Verwirrt, träge und verliebt Von Tilman Spreckelsen - FAZ 11. August 2001 Läuft die Zeit schneller ab, wenn man betrunken ist? Oder nimmt man die Umwelt verzögert wahr, so daß die Zeit langsamer verfließt? Die beiden, die sich über diese Frage unvermittelt in die Haare kriegen, haben sich kurz vorher kennengelernt, sind Ende Zwanzig und arbeiten für den gleichen Gastronom: die schöne Katrin als Köchin in der einen, Frank Lehmann, den alle nur "Herr Lehmann" nennen, hinter dem Tresen der anderen Kneipe. Sonst sind die beiden so verschieden, daß sie geradezu prädestiniert zu einem Liebespaar sind, das sich im September findet und im November wieder verliert. Katrin tut sich schließlich mit "Kristall-Rainer", einem unauffälligen Kneipengast, zusammen, während Frank sich erstmal ausschlafen möchte und fortwährend daran gehindert wird - Kreuzberg im Herbst 1989. In seinem Debütroman zeichnet Sven Regener, Jahrgang 1961 und Sänger der Band "Element of Crime", die Welt nach, wie sie sich schemenhaft im Bewußtsein seines Helden niederschlägt. Dort manifestiert sie sich am liebsten als gewaltige Ruhestörung, als Hindernis auf dem Weg zum ersehnten Schlaf, das es zu umgehen gilt. Es ist eine kleine Welt - Lehmann verläßt nur ungern das enge Areal von Kreuzberg, und schon der Nachbarbezirk Neukölln ist ihm ein Graus. Lehmanns Kosmos bevölkern Kollegen, Kneipenbesitzer und -gäste, die sich einig sind im zähen Bestreben, keine Veränderung zuzulassen und die geübten Rituale gegen alle Anfechtungen von außen durchzuhalten. Dabei steht der große Umbruch unmittelbar bevor und vollzieht sich hinter den Kulissen bereits auf mehreren Ebenen, wenn auch unmerklich für Lehmann: Da ist sein bester Freund Karl, der eine Ausstellung mit Skulpturen vorbereitet, für die sich niemand interessiert, und der darüber aus Erschöpfung zusammenbricht; da ist die Abkehr Katrins, die in Lehmann "so einen Typ, der alles werden könnte" gesehen hat und sich, weil er sich jeder Karriere beharrlich und eloquent widersetzt, einem wesentlich leichter zu formenden Verehrer zuwendet; da ist schließlich das Jahrhundertereignis der ostdeutschen Revolution, das bis zum vorletzten Kapitel so auffällig ausgespart ist, daß diese Leerstelle des Romans im Bewußtsein des Lesers, zumal aus dem Abstand von beinahe zwölf Jahren, eine ausgesprochene Dynamik entfaltet - und gleichzeitig die Frage aufwirft, ob dieses Desinteresse an den Ereignissen, die der Maueröffnung vorausgingen, nicht eine in Westdeutschland und vor allem in Westberlin durchaus verbreitete Haltung war. Kein Zweifel, daß hier ein glänzender Wenderoman aus westlicher Sicht vorliegt, der ebendeshalb so überzeugt, weil die Ereignisse in der DDR im Bewußtsein der Hauptfigur, aus deren Perspektive durchgängig erzählt wird, nur in Spurenelementen vorkommen - um westliches Desinteresse darzustellen, so scheint es, hätte man kein besseres Millieu als Kreuzberg, keinen besseren Romanhelden als Lehmann wählen können. Das macht sich um so nachhaltiger bemerkbar, je näher die Handlung auf den neunten November 1989 zusteuert. Ein einziges Mal nämlich läuft selbst Lehmann Gefahr, der Weltgeschichte nicht mehr ausweichen zu können, die sich einige hundert Meter weiter jenseits der Spree vollzieht: Um auf Wunsch seiner Eltern einer entfernten