stierle kleist 03 (3509x2554x256 jpeg) Karlheinz Stierle (Kommunikationstheorie) der Leidenschaften, die sich mit naturhafter Gewalt Bahn bricht, Unglück steht im Zeichen der Unversöhntheit. Auch das Erdbeben wird als ein solches Zeichen interpretiert und dadurch Anstoß eines neuen Unglücks. So entspringt der alle Ordnung zerbrechenden Gewalt des Erdbebens sowohl die Erfahrung eines extremen Glückszustandes wie die des zerstörenden, unerhörten Unglücks. Glück und Unglück folgen in Kleists Novelle aufeinander als jähe Umschwünge von der Gewalt erdbebenhafter Erschütterungen. Der plötzliche Wechsel bestimmt die Natur von Kleists Novelle ebenso wie die Festlegung der narrativen Achse auf die grundlegende Entgegensetzung von Glück und Unglück. Wesentlich für die handlungstragenden Umschwünge ist das Moment unvorhersehbarer Gewalt. Doch auch die vorhersehbare Gewalt des Rechts wird in der Perspektive Jeronimos zur unvorhersehbaren: Er „wollte die Besinnung verlieren, als er diese ungeheure Wendung der Dinge erfuhr" (12). Die Dynamis dieser Wendungen ist in wesentlichen Momenten der Geschichte der Zufall.5 „Durch einen glücklichen Zufall" (11) finden die beiden Liebenden sich wieder, so daß das Unheil beginnen kann. Auch Josephes Verurteilung scheint Jeronimo ein Zufall, eine „ungeheure Wendung". Doch ist diese nur das Vorspiel der wahrhaft ungeheuren Wendung, die darauf folgt, des Erdbebens, das nicht nur die Stadt in Trümmer sinken läßt, sondern zugleich die Liebenden im Augenblick ihres bevorstehenden Todes befreit. Nur durch eine „zufällige Wölbung" des entgegenstürzenden Hauses wird das Gefängnis vor der gänzlichen Zertrümmerung bewahrt. Von da ab scheint ein sinnreicher Zufall mit tödlicher Logik und traumhafter Sicherheit die Schritte der Liebenden zu lenken. Daß sie sich mit dem gemeinsamen Sohn wiederfinden, macht erst den ungeheuren, eingreifenden zu einem „glücklichen Zufall". Daß die Familie Don Fernandos Josephe um eine Gefälligkeit bittet, der eine Zuneigung entspringt, ist ein Zufall, der den ungeheuren neuen Zufall Schritt für Schritt herbeiführt, daß jene, die sich gefunden haben, schon einen Tag später von einem aufgepeitschten Menschenhaufen vernichtet werden, in dem eine elementare anarchische Leidenschaft sich gewaltsam entlädt. Der Zufall als Prinzip, das die Prägnanz der Geschichte, ihre genaue Bezüglichkeit stiftet, ohne daß doch diese Prägnanz schon eine Prägnanz des Sinns sein könnte, verweist über die konkrete Struktur von Kleists Geschichte hinaus auf ein gattungsbestimmendes Darstellungsprinzip, das der Novelle als einer eigenen Form erzählerischer Gestaltung. Seit Boccaccio die Novelle zur Kunstform steigerte, ist für diese Erzählform das Verhältnis von Zufall und Prägnanz der Erzählfiguration und die Ambiguität dieses Zufalls zwischen Sinn und Kontingenz wesentlich. In den Erzählfiguren der Novelle erscheint die Welt des Alltags in plötzlicher Dichte als Ort eines Spielraums zwischen Kontingenz und höherem Die narrative Struktur von Kleists ,Das Erdbeben in Chili' Sinn. Prägnanz und Ambiguität sind die beiden Momente, die die Formidee der Novelle wesentlich bestimmen und mit ihr die prinzipiell zweigipflige Struktur der Novelle, deren beide Hauptmomente sich als ein durch Zufall vermitteltes prägnantes Verhältnis darstellen. Mit Hinblick auf diese Momente hat die Novelle immer neu die Tendenz, zur exemplarischen' Novelle zu werden, die Formidee der Novelle selbst zur Darstellung zu bringen. Dies gilt für Kleists Das Erdbeben in Chili in besonderem Maße. Durch den ungeheuren Zufall des Erdbebens werden die liebenden dem Gericht entrissen, für einen traumhaften Zeitraum der Wirklichkeit zurückgegeben und dann doch Opfer einer Rache, bei der olfenbleibt, ob sie göttliche Rache, teuflische Rache oder der bloß faktische Ausbruch einer Massenhysterie ist. Der christlich-katholische Sinn-! Horizont ist in der Geschichte allgegenwärtig und dennoch so, daß ungewiß bleibt, ob er wirklich noch ein abschließender Sinnhorizont sein kann. Eher wird er als zitierter, historisch vergangener Sinnhorizont präsent. Die Geschichte selbst steht quer zu allen religiösen Sinngebungen wie ein rätselvoller, beunruhigender Findling in der unendlichen Vielfalt der Lebensschicksale.6 Kleists Novelle erfüllt das Formgesetz der Novelle, wie es in Boccaccios großen Novellen erstmals eindeutig greifbar ist, aber sie geht in der Struktur der Boccaccioschen Novelle nicht auf. Diese ist wesentlich best immt durch die lineare Prägnanz einer Ereignisfolge und die Ambivalenz von Prägnanz und Sinn. Kleists Novelle baut auf dieser Struktur auf, ihr eigenes, neues Thema aber ist das Bewußtsein, das dieser Struktur entspringt. Die Rätselhaftigkeit des Sinns der Geschichte wird zur Rätselhaftigkeit des Bewußtseins, das in die Geschichte verstrickt ist. Die Er-I ahrung des Bewußtseins unter extremen Bedingungen ist ein Thema, das in Kleists Werk allgegenwärtig ist. So ist auch hier nicht mehr die Erzählung selbst das Telos der Darstellung, sondern die im Fortgang der Erzählung sich entbindenden Formen des in extremen Situationen stehenden, mit einem Maximum psychischer Energie besetzten Bewußtseins. Für diese Dimension von Kleists Novelle ist der letzte Satz ein verborgener Fingerzeig: „Don Fernando und Donna Elvira nahmen hierauf den kleinen Fremdling /lim l'flegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war ihm fast, als müßte er sich freuen." (23) Dieser wahrhaft rätselvolle Satz faßt die Geschichte eines Bewußtseins zusammen, sie ist der Zielpunkt dieser Geschichte. Zugleich verweist sie ml ihn Text zurück als Vorzeichen, unter dem eine zweite Lektüre notwendig wird. Erst wenn die Rätselhaftigkeit dieses Satzes erfaßt und zur Frage an den Text geworden ist, welche Erfahrung des Bewußtseins sich hier vollendet, kann eine Perspektive für jene Lektüre gefunden werden,