Aleida Assmann Soziales und kollektives Gedächtnis 1.Unterscheidungen Wenn wir über das soziale und kollektive Gedächtnis sprechen, kommen wir dabei nicht ohne das individuelle Gedächtnis aus. Wie hängen diese Gedächtnisformen zusammenhängen? Ich beginne mit dem Hinweis, daß wir als Individuen zwar ‚unteilbar’ sein mögen, aber dennoch keineswegs selbstgenügsame Einheiten sind. Sie sind immer schon Teil größerer Zusammenhänge, in die sie eingebettet sind und ohne die sie nicht existieren könnten. Jedes ‚Ich’ ist verknüpft mit einem ‚Wir’, von dem es wichtige Grundlagen seiner eigenen Identität bezieht. Auch dieses ‚Wir’ ist wiederum keine Einheitsgröße, sondern vielfach gestuft und markiert zum Teil ineinander greifende, zum Teil disparate und nebeneinander stehende Bezugshorizonte. Die unterschiedlichen Wir-Gruppen, mit denen ein Individuum sich verbindet, spiegeln ein Spektrum heterogener Mitgliedschaften, die mehr oder weniger exklusiv sind. Der Eintritt in diese Wir-Gruppen erfolgt zum Teil unwillkürlich (das heißt wörtlich: ohne eine bewusste Wahl) wie im Falle der Familie, der Generation, der Ethnie oder auch der Nation, in die sie hineingeboren werden. Neben dem Einstieg durch Geburt gibt es Mitgliedschaften, in die man durch eigene freie Wahl sei es in Übereinstimmung mit Fähigkeiten und Interessen eintritt (wie im Falle eines Chors oder einer politischen Partei), sei es durch Leistung und Nominierung (wie im Falle von Akademien und Orden) oder auch durch Zwang (im Falle der allgemeinen Wehrpflicht für bestimmte männliche Jahrgänge). Die Wir-Gruppen, in denen wir uns als Individuen vorfinden, in die wir hineinwachsen und die wir selber wählen und aufbauen, sind für unser Leben von unterschiedlicher Bedeutung und Dauer. Die These ist, daß sich das Gedächtnis des einzelnen im Austausch mit solchen WirGruppen bildet, die zum Teil unverbunden nebeneinander stehen, zum Teil ineinander greifen und sich gegenseitig verstärken. Was sind nun die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem sozialen und dem kollektiven Gedächtnis? In der kleinen Wir-Gruppe der Familie oder dem Freundeskreis wie in der großen WirGruppe der Nation festigen sich Erinnerungen durch ihren emotionalen Gehalt. 1 Erinnert wird, was als auffällig wahrgenommen wurde, was einen tiefen Eindruck gemacht hat, was als bedeutsam erfahren wurde. Emotionen sind die Aufmerksamkeitsverstärker, die auch zur Stabilisierung der Erinnerung beitragen. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls, daß die Erinnerungen, die ausgewählt werden, die Identität der Gruppe stärken, und die Identität der Gruppe die Erinnerungen befestigt; mit anderen Worten: das Verhältnis zwischen Erinnerungen und Identität ist zirkular. Der wichtigste Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis besteht darin, daß die Erinnerungen im sozialen Gedächtnis kurzfristig sind und sich nach einer gewissen Zeit wieder auflösen. Im Gegensatz zum sozialen Gedächtnis, das notwendig ephemer ist, ist das kollektive Gedächtnis stabil und darauf angelegt, längere Zeiträume zu überdauern. Dieser Unterschied zwischen einem befristeten und einem entfristeten Gedächtnis hängt mit den Gedächtnismedien zusammen. Das wichtigste Medium des sozialen Gedächtnisses ist das Gespräch. Dieses Gedächtnis lebt vom und im kommuniktiven Austausch am Leben. Solange eine Gruppe mit einer gemeinsamen Erfahrungsbasis sich über diese Erfahrungen aus ihren verschiedenen Perspektiven heraus immer wieder austauscht, solange besteht ein soziales Gedächtnis. In solche Gruppen wächst man hinein und stirbt aus ihnen heraus. Mit demTode der lebendigen Träger löst sich ein soziale Gedächtnis immer wieder auf. Das Medium des kollektiven Gedächtnisses ist dagegen viel stärker geformt als das soziale Gedächtnis. Peter Novick schreibt: „Das kollektive Gedächtnis vereinfacht; es sieht die Ereignisse aus einer einzigen, interessierten Perspektive; duldet keine Mehrdeutigkeit; reduziert die Ereignisse auf mythische Archetypen.