenzte, und dazu von einer wahrhaft göttlichen Faulheit; er wußte niemals eine Antwort zu geben und verstand es nicht einmal, bei den Klausurarbeiten vom Banknachbar abzuschreiben. Er war so dumm, daß wir ihm nicht einmal mehr einsagten, wenn er gefragt wurde. Und dieses Roß Gottes fiel niemals durch, ging von Klasse zu Klasse mit, machte übrigens später pünktlich sein Abiturientenexamen und seinen Doktor. Er ist ein ganz angenehmer Mensch geworden und fällt unter seinen studierten Berufsgenossen nicht sonderlich auf. Bevor ich aus möglichst treuem Gedächtnis ein Urteil über die wissenschaftliche Befähigung unserer Lehrer abzugeben suche, will ich noch eines Umstandes erwähnen, der für den Geist der Schule von Bedeutung war. Mehrere der Geistlichen, die am Untergymnasium unterrichteten, waren nach ihrer politischen und nationalen Gesinnung Tschechen. Nun war unser Piaristengymnasium offiziell eine deutsche Schule. In den beiden untersten Klassen gab es (vielleicht irre ich in der Bezeichnung) tschechische Parallelklassen, in denen die tschechischen Kinder ein wenig an die deutsche Unterrichtssprache gewöhnt wurden. Später saßen Deutsche und Tschechen in derselben Klasse beisammen, ungefähr in gleicher Stärke. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß unter solchen Umständen auch bei besseren Lehrern die sprachliche Langsamkeit der einen Hälfte ein Hemmschuh für den gesamten Unterricht geworden wäre. Von den nationalen Kämpfen Böhmens, die damals schon sehr lebhaft waren und bereits auf die österreichische Politik Einfluß nehmen mochten, wußten wir in unserm jugendlichen Alter noch nicht viel, die deutschen Knaben jedenfalls viel weniger als die tschechischen. Wir lernten voneinander in den Pausen die zweite Landessprache, in welcher wir uns ja nach dem Schulregulativ mündlich und schriftlich sollten ausdrücken können wie in der Muttersprache. Ich gewann einen tschechischen Freund, welcher seitdem von sich reden gemacht hat, der mich zu seiner nationalen Gesinnung bekehren wollte; es kam aber nichts dabei heraus, als daß er mir seine tschechischen Gedichte brachte, die ich verdeutschte, wofür er dankbar meine ersten Verse ins Tschechische übersetzte. Wir bewunderten einander umschichtig. Die tschechische Gesinnung der Lehrer, die sich von Jahr zu Jahr offener und gehässiger äußern durfte, hatte nun wieder üble Folgen für die Behandlung der Schüler. Daß freilich die Lokalgeschichte Böhmens mit besonderer Vorliebe getrieben wurde, war ja wohl ganz in der Ordnung; die romantische Geschichte Böhmens hatte ja nicht nur die heimischen Dichter Ebert und Meißner, nicht nur den großen Österreicher Grillparzer, sondern sogar den Rheinländer Brentano zu Dichtungen begeistert; wir bemerkten es kaum, daß unser Geschichtsprofessor die Geschichte Böhmens wie eine rein slawische Geschichte darstellte und von dem mächtigen Einfluß deutscher Kunst und deutscher Kultur überhaupt wenig zu erzählen wußte. Es kommt auch anderwo vor, daß die Weltgeschichte durch eine farbige Brille gezeigt wird; auch in Preußen. Schlimmer war es schon, daß diese geistlichen Herren für alle nationalen Unternehmungen der Anhänger von Johannes Hus die wärmsten Gefühle äußerten und zu wecken suchten; am schlimmsten aber, daß die Knaben aus den rein deutsch gebliebenen Zipfeln Böhmens für ihre Unkenntnis der tschechischen Sprache bei jeder Gelegenheit gehänselt und zurückgesetzt wurden. Eine theatralische Begeisterung für die Hussitenkriege in einem katholischen Klostergymnasium, da stimmte etwas nicht. Für manchen Schüler etwa aus der Gegend von Eger, wo wieder ein unklarer Wallensteinkultus zu Hause war, hatte der Unterricht in der Religion und in der tschechischen Sprache eine gewisse Ähnlichkeit; sie lernten in beiden Gegenständen dogmatische Sätze auswendig, bekamen für beide Leistungen gute Klassen (Zensuren), verstanden aber kein Wort von der Sache. Ich werde auf meine persönliche Lehrzeit in der Religion wie in der tschechischen Sprache noch zurückkommen. Über die Hauptsache, über die wissenschaftliche Befähigung meiner geistlichen Lehrer glaubhaft zu berichten, wird mir schwer fallen; der Gegensatz ihrer Vorbildung zu der der vielverspotteten und doch gründlich geschulten deutschen Oberlehrer war unwahrscheinlich stark. Von dem erwähnten obersten Leiter des österreichischen Schulwesens, der übrigens einige Jahre vor mir das Kleinseitner Gymnasium besucht hatte, wurde mir später einmal gesagt: die Umwandlung des Klostergymnasiums in ein Staatsgymnasium wäre im Unterrichtsministerium damals schon eine beschlossene Sache gewesen, und darum hätte der Piaristenorden diese Anstalt so arg verkommen lassen; der Herr fügte allerdings zögernd hinzu, die schlechten Qualitäten der Lehrer und die skandalösen Leistungen der Anstalt hätten das Ministerium dann plötzlich zu seinem Beschlusse bestimmt. Mein Urteil über meine Lehrer, die uns doch den Glanz der