stierle kleist 02 (3514x2561x256 jpeg) Karlheinz Stierle (Kommunikationstheorie) Voraussetzung von Kleists Geschichte. Wie aber ist diese im Hinblick auf ihre Grundfigur konkretisiert? Mit dieser Frage tun wir den ersten Schritt in einer Folge von Schritten, mit denen wir den komplexen Aufbau von Kleists Novelle zu erschließen suchen, um am Ende zumindest prinzipiell jener Dichte des Erzählens inne sein zu können, deren Erfahrung den Leser erst nötigt, einen solchen Weg einzuschlagen. Die Geschichte — nicht ihre Erzählung, die mit einem dramatisch isolierten Augenblick der Geschichte einsetzt - beginnt mit dem Glück des Jeronimo, der „durch einen glücklichen Zufall" (11) die Verbindung mit Josephe aufnehmen kann, nachdem diese von ihrem Vater, der die Verbindung der jungen Liebenden mißbilligt, ins Kloster gebracht worden war. Der Klostergarten wird „zum Schauplatze seines vollen Glückes" (11). Da dies Glück aber erkauft ist mit einem Verstoß nicht nur gegen die sittliche, sondern auch die religiöse Ordnung, die in dem spanischkatholischen Chile des 17. Jahrhunderts unerbittlich herrscht, ist es zugleich der Ursprung des Unglücks. Die „unglückliche" Josephe wird auf den Stufen der Kathedrale von Geburtswehen erfaßt. Ihr Vergehen gegen „das klösterliche Gesetz" soll mit ihrer öffentlichen Hinrichtung bestraft werden. Die „ungeheure Wendung der Dinge" (12) aber stürzt Jeronimo in Verzweiflung, und während die Glocken schon zur Hinrichtung läuten, ist er selbst, der im Gefängnis festgehalten wird, bereit, sich den Tod zu geben. Mit diesem dramatischen Augenblick setzt die Erzählung ein, ehe sie zur Vorgeschichte zurückführt und sich dann wieder dem gegenwärtigen Augenblick zuwendet. In den Gang der Dinge greift das Erdbeben als eine neue „ungeheure Wendung" mit elementarer, alle kulturelle Ordnung zerstörender Gewalt ein. Und Jeronimo, „besinnungslos", stürzt aus den Trümmern des Gefängnisses ins Freie. Erst vor der Stadt wird er sich des plötzlichen Wechsels aller Verhältnisse bewußt, und ein von allem losgelöstes, gedächtnisloses und fast bewußtloses „Wonnegefühl" ergreift ihn. Dieser „ungeheure" Wechsel ist ein neues Glied in der Kette narrativer Folgeverhältnisse von Glück und Unglück, aber aus ihm geht auch ein erster Kontrast von privatem Glück und öffentlichem Unglück hervor. Der kurze Augenblick des „Wonnegefühls" wird sogleich von der Erinnerung an Josephe und dem Bewußtsein der eigenen unglücklichen Situation abgelöst. Als Jeronimo sich aber schließlich auf die Suche nach Josephe macht, erblickt er diese plötzlich in einem idyllischen Tal, wo sie mit ihrem Söhnchen Zuflucht gefunden hat. Die Wiedervereinigten genießen im Augenblick der völligen Zerrüttung aller Verhältnisse ein absolutes, allen geschichtlichen Bindungen enthobenes Glück. Sie „waren sehr gerührt, wenn sie dachten, wieviel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden" (16). Sie denken daran, nach Spanien zu fliehen und „daselbst ihr glückliches Leben zu beschließen" (16). Es scheint, als habe das Erdbeben einen „Umsturz aller Die narrative Struktur von Kleists ,Das Erdbeben in Chili' Verhältnisse" (18) herbeigeführt. Am nächsten Morgen kommt es den Liebenden vor, als sei eine neue Welt der Versöhnung angebrochen. Josephe wird von Don Fernando, dem Sohn des Stadtkommandanten, der ihr flüchtig bekannt ist, gebeten, sein Kind zu stillen, da seine Frau sich verletzt habe. Die Mutter des Kindes, Donna Elvira, und Fernandos Schwägerinnen, Donna Elisabeth und Donna Constanze, nehmen Josephe freundlich auf. Und als Donna Elvira der unglücklichen jungen Mutter ihr Mitgefühl zu erkennen gibt, heißt es von dieser: „Josephe dünkte sich unter den Seligen" (17). Am Nachmittag spricht es sich herum, daß zur „Verhütung fernem Unglücks" (18) in der Dominikanerkirche eine Messe stattfinden solle. Die kleine Gesellschaft bricht auf, trotz einer schlimmen Vorahnung Donna Elisabeths, die zurückbleibt. Während aber Jeronimo und Josephe glauben, in der Kirche werde sich das Werk der Versöhnung vollenden, werden sie selbst zu ihrem Schrecken vom Priester als Beispiel für den Zorn Gottes genannt, der mit der Stimme des Erdbebens gesprochen habe. So wendet ihr Glück sich zu ihrem eigenen Unglück wie zu dem der Familie des Don Fernando. Das von dem fanatischen Priester angestachelte Volk tötet die beiden Liebenden und ebenso Donna Constanze und Juan, Don Fernandos Sohn. Einzig Philipp, der kleine Sohn Jeronimos, und Don Fernando selbst bleiben von dem „Unglück" verschont. Das Ende der Novelle aber deutet in einer überraschenden Wendung die Möglichkeit eines neuen Glücks an: „[...] und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen" (23). Diesem rätselhaften, ja abgründigen Satz wird nachzugehen sein. Er verweist auf einen Sinn, der im Erzählzusammenhang nicht offen zutage liegt. Zuvor aber soll der Zusammenhang der Geschichte noch näher betrachtet werden. Wir fragen nach der Natur der im Erzählprozeß auseinander hervorgehenden Konzeptionen von (llück und Unglück und nach der Weise ihres Übergangs. Glück ist in Kleists Novelle eine vorgesellschaftliche oder außergesellschaftliche Erfahrung. Das Glück Jeronimos und Josephes ist zuerst ein (;lück außerhalb und gegen die gesellschaftliche Ordnung, es ist dann eine Erfahrung ursprünglicher Harmonie im Ausnahmezustand der Verwirrung aller gesellschaftlichen Verhältnisse. Und am Ende der Novelle erscheint die Möglichkeit eines Glücks, das der Abglanz einer außerordentlichen vergangenen Erfahrung ist. Die Erfahrung des Glücks ist aber zugleich der trügerische Schein der Versöhnung von Kultur und Natur, die unversöhnlich auseinandergerissen sind. Die Erfahrung des Unglücks Ii.ii gleichfalls mehrfache Wurzeln: Es entspringt einer gesellschaftlichen ()i diuing, die gegen den, der sich gegen sie vergeht, Unglück als Strafe verhangt, es ist die Folge einer Naturkatastrophe von anarchischer Ge-w.ih imd schließlich das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entfesselung