Döblin, Alfred, * 10. 8. 1878 Stettin/Oder, † 20. 6. 1957 Emmendingen bei Freiburg i. Br. D. forderte 1913 im »Sturm« mit seinem für die Theorie des modernen Romans wegweisenden »Berliner Programm« einen »Kinostil« neutraler Beobachtung,der auf kausale Erklärungen, erläuternde Erzählerkommentare u. psychologisierende Aussagen über das Innenleben der Figuren verzichten sollte. Er bevorzugte parataktische Aneinanderreihung von Erzählsequenzen, um die verwirrende Dynamik simultaner Großstadtreize und sozialer Massenbewegungen darzustellen. Nach dem Krieg las er Karl Marx u. Ferdinand Lassalle sowie auch Freud, schloß sich 1919-1921 eng der USPD an, danach (bis 1927) der SPD, engagierte sich im »Schutzverband deutscher Schriftsteller«, dessen Erster Vorsitzender er im Jan. 1924 wurde, u. schrieb (zwischen 1921 u. 1924) regelmäßig Theaterkritiken für das »Prager Tagblatt«. Als er im Jan. 1928 in die »Sektion für Dichtkunst« der Preußischen Akademie der Künste gewählt wurde, galt er neben Heinrich Mann als namhaftester Repräsentant »linksbürgerlicher« Literatur. Das breite Publikum hatte seine Werke jedoch bisher nicht erreicht. Erst der Roman Berlin Alexanderplatz (Untertitel: Die Geschichte vom Franz Biberkopf) machte Döblin zu einem populären Autor. Sein Großstadtroman wurde aufgrund seiner charakteristischen Techniken des inneren Monologs und der erlebten Rede, der Montage von Zeitungsausschnitten, der Kombination unterschiedlichster Sprachschichten, der Reihung heterogener Bilder und Szenen zu Recht immer wieder mit James Joyces Ulysses (von Döblin 1928 rezensiert) und John Dos Passos' Manhattan Transfer verglichen. Die vielfältigen Anknüpfungen an das eigene Werk hat man dagegen weniger beachtet. Der 1928 in der »Frankfurter Zeitung« vorabgedruckte und im Oktober 1929 bei S. Fischer erschienene Roman wurde in etliche Sprachen übersetzt, in einer Hörspielfassung gesendet und 1931 (mit Heinrich George in der Hauptrolle) verfilmt. Dem Autor verhalf der enorme Erfolg erstmals zu finanzieller Unabhängigkeit. Am 28. 2. 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, verließ Döblin auf Anraten der Freunde Berlin. Er ließ sich zunächst in der Schweiz nieder, ab November 1933 in Paris. Dort gehörte er zu den wenigen Emigranten, die die frz. Staatsbürgerschaft erhielten. In Paris setzte er sich sogleich für die jüdische »Freilandbewegung«[1]ein. Ab Okt. 1939 arbeitete er (u.a. mit den Germanisten Pierre Bertaux u. Robert Minder) propagandistisch im Dienst des frz. Informationsministeriums unter Jean Giraudoux. Am 10. 6. 1940 begann seine Flucht vor den dt. Besatzungstruppen durch Frankreich, Spanien u. Portugal in die USA. Am 12. Sept. erreichte er New York. Angewiesen auf Arbeitslosenunterstützung, Spenden u. Almosen, verbrachte D. in Hollywood eine Zeit des sozialen Abstiegs. Die mit der Taufe am 30. 11. 1941 offiziell vollzogene, doch der Öffentlichkeit verheimlichte Konversion zum Katholizismus verstärkte seine soziale Isolation auch unter den Exilschriftstellern. 1945 traf ihn die Nachricht vom Selbstmord (1940) eines seiner vier Söhne. Gleich nach Kriegsende kehrte D. als einer der ersten Emigranten fluchtartig in die Heimat zurück. Als Angestellter der frz. Militärregierung mit der literar. Zensur u. der Herausgabe der Zeitschrift »Das goldene Tor« (1946-1951) beauftragt, wirkte er mit an der Austreibung des Nazi-Geistes u. am kulturellen Wiederaufbau in Deutschland. Trotz kulturpolit. Aktivitäten (u.a. als Mitbegründer der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz) u. trotz des Erscheinens der bislang ungedruckten Exilromane konnte D. in Deutschland nicht wieder Fuß fassen - im Unterschied zu Thomas Mann, den er mit intriganter, den eigenen Ruf schädigender Polemik attackierte. Döblins Hauptwerk Berlin Alexanderplatz scheint für die Verfilmung vorherbestimmt, vor allem für eine Montage aus Großstadt-Szenen. Der von Döblin mitverantwortete Film aus dem Jahre 1931 bot aber nur eine klassische Lebensgeschichte des Helden, einen herkömlichen Handlungsfilm. Auch in der Fernsehserie Rainer Werner Fasbinders Berlin Alexanderplatz (1980) steht eine individualpsychologische, ja psychologisierende Lesart im Vordergrund, die Döblin sonst