antiken Welt hätten erschließen sollen, versuchte er nicht einmal zu mildern. VI. Ohne Sprache und ohne Religion. Tschechisch verstanden sie alle, darin hätten wir vielleicht Fortschritte machen können. Darüber hinaus wurde uns nichts geboten. Mit gutem Bedacht schreibe ich es hin, und man wird es schon der Beobachtungsgabe eines lernbegierigen siebzehnjährigen Knaben (so alt war ich fast, als ich das Piaristengymnasium verließ) glauben müssen: die uns fünf Jahre lang im Lateinischen unterrichten sollten, verstanden kein Latein, die uns drei Jahre griechischen Unterricht gaben, verstanden kein Griechisch; ebenso stand es um Geschichte und Mathematik; und die uns in der deutschen Sprache unterrichteten, konnten deutsch nicht einmal richtig sprechen, geschweige denn, daß sie sich jemals wissenschaftlich mit der deutschen Sprache beschäftigt hätten. Der Dicke mit dem gemeinen Knechtsgesicht war, wenn ich nicht irre, durch volle vier Jahre unser Ordinarius. Nachdem er uns die lateinischen Paradigmen eingepaukt und eingeschopfbeutelt hatte, war er mit seinem Latein eigentlich zu Ende; denn als wir dann lateinische Stücke zu lesen anfingen, präparierte er sich auf die meisten Stunden genau so mit Eselsbrücken vor, wie wir; wir sahen den Freund (ich glaube, diese vortrefflichen Einpaukhefte sind immer noch im Gebrauch) unter dem Schulbuche auf seinem Kathederpult liegen; entdeckte er so einen Freund in einer der Schulbänke, so gab es natürlich erst recht kräftige Püffe. Er muß ungewöhnlich unbegabt gewesen sein, da er das Pensum im Laufe der Jahre nicht auswendig gelernt hatte. Gott mag dem bösen Dicken verzeihen, was er beim lateinischen Unterricht an uns gesündigt hat; aber auch Gott, wenn es anders immer noch einen alten deutschen Gott gibt, kann ihm seinen deutschen Unterricht nicht verzeihen. Es ist mir unvergeßlich, wie wir einmal Goethes Fischer aufzusagen hatten, und wie unser Botokude das Gedicht erst erklärte und dann in seinem entsetzlichen Deutsch so vordeklamierte, wie er es von uns hören wollte. Es wäre ein zu grober Posseneffekt, wollte ich das ganze Gedicht in seiner Aussprache hersetzen. Nur eine Stelle kann ich ihm nicht schenken. Einer von uns, ein prächtiger Egerländer, hatte richtig gesprochen: Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Der böse Knecht schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und wetterte: Hob ich dir g'sagt, das is Geggensatz. Halb zock sie ihn, halb sonk'r hien. Und der arme Egerländer, wenn er nicht durchfallen wollte, mußte den Geggensatz so betonen. Auf diese Weise erhielten wir eine Vorstellung von dem Wohlklang Goethescher Verse. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß ich als Jude im zweisprachigen Böhmen wie prädestiniert war (ich weiß besser als mancher Leser, wie dumm dieses Wort ist), der Sprache meine Aufmerksamkeit zuzuwenden; selbst der Hochmut, sich dem eigenen Lehrer im Gebrauche der Muttersprache überlegen zu fühlen, mochte früh zu mancher Beobachtung führen. Ich darf aber vielleicht ebensogut hier, wie an einer andern Stelle ein Leid klagen, ein Entbehren, das mich in meiner Jugend gequält hat und mich in meinem Alter zu quälen nicht ganz aufgehört hat. Jawohl, mein Sprachgewissen, meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner Vorfahren zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen. Aber ich dachte ja in jener Zeit gar nicht an eine solche Aufgabe. Der junge Mensch war erfüllt von dichterischen Plänen. Und für die Wortkunst fehlte mir das lebendige Wort einer eigenen Mundart. Ich weiß, daß ich mit dieser Klage jedem Gegner meiner Schriften eine Waffe in die Hand gebe. Ich muß es dennoch sagen: ich besitze in meinem innern Sprachleben nicht die Kraft und die Schönheit einer Mundart. Und wenn jemand mir zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache ­ so könnte ich vielleicht heute noch aufheulen, wie in meiner Jugend, aber ich könnte ihn nicht Lügen strafen. Die dicht beieinander wohnenden Deutschen der böhmischen Grenzgebiete, die Deutschen des nordöstlichen, des nordwestlichen und des westlichen Böhmens haben ihre lieben und echten Dialekte. Der Deutsche im Innern von Böhmen, umgeben von einer tschechischen Landbevölkerung, spricht keine deutsche Mundart, spricht ein papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich auf die slawische Aussprache eingerichtet haben. Es mangelt an Fülle des erdgewachsenen Ausdrucks, es mangelt an Fülle der mundartlichen Formen. Die Sprache ist arm. Und mit der Fülle der Mundart ist auch die Melodie der Mundart verloren gegangen. Es ist bezeichnend dafür, daß der Mensch auch zu seiner eigenen Sprache keine Distanz hat: die Deutschböhmen bilden sich ein und sagen es bei jeder Gelegenheit, daß sie das reinste Deutsch reden. Die Ärmsten! Als ob die Mundarten unrein wären! Wenn einem Deutschböhmen aus tschechischer oder tschechisch gewordener Gegend