stierle kleist 07 (3508x2552x256 jpeg) 6 t Karlheinz Stierle (Kommunikationstheorie) des Werks exemplarisch verwirklicht. Die Werkhaftigkeit dieser Novelle ragt gleichsam in die Dimension des Imaginären hinein, die sie freisetzt, und gibt ihr die bestimmende Kontur. Geschichte und Diskurs stehen in Kleists Novelle im Verhältnis der Steigerung, zugleich aber auch in einer Spannung, die sich mit Hölderlin als ,Gegenrhythmus' bezeichnen ließe. So eindeutig, ja kategorial die Geschichte selbst in ihren Phasen artikuliert ist, so wenig folgt der Diskurs dieser Artikulation. So bindet er zusammen, was von der Sache her geschieden zu sein scheint.11 Daher das Drängende, die atemlose Bewegung, die der Geschichte ihre Dramatik gibt, angefangen mit der narrativen Inversion zu Beginn der Novelle. Im Gegenspiel von Geschichte und Artikulation des Diskurses wird das Geschiedene und gegeneinander Abgesetzte in eine Bewegung hineingerissen. So stehen Geschichte des Verhängnisses, Vorgeschichte, das Erdbeben, die Suche, das Wiederfinden, die zweite, nachgeholte Geschichte, die Erfahrung des wiedergefundenen Glücks, in einer einzigen narrativen Sequenz. Der erste Einschnitt liegt zwischen Einschlafen und Erwachen des Paares, der zweite Einschnitt da, wo nach der vollkommenen Glückserfahrung der Versöhnung der verhängnisvolle Entschluß gefaßt wird, gemeinsam am Gottesdienst teilzunehmen. Von da ab vollzieht alles sich in atemloser Konsequenz. Der Diskurs überspringt auch noch jene tiefe Zäsur, die der Sinn nach dem Ende der Raserei setzt, und führt hinüber in einem narrativen Spannungsbogen bis zu dem letzten Satz, der den Leser, der der Verwunderung fähig ist, zurückverweist auf das Gelesene. Dieser makrostrukturellen Ordnung entspricht auf der Ebene der textuellen Mikrostruktur eine Stilfigur, die eigene Beachtung verlangt. Die Zeiterfahrung, die in Kleists Dramen und Novellen immer neu zur Darstellung kommt, ist die der Plötzlichkeit. Kleists imaginäre Zeit ist eine Zeit der Diskontinuität, des Wechsels zwischen Momenten von radikaler Andersheit. Jeder Augenblick in der imaginären Folge der Kleist-schen Erzählfigur ist unvordenklich, läßt im Wechsel die alltägliche Erwartung einbrechen'. Die Rätselhaftigkeit des Spontanen im Kontext eines Fortgangs ist von Kleist selbst am Beispiel der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden' am tiefsinnigsten bedacht worden. Der Sprechende spricht im Fortgang sprachlicher Kontinuität, während in dieser selbst das Rätsel des reinen Jetzt, die abgründige Sicherheit des hervorbrechenden Gegenwärtigen zur Erscheinung kommt. In Das Erdbeben in Chili ist die temporale Konjunktion ,als' das Medium, in dem die spezifische Zeiterfahrimg dieser Novelle zum Ausdruck kommt. Das ,als' ist immer neu ein Anzeichen, daß der Boden des Sinns und der Verläßlichkeit schwankt. Die Rekurrenz von Sätzen, in denen zwei Zeitmomente durch das ,als' miteinander verknüpft werden, die un-verknüpfbar eigenen Wirklichkeitsbereichen angehören, bestimmt die narrative ,Körnung' der Zeit. „Es war am Fronleichnamsfeste, und die feierliche Prozession der Nonnen, welchen die Novizen folgten, nahm eben ihren Anfang, als die unglückliche Josephe, bei dem Anklänge der Glocken, in Mutterwehen auf den Stufen der Kathedrale niedersank." (11) In das Alltägliche, Gewohnte, bricht vermittelt durch die Konjunktion ,als' das Ungewohnte herein. „Jeronimo [...] wollte die Besinnung verlieren, als er diese ungeheure Wendung der Dinge erfuhr." (12) Das ,als' ist der Ausdruck, der immer neu die ungeheure Wendung der Dinge signali- „Eben stand er, wie schon gesagt, an einem Wandpfeiler, und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an einer Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefugt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub." (12) Gegen die umständlich mit Häufung der Details entwickelte dramatische Augenblickssituation setzt sich der folgende Augenblick in seiner radikalen Unvorhersehbarkeit ab. Auch im folgenden wird die subjektive Erfahrung des unvordenklich Neuen immer wieder mit der Leitfigur des .als' verbunden. Mit ,als' wird die Sequenz eingeleitet, die zur Kirche führt und ebenso die Ankunft in der Kirche, wie schließlich die verhängnisvolle Wendung in der Predigt des Chorherren. „Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieser Predigt schon ganz /.firissenen Herzen unserer beiden Unglücklichen, als der Chorherr bei dieser (.degenheit umständlich des Frevels erwähnte, der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war [...]" (20). Erst im letzten Satz ist das drängende, verhängnisvolle, weitertreibende ,als' ersetzt durch die beruhigte, in der ruhigen Zeit nach dem Ereignis stehende Temporalkonjunktion ,wenn': „Und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßte er sich freuen." Die Konjunktion ,als' verknüpft zwei temporale Momente zu einer syntaktischen Figur, der auf der Ebene der Geschichte der Hiat diskontinuierlicher Wirklichkeiten entgegensteht, die dennoch sich zum Zusammenbang einer sich steigernden Folge ungeheurer Wendungen zusammenschließen. Die Trennung der narrativen Einheiten vollzieht sich innerhalb des blockhaft zusammengeschlossenen Diskurses und dort in-nei halb des Satzes, nicht zwischen den Sätzen. Gerade so aber entsteht je-iii narrative Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, die Kleists Novelle ihre erzählerische < lewalt gibt.