Verwandten einen Umschlag mit Westgeld zu übergeben, macht sich Lehmann am fünften November, dem Morgen nach der großen Demonstation auf dem Alexanderplatz, auf den Weg nach Ostberlin. Er kommt aber nur bis zum Grenzübergang, wo er wegen Devisenvergehens festgehalten wird. Agiert er dabei so ungeschickt, um garantiert zurückgewiesen zu werden? Oder ist er so sehr gewohnt, über alles und jedes zu diskutieren, daß er sich fast lustvoll mit den Zöllnern streitet? Denn Lehnmann rechtet permanent: mit seinen Freunden, mit Polizisten aus Ost- und Westberlin, mit Katrin, mit Busfahrern oder Kneipengästen und vor allem mit sich selbst. All diesen Diskussionen gemein ist aber, daß sie vollkommen fruchtlos bleiben. Lehmann ist eine überaus sympathische Oblomow-Gestalt, ein Mann ohne Antrieb, dem "das Hinlegen in den letzten Jahren selbst zu einer Lieblingsbeschäftigung geworden war", dem aber genau dies den Roman über verwehrt bleibt: zur Ruhe zu kommen. Der auf ihn einstürmenden Welt begegnet er am liebsten mit Sprachkritik, weil diese Form der Auseinandersetzung garantiert folgenlos bleibt. So ist der Roman auch geprägt von der verbalen Orientierungssuche des Helden: Lehmann versucht, Ordnung zu schaffen - in der Welt und vor allem im eigenen Kopf. Ist er berauscht, neigt Lehmann zu schlichten Postulaten wie: "Alles, was über Bier hinausgeht, ist falsch." Oder: "Am Ende ist man immer selber schuld, wenn man Schnaps trinkt" - Sentenzen, die das Staunen des Bezechten über die Möglichkeit, überhaupt Wahrheiten zu formulieren, deutlich zeigen. Am liebsten aber beschäftigt Lehmann sich mit sich selbst und seinen eigenen, eben geformten Gedanken: "Herr Lehmann freute sich darüber, daß ihm dieses Wort in den Sinn kam, er hatte es lange nicht mehr gehört oder gedacht." Oder: "Das, dachte Herr Lehmann, ist der dümmste Gedanke, den ich in den letzten zehn Jahren gehabt habe." Auch der Beginn der Liebesbeziehung zu Katrin ist bestimmt von einer ins Äußere gewendeten Version seiner endlosen Selbstgespräche und gedanklichen Klärungsversuche. Der Disput über die Wahrnehmung der Zeit ist geprägt von einer aggressiven Diskussionshaltung ("romantisch ist das nicht, dachte er, romantisch ist was anderes"), die dem Grunddissens der beiden geschuldet ist: Katrin verwendet absichtslos das Wort "Lebensinhalt", einen Begriff, den Lehmann als solchen in Frage stellt, zumindest für die eigene Person. Daß seine erregte Rechtfertigung am Ende nur noch wenig mit Katrins Äußerung zu tun hat, erkennt er immerhin: "Ich rede gar nicht mit ihr, dachte Herr Lehmann bedauernd, eigentlich rede ich mit dem Rest der Welt, und sie bekommt es ab." Der Roman zerfällt in lauter einzeln ausgemalte Szenen, jede in sich abgerundet und bisweilen von hoher Komik. Regener gerät kaum einmal in die Gefahr, seinem Helden distanzlos zu begegnen, läßt ihn aber selbst um der Pointe willen nicht sonderlich skurril erscheinen, sondern ist sichtlich um eine gelassene Schilderung der beiden Herbstmonate bemüht. Seine Stärke sind die vielstimmigen Diskussionen, etwa bei Lehmanns Abendessen mit seinen aus Westdeutschland angereisten Eltern in einer Kneipe, wo er, wie er seinen Eltern zuvor vorgelogen hatte, Geschäftsführer ist und wo sich der wachsende Argwohn seines Vaters, die Beschwichtigungsversuche