irgendwie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einem Volksdialekte kommt, so pflegt er gewöhnlich den behaglichen Wiener Dialekt nachzuahmen. Es gelingt ihm nur schlecht. Er hört ihn (in den alten und neuen Wiener Possen), aber er kann ihn nicht nachahmen. Ich habe wie nur einer die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einem Dialekte empfunden; aber es fiel mir niemals ein, Wienerisch zu reden. Es gehört dazu wie zu jeder vollkommenen Beherrschung einer fremden Sprache etwas Komödienspielerei, etwas Snobismus, wofür ich keine Neigung, wahrscheinlich keine Begabung habe. Mir blieb die Sehnsucht, die sich mit Verstehen und Nicht-Sprechen-Können süddeutscher Mundarten begnügen mußte. Die oberbayerische Mundart und einige allemannische Mundarten haben mich beim ersten Anhören bis zu Tränen ergriffen. Sprachkünstlerisch, aus dem Unbewußten heraus, ist meine Sprache niemals lebendig genug gewesen, und darum nicht dichterisch genug. Mögen Feinde mir es boshaft nachsprechen, was ich unter tausend Schmerzen spät genug herausgefunden habe. Und weil ich einmal so Kritik übe an der Grundlage meines poetischen Schaffens, so sei gleich an dieser Stelle und in diesem Zusammenhange der andere Mangel beklagt, der meine dichterischen Pläne nicht zu meiner eigenen Zufriedenheit reifen ließ. Wie ich keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem zweisprachigen Lande, so hatte ich auch keine Mutterreligion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Judenfamilie. Wie mir mit meinem Volke, dem deutschen, nicht die Werksteine ganz gemeinsam waren, die Worte, so war mir und ihm auch das Haus nicht gemeinsam, die Kirche. Mir waren nicht nur die Griechengötter tote Symbole, auch den christlichen Himmel lernte ich als totes Symbol kennen, so viele Mühe ich mir auch ­ etwa vom 12.­15. Jahre ­ gab, mir den christlichen Himmel zu erobern. Es ist ein Unterschied zwischen einem christlichen Knaben, der später seinen Glauben verloren hat (etwa D.F. Strauß) und einem von Anfang an Glaubenslosen. Goethes Blasphemien sind titanisch, Heines Witze sind dagegen kalt. Gerade weil die Kirche so ganz und gar menschlich, irdisch ist, darum ist es ein dichterischer Mangel, von Anfang an nicht auf diesem gemeinsamen Boden zu stehen. Weil mein Ringen um den Glauben vielleicht nur ein unbewußtes Spiel gewesen war, darum fehlte meinem Bekenntnisse zum Atheismus am Ende das Symbol des Kampfes: der Haß. Und meiner dichterischen Sprache das Höchste und Tiefste: die Erde. Nun aber darf ich auch sagen, daß diese Mängel mich in Erkenntnisfragen der Sprache gegenüber um so freier machten. Doch ich habe die Schule der Piaristen noch nicht verlassen; zurück. VII. Und wieder die Piaristen. Ich könnte natürlich manche harmlose Schulanekdote erzählen. Ich möchte aber nicht unterhalten, ich möchte nur durch Beispiele belegen, was ich über das Elend meiner Schulzeit gesagt habe. Was so trostlos war, das äußerte sich ja nicht in den kleinen Lehrerdummheiten, die überall möglich sind und für die die schlimmen Schulbuben so scharfe Ohren haben; was so trostlos war, das war die allgemeine Bildungsstufe der Lehrer und der Schüler, also der ganzen Anstalt. Die preußischen Unteroffiziere, die unter Friedrich dem Großen Schulmeister wurden, hatten nur im Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten und besaßen schwerlich weniger Kultur als unser böser Klassenlehrer. Unser Ordinarius in der fünften Klasse hatte viel Mutterwitz und einigen Schliff, aber auch er ließ sich von uns auf Donatschnitzern ertappen. Ein Geschichtslehrer, der sich gerne reden hörte ­ er soll ein guter Prediger gewesen sein ­, war der einzige Deutsche unter den Professoren und ein Mann von einiger Belesenheit. Er war kein Piarist; er gehörte einem Orden an, in dessen Küche die höheren Töchter Prags die höhere Kochkunst studierten, in dessen großer Brauerei und in dessen kleiner Bibliothek man gut bedient wurde. Aber auch diesem Herrn passierte es einmal, daß er die Ausfuhr Venedigs nach Amerika zur Zeit der Kreuzzüge rühmend hervorhob. Ich muß von meinem harten Urteile noch einen Lehrer ausnehmen, den kränklichen Piaristen, der sich auch äußerlich von den faulen Bäuchen unterschied. Er lehrte in der Volksschule den Katechismus und bei uns Naturgeschichte. Aber auch bei ihm lernten wir nichts, weil man Naturgeschichte für das Abiturientenexamen nicht brauchte. Das wußte er und das wußten wir, daß Naturgeschichte nur eben geduldet war. Er brachte Liebe für sein Fach und für die Kinder mit, und wenn wir im Frühjahr mit ihm botanisieren gehen durften, so war es doch ein kleiner Gewinn fürs Leben. Um seine Frömmigkeit mag es schlecht bestellt gewesen sein. Er widmete sich mit Vorliebe den wenigen protestantischen Schülern, brummelte immer, wenn wir auf den Ausflügen bei einer der vielen Kapellen vorüberkamen, und bemühte für die Zoologie die Schöpfungsgeschichte der Bibel