programmatisch ablehnte und die er vornhemlich in Thomas Mann verkörpert sah. So eine glättende Lesart legt aber schon der Untertitel nahe und scheint auch für Döblin in seinem Rückblick auf sein Werk prägend zu sein[2], der die Konzeption des Romans vereinfachend zusammmenfaßt: Wie gehts einem guten Menschen in unserer Gesellschaft? Es dann als ein Lebensbild aus den Slums von Berlin gelesen, also als eine zum Roman ausufernde Reportage. Im Gegensatz dazu bietet sich eine Lesart, die – Brecht paraphrasierend – „im Dickicht einer Großstadt“ heißen könnte, eine Sonde, mittels derer der eigentliche Gegenstand des Romans, Berlin, untersucht wird. Das Collage-Material ironisiert dabei die Biberkopf-Geschichte. Damit stellt sich die Frage, nach dem Verhältnis des Erzählers zu Biberkopf. Vorreden und Kapitelüberschriften geben eine auktoriale Erzählweise zu erkennen: Urteilende, belehrende, skeptische Kapitelüberschriften erinnern an Barockromane, aber auch an Brechts Episches Theater. Das Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis /…/ entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein. Das gelingt ihm auch anfangs. Dann aber wird er, obwohl es ihm wirtschaftlich leidlich geht, in einen regelrechten Kampf verwickelt mit etwas, das von außen kommt, das unberechenbar und wie ein Schicksal aussieht. Dreimal fährt dies gegen den Mann und stört ihn in seinem Lebensplan[3]. Es rennt gegen ihn mit einem Schwindel und Betrug. Der Mann kann sich wieder aufrappeln, er steht noch fest. Es stößt und schlägt ihn mit einer Gemeinheit. Er kann sich schon schwer erheben, er wird fast schon ausgezählt. Zuletzt torpediert es mit einer ungeheuerlichen äußersten Roheit. /…/ Bevor er aber ein radikales Ende mit sich macht, wir ihm auf eine Weise, die ich hier nicht bezeichne, der Star gestochen. Es wird ihm aufs deutlichste klargemacht, woran alles lag. /…/ Das furchtbare Ding, das sein Leben war, bekommt einen Sinn. Es ist eine Gewaltkur mit Franz Biberkopf vollzogen. Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen sehr verändert, ramponiert[4], aber doch zurechtgebogen. Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot. Gegen eine sich mit Biberkopf identifizierende Lesart des Romans spricht z. B. die Einbeziehung der Schlagzeilen über die Lage der Börse als Überschrift (31)– Tendenz lustlos, später starke Kursrückgänge, Hamburg verstimmt, London schwächer – in eine Kapitelüberschrift, obwohl es dort zuerst über Biberkopfs Kinobesuch und seine Unfähigkeit mit seinem Leben etwas anzufangen als fressen und saufen und schlafen. Verfremdet wird das Schicksal Biberkopfs durch Beschreibungen vom Berliner Schlachthof. Das Kapitel heißt Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch (136) und erfasst die letzten Minuten der mit einem Beil getöteten Schweine. Sie liegen übereinander geschoben … In Furcht klettert eins über die Leiber der andern, das andere klettert hinterher, schnappt, die unten wühlen sich auf, die beiden plumpen herunter, suchen sich. … Was dampfen die da? Da bist du im Dampf wie in einem Bad, da nehmen die Schweine vielleicht ein russisch-römisches Bad. Im Roman wechseln Berliner Jargon, Bibelsprache (Jeremias, Hiob), Schlager- und Moritatenton, Werbeslogans, Zeitungsdeutsch, Statistiken, schnoddrige[5] Zwischenbemerkungen des Autors. Um den Roman zu lesen, braucht man ein Vokabelheft mit Berliner Ausdrücken und Erläuterungen: gluppschen – nordd. mit großen Augen dreinblicken 21 Kruke – liebenswert- schrullige Person 317 der Duisel – Schlafmütze, Dummkopf 343 der Lude – der Zuhälter 244 der Fatzke – ein eitler, arroganter Mensch *lat. facetia - Witz Der Erzähler läßt seinen „Verbrecher“ zum gewöhnlichen Menschen werden, mit dem der Leser – trotz Zuhälterei und Totschlag sympathisiert. Schließlich wird dieser Mensch – wie in allen Totentanz- und Jedermann-Geschichten – zum exemplarischen Fall. Schauereffekte und melodramatische Szenen gehören auch zum Genre. Der Konflikt entsteht daraus, daß der Held seine Straftat zwar in der Haft abgebüßt, nicht aber innerlich verarbeitet hat, nicht aus ihr gelernt hat. Er braucht Orientierung, verwechselt sie aber mit Ordnungsbedürfnis. Er sucht Selbstbestätigung, sei es nach einem chauvinistischem Muster (Die Wacht am Rhein), sei es in Vergewaltigung Minnas (S. 32-33), der Schwester der ermordeten Lebensgefährtin. Die Weltkriegserfahrung hat er nur verdrängt, er könnte eine leichte Beute der Hakenkreuzler werden. 75: Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder ein. Und der Stahlhelm, die Jungens hat er gesehen, und ihre Führer auch, das ist was. (Zitate aus der Stahlhelm. Presse) Die Wahl des Verbrechers als Helden hält mit der Mode der 20er Jahre zusammen. Ferdinand Bruckner hatte zur selben Zeit mit seinem Stück Die Verbrecher (Urauff. Deutsches Theater Bln. 1928. Ersch. Bln. 1929) Erfolg gehabt. im Stück macht Bruckner von einer Simultanbühne Gebrauch. In mehreren parallel laufenden, auf die Bewohner eines Berliner Mietshauses zentrierten Handlungssträngen wird die skandalöse Ungerechtigkeit der Justiz nach dem Ersten Weltkrieg angeprangert. Der noch verblendete Franz schreibt sein Scheitern immer seinem Schicksal zu. Schicksaltopoi werden aber zunehmend vom Erzähler parodiert. Z. B. durch den Vergleich zwischen Biberkopf und Orest: 91: Er kann es mit alten Helden aufnehmen. Ein Verbrecher, seinerzeit gottverfluchter Mann am Altar, Orestes, hat Klytämnestra totgeschlagen, kaum auszusprechen der Name, immerhin seine Mutter. /…/ Hoi ho hatz, schreckliche Bestien, Zottelweiber mit Schlangen, ferner Hunde ohne Maulkorb, eine ganze unsympathische Menagerie, die schnappen nach ihm, kommen aber nicht ran, weil er am Altar steht, das ist eine antike Vorstellung /…/ Vorbereitung für die Klappsmühle. Franz Biberkopf hetzten sie nicht. Sprechen wir es aus, gesegnete Mahlzeit, er trinkt bei Henschke oder wonaders, /…/ ein Molle[6] nach der andern. Eine Parodie des Gyges-Stoffes[7] ist noch krasser, die Geliebte Biberkopfs wird dabei getötet. : Kandaules – Franz, obwohl er zu Reinhold in einer eher abhängigen Stellung steht, Gyges – Reinhold, Rhodope – Mieze. Sie bringt sich aber nicht selbst um wie Hebbels Rhodope, sondern wird von Reinhold umgebracht. Biberkopf macht einen Läuterungsprozess durch. Nun sieht er ein, dass er sich auf Reinhold nicht hätte einlassen dürfen: gegen den komm ich nicht auf, ich hätte es nicht gesollt. Wenn er dann sein Opfer sieht, - Ida, seine aus Eifersucht ermordete Frau, und Mieze, seine Geliebte, weint er. Wohin die positive Wandlung hinführt, wird nur angedeutet. Er wird wohl zu einer kämpferischen Solidarität mit ähnlich sozial Benachteiligten hingeführt. Döblin leistet eine Agitation für einen Sozialismus und gerät so in Widerspruch zum Rest des Romans, der durchaus mehrdimensional schien. ________________________________ [1] Ziel der Bewegung war, das private Eigentum an Grund und Boden vollständig der „Volksgemeinschaft“ zu übertragen und so die jüdische Kolonisation Palestinas zu beschleunigen. Franz Oppenheimer (1864-1943), einer der Väter der Kibbuz-Bewegung, knüpfte an die agrarsozialistischen Ideen von Hertzka an. [2] Alfr. Döblin: Epilog. in Aufsätze zur Litzeratur. Freiburg i. Br. 1963. [3] Buch II, IV, VI – schon der eher harmlose Betrug von Lüders wirft ihn aus seiner Bahn.. Sein uneu#ingestandenes Rivalitätsverhältnis zu Reinhold führt zu „erzieherischen Absichten, mit denen er Reinhold in solide Beziehungen bringen will. Der von Franz düpierte- zum Narren gehaltene – Reinhoild rächt sich und schmeißt ihn vor dem Polizeiwagen bei voller Geschwindigkeit aus dem Auto. Letztlich ermordet er seine Mieze. [4] ziemlich stark beschädigt [5] (ugs. abwertend): provozierend lässig, großsprecherisch, den angebrachten Respekt vermissen lassend [6] Glas Bier [7] Gyges ist Sklave am Hofe von Kandaules, der ihn inzwischen als Freund und Berater schätzt. Aus Dankbarkeit schenkt Gyges ihm einen Ring, der seinen Träger unsichtbar machen kann. Kandaules kommt durch diese Möglichkeit auf eine Idee, die eine Lösung für sein größtes Problem sein soll. Er ist verheiratet mit der schönen Rhodope, deren Schönheit aber noch kein Mensch gesehen hat, da sie immer verschleiert ist und nur ihrem angetrauten Mann ihr Gesicht zeigen will. Sein Stolz und sein Glaube an ihre Schönheit braucht einen Zeugen. Gyges soll sich nachts unsichtbar in ihr Schlafzimmer begeben und anschließend berichten, was er dort gesehen hat.