stierle kleist 09 anm (3511x2556x256 jpeg) Anmerkungen Karlheinz Stierle, Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists ,Das Erdbeben in Chili' 1 Die theoretischen Voraussetzungen dieser Untersuchung sind expliziert in dem Kapitel .Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte' meines Buchs Text als Handlung, München 1975, S.49-55, sowie in dem Aufsatz: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie', in: J.Kocka, Th.Nipperdey (Hgg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, S. 85-118. Eine Konkretisation am Beispiel findet sich in meinem Aufsatz: Die Struktur narrativer Texte. Am Beispiel von J.P.Hebels Kalendergeschichte ,Unverhofftes Wiedersehen', in: H.Brackert, E.Lämmert (Hgg.), Tunkkolleg Literatur I, Frankfurt 1977. 2 Vgl. Verf., Text als Handlung und Text als Werk, in: M.Fuhrmann, H. R Jauß, W. Pannenberg (Hgg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im Gespräch, Poetik und Hermeneutik IX, München 1981, S. 537-545. 3 Uber das Wechselverhältnis von Thema und Horizont als Voraussetzung literarischer Erfahrung vgl. Verf., Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? in: Poetica 7 (1975), S. 345-387. 4 Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der zum ,Erdbeben in Chili' vorliegenden Literatur ist in der folgenden Betrachtung nicht möglich. Unter den vorhandenen Werk-Interpretationen seien insbesondere hervorgehoben: W.Silz, Das Erdbeben in Chili, in: W.Müller-Seidel (Hg.), Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, Wege der Forschung CXLVII, Darmstadt 1967, S.367—411 (ursprünglich in WS., Heinrich von Kleist. Studies in bis Works and Literary Character, Pennsylvania 1961), J.M.Ellis, Kleist's ,Das Erdbeben in Chili', in: Papers of the English Goethe Society 39 (1962-63), S. 10-55 und B.von Wiese, Die deutsche Novelle, Bd.II. Düsseldorf 1965, S. 53—70: Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili. 5 Zum Zufall in Kleists Novelle vgl. H.P. Herrmann, Zufall und Ich. Zum Begriff der Situation in den Novellen Heinrich von Kleists (1961), in: W.Müller-Seidel (Hg.), Heinrich von Kleist, S. 367-411. 6 Die Ambiguität des Zufalls zwischen Kontingenz und religiösem Sinn betont insbesondere B.von Wiese (a.a.O., S.60). 7 Auf das Unwirkliche dieser Erfahrung verweist auch W.Silz, a.a.O., S.361: „Dies ist das Wunschbild eines neuen Paradieses, genauso illusorisch und unbegründet wie das idyllische Rosenfest in Penthesilea oder in Kleists Leben die scheinbare Besserung seiner Mitwelt nach dem Unglück von Jena." W.Müller-Seidel hat in seinem Buch Versehen und Erkennen (Wien 1961) die „Struktur des Als-ob" der Glückserfahrung im Erdbeben von Chili hervorgehoben, ohne indes die Begründung dieser Struktur in der Choc-Erfahrung zu sehen. Auch von Wiese, der in seiner Studie von einem „Märchen" (S.60) und einer „Utopie des reinen Daseins" (S. 65) spricht, geht daran vorbei. 8 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, hg. und übersetzt von H. Breitenbach, Zürich 1958, S.9 f.: Stierle (Kommunikationstheorie) 177 Und es entstand die erste, die goldene Zeit: ohne Rächer, Ohne Gesetz, von selber bewahrte man Treue und Anstand. Strafe und Angst waren fern; kein Text von drohenden Worten Stand an den Wänden auf Tafeln von Erz; es fürchtete keine Flehende Schar ihren Richter: man war ohne Rächer gesichert. 9 Die Erschütterung des Bewußtseins durch die Gewalt sakraler Musik ist das Thema von Kleists Novelle Die beilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. 10 Vgl. Voltaire, Dictionnaire philosophique, Art. .Fanatisme', texte etabli par RNaves, Paris 1961, S. 198: „Que repondre ä un homme qui vous dit qu'il aime mieux obeeir ä Dieu qu'aux hommes, et qui, en consequence, est sür de meriter le ciel en vous egorgeant?" An dieser wie an anderen Formen des die Sicherungen der Vernunft durchbrechenden Verhaltens nimmt Kleist aber ein ganz anderes als aufklärerisches Interesse. Es ist dem Rätsel der menschlichen Spontaneität zugewandt. 11 Die folgenden Bemerkungen zum Verhältnis von Gliederung des Diskurses und Gliederung der Geschichte beziehen sich auf die Textgestalt der von Kleist selbst veranstalteten Buchausgabe bei Reimer (Erzählungen, Bd. 1, Berlin 1810). Die Erstveröffentlichung der Novelle in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände, Nr.217-221 (10.-15.September 1807) folgt in der Textgestalt noch einer traditionellen Logik der Sinneinschnitte des Textes nach den Sinneinschnitten der Geschichte. Durch die neue Textform macht Kleist eine Tendenz sinnfällig, die im sprachlichen Duktus seines Erzählens schon angelegt ist. In seiner kritischen Ausgabe hat H. Sembdner die neue Textgestalt als einen Eingriff Reimers zu deuten gesucht, der, um nicht einen neuen Halbbogen anbrechen zu müssen, die Absätze der ursprünglichen Fassung beseitigt habe: „Die rigorose Beseitigung der Absätze wurde also lediglich aus Ersparnisgründen vom Verleger Reimer veranlaßt, und es besteht kein Grund, dieses Verfahren beizubehalten." (Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 902). Diese Erklärung, für Sembdner Grund, die ursprüngliche Textgestalt des ,Morgenblatts' wiederherzustellen, scheint indes wenig stichhaltig. Eine solche Textzerstörung hätte Kleist wohl kaum hingenommen. Vielmehr entspricht die kühne Spannung zwischen Geschichte und Diskurs zu genau Kleistschem Stil, als daß ein sachfremder verlegerischer Eingriff angenommen werden müßte. 12 Baudelaire, Salon de 1859, in: Oeuvres completes, hg. von Y.-G.Le Dantec und C.Pichois, Paris 1961, S. 1043. „Ein gutes Gemälde, wenn es dem Traum getreu und ebenbürtig sein soll, der es hervorgebracht hat, muß entstanden sein wie die Welt. Wie die Schöpfung, die uns erscheint, das Ergebnis mehrfacher Schöpfungen ist, von denen die vorausgehenden jeweils durch die folgende vervollständigt werden, so besteht ein harmonisch vollendetes Bild aus einer Serie übereinandergelagerter Bilder, wobei jede Bildschicht dem Traum mehr Wirklichkeit gibt und ihn der Vollendung eine Stufe näherbringt."