nicht. Auf einem unserer Botanisierbummel hatte einer der Ministranten den lateinischen Namen des Löwenzahns nicht gewußt; der Lehrer ließ ihn, als wie zur Strafe, die zehn Gebote aufsagen und brummelte dann: Aber ein dummer Kerl bist du doch! Ich träumte mir von diesem Lehrer einen ganzen Roman zusammen, von einem unglücklichen Freigeist im Kloster, der lieber die Kleinsten im Katechismus unterrichtete, als daß er in der Naturgeschichte Konzessionen gemacht hätte. Ich traf diesen lieben guten Menschen einige Jahre später, als ich schon Student war, in einer kleinen Sommerfrische, wo er umsonst und eigentlich schon hoffnungslos Heilung einer schweren Lungenkrankheit suchen sollte; als ich ihn grüßte, nannte er mich sofort beim Namen und forderte mich neckend auf, einige Pflanzen in seiner Hand zu bestimmen. Er lud mich zu einem Glase Bier ein und wir blieben viele Stunden zusammen. Ich kann nicht behaupten, daß er mir die Wahrheit meines Romans bestätigt habe. Als wir uns aber trennten, sagte er mir mit der einschmeichelnden Stimme eines Phthisikers: Erhalte dir so lange wie möglich deine Liebe zu Blumen und Schmetterlingen. Das ist die Liebe Gottes. Sie waren nicht zufrieden damit, daß ich als Katechet den Buben manchmal auch so etwas gesagt hab'. Ich werd's bald vor dem lieben Gott verantworten. Ich glaube fast, er ist der einzige Christ unter meinen Piaristen gewesen. Der wichtigste Lehrgegenstand meiner fünf Piaristenjahre war natürlich das Latein. Ich will darum über die Erfolge noch einige betrübte Worte sagen. Die Zeit, in welcher fünfzehn- oder sechzehnjährige Jungen perfekt Latein lesen und schreiben konnten, die Zeit der alten Gelehrtenschule, war selbstverständlich längst vorüber. Längst waren die Ansprüche auf ein Minimum herabgesunken. Wir hätten es in der fünften Klasse aber doch so weit bringen sollen, Nepos, Cäsar und Ovid geläufig zu verstehen. Ich weiß nicht, warum wir Buben gerade den Cäsar und den Ovid lesen durften; die Feldzüge Cäsars sind Männerlektüre; und die gräßlichen Metamorphosen des Ovid wären eigentlich recht beschaffen, für Lebenszeit einen Abscheu vor der lateinischen Poesie zu befestigen. Aber die Wahl der Autoren geht uns hier nichts an. Der Erfolg eines fünf Jahre fortgesetzten täglichen Unterrichts in der lateinischen Sprache dürfte etwa folgender gewesen sein. Die Hälfte der Schüler hatte nichts gelernt, einfach nichts; diese schlechten Schüler hatten vielleicht ein Dutzend Regeln und fünf Dutzend Vokabeln notdürftig auswendig gelernt, und wenn der Lehrer sie sehr laut anschrie und die Banknachbarn einsagten, fügten die Ärmsten am Ende auch ein Subjekt, eine Kopula und ein Prädikat stammelnd zusammen. Aber daß das, was der Lehrer aus ihnen herausschrie und herauszerrte, Ähnlichkeit hätte mit einer Sprache, meinetwegen mit einer toten Sprache, das hätte auch ein Optimist nicht behaupten können. Man denke sich nur in die Seele so eines Unglücklichen hinein. Er wird auf das Gymnasium geschickt, weil er nach dem Willen des Vaters Arzt, Richter, Oberlehrer oder Pfarrer werden soll; er hat auch nicht die allergeringste Neigung, etwas von der antiken Welt zu erfahren; ein Fliegendreckchen an der Wand interessiert ihn mehr als die lateinische Sprache; und er hat auch schon davon munkeln gehört, daß er nachher als Arzt, als Richter, als Pfarrer ­ was der zum Messelesen braucht, das ist ja wirklich gar bald gelernt ­ die lateinische Sprache gar nicht mehr brauchen wird, daß es nur so ein alter Schlendrian ist, Latein für die Lateinschule zu lernen. So kratzt sich sein Gedächtnis für die Lateinstunde die paar Dutzend der notwendigsten Begriffe zusammen, und mit dem Glockenzeichen ist alles wieder vorüber. Die wenigsten von diesen schlechten Schülern sind durchgefallen; die meisten wurden von Klasse zu Klasse gequetscht und haben bewiesen, daß man arzten, richten, predigen kann, ohne Latein gelernt zu haben. Die andere Hälfte der Klasse las in der Quinta Cäsar und Ovid, das heißt, man entzifferte den ungefähren Sinn mit Hilfe der Eselsbrücken und des Wörterbuchs und stand den lateinischen Konstruktionen mit ahnungsvoller Hilflosigkeit gegenüber. Bei keinem von uns konnte davon die Rede sein, auch nur den leichtesten lateinischen Autor so zu lesen, wie unsereins nach einem halbjährigen Unterricht im Französischen einen leichten französischen Schriftsteller liest. Es gab natürlich Musterknaben unter uns (ich fürchte, ich gehörte damals nicht mehr zu ihnen), es gab auch einen Primus; es gab aber keinen einzigen leidlich guten Lateiner. Unser Ordinarius in der Quinta, der lüsterne Pfaffe mit dem Mutterwitz, imponierte uns in der ersten Stunde nicht schlecht, da er uns androhte, mit uns lateinisch zu reden. Es stellte sich aber bald heraus, daß die copia verborum seiner lateinischen Konversation in drei Sätzchen bestand, die wir ihm denn auch bald ablernten: Loquamur latine. Optime. Verte in