GESUNDHEIT 1 CHRO NI C FAT IG UE SYNDROME Die unfassbare Schwäche Ist das Chronische Erschöpfungssyndrom eine ansteckende Krankheit? Mit dem Beweis tun sich die Forscher schwer. VON Christian Heinrich | 18. März 2010 - 07:00 Uhr seifenbläschen/Photocase Patienten mit Chronischem Erschöpfungssyndrom sind am Rand ihrer Kräfte. Doch Ärzte finden meist nichts, was ihre Symptome erklärt Wie müsste eine Krankheit aussehen, mit der sich die moderne Medizin in die Kapitulation treiben ließe? Das Chronische Erschöpfungssyndrom kommt der Antwort auf diese Frage ziemlich nahe. Es ist ein rätselhaftes Leiden, eine undurchsichtige Sammlung von Symptomen: geistige und körperliche Erschöpfung, Hals-, Kopf-, Gelenk- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Die Ursache ist unbekannt, die Diagnose fällt, wenn sich die Beschwerden keiner anderen Krankheit zuordnen lassen. Infolge der unklaren Symptome ist auch die Häufigkeit der Erkrankung offen: Die Schätzungen reichen von 300.000 bis 1,5 Millionen Patienten in Deutschland, die am Chronic Fatigue Syndrome (CFS) leiden sollen. Andererseits glauben manche Ärzte, das Syndrom existiere gar nicht, und halten das Leiden für eine Art psychischer Überspanntheit. Der Patient ist am Rand seiner Kräfte, aber man findet nichts, was die Symptome erklären könnte. Das überfordert viele Ärzte, erklärt Michael Sadre-Chirazi-Stark, Leiter der Psychiatrie und Psychotherapie im Asklepios Westklinikum Hamburg , diese Reaktion. Im vergangenen Oktober aber schien es, als sei ein Auslöser für das rätselhafte Syndrom dingfest gemacht. Wissenschaftler des National Cancer Institute und der Cleveland Clinic waren endlich auf einen Verdächtigen gestoßen: 67 Prozent der Patienten mit CFS trügen GESUNDHEIT 2 einen bestimmten Erreger, verkündeten die Forscher in Science. Es handele sich um das Xenotropic murine leukaemia virus-related virus (kurz XMRV), das nur bei knapp vier Prozent der US-Bevölkerung vorkomme. Das war zwar noch kein Beleg für einen kausalen Zusammenhang, aber schon die Aussicht darauf sorgte für Wirbel: Vielleicht blockiert XMRV ja das Immunsystem und führt so die CFS-Symptome herbei. Wir haben schon seit Jahren Hinweise, dass bei vielen Patienten eine chronische Virusinfektion verantwortlich ist, nur ist es uns ein Rätsel, was genau im Körper wo schief läuft, sagt die Immunologin Carmen Scheibenbogen. Sie leitet an der Berliner Charité die Ambulanz für Patienten mit Immundefekten und sieht fast täglich CFS-Patienten. Scheibenbogen ist sich ­ wie die meisten Experten ­ sicher: Das Syndrom hat womöglich eine psychische Komponente, ist im Grunde aber eine körperliche Erkrankung. Auch bei der 30-jährigen Nina aus der Nähe von Stuttgart begann das Leiden wie bei vielen andern auch nach einem grippalen Infekt. Als sie danach wieder Sport trieb, war sie schon nach wenigen Minuten völlig erschöpft. In den folgenden Tagen überkam sie eine überwältigende Schwäche und Müdigkeit, häufig wurde ihr schwindelig, in den Beinen spürte sie ein stetes Kribbeln und Brennen. Seit zwei Jahren kämpft sie gegen die Beschwerden an ­ vergeblich. Früher sprühte ich vor Energie, ich war sportlich, gesellig, zufrieden, sagt sie über die Zeit vor dem Infekt. Seitdem fühle ich mich ständig so, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Ich bin seit zwei Jahren arbeitsunfähig, immer wieder monatelang bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Dutzende Male war sie in den ersten Monaten bei Medizinern und im Krankenhaus. Keiner konnte ihr sagen, was sie hat. Eine Zeit lang begab sie sich in Psychotherapie, nahm sogar Antidepressiva ­ ohne Erfolg. Erst nach einem Jahr las sie im Internet etwas über CFS: Die Symptome passten. Nina diagnostizierte sich