Lehmanns und die liebevollen Sottisen des befreundeten Kellners mischen. Vor diesem Hintergrund des Beharrungsvermögens eines Milieus und vor allem seines Repräsentanten angesichts einer historischen Wende gewinnt auch die Diskussion der Liebenden um die Zeitwahrnehmung im Rausch eine neue Relevanz. Beider Freund Karl, dem Frank und Katrin diese Frage zur Entscheidung vorlegen, findet jedenfalls eine salomonische Lösung: "Ich glaube, sie läuft schneller. Aber am nächsten Morgen gleicht sich das wieder aus." Sven Regener: "Herr Lehmann". Roman. Eichborn Berlin, Berlin 2001. 300 S., geb., 36,- DM. Buchtitel: Herr Lehmann Buchautor: Regener, Sven Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2001, Nr. 185 / Seite V Try to be Mensch! Von Evelyn Finger| DIE ZEIT, 34/2001 Der Sänger Sven Regener schreibt ein urkomisches Buch: "Herr Lehmann" Das Schwimmbad, philosophisch betrachtet, ist ein unmenschlicher Ort. Denn im Schwimmbad fällt es besonders schwer, Mensch zu sein. Angsthase oder "arschbombender Chaot" (um die Dinge ausnahmsweise beim Namen zu nennen), das schafft jeder. Doch leider beruhen diese beiden Existenzweisen auf Furcht - Furcht, sich beim Sprung vom Zehnmeterturm zu blamieren oder, noch schlimmer, sich als Nichtspringer zu kompromittieren. Wer aber von Angst getrieben wird, ist ein gehetztes Tier, hat keine Wahl und folglich keinen freien Willen. Insofern ist die ganze Welt meist mehr oder minder ein Schwimmbad, doch das Schwimmbad eben auch auf sehr anschauliche Weise die ganze Welt. "Halbnackt allein auf schwankenden Brettern stehen / und runtersehen", sang vor zwei Jahren die Band Element of Crime, blies höhnisch in die Trompete und betrachtete das Freibad psychoanalytisch: "Du weißt, dass dein Vater sich fragt - / Wird er es bringen? / Und deine Mutter sagt Nein. / Und aus endloser Menge erklingen ermunternde Rufe, / jetzt mußt du springen!" Sven Regener, Sänger und Texter der vielleicht poetischsten, mit Sicherheit melancholischsten deutschen Band, hat neuerdings einen Roman geschrieben, worin selbst Badehosen tiefere Bedeutung besitzen. Sinnfrage: Was nützt es, zwischen Unmengen kreischender, brustschwimmender Leute eine gewisse Würde zu wahren? Außerdem: Sollte einer, der hauptberuflich Bier ausschenkt und bisher stets vernünftig über die Leiter in den Pool kletterte, sein Leben ändern, bloß weil er 30 wird? Und wenn ja, wie? "Arschbombe kann nicht die Antwort sein", Pardon, da ist sich Herr Lehmann, demnächst 30 und normalerweise "etwas willenlos", sicher. Herr Lehmann heißt die Titelfigur in Sven Regeners Buch, und so unspektakulär der Name, so vertraut ist uns dieser Charakter aus Regeners Liedern. Ein blasser Mann in einer lauten Welt. Ein Philosoph im Karpfenteich. Ein Stubenhocker, der um fünf Ecken denkt, der für das Glück nicht geschaffen ist und der als echter Pessimist dem Pech gern ein Stück entgegenkommt. Beispielsweise an jenem Abend, da alles anfängt. "Der Mensch ist ein Wesen mit freiem Willen", denkt Herr Lehmann, während er vom Kneipendienst nach Hause latscht. Dann sieht er den Hund. Ein hässlicher Zerberus im nachtkalten Berlin versperrt ihm den Heimweg, knurrend, hartnäckig, listig, da ist rein gar nichts zu wollen. Doch am Ende erringt der Mann einen unglaublich lächerlichen Sieg, und wie