5. Die Fäulnis ausfließen lassen Aderlass war die häufigste Therapie im Mittelalter Die Menschen im 16. und 17. Jahrhundert sahen den Aderlass als Allheilmittel gegen fast alle Beschwerden an. Kein Wunder, dass der Eingriff manchmal mehr Schaden anrichtete als zu nutzen - geschweige denn zu heilen. Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle: In der mittelelalterlichen Vorstellung drehte sich alles im Körper um diese vier "Kardinalsäfte". Nach der "Säftelehre" (Humoralpathologie) bedeutete ein Gleichgewicht der Säfte (Eukrasie) Gesundheit, ein Ungleichgewicht (Dyskrasie) hingegen Krankheit. Saft und Eigenschaft Die vier "Kardinalsäfte" waren bestimmten Eigenschaften zugeordnet: · Blut - Feuchtigkeit · Schleim - Kälte · gelbe Galle - Wärme · schwarze Galle - Trockenheit. Gleichgewicht wieder herstellen Falsche Kleidung oder Ernährung, Geschlechtsverkehr, Überanstrengung, Vergiftungen, aber auch schlechte Gerüche wurden als Auslöser für eine Störung vermutet. Eine wichtige Rolle spielte auch die Qualität der Atemluft. War sie "schlecht", "giftig" oder zu feucht, konnte das den inneren Organen schaden, vor allem dem Herzen. Um das Säfte-Gleichgewicht wieder herzustellen, aber auch um verdorbene oder krankhafte Stoffe ausfließen zu lassen, wurde der Kranke zur Ader gelassen (Phlebotomie). "Im Mittelalter war der Aderlass ein 'Routineeingriff'", sagt Dr. Sabine Fahrenbach, Medizinhistorikerin am Karl-Sudhoff-Institut in Leipzig: "Im 16. und 17. Jahrhundert wurde er unkontrolliert häufig eingesetzt". Mangels anatomischer Kenntnisse, aber auch weil es schlichtweg an Alternativen mangelte, sei der Aderlass bei "fast allen Beschwerden" zum Einsatz gekommen. Tiefe Wunde geschlagen Zuständig für die Therapie waren keine Mediziner, sondern Handwerker: die Bader und deren Gehilfen, die Barbiere. Mit einem "Lasseisen", auch "Fliete" genannt, öffneten sie das Gefäß, und das Blut floss - in manchen Fällen so lange, bis der Patient in Ohnmacht fiel. Aber auch andere unerwünschte Nebenwirkungen wie Schmerzen, Schwäche oder nervöse Reizzustände seien häufig gewesen, sagt die Leipziger Medizinhistorikerin. Die Wunde, die der Flietenschlag hinterließ, war in der Regel recht groß, denn über den Verlauf der Gefäße war nur wenig bekannt. Unklar war auch die Menge des Blutes, die entnommen werden sollte. Einige wenige Anhaltspunkte gab es hingegen, welche Körperstelle für den Aderlass in Frage kam. Planeten und Tierkreiszeichen In der mittelalterlichen Literatur finden sich immer wieder Abbildungen von "Aderlassmännlein", die die wichtigsten Stellen für den Eingriff zeigten. "Die Lassmännlein gingen aus dem Tierkreismann hervor, bei dem die zwölf Tierkreiszeichen bestimmten Körperorganen bzw. -teilen zugeordnet waren", sagt Fahrenbach. Um den richtigen Zeitpunkt des Eingriffs herauszufinden, wurden ebenfalls die Gestirne zu Rate gezogen. Denn ihnen wurde ein großer Einfluss auf den Menschen und sein Befinden zugeschrieben. So glaubte man zum Beispiel, dass es günstiger sei, bei abnehmendem Mond zur Ader zu lassen. Bis ins 19. Jahrhundert üblich Mit den wachsenden medizinischen beziehungsweise anatomischen Kenntnissen verlor der Aderlass immer mehr an Bedeutung. Trotzdem war er bis in die zweite Hälfte es 19. Jahrhunderts durchaus üblich. Bei einigen wenigen Indikationen wird der Aderlass sogar heute noch vereinzelt angewendet. In der klinischen Medizin zählen dazu zum Beispiel bestimmte Formen des Diabetes (Bronzediabetes), beginnendes Lungenödem oder eine unkontrollierte Vermehrung der roten Blutkörperchen (Polyzythämie).