vernaculam. So, darin bestand seine lateinische Eloquenz. Ich bitte seinen breiten Schatten um Verzeihung, wenn er noch einen weitern Satz sprechen konnte, und ich den vergessen habe. Und das war der Jammer: wir hatten nicht das Gefühl, unwissender zu sein als unsere Lehrer. Ich glaube jetzt wie damals, daß diejenigen von uns, die den Freund fleißig benützt hatten, im psychologischen Augenblicke mehr wußten, als der Herr Professor, der das Faulenzerbuch auch vor sich liegen hatte, der aber zu faul war, hineinzusehen. Natürlich, unser Interesse war größer als das seine. Ich darf nun nicht länger mit dem Geständnisse zurückhalten, daß ich in diesen fünf Jahren ein so fauler Schulknabe wurde, als nur je einer den Tag um seine Stunden bestohlen hat. Ich gab mir nicht die Mühe, irgend etwas zu lernen, für die Schule zu lernen, wohlgemerkt. Ich hatte es ja nicht nötig. Ich war mit einem einzigen Ausnahmefall immer einer der Ersten in der großen Klasse und galt überdies bei vielen Kameraden und eigentlich auch bei einigen Lehrern für den besten Schüler. Ich hörte nur zu ­ wenn ich nicht just unter der Bank was zu lesen oder zu dichten hatte ­, ich arbeitete zu Hause gar nichts und durfte mich dennoch rühmen, daß meine Kompositionen (die Klausurarbeiten) recht viel durch die Mitschüler abgeschrieben wurden. Von einer Anregung oder gar Anleitung zu wissenschaftlicher oder vorbereitender Arbeit war nicht die Rede, niemals. Auch die Ersten der Klasse hatten Vertrauen zu mir, trotzdem mir gelegentlich ein falscher Genetiv oder ein falsches Perfektum aus der Feder lief. Es war eine Schande, wie wir um die schönen Jahre betrogen wurden. Ich drückte die Bank und hatte die Hoffnung aufgegeben, auf diesem Gymnasium jemals geistige Fortschritte zu machen. Die Einführung in das antike Kulturleben blieb aus; und was ich für den Schulbedarf brauchte, das flog bei dem ewigen Wiederkäuen des armseligen Stoffs einem von selber an, auch wenn man während der Schulstunde Goethe las oder schwer gereimte Sonette schmiedete. Man brauchte nur dann und wann hinzuhören. Ich möchte es noch einmal sagen, und deutlicher als vorhin, daß ich nur für die Schule ein so nichtsnutziger Faulpelz war. Außerhalb der Schule kam meine Lesewut und mein Wissensdrang ­ wie ich wohl sagen darf ­ bald wieder zum Durchbruch. Man konn te doch nicht immer in der Moldau schwimmen oder auf der Moldau Schlittschuh laufen. Ich las, wenn ich nicht schwimmen, Schlittschuh laufen, essen oder schlafen konnte. Ein Stubenhocker bin ich auch in den Jahren meines wildesten Fleißes nicht gewesen. Trotzdem zu meiner Zeit jede Anregung oder gar Anleitung zur Übung eines Sports fehlte ­ wir kannten das Wort nicht ­, trieb es mich immer wieder hinaus in die Berge, in die Wälder, in den Fluß. Als Schlittschuhläufer habe ich es nicht bis zur edeln Kunstfertigkeit gebracht; ich lief eben stundenlang die Moldau aufwärts, wohl bis über Kuchelbad hinaus; wie ich denn auch als Fußwanderer schnell und ausdauernd war wie einer. Bloß im Wasser durfte ich mich rühmen, eine nicht ganz alltägliche Geschicklichkeit zu besitzen. Aber ohne irgendein gutes oder schlechtes Buch ging ich kaum aus dem Hause; es fehlte nicht viel, und ich hätte mir auch ins Wasser etwas zu lesen mitgenommen; wenigstens glückte mir einmal das Kunststück, über die Moldau hinüber und herüber zu schwimmen, ein Buch in der linken Hand zu halten und es trocken zurückzubringen. Diese Erinnerungen haben eine erziehliche Absicht, und es täte mir leid, wenn ein anderer fauler Schlingel aus meiner Erzählung den Schluß ziehen wollte: man könnte durch bloße Faulheit ein einigermaßen geachteter Schriftsteller werden. Ich will nicht auf meine sprachphilosophischen Schriften hinweisen, an denen just die vielseitigen Kenntnisse öfter gerühmt und überschätzt worden sind. Ich habe mir den nötigen Schulsack erst in sehr reifem Alter angeschafft. Aber ich hatte doch immerhin (auf den obersten Klassen des Gymnasiums) den Plan gefaßt, und einen Bruchteil des Plans ausgeführt, Heines Gedichte ins Griechische zu übersetzen. Ich kann nicht leugnen, daß unser Primus mir in der Übersetzung von Du hast Diamanten und Perlen einen falschen Dual korrigieren mußte; dennoch scheint mir die Übersetzung von einem Dutzend Heinescher Gedichte ins Altgriechische immerhin ein Beweis, daß ich trotz meiner gottsträflichen Schülerfaulheit ein recht fleißiger Bursche gewesen warI. Der Widerspruch löst sich natürlich durch meine Lesewut. Es dürfte schwer zu berechnen sein, wieviel Bände ich während meiner Gymnasialzeit verschlungen habe. Was ich las? Das Beste und das Schlechteste durcheinander. Einige Romane, die deutschen Klassiker und dann ­ Räuber- und Geistergeschichten, die eine große Abteilung im Kataloge unserer Leihbibliothek ausmachten. Ohne Wahl, ohne jede Leitung, ohne jede Hilfe, ohne jede Kritik habe ich damals viele, viele hundert Bände von Klassikern gelesen, von