der Kampf der beiden tragikomischen Gestalten inszeniert wird, ist eine Sternstunde farcenhaften Humors. Hier entsteht die Komik scheinbar wider Willen, im Unabsichtlichen liegt die erzählerische Eleganz. Man hält den Atem an, man ist verblüfft, man lacht sich schief. "Man müßte positiver sein, irgendwie besser gelaunt, dachte Herr Lehmann." Sven Regener malt den Lebensüberdruss in frischem Grau. Er verschafft dem abgegriffenen Sujet des Weltschmerzes einen festen Platz in der jüngsten Literatur, eine neue Berechtigung im Zeitalter der verkaterten Studienabbrecher. "Ich will immer so gern berauscht sein / und werde doch immer nur breit. / Und kaum dass ich einmal nüchtern bin, / ist der Sommer schon wieder vorbei", singt Element of Crime, doch dank Herrn Lehmann können sich die Leitmotive nun endlich entfalten: der schwindende Sommer und der ewige Regen, seltsame Tiere, selbst gebastelte Ängste und natürlich die Liebe, charmantestes Unglück, das einem zustoßen kann. Die Figuren, eingesperrt im West-Berlin der Vorwendezeit, fühlen sich ausgesetzt in absolute Freiheit, in Nichtsnutzigkeit und ständige Entscheidungsnot. Da verbinden sich Schwermut aus Erfahrung und Trübsinn aus Prinzip. Ein Existenzialist hätte kaum besser ins Schwarze treffen können: "Wozu bewegen? / Ich weiß ja nicht, wohin. / Manchmal wüßt ich gern, / wer ich wirklich bin." Herr Lehmann jedenfalls, dem Hund mit knapper Not entronnen, stürzt sich in eine Romanze, genauer gesagt, er pirscht sich ran, ganz wie es dem Naturell eines Maulhelden entspricht. Durch Berlin streunend, vom wiedergängerischen Köter verfolgt, wird Lehmann, der am liebsten haarspalterische Streitgespräche führt, zu Handgreiflichkeiten gezwungen und feiert dabei die absurdesten Triumphe. Ein Held wider Willen auf seiner langen Reise in die Nacht: Er erfindet die Kreuzberger Ohrenschraube, verbeißt sich in den Finger eines Kneipiers, verschlägt einem Busfahrer die Sprache, beeindruckt seine Eltern, rettet seinen besten Freund und bringt die DDR-Zollbehörden aus dem Konzept. - Angst verleiht Flügel! Herr Lehmann ist ein Erbauungsbuch, nicht nur für Städtebewohner. Alles popkulturelle Berlin-Geschwätz fegt der Autor mit einem Wisch vom Tisch, und wir schmeißen die einschlägige Partyliteratur gleich hinterher. Denn bei Sven Regener, da ist der Alltag noch phänomenal, die Stadtdarstellung wieder einen Blick wert. Man beachte die Schachtelsätze mit ihren wunderbaren Abschweifungen und wie der Erzähler sich so selbstironisch durchs Geschehen mäandert. Nicht zu vergessen die Komposition. Selbst in Regeners deftiger Prosa kann man die sentimentale Geige, das müde Schlagzeug, die traurige Trompete der Band und deren typisch sarkastischen Unterton hören. Try to be Mensch nannte Element of Crime in den achtziger Jahren ein Album. Sven Regener bleibt dem großen Thema treu: müssen und wollen, können und sollen. Wo es aber ums Wesentliche geht, da darf ein historischer Höhepunkt wie der Mauerfall durchaus als Antiklimax dienen. Am Schluss des Romans bricht die DDR zusammen, jedoch: "Herr Lehmann stand da, verkehrsumtost, und fühlte sich leer. (...) Ich gehe ersteinmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben." * Sven Regener:Herr Lehmann, Roman, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001 Arno Widmann – Perlentaucher (25. 