Gustav Meyrink: Golem Zwei Kapitel von einem nicht jüdischen Autor, Prag [26] Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dünnen, fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie ihm vor Kälte die Zähne aufeinanderschlugen. Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Wohnung zu kommen. Er aber lehnte ab. »Ich danke Ihnen, Meister Pernath,« murmelte er fröstelnd, »leider habe ich nicht mehr so viel Zeit übrig; – ich muß eilends in die Stadt. – Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten – schon nach wenigen Schritten! – – Der Platzregen will nicht schwächer werden!« Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom. Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im vierten Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen überrieselt, aussah, als seien seine Scheiben aufgeweicht, – undurchsichtig und höckerig geworden wie Hausenblase. Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab, und der Torbogen füllte sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten wollten. [27] »Dort schwimmt ein Brautbukett«, sagte plötzlich Charousek und deutete auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben kam. Darüber lachte jemand hinter uns laut auf. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß es ein alter, vornehm gekleideter Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen, krötenartigen Gesicht gewesen war. Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte etwas vor sich hin. Unangenehmes ging von dem Alten aus; – ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten. Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen! Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt. An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn; – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn. Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spülte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft. In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat[28] sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder, – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen. Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen – nicht von Müttern geboren, – die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen. Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Ghetto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob. [29] Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus. Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen Geschöpfen! Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem – wie auf ein Opfer, das doch nie kommt. Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen. Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemächtigen. »Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an. – Wie konnte er wissen, woran ich dachte? – So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind, auf das Gehirn des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende Funken, fühlte ich. [30] »– – – wovon sie nur leben mögen?« fragte ich nach einer Weile. »Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Millionär!« Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen! Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken. Für einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen gestockt, und man hörte bloß das Zischen des Regens. Was er nur damit sagen will: »Mancher unter ihnen ist ein Millionär!?« Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach dem Trödlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisengerümpels in fließenden, braunroten Pfützen vorbeispülte. »Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist Millionär, – fast ein Drittel der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!« Mir blieb förmlich der Atem im Mund stecken. »Aaron Wassertrum! Der Trödler Aaron Wassertrum Millionär?!« »Oh, ich kenne ihn genau«, fuhr Charousek verbissen fort, und als hätte er nur darauf gewartet, daß ich ihn frage. »Ich kannte auch seinen Sohn, den Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehört? Von Dr. Wassory, dem – berühmten – Augenarzt? – Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm gesprochen, – von dem großen – – Gelehrten. Niemand wußte damals, daß er seinen Namen abgelegt und früher [31] Wassertrum geheißen hat. – Er spielte sich gerne auf den weltabgewandten Mann der Wissenschaft, und wenn einmal auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben Worten hin, daß sein Vater noch aus dem Ghetto stamme, – sich aus den niedrigsten Anfängen heraus unter Kummer aller Art und unsäglichen Sorgen empor ans Licht habe arbeiten müssen. Ja! Unter Kummer und Sorgen! Unter wessen Kummer und unsäglichen Sorgen aber und mit welchen Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt! Ich aber weiß, was es mit dem Ghetto für eine Bewandtnis hat!« Charousek faßte meinen Arm und schüttelte ihn heftig. »Meister Pernath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr begreife; ich muß halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch Student der Medizin, – bin doch ein gebildeter Mensch!« Er riß seinen Überzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daß er weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel über der nackten Haut trug. »Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmächtigen, angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, – und noch heute ahnt keiner, daß ich, ich der eigentliche Urheber war. Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben hat. – Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug! sage ich Ihnen. Ich allein habe den Plan erdacht und das Material [32] zusammengetragen, habe die Beweise geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem Gebäude Dr. Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde, keine List des Ghettos mehr vermocht hätten, den Zusammenbruch, zu dem es nur noch eines unmerklichen Anstoßes bedurfte, abzuwenden. Wissen Sie, so – so wie man Schach spielt. Gerade so wie man Schach spielt. Und niemand weiß, daß ich es war! Den Trödler Aaron Wassertrum, den läßt wohl manchmal eine furchtbare Ahnung nicht schlafen, daß einer, den er nicht kennt, der immer in seiner Nähe ist und den er doch nicht fassen kann, – ein anderer als Dr. Savioli – die Hand im Spiele gehabt haben müsse. Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu schauen vermögen, so faßt er es doch nicht, daß es Gehirne gibt, die auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen.« Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild. »Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage! Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. – Diesmal wird es ein Königsläufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug bis zum bittern [33] Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung wüßte. Wer sich mit mir in ein solches Königsläufergambit einläßt, der hängt in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen Fäden, – an Fäden, die ich zupfe, – hören Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen freiem Willen ist's dahin.« Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht. »Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daß Sie so voll Haß sind?« Charousek wehrte heftig ab: »Lassen wir das – fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen hat! – Oder wünschen Sie, daß wir ein andres Mal darüber sprechen? – Der Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?« Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plötzlich ganz ruhig wird. Ich schüttelte den Kopf. »Haben Sie jemals gehört, wie man heutzutage den grünen Star heilt? – Nicht? – So muß ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau verstehen, Meister Pernath! Hören Sie zu: Der ›grüne Star‹ also ist eine bösartige Erkrankung des Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem Fortschreiten des Übels Einhalt zu tun, nämlich die sogenannte Iridektomie, die darin besteht, daß man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilförmiges Stückchen herauszwickt. Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche Blendungserscheinungen, die fürs ganze Leben bleiben; [34] der Prozeß des Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten. Mit der Diagnose des grünen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis. Es gibt nämlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurücktreten, und in solchen Fällen darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch niemals mit Bestimmtheit sagen, daß sein Vorgänger, der andrer Meinung gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben müsse. Hat aber einmal die erwähnte Iridektomie, die sich natürlich genauso an einem gesunden Auge wie an einem kranken ausführen läßt, stattgefunden, so kann man unmöglich mehr feststellen, ob früher wirklich grüner Star vorgelegen hat oder nicht. Und auf diese und noch andere Umstände hatte Dr. Wassory einen scheußlichen Plan aufgebaut. Unzählige Male – besonders an Frauen – konstatierte er grünen Star, wo harmlose Sehstörungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm keine Mühe machte und viel Geld eintrug. Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehörte zum Ausplündern auch keine Spur von Mut mehr! Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer zerfleischen konnte. Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! – Begreifen Sie?! Ohne das geringste wagen zu müssen! [35] Durch eine Menge fauler Veröffentlichungen in Fachblättern hatte sich Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anständig waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewußt. Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die natürliche Folge. Kam nun jemand mit geringfügigen Sehstörungen zu ihm und ließ sich untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tückischer Planmäßigkeit zu Werke. Zuerst stellte er das übliche Krankenverhör an, notierte aber geschickt immer nur, um für alle Fälle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine Deutung auf grünen Star zuließen. Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frühere Diagnose vorläge. Gesprächsweise ließ er einfließen, daß ein dringender Ruf aus dem Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn ergangen sei und er daher schon morgen verreisen müsse. – Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie möglich. Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht! Wenn das Verhör vorüber und die übliche bange Frage des Patienten, ob Grund zur Befürchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen ersten Schachzug. Er setzte sich dem Kranken gegenüber, ließ eine Minute [36] verstreichen und sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz: »Erblindung beider Augen ist bereits in der allernächsten Zeit wohl unvermeidlich!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Die Szene, die naturgemäß folgte, war entsetzlich. Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich in wilder Verzweiflung zu Boden. Das Augenlicht verlieren, heißt alles verlieren. Und wenn der wiederum übliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar keine Hilfe mehr gäbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und verwandelte sich selbst in jenen – Gott, der helfen konnte! Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! – Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das einzige, was vielleicht Rettung bringen könne, und mit einer wilden, gierigen Eitelkeit, die plötzlich über ihn kam, erging er sich mit einem Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle mit dem vorliegenden eine ungemein große Ähnlichkeit gehabt hätten, – wie unzählige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und dergleichen mehr. Er schwelgte förmlich in dem Gefühl, für eine Art höheren Wesens gehalten zu werden, in dessen Hände das Wohl und Wehe seines Mitmenschen gelegt ist. Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender [37] Fragen, gebrochen vor ihm, Angstschweiß auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede zu fallen, aus Furcht: ihn – den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte – zu erzürnen. Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen Monaten schreiten könne, wenn er von seiner Reise wieder zurück sei, schloß Dr. Wassory seine Rede. Hoffentlich – man solle in solchen Fällen immer das Beste hoffen – sei es dann nicht zu spät, sagte er. Natürlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erklärten, daß sie unter gar keinen Umständen auch nur einen Tag länger warten wollten, und baten flehentlich um Rat, wer von den andern Augenärzten in der Stadt sonst wohl als Operateur in Betracht käme. Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden Schlag führte. Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten des Grams und lispelte schließlich bekümmert, ein Eingriff seitens eines andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit elektrischem Licht, und das müsse – der Patient wisse ja selbst, wie schmerzhaft es sei – wegen der blendenden Strahlen geradezu verhängnisvoll wirken. Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, daß so manchem von ihnen gerade in der Iridektomie die nötige Übung fehle – dürfe, eben weil er wiederum von neuem untersuchen müsse, gar nicht vor Ablauf längerer Zeit, bis sich die Sehnerven wieder erholt hätten, zu einem chirurgischen Eingriff schreiten.« Charousek ballte die Fäuste. [38] »Das nennen wir in der Schachsprache ›Zugzwang‹, lieber Meister Pernath! – – Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, – ein erzwungener Zug nach dem andern. Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr. Wassory, er möge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise verschieben und die Operation selber vornehmen. – Es handle sich doch um mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden Augenblick erblinden zu müssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben könne. Und je mehr das Scheusal sich sträubte und jammerte: ein Aufschub seiner Reise könne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto höhere Summen boten freiwillig die Kranken. Schien schließlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und fügte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren Schaden zu, jenes immerwährende Gefühl des Geblendetseins, das das Leben zu stetiger Qual gestalten mußte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein für allemal verwischte. Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, – es befriedigte gleichzeitig seine maßlose Geldgier und frönte seiner Eitelkeit, wenn die ahnungslosen, an Körper und Vermögen geschädigten Opfer zu ihm [39] wie zu einem Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen. Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Ghetto und seinen zahllosen, unscheinbaren, jedoch unüberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und Vermögensverhältnisse erriet und durchschaute, – nur ein solcher – »Halbhellsehender« möchte man es beinahe nennen, – konnte jahrelang derartige Scheußlichkeiten verüben. Und wäre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch, würde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schließlich als ehrwürdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren, künftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu genießen, bis – bis endlich auch über ihn das große Verrecken hinweggezogen wäre. Ich aber wuchs ebenfalls im Ghetto auf, und auch mein Blut ist mit jener Atmosphäre höllischer List gesättigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu bringen, – so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, – wie aus heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft. Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der Entlarvung, – ihn schob ich vor und häufte Beweis auf Beweis, bis der Tag anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte. Da beging die Bestie Selbstmord! – Gesegnet sei die Stunde! Als hätte mein Doppelgänger neben ihm gestanden[40] und ihm die Hand geführt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche Diagnose des grünen Stars zu stellen, – absichtlich und mit dem glühenden Wunsche, daß es dieses Amylnitrit sein möchte, das ihm den letzten Stoß geben sollte. Der Gehirnschlag hätte ihn getroffen, hieß es in der Stadt. Amylnitrit tötet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das Gerücht nicht aufrechterhalten werden.« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Charousek starrte plötzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trödlerladen lag. »Jetzt ist er allein,« murmelte er, »ganz allein mit seiner Gier und – und – und mit der Wachspuppe!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich sah Charousek voll Entsetzen an. War er wahnsinnig? Es mußten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge erfinden ließen. Gewiß, gewiß! Er hat alles erfunden, geträumt! Es kann nicht wahr sein, was er da über den Augenarzt Grauenhaftes erzählt hat. Er ist schwindsüchtig, und die Fieber des Todes kreisen in seinem Hirn. Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine Gedanken in eine freundliche Richtung lenken. [41] Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene Tür hereingeschaut hatte. Dr. Savioli! Dr. Savioli! – ja, ja, so war auch der Name des jungen Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flüsternd anvertraut als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte. Dr. Savioli! – Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstürmten. Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzählen, was ich damals erlebt, da sah ich, daß ein heftiger Hustenanfall sich seiner bemächtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie er sich mühsam mit den Händen an der Mauer stützend in den Regen hinaustappte und mir einen flüchtigen Gruß zunickte. Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, – fühlte ich, – das unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht Tag und Nacht und sich zu verkörpern sucht. Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es sich nieder in einer Menschenseele, – wir ahnen es nicht, – da, dort, und ehe wir es fassen können, ist es gestaltlos geworden und alles längst vorüber. [42] Und nur noch dunkle Worte über irgendein entsetzliches Geschehnis kommen an uns heran. Mit einem Schlage begriff ich diese rätselhaften Geschöpfe, die rings um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt – – so, wie vorhin das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorüberschwamm. Mir war, als starrten die Häuser alle mit tückischen Gesichtern voll namenloser Bosheit auf mich herüber, – die Tore: aufgerissene schwarze Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, – Rachen, die jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend und haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte. Was hatte zum Schluß noch der Student über den Trödler gesagt? – Ich flüsterte mir seine Worte vor: – Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit seiner Gier und – – seiner Wachspuppe. Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben? Es muß ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, – eines jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu überfallen pflegt, die man nicht versteht, und die einen, wenn sie später unerwartet sichtbar werden, so tieferschrecken können wie die Dinge von ungewohnter Form, auf die plötzlich ein greller Lichtstreif fällt. Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck, den mir Charouseks Erzählung verursacht hatte, abzuschütteln. [43] Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten: Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich gelacht hatte. Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenüber. Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Zügen zuckte vor Erregung. Unwillkürlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daß sie wie gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drüben jenseits der Gasse stand, ihr immerwährendes Lächeln um die Lippen. Der Alte war bemüht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daß sie es wohl wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht. Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete auf den Fußspitzen hinüber und hüpfte mit lächerlicher Elastizität wie ein großer schwarzer Gummiball über die Pfützen. Man schien ihn zu kennen, denn ich hörte allerhand Glossen fallen, die darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um den Hals, mit blauer Militärmütze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand. Ich begriff nur, daß sie den Alten in der Judenstadt den »Freimaurer« nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen wollten, der sich an halbwüchsigen Mädchen zu vergehen pflegt, aber [44] durch intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. – – – Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drüben im Dunkel des Hausflures verschwunden. Spuk [110] Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir das Gehirn zermartert, wie ich »ihr« Hilfe bringen könnte. Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen, ihm zu erzählen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber jedesmal verwarf ich den Entschluß. Er stand im Geist so riesengroß vor mir, daß es eine Entweihung schien, ihn mit Dingen, die das äußere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit alles das erlebt hätte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurücklag und doch so seltsam verblaßt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des verflossenen Tages. Hatte ich nicht doch geträumt? Durfte ich – ein Mensch, dem das Unerhörte geschehen war, daß er seine Vergangenheit vergessen hatte, – auch nur eine Sekunde lang als Gewißheit annehmen, wofür als einziger Zeuge bloß meine Erinnerung die Hand aufhob? Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in persönlicher Berührung gewesen! Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, [111] seine Knie umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daß ein unsägliches Weh an meinem Herzen fraß? Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da ließ ich wieder los; ich sah voraus, was kommen würde: Hillel würde mir mild über die Augen fahren und – – – nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren. »Sie« vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie sich fühlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, – sie empfand sie sicherlich als riesengroß! Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit – ich zwang mich, kalt und nüchtern zu denken; – ihn jetzt – mitten in der Nacht zu stören? – es ging nicht an. So würde nur ein Verrückter handeln. Ich wollte die Lampe anzünden; dann ließ ich es wieder sein: der Abglanz des Mondlichts fiel von den Dächern gegenüber herein in mein Zimmer und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fürchtete, die Nacht könnte noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte. Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe anzuzünden, nur um den Tag zu erwarten, – eine leise Angst sagte mir, der Morgen rücke dadurch in unerlebbare Ferne. Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender Friedhof lagen die Reihen verschnörkelter Giebel dort oben – Leichensteine mit verwitterten Jahreszahlen, getürmt über die dunklen Modergrüfte, diese »Wohnstätten«, darein sich das Gewimmel der Lebenden Höhlen und Gänge genagt. [112] Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschräke, wo doch ein Geräusch von verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang. Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze Ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zögernd schlich. Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde förmlich kleiner, so preßte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens zu hören. Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart. Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr eigener Verräter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht. Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrückt, das drohende Gefühl in der Kehle, daß drüben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat. Ich lauschte und lauschte: Nichts. Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben. Lautlos – auf den Zehenspitzen – stahl ich mich an den Sessel bei meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zündete sie an. Dann überlegte ich: Die eiserne Speichertüre draußen auf dem Gang, die zum Atelier Saviolis führte, ging nur von drüben aufzuklinken. Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenförmiges Stück Draht, das unter meinen Graviersticheln auf dem [113] Tische lag: derlei Schlösser springen leicht auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder! Und was würde dann geschehen? Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, – vielleicht in Kästen wühlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu bekommen, legte ich mir zurecht. Ob es viel nützen würde, wenn ich dazwischentrat? Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare Warten auf den Morgen zerfetzen! Und schon stand ich vor der eisernen Bodentüre, drückte dagegen, schob vorsichtig den Haken ins Schloß und horchte. Richtig: Ein schleifendes Geräuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht. Im nächsten Augenblick schnellte der Riegel zurück. Ich konnte das Zimmer überblicken und sah, obwohl es fast finster war und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, – eine Sekunde lang unschlüssig, wohin sich wenden, – eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstürzen, sich dann den Hut vom Kopf riß und hastig damit sein Gesicht bedeckte. »Was suchen Sie hier!« wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor: »Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!« Die Stimme kam mir bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trödlers Wassertrum. Automatisch blies ich die Kerze aus. Das Zimmer lag halbdunkel da – nur von dem schimmrigen Dunst, der aus der Fensternische hereindrang, [114] matt erhellt – genau wie meines, und ich mußte meine Augen aufs äußerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten, hektischen Gesicht, das plötzlich über dem Mantel auftauchte, die Züge des Studenten Charousek erkennen konnte. »Der Mönch!« drängte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit einem Male die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der Mann, an den ich mich wenden sollte! – Und ich hörte seine Worte wieder, die er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: »Aaron Wassertrum wird es schon erfahren, daß man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will.« Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? Wußte er ebenfalls, was sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewöhnlicher Stunde ließ fast darauf schließen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten. Er war ans Fenster geeilt und spähte hinter dem Vorhang hinunter auf die Gasse. Ich erriet: er fürchtete, Wassertrum könne den Lichtschein meiner Kerze wahrgenommen haben. »Sie denken gewiß, ich sei ein Dieb, daß ich nachts hier in einer fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath,« fing er nach langem Schweigen mit unsicherer Stimme an, »aber ich schwöre Ihnen – –« Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn. Und um ihm zu zeigen, daß ich keinerlei Mißtrauen gegen ihn hegte, in ihm vielmehr einen Bundesgenossen [115] sah, erzählte ich ihm mit kleinen Einschränkungen, die ich für nötig hielt, welche Bewandtnis es mit dem Atelier habe, und daß ich fürchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in Gefahr, den erpresserischen Gelüsten des Trödlers in irgendwelcher Art zum Opfer zu fallen. Aus der höflichen Weise, mit der er mir zuhörte, ohne mich mit Fragen zu unterbrechen, entnahm ich, daß er das meiste bereits wußte, wenn auch vielleicht nicht in Einzelheiten. »Es stimmt schon«, sagte er grübelnd, als ich zu Ende gekommen war. »Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material beisammen. Weshalb würde er sich sonst noch hier immerwährend herumdrücken! Ich ging nämlich gestern, sagen wir mal: ›zufällig‹ durch die Hahnpaßgasse,« erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, »da fiel mir auf, daß Wassertrum erst lange – scheinbar unbefangen – vor dem Tor unten auf und ab schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das heißt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei überraschte ich ihn, wie er draußen an der eisernen Bodentür mit einem Schlüssel herumhantierte. Natürlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen übrigens nicht zu Hause gewesen zu sein, denn es öffnete niemand. Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich, daß jemand, der nach den Schilderungen [116] nur Dr. Savioli sein konnte, hier heimlich ein Absteigequartier besäße. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt, reimte ich mir das übrige zurecht. Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um Wassertrum für alle Fälle zuvorzukommen«, schloß Charousek und deutete auf ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; »es ist alles, was ich an Schriftstücken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden. Wenigstens habe ich in sämtlichen Truhen und Schränken gestöbert, so gut das in der Finsternis ging.« Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben unwillkürlich auf einer Falltüre am Boden haften. Ich entsann mich dabei dunkel, daß Zwakh mir irgendwann erzählt hatte, ein geheimer Zugang führe von unten herauf ins Atelier. Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff. »Wo sollen wir die Briefe aufheben?«, fing Charousek wieder an. »Sie, Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Ghetto, die Wassertrum harmlos vorkommen, – warum gerade ich, das – hat – seine – besonderen – Gründe«, – (ich sah, daß sich seine Züge in wildem Haß verzerrten, wie er so den letzten Satz förmlich zerbiß –) »und Sie hält er für – –« Charousek erstickte das Wort »verrückt« mit einem raschen, erkünstelten Husten, aber ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gefühl, »ihr« helfen zu können, machte mich so glückselig, daß jede Empfindlichkeit ausgelöscht war. [117] Wir kamen schließlich überein, das Paket bei mir zu verstecken, und gingen hinüber in meine Kammer. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Charousek war längst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fühlte ich, aber was? was? Einen Plan für den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hätte? Das allein konnte es nicht sein. Charousek ließ den Trödler sowieso nicht aus den Augen, darüber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich an den Haß dachte, der aus seinen Worten geweht hatte. Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte? Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand nicht. Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reißen am Zügel spürt und nicht weiß, welches Kunststück er machen soll, den Willen seines Herrn nicht erfaßt. Hinuntergehen zu Schemajah Hillel? Jede Faser in mir verneinte. Die Vision des Mönchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefühle nicht ohne weiteres zu verachten. Geheime Kräfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war gewiß: ich empfand [118] es zu übermächtig, als daß ich auch nur den Versuch gemacht hätte, es wegzuleugnen. Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in Büchern zu lesen, – einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir übersetzt, was die Instinkte ohne Worte raunen, darin muß der Schlüssel liegen, sich mit dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen, begriff ich. »Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht«, fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erklärung dazu ein. »Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel«, wiederholten mechanisch meine Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte ich plötzlich. »Schlüssel, Schlüssel – –?