deutschen, lateinischen und griechischen Klassikern. Das Wort Klassiker hatte es mir angetan. Ich bin noch sehr lange nachher kindlich genug gewesen für wertvoll zu halten, was allgemein angepriesen wurde. Ich werde gleich zu erzählen haben, wo und wie ich zu den Büchern kam, die ich in jeder freien Stunde, gar zu oft beim Lichte einer Kerze, zu verschlingen liebte: Kräuterbücher, Reisebeschreibungen, irgendwelche längstvergessene deutsche Dichter in elendem Nachdruck auf Löschpapier, sodann die auf Kredit geliebten lateinischen und griechischen Klassiker in der augenmörderischen Ausgabe von Tauchnitz. Ich habe damals gewiß den Grund zu dem Augenübel gelegt, das mir jetzt die Arbeit so erschwert. Aber das ahnte ich noch nicht; ich las und las, ich las, als hätte ich mich freiwillig zum Lesen verurteilt. Wahllos und ohne jede Leitung ­ wie gesagt ­ las ich jedes lateinische und griechische Buch, das ich erstanden hatte. Es war ja ein Klassiker, der Redner und der Dichter, der Grammatiker und der Geograph, jeder war mir recht, jeder wurde verschlungen. In trotzigem Gegensatz gegen die Art, wie auf der Schule zwei Zeilen in der Stunde durchbuchstabiert wurden, las ich die lateinischen und dann die griechischen Klassiker sehr schnell durch; im Lexikon wurde nur dann nachgeschlagen, wenn sonst nicht einmal der ungefähre Sinn klar geworden wäre. So gewann ich mit der Zeit eine erstaunliche Übung im Lesen lateinischer und griechischer Schriften, freilich ohne die wünschenswerte grammatikalische Festigkeit. So gewann ich aber auch langsam die Überzeugung, daß ein Klassiker ein recht langweiliger Herr sein kann. Keiner von den Lateinern hat mir jemals Freude gemacht. Meine ganze Liebe gehörte Homer, bei dem ich es freilich nicht mit einem ungefähren Verständnis abgetan sein ließ. Mit Hilfe eines Homerwörterbuchs überwand ich die Schwierigkeiten des Anfangs; später habe ich ganze Gesänge der Ilias mit Lust auswendig gelernt. Ich fürchte, meine griechische Heineübersetzung weist homerische Einflüsse auf und ist kein Muster der attischen Sprache. Doch dieses wilde Lesen der alten Klassiker und dann das ebenso leitungslose Erlernen moderner Sprachen fällt mit in die Zeit meines zweiten Gymnasiums. Ich glaube, ich litt schon in jenen Jahren sehr bitter darunter, daß ich auf der Welt keinen Menschen wußte, den ich in meinem Wissensdrange hätte um Rat fragen können. Es mag aber auch an mir selbst gelegen haben, daß ich lieber für einen Faulpelz galt und keiner Seele das Geheimnis meines heimlichen Fleißes anvertraute. Einen Wegweiser habe ich auf meinem Wege nicht gefunden, auch später nicht. Zu meinem heimlichen Fleiße und zu den Gefahren, die der Mangel eines Wegweisers mit sich führt, gehörte auch die Art, wie ich mir Bücher verschaffte. Ich hatte nicht Geld genug, um beim Buchhändler zu bestellen, wonach mich verlangte. Aber mit einigen Kreuzern oder Sechserln in der Tasche ging ich allsonntäglich nach der Judenstadt, in deren Hauptstraße alle Trödler ihre unsäglichen Waren ausgelegt hatten, auch alte Bücher. In der Judenstadt wäre für mich manches zu sehen und zu hören gewesen, was mich hätte interessieren müssen: die Altneuschul, der uralte jüdische Friedhof, vor allem aber die köstlichen, oft kabbalistischen Sagen, die sich an die altberühmte Synagoge und an einzelne Grabsteine des Friedhofs knüpften. Ich aber suchte in der Judenstadt allsonntäglich nur eins: Bücher, die ich für ein paar Kreuzer oder ein Sechserl erstehen konnte. Da lagen sie über die schmutzigen Tische geschüttet, Bücher aller Art, zerlesene Romane und wissenschaftliche Werke, die meisten unvollständig, einzelne Bände, die ganz besonders wohlfeil waren. Und Klassiker! Griechische, lateinische französische und deutsche Klassiker. Das Wort machte mich ja wehrlos. War auf dem Titelblatte in irgendeiner Sprache die Bezeichnung Klassiker gedruckt, so glaubte ich einfältig, alle Herrlichkeiten und Geheimnisse der Welt müßten in dem Buche stecken. Ich kaufte so viele Klassiker, als ich bezahlen konnte. Ich habe erst viel später erfahren, daß der Verleger einen alten oder neuen Autor zu einem Klassiker ernennen kann; daß die Bezeichnung im Grunde nicht viel besagen will, daß es, wie Julian Hirsch sagen würde, einen ruhmerzeugenden Handel und andere Fälscher des Ruhmes gibt. Ich war also bei absoluter Schulfaulheit einer der besten Schüler und hatte mir privatim eine erstaunliche Übung im oberflächlichen Lesen lateinischer und griechischer Schriften angeeignet; aber ich verließ das Piaristengymnasium ohne die Kenntnis der lateinischen Grammatik, ohne die Kenntnis gerade, zu der auch der letzte Schüler der Klasse verpflichtet gewesen wäre. So frage ich mich besonnen, ob es möglich ist, was ich nun aussprechen will; und ich weiß doch, daß es wahr ist. Acht Jahre waren vergangen, seitdem ich aus den Händen unseres Hofmeisters gekommen war. Von diesen acht Jahren hatte