09. 2002) Sven Regeners Roman "Herr Lehmann" spielt in diesem Kreuzberg. Im Wendejahr 1989. Es ist ein kluges, zartes Buch, das mit seinem Helden, einem Musterexemplar jenes Kneipenmilieus, in dem der Widerstand der siebziger Jahre sich längst in nichts als träges Beharrungsvermögen gewandelt hatte, gerade soviel Mitleid hat, um den Autor nicht als blöde erscheinen zu lassen, ihn aber auch so sehr schätzt, dass der Leser nicht aufhört, sich für diese sympathische Null und sein Treiben zu interessieren. Sven Regener, Sänger und Texter der Gruppe "Element of Crime" ist vor allem ein Horcher und Gucker. Er weiß, wie die Dreißigjährigen damals sprachen, trifft mit traumwandlerischer oder artverwandter Sicherheit exakt die Stelle zwischen Coolness und völliger Unsicherheit allen Anforderungen des Lebens gegenüber, an der große Teile des Milieus sich fast zwei Jahrzehnte lang aufhielten. Er beobachtet genau, wann und wo die gammelige Friedfertigkeit umschlug in Aggression. Erst auf Seite 159 erfährt der Leser, dass er sich im Jahre 1989 aufhält. Das entspricht der Weltwahrnehmung nicht nur des Regenerschen Helden, sondern eines großen Teiles seiner Umgebung. Es dauerte bis tief in die neunziger Jahre, bis ihr dämmerte, was passiert war. Sven Regener erweckt diese untergegangene Welt wieder zum Leben. Es ist schön, einen Ton aus so ferner Vergangenheit zu hören. Denn machen wir uns nichts vor. Ströbele wurde nicht vom alten Kreuzberg in den Bundestag geschickt. Er ist 2002, mehr als ein dutzend Jahre später von Ost und West ins Parlament gewählt worden. Auch das ist ein Wenderoman. Recenze filmu "Herr Lehmann" – Süddeutsche Zeitung 2003 Der Mantel ist es, der einen stark beschäftigt in diesem Film. Dieses unförmige, schluderige Ding, mit dem der Held, Herr Lehmann, durch die Kreuzberger Nächte trabt und das zum Repräsentieren zu formlos-schlabbrig, zum Wärmen aber viel zu kurz ist. Das Ding vermittelt einen Touch von Obdachlosigkeit, lässt einen an Überwinterung und Wiederaufbauzeit denken, und wie diese schnurstracks in den Kalten Krieg führte. Der Junge ist einfach ohne es zu merken aus seinen Klamotten herausgewachsen, es sind die letzten Abenteuer der Jugend, auf denen wir ihm folgen, im Spätherbst 1989 – in kürzester Zeit wird er dreißig sein, und zwar genau an dem Tag, an dem in Berlin die Mauer fällt. Von Abenteuern kann natürlich nicht wirklich die Rede sein, auch wenn der Film in den ersten zwanzig Minuten mit praller Action daherkommt. Es beginnt mit einem Duell Mann gegen Hund, ums Passierrecht auf einem Kreuzberger Bürgersteig, im Morgengrauen ausgetragen in strengem Italowestern-Ritual und entschieden letztlich durch den Inhalt einer Flasche Whisky. Danach kommt gleich der nächste Schlag, ein Anruf der Eltern Lehmann, die ihren Besuch ankündigen, weil sie mal sehen wollen, wie ihr Sohn in der Fremde lebt. Gleich darauf dann die Konfrontation mit der neuen schönen Köchin in der Kneipe, wo Herr Lehmann arbeitet, und ein Disput in der Frage „Schweinebraten am Vormittag“. Der Bezirk Kreuzberg SO36 hat in den Achtzigern radikal seine Eigenständigkeit behauptet, sogar dem Rest-Kreuzberg gegenüber, und hat tapfer alle Konsequenzen ertragen, die sich daraus ergeben. Eine fatale Stagnation zum Beispiel, die