selbst, anschließend bestätigte man ihr den Eigenbefund. Ich wäre froh gewesen, wenn mir ein Arzt zuvorgekommen wäre, aber die meisten kennen die Krankheit kaum. Nach außen verheimlichen viele Erkrankte ihr rätselhaftes Leiden, untereinander pflegen viele ausgeprägte Kontakte. Der Virusfund im Herbst hatte hier schnell die Runde gemacht. Wir erhielten eine Menge Anrufe und konnten allen nur erklären, dass man noch nicht weiß, was Begleiterscheinung ist und was Wirkung, sagt Ulrike Ruprecht von der deutschen CFS-Selbsthilfegruppe Fatigatio . Bisher sind die Behandlungsmöglichkeiten sehr begrenzt. Entspannungsverfahren bringen manchmal eine kleine Besserung, auch eine Verhaltenstherapie kann hilfreich sein, sagt Sadre-Chirazi-Stark. Der langfristige Erfolg solcher Behandlungen ist meist gering ­ und das kann frustrierend sein. Wäre XMRV tatsächlich der CFS-Auslöser, stünden erstmals aussichtsreiche Therapien in Aussicht. Ärztin Scheibenbogen sagt: Es gibt bereits zugelassene Medikamente, die sich wahrscheinlich gegen XMRV einsetzen ließen Mittel, die normalerweise HIV-Infizierten verschrieben werden. GESUNDHEIT 3 Doch Anfang Januar kam die Ernüchterung: Forscher aus London berichteten in der Wissenschaftszeitschrift PLoS ONE, dass sie bei keinem einzigen von 186 britischen CFSPatienten XMRV nachweisen konnten. Zwei weitere Studien wurden inzwischen in den Fachblättern Retrovirology und British Medical Journal veröffentlicht ­ ebenfalls mit negativem Ergebnis. Woher lässt sich der Widerspruch zur Studie vom Herbst erklären? Einige Experten vermuten ein regionales Phänomen, eine rein zufällige Überlappung von Virus und CFS-Symptomen. Oder es steckt ein Fehler in den Untersuchungen. In der Debatte um XMRV bleibe nichts anderes übrig, als weitere Studien abzuwarten, sagt Immunologin Scheibenbogen. Die Hoffnung der Patienten auf eine Erklärung ist erst einmal enttäuscht. Weitere Befunde würden sehnsüchtig erwartet, kommentierte das British Medical Journal vergangene Woche: Es wäre eine weitere bittere Enttäuschung für die Betroffenen, erwiese sich die Spur zum Virus dabei endgültig als Phantom. Auch als Auslöser von Prostatakrebs ist XMRV ins Visier von Forschern geraten, doch die Indizienlage ist hier ebenso widersprüchlich. Dass CFS aber ursächlich auf irgendein Virus zurückzuführen ist, hält Scheibenbogen für wahrscheinlich ­ zumindest bei einem Teil der Patienten. Denn auffallend häufig treten Symptome zum ersten Mal direkt nach einem Virusinfekt auf, so wie auch bei Nina. Die Immunantwort auf solche Infektionen scheint bei CFS-Patienten anders abgelaufen zu sein, als es normalerweise der Fall ist, schließt Scheibenbogen daraus. Im vergangenen Jahr hat sie eine Studie begonnen, um einen möglichen Zusammenhang zwischen CFS und dem Epstein-Barr-Virus, dem Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, zu erkunden. Genügend Teilnehmer für solche Studien kommen leicht zusammen. Wir können nur einen kleinen Teil der Patienten betreuen, die zu uns wollen, sagt Scheibenbogen. Es mangelt in Deutschland an Zentren und Spezialisten. In der Ambulanz an der Charité müssen CFS-Patienten oft ein halbes Jahr auf einen Termin warten. Und dann müssen sie erfahren, dass die moderne Medizin bislang weder einen Schuldigen nennen noch Abhilfe schaffen kann. Das belastet zusätzlich zu den medizinischen Beschwerden ­ und verleitet zuweilen, die rätselhafte Krankheit besonders drastisch zu sehen. So schrieb Nancy Klimas, immerhin Leiterin der Abteilung für Immunologie an der University of Miami, in einem Onlinegastbeitrag der New York Times: Wenn ich heute zwischen einer HIV-Infektion und CFS wählen müsste, würde ich mich für HIV entscheiden. 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