stierle kleist 05 (3508x2552x256 jpeg) 62 Karlheinz Stierle (Kommunikationstheorie) das Unterste zuoberst kehrt, so ist auch im Bewußtsein das Unterste zuoberst gekehrt, kann die Vorzeit zur Erfahrung werden. Die Intensität dieses traumatisch gesteigerten Zustands findet am darauffolgenden Tag eine weitere Steigerung. Waren es zunächst nur die Liebenden mit ihrem besonderen, außerordentlichen Schicksal, denen die Erfahrung einer paradiesischen Vorzeit zuteil wurde, so scheint nun die ganze Gesellschaft der aus der Stadt Geflüchteten im Zeichen einer neuen Wirklichkeit zu stehen, die etwas Uranfängliches hat, als hätte die Chocerfahrung eine verschüttete mythische Wirklichkeit freigelegt. Hier beginnt jene Geschichte der Verbindung beider Familien, die zum tragischen Verhängnis wird, aus dem dennoch so etwas wie der Abglanz eines paradiesischen Glücks entspringt. Als Don Fernando Josephe bittet, anstelle der verletzten Mutter deren Söhnchen Juan zu stillen, ist diese von der Freundlichkeit der Gruppe tief gerührt. Es scheint, als sei die Vergangenheit, auch das vergangene Vergehen, vergessen, als seien die Menschen zu einem der Vorzeit zugehörigen Ursprung der Gesellschaft zurückgekehrt. Der Zusammenhang von Erdbeben, Choc, Versöhnung und paradiesischer Außerzeitlichkeit wird vom Erzähler selbst ausdrücklich gemacht: „In Jeronimos und Josephens Brust regten sich Gedanken von seltsamer Art. Wenn sie sich mit so vieler Vertraulichkeit und Güte behandelt sahen, so wußten sie nicht, was sie von der Vergangenheit denken sollten, vom Richtplatze, von dem Gefängnisse, und der Glocke; und ob sie bloß davon geträumt hätten? Es war, als ob die Gemüter, seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären. Sie konnten in ihrer Erinnerung nicht weiter, als bis auf ihn, zurückgehen." (16) Die christliche Paradiesesvorstellung wird hier überlagert durch die Vorstellung von der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters ohne Klassen und ohne Gesetz. Auf den Fluren liegen die Geflohenen beisammen, ohne Standesgrenzen und ohne Unterschiede des Rangs. So scheint das Bild jenes goldenen Zeitalters Wirklichkeit geworden zu sein, das Ovid in seinen Metamorphosen entworfen hat: „Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, Sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. Poena metusque aberant, nec verba minantia fixo Aere ligabantur, nec supplex turba timebat Iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti."8 In dieser träumerischen Zeit des wiedergefundenen Ursprungs scheint das Gesetz keine Gewalt mehr zu haben, scheinen die Menschen aus der Unmittelbarkeit freundlicher Hinwendung zu leben. So macht Jeronimo jetzt, nachdem seine eigene innere Empfindung sich am Zustand der Gesellschaft selbst zu bestätigen scheint, sich Hoffnungen darauf, daß bei Die narrative Struktur von Kleists ,Das Erdbeben in Chili' dem „Umsturz aller Verhältnisse" sogar die Versöhnung des Königs zu erwarten sei. Vorsichtiger, hofft Josephe auf die Versöhnung mit ihrem Vater und rät, das „Versöhnungsgeschäft" mit dem Vizekönig schriftlich zu betreiben. Die Freundlichkeit, mit der die Familie Don Fernandos sich den Liebenden und ihrem Kind zuwendet, ist gleichsam schon die Wirklichkeit der Versöhnung. Ihr Zeichen ist die Verbindung, die darin sich knüpft, daß Josephe dem kleinen Juan ihre Brust gibt. Der folgende, tragische Fortgang der Geschichte steht im Zeichen dieser Versöhnung, deren my-iIiischer und tragischer Gehalt gleichsam in einer Choreographie des bewußtlosen Gangs ins Verhängnis zur Darstellung kommt. Als am Nachmittag die Nachricht sich verbreitet, in der Dominikanerkirche werde eine Messe gelesen, und ein Strom von Menschen dorthin aufbricht, wollen auch die jetzt vereinigten Familien Don Fernandos und des jungen, noch unverheirateten Paars an der Feierlichkeit teilnehmen. Einzig Don-n,i Elisabeth, die Schwägerin Fernandos, hat eine träumerische Erfahrung von der Kontinuität der geschichtlichen Welt, der Unwiederholbarkeit jener paradiesischen Vorwelt, die im Bewußtsein als Chocerfahrung Wirklichkeit geworden ist. Für Donna Elisabeth ist der Vorhang, der Gegenwart und Vergangenheit kategorial zu trennen scheint, durchlässig. Schon bei der ersten Begegnung mit Josephe ist sie die einzige, die sich wie von fern des Zusammenhangs mit der im Schlag des Erdbebens versunkenen Welt zu entsinnen scheint: „Nur Donna Elisabeth [...] ruhte zuweilen mit träumerischem Blicke auf Josephen; doch der Bericht, der über irgend ein neues gräßliches Unglück erstattet wnrd, riß ihre, der Gegenwart kaum entflohene Seele schon wieder in dieselbe turück." (17) So ist sie es auch, die die Gefahr erkennt, die den im zauberischen Zustand der Glückseligkeit Befangenen nicht erkennbar ist. Der Zug bricht schließlich auf, trotz eines letzten Versuchs von Donna Elisabeth, das Unheil abzuwenden, dem der Zug der beiden Familien sich nun bewußtlos, gleichsam mit der Grazie von Marionetten nähert. Daß der kleine Iii.iii so sehr nach Josephe verlangt, daß er mitgenommen wird, ist ein Anzeichen, wie tief die „paradiesische" Verbindung der beiden „Familien" sich schon verwirklicht hat. Josephe trägt den kleinen Juan, Don Fernando reicht Josephe den Arm, Jeronimo, der seinen Sohn trägt, führt Donna Constanze, Fernandos zweite Schwägerin. Jeronimo und |osephe sind, wie die Menschenmenge, von der Gewalt der Orgel ergrif-lin" und bereit, dem versöhnenden Gott mit der Inbrunst ihrer Herzen zu danken. Der Gott aber, den der Chorherr, der die Predigt hält, beschwört, ist kein Gott der Versöhnung, sondern ein Gott der Strafe und dei Rache. Das Erdbeben wird zum Zeichen seines Weltgerichts. Und so