ich drei mit angestrengtem Fleiße dem Geschäfte und der Eitelkeit eines gewissenlosen Schuldirektors gewidmet, hatte ich fünf Jahre mit gottsträflicher Zeitvergeudung fünf bis sechs Stunden täglich den geistlichen Lehrern gegenüber versessen. Und an Schulkenntnissen war ich in diesen acht Jahren nicht reicher geworden, als ich bei verständiger Leitung in einem halben oder meinetwegen in einem ganzen Jahre hätte werden können. Daß ich in diesen Jahren trotz alledem etwas gescheiter und kritischer geworden war, das war wahrhaftig nicht das Verdienst der Schulen. Ich muß es nun zu meiner Ehre sagen, daß mir das Bewußtsein immer unerträglicher wurde, so die Zeit zu vertrödeln. Mein Wunsch, etwas Ordentliches zu lernen, gab mir den Gedanken ein, das Piaristengymnasium zu verlassen, das Kleinseitner Gymnasium aufzusuchen, das in der Schülerwelt bekannt und gefürchtet war um seiner Strenge und um seiner tüchtigen Leistungen willen. Ich stand bereits in meinem siebzehnten Jahre; aber dennoch darf ich es als ein gutes Zeichen betrachten, daß mich dieser Ruf anzog. Ein bißchen Deutschtümelei mag mitgesprochen haben, denn das Kleinseitner Gymnasium war eine wirklich deutsche Anstalt. Und ich will auch nicht verbergen, daß mein Wissensdrang gewiß auch von Eitelkeit gespornt wurde; ich hörte es nicht gern: Ja, bei den Piaristen, da bist du ein Vorzugsschüler; aber bei uns auf der Kleinseite, da geht's dir schlecht, da fällst du bei Nacke (dem Lehrer der Mathematik) sicher durch. Ich habe wohl immer die Neigung gehabt ­ mir selbst unbewußt ­ das Brett zu bohren, wo es am härtesten ist. Ich war also entschlossen, mit dem Gymnasium zu wechseln; das war aber nicht so leicht ausführbar, weil in unserem Hause die Kinder keinen eigenen Willen haben durften und unter der strengen Zucht des Vaters auch kaum mehr hatten. Mein Vater hatte mich auf dem Piaristengymnasium einschreiben lassen; da hatte ich zu bleiben bis zur Maturitätsprüfung. Es war nicht Sitte in meinem Elternhause, dem Vater zu sagen: ich gehe zugrunde, wenn dein Wille geschieht. Ich habe mir gewiß unter der ganz patriarchalischen Zucht meines Vaters erst den passiven Widerstand angewöhnt, mit dem ich später oft ­ anstatt in offenem Kampfe ­ Widerstände gebrochen habe. Im Jahre 1866 brachte eine jener Ungerechtigkeiten, die einen Knaben vernichten können, meinen Entschluß zur Reife; und wenige Monate später half mir ein Stückchen Weltgeschichte meinen Vater meinen rebellischen Plänen geneigt zu machen. Krieg und Cholera mußten kommen, um mich aus dem Piaristengymnasium zu erlösen. Die entscheidende Ungerechtigkeit, welche die Wendung in meinem Schülerleben herbeiführte, war eine richtige Dummejungengeschichte; und ich verlange von keinem Leser, daß er sie tragisch nehme. Auch ich gedenke der Sache nach gerade fünfzig Jahren ohne Schmerz, aber immer noch in Zorn; denn ich weiß, was der Knabe gelitten hat. Die Geschichte hat anzuheben wie andere Schülergeschichten; der Ordinarius in der Quinta hatte eine Pike auf mich. Damals bildete ich mir ein, mein einsames Frondieren gegen die allgemeine Privatstunde wäre der alleinige Grund dieses Hasses gewesen; der frühere Ordinarius, der mit dem bösen Knechtsgesicht, hätte seinen klügeren und darum mutigeren Nachfolger gegen mich aufgehetzt. Der frühere Ordinarius hatte übrigens noch einen besonderen Grund, eine Pike auf mich zu haben; er war aus dem gleichen Orte gebürtig wie ich, schämte sich ­ er hat sich mir gegenüber verraten ­ seiner niedern Abkunft und fürchtete, ich oder meine Eltern wüßten allerlei über sein Vaterhaus. Wenn ich mir die Lage der Dinge heute recht überlege, so muß ich gestehen, meine guten wie meine schlimmen Eigenschaften möchten dazu beigetragen haben, mich manchem Lehrer unliebsam zu machen. Ich fügte mich nicht recht in die Schablone des Unterrichts, ich war ja zu alt für meine Klasse. Ich galt bei denjenigen Lehrern, die mich gern hatten, für ein Lumen der Schule; die andern hatten mein schlechtes Präparieren und meine vorlauten Antworten oft zu rügen. Der Ordinarius gab mir seine Abneigung, die freilich gegenseitig war, deutlich zu erkennen und drohte mir einmal vor der Klasse, mich von meiner guten Lokationsnummer hinunterzubringen. (Die Reihenfolge, in welcher wir nach der Güte unserer Zensuren gesetzt wurden, hieß die Lokation.) Nun wurde ich noch trotziger, gab ganz ungehörige Antworten und machte in den Pausen Epigramme auf seinen Bauch, auch in lateinischen Distichen. Solche Dinge wurden den Lehrern immer hinterbracht; wir glaubten bestimmt, daß die Ministranten die Spione machten; Angeberei ist in einem Klostergymnasium wohl unausrottbar. Eines Tages hatte ich in einer lateinischen Klausurarbeit das Wort hauddum für noch nicht gebraucht, ich weiß nicht, ob der Sinn ganz richtig getroffen war oder nicht; ich hatte das Wort bei meiner wilden Livius-Lektüre aufgeschnappt und fand es wahrscheinlich