« Mein Blick fiel auf den krummen Draht in meiner Hand, der mir vorhin zum Öffnen der Speichertüre gedient hatte, und eine heiße Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem Atelier führen könnte, peitschte mich auf. Und ohne zu überlegen, ging ich nochmals hinüber in Saviolis Atelier und zog an dem Griffring der Falltüre, bis es mir schließlich gelang, die Platte zu heben. Zuerst nichts als Dunkelheit. Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste Finsternis. Ich stieg hinunter. Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Händen die Mauern entlang, aber es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, – Windungen, Ecken und Winkel, – Gänge geradeaus, nach[119] links und nach rechts, Reste einer alten Holztüre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen, Stufen hinauf und hinab. Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall. Und noch immer kein Lichtstrahl. – Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte! Endlich flacher, ebener Weg. Aus dem Knirschen unter meinen Füßen schloß ich, daß ich auf trockenem Sand dahinschritt. Es konnte nur einer jener zahllosen Gänge sein, die scheinbar ohne Zweck und Ziel unter dem Ghetto hinführen bis zum Fluß. Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Läuften, und die Bewohner Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen. Das Fehlen jeglichen Geräusches zu meinen Häupten sagte mir, daß ich mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben ist, befinden mußte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere Straßen oder Plätze über mir hätten sich durch fernes Wagenrasseln verraten. Eine Sekunde lang würgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise herumging!? In ein Loch stürzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht mehr weiter gehen konnte?! Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie mußten unfehlbar Wassertrum in die Hände fallen. [120] Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines Helfers und Führers verknüpfte, beruhigte mich unwillkürlich. Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes und hielt den Arm in die Höhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen, falls der Gang niedriger würde. Von Zeit zu Zeit, dann immer öfter stieß ich oben mit der Hand an, und endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daß ich mich bücken mußte, um durchzukommen. Pötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum. Ich blieb stehen und starrte hinauf. Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum merklicher Schimmer von Licht. Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter? Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Händen in Kopfeshöhe um mich herum: die Öffnung war genau viereckig und ausgemauert. Allmählich konnte ich darin als Abschluß die schattenhaften Umrisse eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen. Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich. Offenbar endeten hier die Überbleibsel einer eisernen Wendeltreppe, wenn mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte? Lang, unsagbar lang mußte ich tappen, bis ich [121] die zweite Stufe finden konnte, dann klomm ich empor. Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Manneshöhe über der andern. Sonderbar: die Treppe stieß oben gegen eine Art horizontalen Getäfels, das aus regelmäßigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein herabschimmern ließ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte! Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung besser unterscheiden zu können, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem Erstaunen, daß sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den Synagogen findet, bildeten. Was mochte das nur sein? Plötzlich kam ich dahinter: es war eine Falltür, die an den Kanten Licht durchließ! Eine Falltür aus Holz in Gestalt eines Sternes. Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drückte sie aufwärts und stand im nächsten Moment in einem Gemach, das von grellem Mondschein erfüllt war. Es war ziemlich klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerumpel in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster. Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern immer wieder von neuem absuchte. Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daß ich den Kopf hätte durchstecken können, so viel aber sah ich: [122] Das Zimmer befand sich ungefähr in der Höhe eines dritten Stockwerks, denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich tiefer. Das eine Ufer der Straße unten war für mich noch knapp sichtbar, aber infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe Schlagschatten getaucht, die es mir unmöglich machten, Einzelheiten zu unterscheiden. Zum Judenviertel mußte die Gasse unbedingt gehören, denn die Fenster drüben waren sämtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur im Ghetto kehren die Häuser einander so seltsam den Rücken. Vergebens quälte ich mich ab herauszubringen was das wohl für ein sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand. Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitentürmchen der griechischen Kirche sein? Oder gehörte es irgendwie zur Altneusynagoge? Die Umgebung stimmte nicht. Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den kleinsten Aufschluß gegeben hätte. – Die Wände und die Decke waren kahl, Bewurf und Kalk längst abgefallen und weder Nagellöcher, noch Nägel, die verraten hätten, daß der Raum einst bewohnt gewesen. Der Boden lag fußhoch bedeckt mit Staub, als hätte ihn seit Jahrzehnten kein lebendes Wesen betreten. Das Gerümpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich [123] mich. Es lag in tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand. Dem äußeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knäuel geballt. Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer? Ich tastete mit dem Fuß hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen Teil davon in die Nähe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer übers Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam aufrollte. Ein blitzender Punkt wie ein Auge! Ein Metallknopf vielleicht? Allmählich wurde mir klar: ein Ärmel von sonderbarem, altmodischem Schnitt hing da aus dem Bündel heraus. Und eine kleine weiße Schachtel, oder dergleichen lag darunter, lockerte sich unter meinem Fuß und zerfiel in eine Menge fleckiger Schichten. Ich gab ihr einen leichten Stoß: Ein Blatt flog ins Helle. Ein Bild? Ich bückte mich: ein Pagad! Was mir eine weiße Schachtel geschienen, war ein Tarokspiel. Ich hob es auf. Konnte es etwas Lächerlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem gespenstischen Ort! Merkwürdig, daß ich mich zum Lächeln zwingen mußte. Ein leises Gefühl von Grauen beschlich mich. Ich suchte nach einer banalen Erklärung, wie die[124] Karten wohl hierhergekommen sein könnten, und zählte dabei mechanisch das Spiel. Es war vollständig: 78 Stück. Aber schon während des Zählens fiel mir etwas auf: Die Blätter waren wie aus Eis. Eine lähmende Kälte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nüchternen Erklärung: Mein dünner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den unterirdischen Gängen, die grimmige Winternacht, die Steinwände, der entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloß: – sonderbar genug, daß ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der ich mich die ganze Zeit befunden, mußte mich darüber hinweggetäuscht haben. – Ein Schauer nach dem andern jagte mir über die Haut. Schicht um Schicht drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Körper ein. Ich fühlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen Knochens bewußt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror. Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den Füßen und nicht das Schlagen mit den Armen. Ich biß die Zähne zusammen, um ihr Klappern nicht zu hören. Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten Hände auf den Scheitel legt. Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betäubenden Schlaf des Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhüllen kam. Die Briefe, in meiner Kammer, – ihre Briefe![125] brüllte es in mir auf: man wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre Rettung in meine Hände gelegt! – Hilfe! – Hilfe! – Hilfe! – Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die öde Gasse, daß es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe! Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben, durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen Knochen schlagen sollte, um mich zu erwärmen. Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stürzte darauf zu und zog sie mit schlotternden Händen über meine Kleider. Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von uraltmodischem, seltsamem Schnitt. Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus. Dann kauerte ich mich in dem gegenüberliegenden Mauerwinkel zusammen und spürte meine Haut langsam, langsam wärmer werden. Nur das schauerliche Gefühl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos saß ich da und ließ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen, – der Pagad, – lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen. Unverwandt mußte ich sie anstarren. Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebräischen Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfränkisch gekleidet, den grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, während der andere abwärts deutete. [126] Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame Ähnlichkeit mit meinem, dämmerte mir ein Verdacht auf? – Der Bart – er paßte so gar nicht zu einem Pagad, – – ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem Rest des Gerümpels, um den quälenden Anblick los zu sein. Dort lag sie jetzt und schimmerte – ein grauweißer, unbestimmter Fleck – zu mir herüber aus dem Dunkel. Mit Gewalt zwang ich mich zu überlegen, was ich zu beginnen hätte, um wieder in meine Wohnung zu kommen: Den Morgen abwarten! Unten die Vorübergehenden vom Fenster aus anrufen, damit sie mir von außen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne heraufbrächten! – Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gänge zurückzufinden, würde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende Gewißheit. – Oder, falls das Fenster zu hoch läge, daß sich jemand vom Dach mit einem Strick – –? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich: jetzt wußte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang – nur mit einem vergitterten Fenster – das altertümliche Haus in der Altschulgasse, das jeder mied! – schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick war gerissen und – Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand! Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich[127] wehrte, das ich nicht einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkämpfen konnte, lähmte jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen. Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der da so eisig aus der Ecke herüberwehte, sagte es mir vor, schneller und schneller, mit pfeifendem Atem – es half nicht mehr: dort drüben der weißliche Fleck – die Karte – sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurück in die Finsternis. – Tropfende Laute – halb gedacht, geahnt, halb wirklich – im Raum und doch außerhalb um mich herum und doch anderswo, – tief im eigenen Herzen und wieder mitten im Zimmer – erwachten: Geräusche, wie wenn ein Zirkel fällt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt! Immer wieder: Der weißliche Fleck – – – der weißliche Fleck – –! Eine Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir ins Hirn hinein – – – umsonst – – jetzt hat er sich dennoch – dennoch Gestalt erzwungen – der Pagad – und hockt in der Ecke und stiert herüber zu mir mit meinem eigenen Gesicht. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Stunden und Stunden kauerte ich da – unbeweglich – in meinem Winkel, ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! – Und er drüben: ich selbst. Stumm und regungslos. So starrten wir uns in die Augen – einer das gräßliche Spiegelbild des andern. – – – – – – – – – – – – – [128] Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter Trägheit über den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? – Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daß er sich auflösen wollte in dem Morgendämmerschein, der ihm vom Fenster her zu Hilfe kam. Ich hielt ihn fest. Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben – um das Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehört. – – – – – – – – – – – – – – – – Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinüber zu ihm und steckte ihn in die Tasche – den Pagad. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Immer noch war die Gasse unten öd und menschenleer. Ich durchstöberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals. Tote Dinge und doch so merkwürdig bekannt. Und auch die Mauern – wie die Risse und Sprünge dann deutlich wurden! – wo hatte ich sie nur gesehen? Ich nahm das Kartenpäckchen zur Hand – es dämmerte mir auf: hatte ich die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit? Es war ein uraltes Tarokspiel. Mit hebräischen Zeichen. – Nummer 12 muß der »Gehenkte« sein, überkam's [129] mich wie halbe Erinnerung. – Mit dem Kopf abwärts? Die Arme auf dem Rücken? – Ich blätterte nach: Da! Da war er. Dann wieder, halb Traum, halb Gewißheit, tauchte ein Bild vor mir auf: Ein geschwärztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mürrisches Hexengebäude, die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. – – – Wir sind mehrere halbwüchsige Jungen – ein verlassener Keller ist irgendwo – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Dann sah ich an meinem Körper herab und wurde wieder irre: Der altmodische Anzug war mir völlig fremd. – – – Der Lärm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an einem Eckstein. Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen! Zwei alte Weiber kamen langsam die Straße dahergetrottet, und ich zwängte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an. Mit offenem Mund glotzten sie in die Höhe und berieten sich. Aber als sie mich sahen, stießen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon. Sie haben mich für den Golem gehalten, begriff ich. Und ich erwartete, daß ein Zusammenlauf von Menschen entstehen würde, denen ich mich verständlich machen könnte, aber wohl eine Stunde verging, und nur hie und da spähte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu mir, um sofort in Todesschreck wieder zurückzufahren. [130] Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen Polizisten kamen – die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte? Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen Gänge ein Stück weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen. Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von Licht hinab? Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern gekommen war, fort – über ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch versunkene Keller – erklomm eine Treppenruine und stand plötzlich – – im Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen. Sofort stürzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: Bänke, bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plärrender Gesang, ein Junge, der Maikäfer in der Klasse losläßt, Lesebücher mit zerquetschten Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wußte ich mit Gewißheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. – Aber ich ließ mir keine Zeit nachzudenken und eilte heim. Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein verwachsener alter Jude mit weißen Schläfenlocken. Kaum hatte er mich erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und heulte laut hebräische Gebete herunter. Auf den Lärm hin mußten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Höhlen gestürzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los. Ich drehte mich um [131] und sah ein wimmelndes Heer totenblasser, entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwälzen. Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: – ich trug noch immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her über meinem Anzug, und die Leute glaubten, den »Golem« vor sich zu haben. Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riß mir die modrigen Fetzen vom Leibe. Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stöcken und geifernden Mäulern schreiend an mir vorüber. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Frei [323] Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn. »Hahnpaßgassä, gnä' Herr?« »Ja, ja, nur rasch.« Wieder fuhr der Wagen ein Stück weiter. Wieder blieb er stehen. »Um Himmels willen, was gibt's denn?« »Hahnpaßgassäü, gnä' Herr?« »Ja, ja. Ja doch.« »In die Hahnpaßgassä kann me doch nicht fahrrähn!« »Warum denn nicht?« »Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch assaniert.« »Also fahren Sie eben, soweit Sie können, aber jetzt rasch gefälligst.« Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann gemächlich weiter. Ich ließ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen die Nachtluft ein. Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die Häuser, die Straßen, die geschlossenen Läden. Ein weißer Hund trabte einsam und mißgelaunt auf dem nassen Trottoir vorüber. Ich sah ihm nach. – Wie sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, daß es solche Tiere gab. – Vor Freude kindisch rief ich ihm [324] nach: »Aber, aber! Wie kann man nur so verdrossen sein.« – – – Was Hillel wohl sagen würde!? – Und Mirjam? Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich aufhören, an ihre Tür zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben. Jetzt war ja alles gut – all der Jammer dieses Jahres vorüber! – Würde das ein Weihnachten werden! Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal. Einen Augenblick lähmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des Sträflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht – der Lustmord – aber nein, nein! – Ich schüttelte es gewaltsam ab: nein, nein, es konnte, es konnte nicht sein. – Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre Stimme aus Laponders Mund gehört. Nur noch eine Minute – eine halbe – – und dann – Die Droschke hielt vor einem Trümmerhaufen. Barrikaden aus Pflastersteinen überall! Rote Laternen brannten darauf. Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern. Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte umher, versank bis ans Knie. Das hier, das mußte doch die Hahnpaßgasse sein?! Mühsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum. [325] Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte? Die Vorderseite war eingerissen. Ich kletterte auf einen Erdhügel; tief unter mir lief ein schwarzer, gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige Bienenzellen hingen die bloßgelegten Wohnräume nebeneinander in der Luft, halb vom Fackelschein, halb von dem trüben Mondlicht beschienen. Das dort oben, das mußte mein Zimmer sein – ich erkannte es an der Bemalung der Wände. Nur noch ein Streifen davon war übrig. Und daranstoßend das Atelier – Saviolis. Mir wurde plötzlich ganz leer im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! – Angelina! – – So weit, so unabsehbar fern lag das alles hinter mir! Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trödlerladen, die Kellerwohnung Charouseks – – – alles, alles. »Der Mensch geht dahin wie ein Schatten« – fiel mir ein Satz ein, den ich einmal irgendwo gelesen. Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah Hillel kenne. »Nix daitsch«, war die Antwort. Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch, konnte mir aber keine Auskunft geben. Auch von seinen Kameraden niemand. [326] Vielleicht, daß beim »Loisitschek« etwas zu erfahren wäre? Der »Loisitschek« sei gesperrt, hieß es, das Haus würde renoviert. Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! – Ging das nicht? »Weit a breit wohnt sich keine Katz,« sagte der Arbeiter; »weil ise behärdlich verbotten. Von wägen Typhus.« »Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?« »Ungelt ise sich geschlossen.« »Bestimmt?« »Bestimmt!« Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von Höcklern und Tabaktrafikantinnen, die in der Nähe gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh, Vrieslander, Prokop – – Bei allen schüttelte der Mann den Kopf. »Vielleicht kennen Sie den Jaromir Kwáßnitschka?« Der Arbeiter horchte auf. »Jaromir? Ise sich taubstumm?« Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter. »Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?« »Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?« »Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?« So umständlich wie möglich bezeichnete mir der Mann ein Nachtcaféhaus in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln. [327] Über eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte über schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die Straßen versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige Steinwüste, als hätte ein Erdbeben die Stadt zerstört. Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus. Ein paar Häuserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke. »Cafe Chaos« stand darüber geschrieben. Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum genügend Platz ließ für die paar Tische, die an die Wände gerückt waren. In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und schnarchte. Ein Marktweib, mit einem Gemüsekorb vor sich, saß in der Ecke und nickte über einem Glas Caj. Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich wünschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu Fuß musterte, kam mir erst zum Bewußtsem, wie abgerissen ich aussehen mußte. Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes, blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem, langem Haar starrte mir entgegen. Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und bestellte schwarzen Kaffee. »Woaß net, wo er so lang bleibt«, war die gegähnte Antwort. [328] Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter. Ich nahm das »Prager Tagblatt« von der Wand und – wartete. Die Buchstaben liefen wie Ameisen über die Seiten, und ich begriff nicht ein einziges Wort von dem, was ich las. Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das verdächtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der Morgendämmerung für ein Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt. Hie und da spähten ein paar Schutzleute mit grünlich schillernden Federbüschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter. Drei übernächtig aussehende Soldaten traten ein. Ein Straßenkehrer nahm einen Schnaps. Endlich, endlich: Jaromir. Er hatte sich so verändert, daß ich ihn anfangs gar nicht wiedererkannte: die Augen erloschen, die Vorderzähne ausgefallen, das Haar schütter und tiefe Höhlen hinter den Ohren. Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen, daß ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faßte. Er benahm sich außerordentlich scheu und blickte immerwährend nach der Türe. Durch alle möglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, daß ich mich freute, ihn getroffen zu haben. – Er schien es mir lange nicht zu glauben. Aber, was für Fragen ich auch stellte, stets die [329] gleiche hilflose Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm. Wie konnte ich mich nur verständlich machen?! Halt! Eine Idee! Ich ließ mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf. »Was? Alle nicht mehr in Prag?« Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die Gebärde des Geldzählens, marschierte mit den Fingern über den Tisch, schlug sich auf den Handrücken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld bekommen und zogen jetzt als kaufmännische Kompagnie mit dem vergrößerten Marionettentheater durch die Welt. »Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?« – Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus dazu und ein Fragezeichen. Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; – er konnte nicht lesen, aber er begriff, was ich wollte, – nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die Höhe und ließ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden. Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein? Ich zeichnete das jüdische Rathaus auf. Der Taubstumme schüttelte heftig den Kopf. »Hillel ist also nicht mehr dort?« »Nein!« (Kopfschütteln.) »Wo ist er denn?« Wieder das Spiel mit dem Streichholz. »Er meint halt, daß der Herr weg ist, und niem'd weiß nicht, wohin«, mischte sich der Straßenkehrer, der [330] uns die ganze Zeit über interessiert zugesehen hatte, belehrend ein. Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! – Jetzt war ich ganz allein auf der Welt. – – Die Gegenstände im Zimmer fingen vor meinen Augen an zu flimmern. »Und Mirjam?« Meine Hand zitterte so stark, daß ich ihr Gesicht lange nicht ähnlich zeichnen konnte. »Ist Mirjam auch verschwunden?« »Ja. Auch verschwunden. Spurlos.« Ich stöhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daß die drei Soldaten einander fragend anblickten. Jaromir suchte mich zu beruhigen und bemühte sich, mir noch etwas anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf den Arm, wie jemand, der schläft. Ich hielt mich an der Tischplatte: »Um Gottes Christi willen, Mirjam ist gestorben?« Kopfschütteln. Jaromir wiederholte die Gebärde des Schlafens. »War Mirjam krank gewesen?« Ich zeichnete eine Medizinflasche. Kopfschütteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. – – – Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte. Ich gab es auf. Dachte nach. Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Frühe [331] auf das jüdische Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam gereist sein könne. Ich mußte ihm nach. – – – Wortlos saß ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er. Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, daß er mit einer Schere an einer Silhouette herumschnitt. Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt über den Tisch herüber, legte die Hand auf die Augen und – – weinte still vor sich hin. – – Dann sprang er plötzlich auf und taumelte ohne Gruß zur Tür hinaus. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen, denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man mir auf dem jüdischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren konnte. Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten. Auf der Bank hieß es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag belegt, man erwarte aber täglich den Bescheid, es mir auszahlen zu dürfen. Also auch die Erbschaft Charouseks mußte noch den Amtsweg gehen, und ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – [332] Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt, und mir zwei kleine, möblierte, aneinanderstoßende Dachkammern in der Altschulgasse – die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt verschont geblieben, – gemietet. Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage ging, der Golem sei einst darin verschwunden. Ich hatte mich bei den Bewohnern – zumeist kleine Kaufleute oder Handwerker – erkundigt, was denn Wahres an dem Gerücht von dem »Zimmer ohne Zugang« sei, und war ausgelacht worden. – Wie man einen derartigen Unsinn denn glauben könne! Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im Gefängnis die Blässe eines längst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, – strich sie aus dem Buch meiner Erinnerungen. Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hörte, als säße er mir gegenüber wie damals in der Zelle und spräche zu mir, bestärkten mich darin, daß ich rein innerlich geschaut haben müsse, was mir ehedem greifbare Wirklichkeit geschienen. War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarokspiel, Angelina und sogar meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten Kerzen nach Hause gebracht.[333] Ich wollte noch einmal jung sein und Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem Wachs. Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und suchte in Städten und Dörfern, oder wohin es mich innerlich ziehen würde, nach Hillel und Mirjam. Alle Ungeduld, alles Warten war allmählich von mir gewichen und alle Furcht, Mirjam könne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wußte ich, ich würde sie beide finden. Es war ein beständiges glückliches Lächeln in mir, und wenn ich meine Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die Türme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfüllte mich auf ganz sonderbare Weise. Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum Weihnachtsabend zu mir zu holen. – Er habe sich nie mehr blicken lassen, erfuhr ich, und schon wollte ich betrübt wieder gehen, da kam ein alter Tabulettkrämer herein und bot kleine, wertlose Antiquitäten zum Kauf an. Ich kramte in seinem Kasten unter all den Uhranhängseln, kleinen Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem Schloß geschenkt hatte. [334] Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als sähe ich in einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. – Lange, lange stand ich erschüttert da und starrte auf das kleine, rote Herz in meiner Hand. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Ich saß in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln, wenn hie und da ein kleiner Zweig über den Wachskerzen zu glimmen begann. »Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh irgendwo in der Welt seinen ›Marionettenweihnachtsabend‹«, malte ich mir aus, – »und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines Lieblingsdichters Oskar Wiener«: Wo ist das Herz aus rotem Stein? Es hängt an einem Seidenbande. O du, o gib das Herz nicht her; Ich war ihm treu und hatt' es lieb, Und diente sieben Jahre schwer Um dieses Herz, und hatt' es lieb!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Eigentümlich feierlich wurde mir plötzlich zumute. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch. Rauch ballte sich im Zimmer. Als ob mich eine Hand zöge, wandte ich mich plötzlich um und: Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein Doppelgänger. In einem weißen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf. Nur einen Augenblick. [335] Dann brachen Flammen durch das Holz der Tür, und eine Wolke erstickenden heißen Qualms schlug herein: Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Ich reiße das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus. Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran. Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe. Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie die Dämonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das Feuer. Glas klirrt und rote Lohe schießt aus allen Fenstern. Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze Straße liegt voll davon, Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen. In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiß nicht warum. Das Haar sträubt sich mir. Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die Flammen greifen nach mir. Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt. Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des Hauses hinab. – Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein: Drin ist alles blendend erleuchtet. Und da sehe ich – – – da sehe ich – – – [336] mein ganzer Körper wird ein einziger hallender Freudenschrei: »Hillel! Mirjam! Hillel!« Ich will auf die Gitterstäbe losspringen. Greife daneben. Verliere den Halt am Seil. Einen Augenblick hänge ich, Kopf abwärts, die Beine gekreuzt, zwischen Himmel und Erde. Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern. Ich falle. Mein Bewußtsein erlischt. Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein Halt: der Stein ist glatt. Glatt wie ein Stück Fett. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –