stierle kleist 04 (3508x2552x256 jpeg) 60 Karlheinz Stierle (Kommunikationstheorie) die über die narrative Bewegung hinaus Kleists Novelle als Bewegung des erschütterten Bewußtseins begreift. Wir müssen die rätselhafte Freude darüber, wie Don Fernando Philipp ,gewann', im Auge behalten als den Zielpunkt der Novelle, wenn wir im folgenden die Novelle als Geschichte des erschütterten Bewußtseins begreifen wollen. Das Erdbeben als Metapher für das ,Beben des Bewußtseins', aber zugleich als sein realer Grund, bestimmt sowohl die metaphorische wie die metonymische Struktur der Geschichte. Dreifach wird das Beben des Bewußtseins als Erfahrung Jeronimos dargestellt. Jeronimo „wollte die Besinnung verlieren", als er die Nachricht von der bevorstehenden Hinrichtung Josephes empfängt. Er selbst will sich in dem Augenblick den Tod geben, als das Erdbeben die Stadt zum Einsturz bringt. Im Augenblick dieser physischen Erschütterung, der die psychische gleichsam materialisiert, regen sich nur noch die unbewußten Lebenstriebe, die die Abwehr des Todes organisieren. „Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewußtsein zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler [...]" (12). „Besinnungslos" kann er sich vor dem herandrängenden Verderben retten, ja gerade daß er „besinnungslos" ist, d.h. in einem psychischen Zustand, in dem unmittelbares, ursprüngliches Erfassen der Wirklichkeit an die Stelle des Bewußtseins tritt, ist seine Rettung. Jeronimo pariert die Gefahren der in sich zusammenstürzenden Stadt mit der Sicherheit einer gleichsam bewußtlosen Bewußtheit, die der Sicherheit des Bären in Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater vergleichbar ist. Jeronimos Geschichte ist die Geschichte beständig sich verändernder extremer Formen des Bewußtseins, aus denen jeweils mit dem Untergang eines Bewußtseins ein neues Bewußtsein geboren wird. Endlich, als er sich aus der untergehenden Stadt gerettet hat, versinkt er in der „tiefsten Bewußtlosigkeit". Er erwacht nicht nur zu neuem Bewußtsein, sondern gleichsam zu einer neuen Existenz, nachdem der Tod, den er sich selbst zufügen wollte, und der Tod, der ihn in der Stadt immer neu bedrohte, an ihm vorübergegangen sind. Dies neue Bewußtsein aber ist der Wirklichkeit des ihn umgebenden Elends der aus der Stadt Geflohenen seltsam entrückt. „Er befühlte sich Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem Zustande machen sollte, und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte, und sein Auge sich nach allen Richtungen über die blühende Gegend von St. Jago hinwandte." (13) Zwischen der Gegenwart des neuen Zustands und der Vergangenheit klafft eine Lücke der Erinnerung. Erst als sein Blick auf den Ring an seinem Finger fällt, erinnert er sich wieder an Josephe, nicht aber an sein Kind, das ihm seltsam ungegenwärtig bleibt. Jetzt, wo er sich wieder an Die narrative Struktur von Kleists ,Das Erdbeben in Chili' 61 das Geschehene erinnert, wird Gott, dem er eben noch seine wunderbare Errettung verdanken wollte, ihm zu einem „fürchterlichen Wesen". Als aber Jeronimo Josephe in einem abgelegenen Tal wiederfindet, beginnt für die beiden eine Erfahrung, deren außerordentliche, beseligende Intensität die Erfahrung des Paradieses ist. Auch für Josephe, deren Geschichte vom Erzähler nach der Wiederbe-Ci'gnung nachgeholt wird, ist die Erfahrung bis zu diesem Augenblick eine Erfahrung der Grenzen des Bewußtseins, wenngleich in anderer Weise. Zwar ist auch Josephe im Augenblick des Erdbebens bewußtlos in ihrer Flucht, „doch die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kiemer, hülfloser Knabe zurückgeblieben war" (14). Ihr erster Gedanke ist nicht, sich selbst, sondern das Kind zu retten. Da ihre Flucht eine Rettung des Kindes ist, ist sie auch ein Akt der Besonnenheit und des Bewußtseins. Doch noch ehe sie mit dem Kind ins Offene flieht, vergißt sie nicht, in einem Akt liebevoller Pietät der Äbtissin die Augen zu schließen, die von den einstürzenden Mauern des Klosters erschlagen worden war. Erst als sie das Gefängnis Jeronimos sieht, droht sie das Bewußtsein zu verlieren, und einzig die Gefahr, in der sie ihr Kind weiß, gibt ihr neue Entschlußkraft. Das Glück des Wiederfindens ist auch für sie das Glück eines wiedergefundenen Paradie- „Sie ging, weil niemand kam, und das Gewühl der Menschen anwuchs, weiter, id kehrte sich wieder um, und harrte wieder; und schlich, viel Tränen vergie-•irI, in ein dunkles, von Pinien beschattetes Tal, um seiner Seele, die sie entflo-•ii glaubte, nachzubeten; und fand ihn hier, diesen Geliebten, im Tale, und Se-•keit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre." (15) Alles liegt daran, dieses nicht als einen banalen Vergleich, sondern als in Ausdruck einer unergründlichen Erfahrung zu begreifen. Die darauf >lgende Passage, eine der innigsten in deutscher Sprache, macht das Bild Jens in einer reichen Fülle von Konnotationen noch gegenwärtiger. Venn hier die Landschaft im Bild des Gartens Eden erscheint, so nicht ur wegen ihrer idyllischen Schönheit, sondern weil sie zur Projektion eies Bewußtseins geworden ist, das durch einen Choc tiefgreifend verän-crt wurde. Die Erfahrung Edens ist eine traumatische Erfahrung.7 Die Wahrheit des Mythos erscheint als traumatische Wahrheit der Erfah-iiiig des Bewußtseins von sich selbst. Das Bewußtsein findet durch die rschütterung, die zugleich eine physische Erschütterung wie eine Er-irhütterung des Bewußtseins selbst ist, zu der Ahnung einer verschlosse-cn, verlorenen, ursprünglichen Seligkeit zurück. Es scheint, als würden im die Pforten des Paradieses geöffnet. In diesem Zustand leben die Lie-lenden abgetrennt von der Vergangenheit in einer Außerzeitlichkeit, die Ugleich Vorvergangenheit ist So wie das Erdbeben alles umstürzt und