immer erst mal zur Flucht an den Tresen tendiert, wo man dann, mangels besserer Ziele und Motivationen, den Rest des Tages und der Nacht hocken bleibt. Was sicher nicht verkehrt ist, wie ein unerklärlicher spontaner Ausflug ins Freibad uns zeigt, bei dem man auch im Kinosessel das Frösteln anfängt. Am Tresen hat Herr Lehmann dagegen einen warmen Arbeitsplatz, in einer Kneipe mit dem schönen Namen Einfall, unter der Obhut seines Freundes Karl. Wo zwischen dem Bierzapfen und dem liebevollen Ausspähen der Gäste immer auch ein Plätzchen bleibt für echte Kneipenphilosophie. Der Begriff Lebensinhalt zum Beispiel: Hat das Leben einen Inhalt, und muss es, um einen zu haben, als ein Gefäß vorgestellt werden, und was, wenn dieses Gefäß ein Loch hat . . . Es ist diese Sprachverliebtheit, die Leander Haußmann an dem Buch von Sven Regener, Sänger von Element of Crime, fasziniert hat: „Das muss sich erst mal einer trauen: so zu schreiben, so dandyhaft, so verspielt, so selbstverliebt.“ Man könnte hier natürlich an bajuwarische Bierkämpfe erinnern und philosophische Exkurse rund um den Starnberger See, aber das wäre eine ganz andere Geschichte . . . Leander Haußmann traute sich, den introspektiven Buch-Lehmann gegen den Strich zu besetzen, mit dem coolen MTV-Star Christian Ulmen – ein Besetzungscoup so kühn, wie keiner war, seitdem Hitchcock den dicklichen Norman Bates des „Psycho“-Romans von Tony Perkins spielen ließ. Christian Ulmen ist, mit seinem Muttermal und seinem zerzausten Schopf, mit seiner sanft kratzenden Stimme und einem ins Nichts zielenden Blick ein ziemlich smarter Lehmann. Keine Spur von Schelm oder Simplicissimus – weshalb die Szene merkwürdig ins Leere läuft, als er beim Übergang in den Ostteil der Stadt mit fünfhundert DM für die Oma erwischt wird. Aber vielleicht wurde das auch nur so schön ausgespielt, um Thomas Brussig als Grenzbeamten ins Spiel zu bringen, der das Buch zu Haußmanns erstem Film „Sonnenallee“ schrieb. Anachronismus ist fest eingeplant im Haußmann-Programm, aber andererseits kann Treue der Vorlage gegenüber nicht die Sache des Kinos sein. Kein literarischer O-Ton also, es wird gespielt mit der Sprache in diesem Film, in der Tradition des Boulevard-, aber auch des absurden Theaters. Von Wilde bis Beckett also, denn es geht um den Sound und den einzelnen Satz mehr als um jede Bedeutung, um Formeln mehr als um Inhalte. Das ist natürlich nicht unbedingt neu im Kino, und Haußmann zeigt offen, dass er Kino macht in der Tradition von Lubitsch und Wilder, aber auch der deutschen Schwänke und Klamotten der fünfziger Jahre. Und Kreuzberg hat er, mit der Hilfe des großartigen Kameramanns Frank Griebe, so luminos inszeniert, wie Billy Wilder das Pariser Markthallen-Viertel in „Irma la Douce“ oder Otto Preminger die Straßen von Brooklyn in „Der Mann mit dem goldenen Arm“. Hollywood steht am Horizont, und am Ende merkt man, dass doch ein Abenteuer in diesen Wende-Tagen stecken kann. Das eines Dandys, der nicht mehr erwachsen werden muss. FRITZ GÖTTLER HERR LEHMANN, D 2003 – Regie: Leander Haußmann. Buch: Sven Regener. Kamera: Frank Griebe. Schnitt: Peter R. Adam. Musik-Konzept: Charlotte Goltermann. Mit: Christian Ulmen, Katja Danowski, Detlev Buck, Janek Rieke, Hartmut Lange, Michael Gwisdek, Thomas Brussig. Basis, 105 Minuten.