schön. Als der Lehrer die Arbeiten am nächsten Tage wiederbrachte, rief er mich heraus und seine Augen funkelten von Bosheit. Die Klasse wieherte vor Wonne, als er immer wieder hauddum, hauddum rief und dann meinte, ich hätte wohl saudumm schreiben wollen, wie ich wäre. Ich muß ihn wohl unverschämt angesehen haben, denn bevor ich ein Wort erwidern konnte, schrie er mich an: Du hast dir da ein Wort erfunden, das im Lateinischen gar nicht möglich ist. Du bist verrückt. Ich lasse dich durchfallen. Du kriegst einen Dreier (die schlechteste Zensur) aus Latein. Setz' dich! Am nächsten Morgen brachte ich meinen Livius mit und zeigte das Wort erst der ganzen Klasse und dann dem Ordinarius. Er warf das Buch auf den Boden und sagte nichts. Von da ab bis gegen den Schluß des Wintersemesters stellte er keine Frage mehr an mich. Dann, eines Morgens, pries er in der Lateinstunde die Schönheiten der tschechischen Sprache. Man werfe ihr vor, ihre Vokabeln seien zu arm an Vokalen; das sei aber nicht wahr und eine Sprache aus lauter Vokalen wäre noch lange nicht schön. Und zu einem Hauptspaße der Klasse quetschte er die Tonfolge eoa aus seinem breiten Munde wie ein Froschgequake heraus. Und das ist ein gutes lateinisches Wort, das jeder von euch kennen muß, wenn er nicht durchfallen will. Wir machten alle verdutzte Gesichter, und auch mir mag man es angesehen haben, daß ich nicht klüger war als meine Mitschüler. Ich kann natürlich nicht wissen, ob der Ordinarius diesen Schlag gegen mich vorbereitet hatte oder ob er erst beim Anblick meines dummen Gesichts auf den Einfall kam, mich zu strafen. Er blickte mit einem boshaften Zucken noch einmal nach mir hin und rief meinen Namen. Eoa. Verte in vernaculam. Ich verstand das Wort nicht, ich konnte es nicht übersetzen. Über der Klasse lag Totenstille wie vor einem Gewitter; vielleicht würde die ganze Klasse nachbleiben müssen. Aber der geistliche Herr war wieder in seiner besten Laune. Jetzt hast du deinen Dreier aus Latein, rief er mir zu und überhäufte mich mit groben Redensarten: wer eoa nicht übersetzen könne, der solle sich begraben lassen oder Schuster werden; ein solches Kamel dürfe nicht weiterstudieren. Und so ging es weiter bis zum Schluß der Stunde. Ich ging zum Direktor, einem gutmütigen, aber seine Ruhe über alles liebenden Herrn; er war ganz freundlich zu mir, aber er tat nichts. Wenige Tage später erhielten wir unsere Semesterzeugnisse und ich hatte aus Latein zur Not genügend oder so etwas Ähnliches. Und so rückte ich trotz einem sonst vorzüglichen Zeugnisse dicht an die Letzten der Klasse heran, die durchgefallen waren. Ich war so ungefähr der fünfundfünfzigste unter sechzig Schülern. Na ja. Man lache den dummen Jungen nur aus. Ich empfinde es auch heute nicht mehr als eine untilgbare Schmach. Es war aber keine Kleinigkeit, als so der oberste Lehrer mit sichtlicher Bosheit mir ein Unrecht zufügte. Selbstverständlich war ich nicht der einzige, der unter seinem bösen Charakter litt; keiner von uns wird es vergessen haben, wie sich dieser geistliche Herr über den Ärmsten unter uns, einen unglücklichen Krüppel, lustig zu machen pflegte. Ich kann weder vergessen noch verzeihen, was dieser Lehrer uns zugefügt hat, was er mir zugefügt hat. Trotzdem dieser Vorfall ­ wie gesagt ­ meine Befreiung entschied. Schülerselbstmorde waren damals noch unerhört. Aber ich wußte, daß so etwas Unerhörtes geschehen mußte, damit der Ordinarius gestraft würde. Auch konnte ich ja unmöglich mit diesem Zeugnisse meinem Vater unter die Augen treten. Also hat der saudumme Junge zu sterben. Aber wie? Das Wasser tat's nicht, ich war ein zu guter Schwimmer. Eine Pistole besaß ich nicht. Ich wußte nicht, wie man sich Gift verschafft. Und gegen das Aufhängen hatte ich eine starke Verachtung. Stundenlang irrte ich in der Stadt umher. Gegen Mittag kam ich auf den Obstmarkt, fühlte Hunger, wurde noch unglücklicher und faßte den Entschluß, mich ganz heimlich totzuhungern. Vor der Leihbibliothek, aus der ich der Mutter Romane zu holen pflegte, faßte ich diesen Entschluß. Dann fiel mir ein, daß meine Mutter just Gutzkows Zauberer von Rom las; ich hatte mit ihr erst den ersten Band gelesen und wollte doch bis zu Ende kommen. Der Zauberer von Rom hat sein Teil dazu beigetragen, daß ich mich nicht tothungerte. Als ich die vielen Bände in Zwischenräumen ­ ich bekam ja den nächsten Band immer erst dann, wenn meine Mutter mit dem früheren zu Ende gekommen war verschlungen hatte, interessierte auch mich nichts als der bevorstehende Krieg. Im Frühjahr 1866 hatte ich das entsetzliche Semesterzeugnis erhalten, und schon im Juni wurde das Sommersemester plötzlich beendet, weil der Krieg ausgebrochen war. Wir erhielten die Jahreszeugnisse. Ich war wieder zu den Vorzugsschülern aufgerückt; aber mein Wille stand fest, das Pfaffengymnasium zu verlassen und auf dem Kleinseitner Gymnasium mein Heil zu versuchen, wirklich mein Seelenheil.