“1 Ich füge hinzu: im kollektiven Gedächtnis werden mentale Bilder zu Ikonen und Erzählungen zu Mythen, deren wichtigste Eigenschaft ihre Überzeugungskraft und affektive Wirkmacht ist. Solche Mythen lösen die historische Erfahrung von den konkreten Bedingungen ihres Entstehens weitgehend ab und formen sie zu zeitenthobenen Geschichten um, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wie lange sie weitergegeben werden, hängt davon ab, ob sie gebraucht werden, d.h.: ob sie dem gewünschten Selbstbild der Gruppe und ihren Zielen entsprechen oder nicht. Ihre Dauer wird nicht dadurch begrenzt, daß die Träger wegsterben, sondern dadurch, daß sie dysfunktional und durch andere ersetzt werden. 1 Peter Novick, Nach dem Holocaust, Frankfurt a.M. 2003, 14. 2 Vom sozialen und kollektiven Gedächtnis können wir ferner das kulturelle Gedächtnis unterscheiden, das ebenfalls ein langfristiges Gedächtnis ist. Die Dauer des kulturellen Gedächtnisses beruht auf Institutionen wie Bibliotheken, Museen und Archiven, die auf bestimmte Entscheidungen zurückgehen und solche bestätigen und weiter entwickeln. Mit diesen Institutionen sind spezialisierte Berufsfelder wie Kuratoren, Bibliothekare und Historiker verbunden, die die materiellen Bestände einer Kultur konservieren und deuten, und deren Beruf deshalb im weiteren Sinne die Erinnerung ist. Emotionale Ladung, Prägnante Gestaltung und institutionelle Festigung sind somit die unterschiedlichen Stufen, auf denen das soziale, kollektive und kulturelle Gedächtnis aufruht. 2. Formen der Teilhabe Auf welche Weise hat das Individuum an diesen verschiedenen Gedächtnisformen teil? Wie kommt man als Individuum zu einem sozialen, zu einem kollektiven, zu einem kulturellen Gedächtnis? Zu einem sozialen Gedächtnis kommt man unweigerlich dadurch, daß man geboren wird und in eine menschliche Gemeinschaft hineinwächst. In dem Maße wie wir sprechen lernen, lernen wir auch die Interaktionsform bzw. den Sprechakt des ‚memory talk’ oder ‚conversational remembering’; es sind ganz wesentlich diese Bezüge und Bindungen, die, wie Maurice Halbwachs gezeigt hat, die Voraussetzung dafür sind, daß wir überhaupt ein Gedächtnis aufbauen können. Unser individuelles Gedächtnis ist also immer schon sozial grundiert. Ebenfalls einfach zu beantworten ist die Frage, wie wir zu einem kulturellen Gedächtnis kommen. Hier müssen wir uns klarmachen, was Jürgen Trabant einmal über die Vermitteltheit unseres Weltbezugs gesagt hat. Er macht darauf aufmerksam, daß „wir in unserer Kultur viel mehr Wissen durch die Vermittlung der Zeichen erwerben als durch direkte Nachahmung, direkte Erfahrung, eigenes Handeln und eigne Manipulation.“2 Es besteht gerade „kein Abgrund“, so betont er, „zwischen meinem einsamen Wissen und der gesellschaftlichen Dimension“; denn der größte Teil meines 2 JürgenTrabant, „Wissen als Handeln und die Vermittlung der Zeichen“, Rechtshistorisches Journal 18, 1999, 260-269, Hier: 265. 3 Wissens ist ja nicht „aus meiner Welterfahrung bezogen, sondern durch Vermittlung durch Zeichen.“3 Entsprechendes gilt für das kulturelle Gedächtnis: es besteht aus kodifizierten und gespeicherten Zeichen, die wir zusammen mit dem allgmemeinen und spezialisierten Wissen durch die Bildungsinstitutionen aufnehmen. Vom allgemeinen oder spezialisierten Wissen unterscheiden sich die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses jedoch dadurch, daß wir sie uns aneignen, nicht um sie zu ‚beherrschen’ oder für bestimmte Ziele einsetzen, sondern um uns mit ihnen auseiander zu setzen und sie zu einem Element unserer Identität zu machen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie wir zu einem kollektiven Gedächtnis kommen. Zu einer nationalen Identität kommt man durch einen Paß4 ; aber wie kommt man zu einem nationalen Gedächtnis? Die Antwort ist: durch Teilnahme an Riten. Dafür schreiben nationale Festtage bestimmte Handlungen vor; mal sind es Tage der Freude und des Triumphs, die mit einem Feuerwerk gefeiert werden wie am 4. Juli in den USA oder am 1.August in der Schweiz, mal sind es Tage des Traumas und der Trauer, die mit Schweigeminuten begangen werden wie am 4. Mai in Holland oder am Yom Ha Shoah in Israel. Nehmen wir als Beispiel die Protestanten in Nordirland, für die es viele Kalendertage gibt, an denen sie sich ihrer kollektiven Identität erinnern. Im Zentrum dieses kollektiven Gedächtnisses steht Schlacht, in 1690 der protestantische König William of Orange am Boyne über die katholischen Iren gesiegt hat. Dieser Sieg wurde zur unerschöpflichen Mahnung an die irischen Protestanten, es ihm gleichzutun. ‚Remember 1690’, kurz: ‚REM 1690’ steht als Graffito auf den Hauswänden in WestBelfast. Diese Schlacht wird im kollektiven Gedächtnis immer wie neu aufgerufen, weil sie das Selbstverständnis einer Frontier-Gemeinde ausspricht, die im Rahmen eines kolonialen Expansionszugs entstanden ist und diese Identität gegen Widerstände noch immer aufrecht erhält.5 In ihrem kollektiven Gedächtnis stellt sich die Geschichte „als ein endloser Ablauf sich wiederholender Ereignisse“ dar.6 Die Geschichte wird in der Form gedeutet, kommuniziert, und praktiziert, daß sie gegenwärtig bleibt, „daß Vergangenheit und Gegenwart an bestimmten Orten und in bestimmten Handlungen 3 Trabant, 268. 4 Dazu Valentin Groebner, Der Schein der Person, 5 (Widerholungszwang, vgl. Tschechien) 6 John Borland, „Graffiti, Paraden und die Alltagskultur von Nordirland“, in : Harald Wlzer, Das soziale Gedächtnis, Hamburg 2001, 279, 277. 4 ineinanderfließen.“ (278) In Nordirland kommt man als Loyalist zu einem nationalen Gedächtnis, indem man an den vielen Märschen teilnimmt, die im rituellen Kalender stehen. Beim gemeinsamen Marschieren wird getrommelt und werden die Lieder und Parolen des kollektiven Gedächtnisses eingeschärft und körperlich angeeignet; dabei handelt es sich nicht um eine einsame ästhetische oder kognitiv kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten, wie sie für das kulturelle Gedächtnis charakteristisch sind, sondern um einen gemeinsamen körperlichen Vollzug. Zwei weitere Beispiele: israelische Schulklassen eignen sich das nationale Gedächtnis des Staates, den Holocaust, in der Weise gemeinsam körperlich an, daß sie nach Auschwitz und in andere Todeslager fahren, wo ihre Verwandten umgebracht wurden. Sie hüllen sich dabei in die nationale Fahne wie in einen säkularen Gebetsschal. Auch junge amerikanischen Juden, die organisierte Reisen nach Auschwitz und Treblinka unternehmen, um das kollektive historische Trauma individuell ‚nachzuerleben’, berichten hinterher, sie seinen ‚nie so stolz’ gewesen, ein Jude zu sein.7 Ein anderes Beispiel für eine solche ‚Initiation’ in ein kollektives Gedächtnis beschreibt der Historiker Peter Novick in seinem Buch The Holocaust in American Life. Er bezieht sich dabei auf das Initiationsritual der Bar oder Bat Mitzwah, das Jugendliche in die religiöse Gemeinschaft der Juden einführt. „In einer wachsenden Zahl von Gemeinden“, so schreibt er, „wird das Kind bei der Mitzwah zum ‚Zwilling’ eines jungen Opfers des Holocaust erklärt, das die Zeremonie nicht erleben konnte.“8 Hier wird der religiösen Zeremonie eine zusätzliche Bedeutung gegeben, indem sie mit einer Einweihung in die Schicksalsgemeinschaft des Holocaust verknüpft wird. 3. Offizielles und Inoffizielles Gedächtnis Kehren wir noch einmal zum sozialen Gedächtnis zurück, das keine so einheitliche Gestalt hat wie das kollektive Gedächtnis. Es besteht aus dem Erfahrungsschatz einer Gruppe, die sich diesen durch Erzählungen wiederholt vergegenwärtigt. Das geschieht nicht nur spontan und beiläufig, sondern auch auf Verabredung: Feste und Jubiläen sind wichtige Anlässe für die Erneuerung und Bestätigung gemeinsamer Erinnerungen, die ja nur in der Sicherungsform der Widerholung konserviert werden. Es besteht aber auch, wie Harald Welzer betont hat, aus den lebensweltlichen Kontexten, in die auf 7 Novick, 20. 8 Novick, 20. 5 absichtslose und unspektakuläre Weise immer schon Vergangenheit eingegangen ist, ohne als solche besonders wahrgenommen zu werden. Das soziale Gedächtnis ist in eine materielle Dingwelt eingelassen, das Alltagsgegenstände ebenso umfasst wie Architektur und urbane Topographien. Es ist das Merkmal des nationalen Gedächtnisses, daß es seine Signatur in diese Topographie in Form von Denkmälern und Straßennamen einschreibt. So ostentativ diese Zeichensetzung auf eine unendliche Dauer ausgerichtet ist, so kurz sind oft die Fristen, die mit einem System- und Regierungswechsel abrupt enden können. Fürein Beispiel zitiere ich Josef Simon: „Die Straßenbenennungen sind (...) die hochgeschätzte Beute aller politischen Wendegewinner geworden. So wurde in der Kleinstadt, in der ich meine Jugend verbrachte, aus der Pariser Straße über Nacht die Schlageterstraße, und die nicht weniger prosaisch richtungorientierte Bahnhofstraße blähte sich zur Straße der SA. Zwölf Jahre später war dann Frankreichs Hauptstadt wieder genehm.“9 Nach 40 Jahren DDR war besonders in Berlin der ‚Rückbenennungsbedarf’ groß, und er wurde, wie Simon bemerkt, mit der Radikalität eines Exorzismus durchgeführt. Die Humboldtuniversität, die einst an der nach einer Clara Zetkin benannten Straße lag, liegt jetzt an der Dorotheenstraße. Da haben sich die preußischen Prinzessinnen gegen die bedeutende Frauenrechtlerin und Kommunistin durchgesetzt. Nicht nur durch Umbenennungen und den Umsturz von Denkmälern, sondern auch durch Abriß und Wiederaufbau kann man die Vergangenheit einer Stadt, wie die Debatte um das Berliner Stadtschloß gezeigt hat, nachträglich noch entscheidend verändern. Interessant an diesen Beispielen ist, daß das auf Dauer angelegte nationale Gedächtnis oftmals sehr viel kürzere Halbwertszeiten hat als das soziale Gedächtnis, das biologischen Rhythmen unterliegt. Nicht ars longa, vita brevis heißt es dann, sondern: kurz sind die politischen Inszenierungen, lang ist das Leben, das sie überlebt – wenn es sie überlebt. Ebenfalls interessant ist, daß sich dadurch so etwas wie eine Zweigleisigkeit zwischen offiziellem und inoffiziellem Gedächtnis entwickelt. Unter den monumentalen Deklamationen und Zeichensetzung des Staates erhält sich das Netz eines sozialen Gedächtnisses, das eine kognitive Dissonanz produziert, damit aber auch eine kritische Distanz zur offiziell verordneten Gegenwartsdeutung ermöglicht. 9 Dieter Simon, „Verordnetes Vergessen“, in: Gary Smith, Avishai Margalit, Amnestie, oder Die Politik der Erinnering, Frankfurt a.M. 1997, 25. 6 4. Grenzen der Identität? Wir haben einleitend festgestellt, daß das soziale, kollektive und kulturelle Gedächtnis zugleich Wir-Gruppen bilden, deren Identitäten sie stützen. Meine letzte Frage ist: wie exklusiv oder vereinbar sind diese Wir-Gruppen? Wie fest oder durchlässig sind die jeweiligen Grenzen? Dieser Frage möchte ich abschließend noch einmal am Beispiel des Holocaust-Gedächtnisses nachgehen. Solange die letzten Zeitzeugen noch leben, besteht das Gedächtnis des Holocaust derzeit noch auf allen Ebenen: als individuelles Erfahrungsgedächtnis, als soziales Gedächtnis der Familie oder der Gruppe der Überlebenden, als kollektives Gedächtnis des israelischen Staates oder jüdisch-amerikanischer Identität, und als kulturelles Gedächtnis eines Kanons von Büchern, Filmen, Bildern, Museen und Archiven. Eine Frage, die derzeit viel diskutiert wird, lautet: was ändert sich, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind und wir ausschließlich auf mediatisierte Zeugnisse angewiesen sind? Eine andere Frage ist die nach der Verfestigung oder Auflösung von Grenzen eines kollektiven Gedächtnisses. Führt diese Erinnerung zur konfliktreichen Abgrenzung von Gruppen, die ihre Perspektive auf Dauer stellen, um sich von anderen abzugrenzen und möglicherweise gegen anderen Leiderfahrungen zu immunisieren? Wie inklusiv, wie exklusiv ist eine solche kollektive Erinnerung? Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Kontroverse zwischen Simon Wiesenthal und Elie Wiesel in den 1970er Jahren. Beides sind jüdische Überlebende des Holocaust, die die Verfolgung von Tätern und die Erinnerung an die Opfer zum Inhalt ihres Lebens gemacht haben. Für uns ist die Zahl ‚6 Millionen’ zu einem Synonym für den Holocaust geworden. Simon Wiesenthal stellte diese Zahl in Frage und modifizierte sie, indem er feststellte, daß die wirkliche Zahl der Opfer des Holocaust für viele Menschen heute jedoch elf Millionen betrage: „sechs Millionen Juden und fünf Millionen Nichtjuden.“ Gegen eine solche Zählung wehrte sich Elie Wiesel mit aller Entschiedenheit: das würde bedeuten, den Holocaust im Namen eines „fehlgeleiteten Universalismus zu verfälschen“.10 10 Novick, 280. 7 Neben dem „fehlgeleiteten Universalismus“ haben sich inzwischen andere Formen des Universalismus durchgesetzt. In ihrem Buch Erinnerung im globalen Zeitalter stellen Daniel Levy und Natan Sznaider die These auf, daß innerhalb der globalisierten Moderne, deren wichtigstes Kennzeichen die ‚Entortung’ (De-territorialisierung) und Überschreitung von Grenzen ist, der ‚Kosmopolitismus der Erinnerung’ an den Holocaust es den Menschen weltweit ermöglicht, aufgrund gemeinsam erinnerter Barbarei nationenübergreifende Gedächtniskulturen zu entwickeln, die zur Grundlage für globale Menschenrechtspolitik werden.11 Ähnlich argumentiert der Soziologe Jeffrey Alexander, der betont, daß die Erinnerung an den Holocaust in ein universales moralisches Gedächtnis der Menschheit eingeht, das die kollektiven Gedächtniskonstruktionen übersteigt. Ersieht die Sache allerdings etwas differenzierter und billigt zu, daß sich nicht-westliche Nationen nicht in gleicher Weise wie die westlichen an den Holocaust ‚erinnern’ können. Es sei aber nicht unwahrscheinlich, daß auch sie im Kontext einer kulturellen Globalisierung mit seiner symbolischen Bedeutung und sozialen Wirkung in Berührung kommen. Er kann sich deshalb vorstellen, „daß nicht-westliche Nationen ihre eigenen Trauma-Erfahrungen kodieren, indem sie sie als funktionale Äquivalente zum Holocaust bilden“. Mithilfe dieser Chiffre könnten die Kulturen des Westens und Ostens lernen, „ihre traumatischen Erfahrungen gegenseitig zu teilen und sich auch für die Opfer der jeweils anderen einzusetzen.“12 Während ein kollektives Gedächtnis also immer begrenzt ist, können einerseits Symbole und andererseits Solidarität und Verantwortung über Grenzen hinausreichen.13 Ich möchte an diesem Punkt eine Brücke nach China schlagen und mit einem Zitat von Sheng Mei Ma schließen: „Der ‚Holocaust’ ist zu einem so universalen Bezugspunkt geworden, daß selbst zeitgenössische chinesische Schriftsteller, die tausende von Kilometern von den Orten der Nazi-Barbarei entfernt wohnen, und die nur wenig von den historischen Details wissen, ihre eigenen traumatischen Erfahrungen während der Kultur-Revolution als ihren „zehnjährigen Holocaust“ beschrieben haben.“14 11 Daniel Levy, Natan Sznaider, Erinnerung imglobalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001, 10-11. Sie schreiben: „Nichts war ‚kosmopolitischer’ als die Konzentrations-und Vernichtungslager der Nazis.“ (25) 12 JeffreyAlexander, On the social Constructionof Moral Universals“, in: Alexander et al. Hgg., Cultural Trauma and Collective Identity, Berkeley 2004, 262. 13 Levy, Sznaider, 9. 14 zit. nach Alexander, 196. 8