Hesse, Hermann 2. 7. 1877 Calw – 9. 8. 1962 Montagnola/Tessin. Was fasziniert Millionen deutschsprachiger Leser an einem Autor, den Gottfried Benn noch 1950 «als einen durchschnittlichen Entwicklungs-, Ehe- und Innerlichkeitsromancier - eine typisch deutsche Sache» empfand? Über den gleichen Autor und dessen «Steppenwolf» hatte Walter Benjamin, ein nicht weniger entschiedener Kritiker aller Deutschtümelei, respektvoll gesagt: «Er kann sehr viel. Sein Schauen hält eine eigene Mitte zwischen der Kontemplation eines Mystikers und dem Scharfblick eines Amerikaners.» Bernhard Gajek Bis nach dem Ersten Weltkrieg galt Hesse als eine Instanz für stilkonservative, begrenzt aufgeschlossene und an den Moden vorbeizielende Autorschaft. Hermann Hesses Einbindung in die kosertvativen Literaturukreise belegt seine Korrespondenz mit mit der Frau des Verleger der Neuromantiker und nationaler Autoren: Hermann Hesse, Helene Voigt-Diederichs[1]. Zwei Autorenporträts in Briefen. 1897-1900. Hg. von Bernhard Zeller, Inge und Ulf Diederichs und Eberhart May. Köln: Diederichs 1917. Als Hesse diesem Fremdbild sich zu entziehen begann, zählten seine Leser schon nach Hunderttausenden. «Peter Camenzind» wurde 1909, fünf Jahre nach dem Erscheinen, im 50. Tausend aufgelegt; bis 1970 wuchsen die deutschsprachigen Ausgaben auf 540 000 an. Im gleichen Jahr 1970 waren die frühen, an «Camenzind» anschliessenden Werke ähnlich kurrent: bei «Unterm Rad» waren es 226 000, bei «Knulp» 265 000, beim «Demian» 300 000, beim «Steppenwolf» jedoch erst 135 000. In der «Neuen Zürcher Zeitung» hatte der 37jährige Hesse sich Ende 1914 schon gegen jeglichen Chauvinismus und für eine Versöhnung Deutschlands, Englands und Frankreichs eingesetzt. Romain Rolland wagte Ähnliches in Frankreich; beide wurden deshalb jahrzehntelang von ihren Landsleuten beschimpft. Hesse liess seine Romanfigur Harry Haller, den Steppenwolf, derartige Angriffe erleben und zurückweisen; sie waren 1926 wieder aufgekommen und wurden nach dem «Steppenwolf» mit dem Vorwurf verbunden, die Darstellung der Prostituierten-Beziehungen seien schweinisch, jüdisch und anti-national. Hesse über die Stimmung in Deutschland nach der Machtergreifung (Brief an Thomas Mann, im Juli 1933 ): „Es ist Kriegs- und Pogromstimmung, freudig und schwer betrunken, es sind Töne von 1914, ohne die damals noch mögliche Naivität. Es wird Blut und anderes kosten, es riecht sehr nach allem Bösen.“ Der «Steppenwolf», die «Betrachtungen»[2] und «Narziss und Goldmund» durften während des Krieges nicht nachgedruckt werden. Aus welchem Milieustammte Hesse? Die Mutter war Angehörige einer Missionarsfamilie, deren Aufenthalt im westl. Indien erste Anregungen für die langjährige Beschäftigung H.s mit fernöstl. Kultur u. Gedankenwelt lieferte. Der Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert, war Leiter des Calwer Verlagsvereins u. hatte als langjähriger Missionar und Indologe bedeutende philolog. Werke über ind. Sprachen, insbes. das Malayalam, herausgegeben. Durch Hesses Zutritt zu Gunderts umfangreicher Bibliothek u. die publizistische Tätigkeit seiner Eltern erhielt er entscheidende literar. Anstöße. Der zum Theologiestudium bestimmte l4jährige Stipendiat entlief nach neun Monaten unvermittelt aus der Klosterschule Maulbronn und wurde Mechanikerlehrling, später Buchhändler. Der Selbstmordversuch des Vierzehnjährigen und der dramatische Abbruch des Studium bilden die bleibende Grundlage eines Werks, das eine radikale Selbstsuche spiegelt. H.s literar. Anfänge sind der dt. Romantik verhaftet. Am stärksten zeigt sich dies in der Lyrik (Romantische Lieder. Dresden 1899) und den „Prosastudien“ Eine Stunde hinter Mitternacht, 1899, die auch phantastische Traum- und Märchenerzählungen enthält. Auch die frühe Prosa, deren Naturverbundenheit u. lyr. Stil (Peter Camenzind. Bln. 1904) seinen Erstlingswerken das Echo verschaffte und die ihn literarisch etablierte u. finanziell unabhängig machte, ist dem romantischen Literaturkonzept verpflichtet. Romantisch muten vor allem die Vagantenmotive an. In der Zeit des beginnenden Expressionismus sucht Hesse, den avantgardistischen Strömungen abgewandt, seinen eigenen Ausweg aus der Krise des Erzählens in Handhabung der kleineren, skizzenhaften Prosastudien, Momentaufnahmen der Nautr und Landschaft, in denen die Menschen nur in märchenhafter Typisierung dargestellt werden: Diesseits, 1907, Nachbarn, 1908, Am Weg, 1915, Wanderung, 1920. Daneben, der kritischen Einschätzung seiner eigenen Erzählkunst ungeachtet, schreibt er in romanhafter Form die Leidensgeschichte des Schülers Hans Giebenrath Unterm Rad, 1906. Als Abschluss der ersten Phase seines Schaffens erschien 1915 die Vagabundengeschichte Knulp, 1915, ein modernes Gegenstück des Eichendorffschen Taugenichts. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen seine völkerversöhnenden polit. Aufsätze u. offenen Briefe (»O Freunde, nicht diese Töne«) in dt., schweizerischen u. österr. Zeitungen u. Zeitschriften. Die pazifistische Tendenz führte zum Bündnis mit wenigen Gleichgesinnten wie Romain Rolland u. Theodor Heuss,[3] setzte ihn aber auch schärfsten Anfeindungen von dt. Seite aus. H. reagierte auf den Horror des Kriegs sowie auf familiäre Krisen (Tod des Vaters, Trennung von der gemütskranken Frau) mit einer ernsten Depression (1916), die er mit Hilfe einer praktizierten Psychoanalyse (in einem Luzerner Sanatorium bei seinem späteren Freund Dr. J. B. Lang, einem Schüler Carl Gustav Jungs) allmählich überwand. Über Lang kamen nicht nur Motive der Gnostikforschung[4] Jungs in sein neues Werk Demian (Bln. 1919), sondern auch Strukturelemente der Psychoanalyse u. ein schonungsloser Wille zur Wahrhaftigkeit, der nachhaltiges Echo fand. H.s Aufsatz Künstler und Psychoanalyse(1918) wurde sowohl von Jung als auch von Freud mit Beifall aufgenommen. Im Demian wurde die bibl. Symbolik neu interpretiert und mit scharfer Kulturkritik durchsetzt. Unverkennbar war dabei H.s Auseinandersetzung mit Nietzsche, die sich in der polit. Flugschrift Zarathustras Wiederkehr: Ein Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen (Bln. 1919) fortsetzte. Der wahre Autor des Demian wurde zuerst von C. G. Jung u. Otto Flake erkannt u. daraufhin von Eduard Korrodi zu einer öffentl. Stellungnahme herausgefordert. Hesses Position äußert sich unter anderem darin, daß er sich von der Weimarere Republik und ihrer Politik der kleinen Schritte distanziert: Ich sehe die Welt als Künstler an und glaube, zwar demokratisch zu denken, fühle aber durchaus aristokratisch, d. h. ich vermag jede Art von Qualität zu lieben, nicht aber die Quantität. Er identifizierte sich später mit Ortega y Gassets Buch Der Aufstand der Massen (1930), pflichtete dem Geschichtspessimismus Schopenhauers bei und hielt jede politische Handlung für sinnlos. DEMIAN. Die Geschichte einer Jugend von Emil Sinclair. Sinclair wächst in einem langweiligen, kleinbürgerlichen Elternhaus auf. Sein Mitschüler Franz Kromer stiftet ihn zu kleine Diebstählen an und bringt ihn so in seine Abhängigkeit. Des verzweifelten Sinclair nimmt sich ein anderer Mitschüler, Max Demian, an, der an die Auserwähltheit Sinclairs und seine eigene glaubt. In einer eigenwilligen Auslegung der biblischen Geschichte von Kain und Abel wird das Recht, sich über alle konventionellen Bedenken hinwegzusetzten und nach eigenen Wünschen und Träumen zu handeln begründet Nach Jahren, in der Zeit einer Pubertätskrise, sieht er in seinen Träumen eine Frau, die immer mehr die Züge Demians annimmt. Ein Zettel in seinem Schulbuch mit dem Hinweis auf die alte Gottheit Abraxas, in dem sich das Göttliche und das Teuflische vereinige. Kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges trift er Demian endlich wieder. In dessen Mutter Eva erkennt er das geheime Wunschbild seiner Träume, die ideale Verbindung des Weibes als Frau und Mutter. Im Krieg übernimmt Sinclair Demians Vermächtnis, ein von bürgerlichen Konventionen freies Leben zu führen. Zitat Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. (Demian, 1919, 142) Das Anliegen des Demian nach Selbstfindung bildet auch den Kern der Erzählung Siddharta. 1931 fasste Hesse unter dem Titel Weg nach Innen seine Werke aus den Jahren 1918-1922 zusammen: Kinderseele, Klein und Wagner, Klingsors letzter Sommer, Siddharta. Gedichtzyklus Krisis: Ein Stück Tagebuch (Bln.) gilt als Parallele zum Steppenwolf. Harry Haller empfindet die Spannung zwischen Werttradition und Wertzerfall in der für ihn nicht lebenswerten Zeit. Nach außen hin der Gesellschaft zwar notdürftig angepaßt, den Konflikt mit dem restaurativen u. euphor. Bildungsbürgertum der 20er Jahre bis zum äußersten Lebensüberdruß. Sein Schicksal wird mitleidlos, ironisierend u. auch stilistisch innovativ von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet u. variiert. Sein Konflikt löst sich durch die Bekanntschaft mit der Prostituierten Hermine, die Haller an sein verlorenes, herabgewürdigtes u. verdrängtes Selbst erinnert. An der Hand Hermines lernt er in der schmerzhaften Selbstanalyse des »Magischen Theaters« die schwierige Aufgabe zu meistern, sich zu akzeptieren u. den bedrohl. Symptomen der Zeit mit Humor zu widerstehen. Zum Steppenmwolf-Komplex gehören noch Texte: Kurgast, 1925 Nürnberger Reise, 1927 Krisis, 1928 1931 schrieb Hesse in einem Brief über seine Absicht: unter Wahrung einiger für mich „ewigen“ Glaubenssätze, die Ungeistigkeit unserer Zeittendenzen und ihre zerstörerische Wirkung auch auf den höherstehenden Geist und Charakter zu zeigen. Der Roman ist von einer undifferenzierten Verurteilung der Nachkriegsgesellschaft geprägt, z. B. in Hochjagd auf Automobile im Magischen Theater des Steppenwolf. Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, (…) sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sence, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen. Nur aus Feigheit lebt er in ihr Diese Anleitung zum politischen Desinteresse und Zivilisationsfeindlichkeit hat die Abwehrmechanismen der deutschen bürgerlichen Gesellschaft geschwächt und die Machtergreifung erleichtert. Nicht zufällig tritt Hesse aus der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste 1930gleichzeitig mit Erwin Quido Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer und Emil Strauß aus, um gegen die Aufnahme Heinrich Manns und Alfred Döblins dadurch zu protestieren. (Hansers Sozialgeschihcte, S. 45) 1932 erschien Hesses Erzählung Morgenlandfahrt in der die Suche nach dem Ideal, das Streben nach geistiger, sittlicher und spiritueller Reife jenseits der Welt des Alltags thematisiert wird. Hesse beschrieb sie folgendermaßen: Welchen Sinn oder welche Tendenz meine Erzählung habe, darüber kann ich nicht mitreden. Es soll mir lieb sein, wenn die Zahl der Meinungen darüber recht groß ist /…/ Das Thema der Morgenlandfahrt ist: Sehnsucht nach Dienen, Suchen nach Gemeinschaft, Befreiung vom unfruchtbar einsamen Virtuosentum des Künstlers. ________________________________ [1] Während ihrer Ehejahre mit dem Verleger Eugen Diederichs beschränkte sich ihr Werk auf Familienthematik, wie z .B. Buch „Aus Kinderland“ (Jena 1907). Sie war ja Mutter mit 4 Kindern. – Nach der Ehescheidung zog H. V.-D. nach Braunschweig; ihre beiden jüngsten Söhne begleiteten sie. Ihr Verleger war nun Albert Langen. – Der Erste Weltkrieg stellte ihr Leben und Schreiben vor neue Aufgaben. „Wir in der Heimat“ (Heilbronn 1916) ist wieder bei Eugen Diederichs in Jena erschienen.Hier wurde deutlich, dass sie weder der konservativen Politik noch einer gesellschaftlichen Reaktion verhaftet war. Sie stand dem Freisinn nahe und arbeitete u. a. an Friedrich Naumanns „Hilfe“, am „Simplicissimus“ und an den „Sozialistischen Monatsheften“ mit. [2] verstreut publiziert: BETRACHTUNGEN war eine Essaysammlung, in der sein Individualismus und Abneigung gegen die Massenbewegung zum Ausdruck kommen. [3] Schriftleiter der von Ludwig Thoma u. Hermann Hesse herausgegebenen Zeitschrift »März«. 1949 zum ersten Bundespräsidenten der BR gewaehlt. [4] Die Grunderfahrung des Gnostikers liegt darin, sich in der Welt fremd zu fühlen, wie das auch Sloterdijk formuliert hat: In der Welt, aber nicht von der Welt sein ist das Los des Menschen aus gnostischer Sicht. Das griechische WortGnosis heisst Erkenntnis, Wissen. Der gnostische Weg besteht vielmehr darin, der Wahrheit inne zu werden, sich von ihr ergreifen zu lassen, sich ihr zu öffnen und zu verstehen: Die Menschen sind die Schriftzeichen der Wahrheit, die Menschheit ist der Sprachschatz Gottes. Von daher sind Selbsterkenntnis und Selbstfindung geboten, um der rettenden Offenbarung bei sich zum Durchbruch und zur Geltung zu verhelfen. Darin stimmt mit der Gnosis die Tiefenpsychologie C. G.Jungs und Eugen Drewermanns überein.