262 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien 6.11 Kulturwissenschaftliche Ansätze Nachdem bis in die 1990er Jahre hinein die verschiedenen in den vorangegangenen Kapiteln thematisierten Methoden oder literaturwissenschaftlichen Zugänge einander fast wie >Moden< ablösten, wird seit etwa 1990 zunehmend die methodische Vielfalt als gleichzeitig zur Verfügung stehendes Gesamtinstrumentarium literaturwissenschaftlicher Argumentation und Analyse betrachtet, aus dem der Einzelne sich eklektizistisch bedienen darf, je nachdem, was der gerade untersuchte Gegenstand erfordert. Gleichzeitig wird die Neuere deutsche Literaturwissenschaft verstärkt als Teil der Kulturwissenschaften diskutiert - ein großer Rahmen, der die meisten früheren methodischen Schulen und Fragestellungen umschließt. Diese neue Orientierung der germanistischen Literaturwissenschaft greift, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf ältere, bereits trans- oder interdisziplinär ausgerichtete methodologische Strömungen zurück, die als Ausgangspunkt eines kulturwissenschaftlichen Verständnisses des Faches verstanden werden können. Kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft bedeutet gleichermaßen die Erweiterung des fachlichen Gegenstandbereichs und eine starke interdisziplinäre Ausrichtung. Das Fach Literaturwissenschaft ist gleichwohl nicht einfach durch ein Fach Kulturwissenschaften zu ersetzen. Vielmehr legitimieren sowohl die Komplexität des Gegenstandes Literatur und die Erfordernisse seiner Erforschung als auch die Wertigkeit der Literatur selbst (im Ensemble anderer künstlerischer oder kultureller Produktionen) eine Wissenschaft, die sich vorrangig der Erforschung der Literatur widmet - selbstverständlich auch unter Einbeziehung anderer kultureller Diskurse, denen die Literatur z.T. ihre Verfahren, ihre Ästhetik verdankt. 6.11.1 Cultural Studies »Kulturwissenschaften ist zunächst ein Sammelbegriff für alle Wissenschaften, die sich der Beschreibung und Analyse kultureller Strukturen und Phänomene verschrieben haben. »So kann heute eigentlich jeder das Label »Cultural Studies< für sich beanspruchen, der kulturelle Praxen in ihrer Verwobenheit mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen untersucht - ob nun als Ethnograph, Philologe, Medienwissenschaftler, Soziologe, Kulturkritiker, selbsternannter Freistilforscher« (Engelmann 1999, 25). Wissenschaftsgeschichtlich kann die Konjunktur des Begriffs »Kulturwissenschaften auch verstanden werden als der Versuch einer methodisch abgesicherten Legitimation dessen, was einmal als »Geisteswissenschaften bezeichnet worden ist - ein Begriff, den es so nur im Deutschen gibt (s. Kap. 6.1). An die Stelle der im angloamerikanischen und französischen Sprachraum verwendeten Begriffe humanities oder sciences humaines soll die präzisere Bezeichnung >Kultur< treten, die sowohl auf die materialen Erzeugnisse menschlicher Gesellschaften abzielt wie auf deren Institutionen, auf gemeinschaftlich verabredete Verfahren, Rituale usf. Kulturwissenschaftliche Ansätze 263 Im Gegensatz zu dem eher unspezifisch klingenden Überbegriff Kulturwissenschaften waren die Cultural Studies am Beginn ihrer Geschichte eine sehr präzise und politisch ausgerichtete Methode: Aus den Vorläufern literaturwissenschaftlicher Untersuchungen aus den 1950er Jahren zu populärer Literatur und Film, zu Werbung und Presse entwickelte sich in England angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Veränderung nach dem Zweiten Weltkrieg ein politisches und pädagogisches Projekt. Richard Hoggarts eröffnete mit seinem Buch Tbe Uses of Literacy (1957) den Blick auf komplexere kulturelle Erscheinungen und gründete in Birmingham ein Forschungsinstitut (Center für Contemporary Cultural Studies); dessen Untersuchungsgegenstände entsprechen vielfach schon denen der gegenwärtigen Cultural Studies: Volkslied und Popmusik, Kunst im Alltag, Wohnkultur, Jugendkultur, Sport u.v.a.m. Neben Hoggart sind Raymond Williams (Culture and Society, 1958) und E.P. Thompson (The Making ofthe English Working Class, 1963) die Initiationsfiguren der Cultural Studies. Methodengeschichtlich lassen sich die Cultural Studies einerseits in der Tradition marxistischer Philosophie des 20. Jahrhunderts (Althusser, Frankfurter Schule) und andererseits von Strukturalismus und Diskursanalyse verstehen. Wie die sprachlichen Zeichen im Strukturalismus werden alle gesellschaftlichen >Realitäten< als nicht >eigentlich< gegeben interpretiert, vielmehr werden sie über ein komplexes Verweisungssystem der Differenzen konstituiert, »ein [...] Geflecht von Elementen, Diskursen oder Praxen [entspringen], deren Beziehungsgefüge es zu analysieren« gilt (Engelmann 1999, 18). Kultur wird damit nicht mehr, in strenger orthodox marxistischer Trennung, als Überbauphänomen oberhalb der Basis der Produktionsverhältnisse betrachtet, sondern als das Ensemble aller Diskurse und gesellschaftlichen Handlungsformen, die überhaupt die Erfahrung von Gesellschaft vermitteln. Damit geht eine radikale Demokratisierung des Kulturverständnisses einher: Kultur ist nicht mehr Höhenkamm- und Elitenkultur, sondern schließt verschiedene Subkulturen, Jugendkultur, Arbeiterkultur und Popkultur, ethnische Minderheitenkulturen und Erscheinungsformen der Multikulturalität ein. Zumal nach der zunehmenden Internationalisierung der Cultural Studies seit den 1980er Jahren ist eine große Breite der Untersuchungsgegenstände zu beobachten - Gegenstände, die einerseits die Interdisziplinarität der Cultural Studies betonen, die andererseits aus den traditionellen Literaturwissenschaften herausgefallen wa- ren: • Wirkungsweisen etwa popkultureller Kunstwerke oder Events; • mediale Inszenierungs-, Durchsetzungs- und Organisationsstrukturen; • Analysen des Populären: Quiz-Shows, Fernsehen, die Zusammensetzung des Fernsehpublikums bestimmter Formate, Surfen, Musik, Shopping, Mode und Lebenstile, Konsumerscheinungen (vgl. Hügel 2003); • Körperdiskurse und Selbstinszenierung, Identitätskonstruktionen, für die die Kulturen das Material liefern (ethnische, sexuelle, schichtenspezifische, individuelle oder kollektive Identität); • Rassismus und Multikulturalität; • E-Mail-Konversation und Cyberkultur; • Kulturpolitik, Stadt, Kolonialismus, Globalisierung, u.v.a.m. 264 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien Die Leistung der Cultural Studies ist vor allem die Etablierung einer modernen und methodologisch reflektierten Soziologie oder Diskursanalyse der Kultur. Literaturwissenschaft, die sich auch als Kulturwissenschaft versteht, kann Phänomene der spezifisch literarischen Kultur in ihrer gesamtkulturellen Einbettung besser verorten, die Bestimmung des kulturellen Ortes von Trivial- und Unterhaltungsliteratur oder das Verständnis literarischer Kultur im Kontext von Medienkonkurrenz, Eventkultur und Cyberspace ist nur so denkbar. Gleichwohl ist damit keinesfalls die intensive philologische, analytische, vielleicht hermeneutische Bemühung um den einzelnen Text überflüssig geworden (einen Überblick über »Konzepte der Kulturwissenschaften« gibt Nünning/Nünning 2003). In den Kontext einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft gehören auch die zivilisationsgeschichtlichen Untersuchungen von Norbert Elias, dessen schon 1939 im Londoner Exil publizierte Schrift Über den Prozeß der Zivilisation erst in den 1970er Jahren, also im Zusammenhang mit dem starken Einfluss der Cultural Studies und der sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft, breit rezipiert wurde. In diesem Werk beschreibt Elias die Entwicklung der modernen europäischen Gesellschaften seit dem Mittelalter als eine über komplexe Modellierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse laufende Sozialisation; die Ergebnisse seiner interdisziplinär angelegten Arbeiten bieten vielfältige Anschlüsse für eine moderne Literaturwissenschaft. Ebenfalls kultursoziologisch argumentiert der französische Forscher Pierre Bourdieu, dessen Studie Die feinen Unterschiede (1979) die Funktion eines spezifischen Kultur-Konsums (von Individuen oder auch Klassensubjekten) als gesellschaftliches Unterscheidungsmerkmal erarbeitet. Rezeption von bestimmter Literatur gehört hier zum Habitus, der das Individuum von anderen unterscheidet, zu einem sozialen Verhaltens- und Selbstgestaltungsmuster der Identitätsbildung. In seiner späten großen Arbeit Die Regeln der Kunst (1992/1999) erarbeitet Bourdieu am Beispiel Flauberts das im 19. Jahrhundert sich als autonom ausdifferenzierende »literarische Feld< und liefert damit eine kulturgeschichtliche Alternative zum Systembegriff Niklas Luhmanns (s. Kap. 6.9). Literatur Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002. Böhme, Hartmut/Mattusek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000. Bromley, Roger u.a. (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999. Engelmann, Jan (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-Studies-Reader. Frankfurt a.M. 1999. Göttlich, Udo u.a. (Hg.): Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Bielefeld 2001. Hohendahl, Peter Uwe (Hg.): Kulturwissenschaften. Beiträge zur Erprobung eines umstrittenen literaturwissenschaftlichen Paradigmas - Cultural studies. Berlin 2001. Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M. 1999. Hügel, Hans-Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart/Weimar 2003. 268 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien Frei Gerlach, Franziska: Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Berlin 1998. Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2 1998. Harding, Sandra: Feministische Wissenschaftstheorie. Hamburg 3 1999. Kroll, Renate (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies - Geschlechterforschung. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2002. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar 2 20 03. Schweickart, Patrocinio P.: »Reading Ourselves: Toward a Feminist Theory of Reading«. In: Flynn, Elizabeth AVSchweickart, Patrocinio P. (Hg.): Gender and Reading: Essays on Readers, Texts, and Contexts. Baltimore 1986, S. 31-62. Weigel, Sigrid: Topographie der Geschlechter - Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990. 6.11.3 New Historicism Einer der wichtigsten jüngeren Theorieimporte aus Nordamerika (und aus einer Nachbarwissenschaft, der Geschichtswissenschaft) ist der New Historicism. Die theoretische Ausprägung und Konsolidierung des Ansatzes im Verlauf der 1980er Jahre ist eng mit dem Namen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers und Renaissance-Historikers Stephen Greenblatt verbunden. Mit seinen Arbeiten v.a. zu Shakespeare legt er die idealtypischen Modelle für >neohistorische< Untersuchungen vor. In seinen theoretischen Grundannahmen grenzt sich Greenblatt vor allem von einer teleologischen Geschichtsphilosophie etwa marxistischer Prägung ab. Das Unbehagen gegenüber Geschichtsentwürfen, die die Gesamtgeschichte der Menschheit möglichst einsinnig und sogar zielgerichtet erzählen, historische Metaerzählungen also, resultiert primär aus dem Einfluss postmoderner französischer Theorien. Vor allem unter Bezug auf die diskursanalytischen Arbeiten Michel Foucaults (dazu ausführlicher Kap. 6.8) kann Geschichtsschreibung nicht mehr als die objektive Wiedergabe historischer Fakten begriffen werden. Vielmehr wird deutlich, in wie hohem Maße sie narrative, literarische Muster benutzt (White 1990, 1991, 1994). Diese Erzählmuster, die überlieferten Ordnungsprinzipien und Kategorien, die >wichtige< von >unwichtigen< Daten unterscheiden, die überhaupt ermöglichen, Ordnung in die geschichtliche Datenfülle zu bringen, sind obsolet geworden, stehen selbst auf dem Prüfstand oder werden dekonstruiert. Historische Wahrheit gibt es nicht, sondern sie wird gemacht: Einerseits artikuliert sich in jeder historischen >Erzählung< das spezifische Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Mächte, andererseits schreibt eine Vielzahl oft unbewusst wirksamer Diskurse an der Geschichtsschreibung mit. Der erste Effekt dieser diskursanalytischen Besinnung ist die Selbstreflexivität historiografischen Erzählens, die Selbstkritik und -relativierung: Der >Neohistoriker< weiß, dass er es ist, der in seiner Geschichtsschreibung die Geschichte erst macht, die er, naiv betrachtet, darstellt; er erst produziert den Sinn der Geschichte. In eben dem Maße ist ja auch individuelle und auch geschlechtliche Identität immer Resultat eines kulturell bzw. diskursiv basierten Einschreibungs- Kulturwissenschaftliche Ansätze 2 6 9 prozesses (s. Kap. 6.11.2). Eine solche Identität - gleich ob personale oder diejenige eines literarischen Textes - kann nur verstanden werden aus der diskursiven oder intertextuellen Vernetzung heraus, die die Identität erst konstituiert. Der New Historicism aber trägt seinen Namen vor allem deshalb, weil, ausgehend von dem Nordamerikaner Stephen Greenblatt, eine kleine Gruppe von Historikern das genaueste Sachinteresse am historischen Gegenstand eben trotz der Foucaultschen Grundsatzeinwände nicht aufgeben wollte. Greenblatt stellte die Frage, wie bei gleichzeitiger diskursanalytischer Selbstrelativierung die historische Erforschung des einzelnen Gegenstandes, speziell (für Greenblatt) die englische Renaissance und ihre Literatur, möglich bleiben könne. Die Antwort auf diese Frage ist eine Diskursanalyse der Geschichte: »Der New Historicism hat sich [...] vorgenommen, sozusagen das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe der Kultur bzw. Geschichte zu richten und einzelne Fäden daraus zu verfolgen, um jeweils ein Stück Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte zu rekonstruieren« (Baßler 2001, 15). Die Praxis des interpretierenden Umgangs mit einem Text lässt sich am genauesten mit dem Begriff des >close reading< beschreiben, ein textnahes Lesen, das in der angloamerikanischen Tradition zunächst als fast völlige Werkimmanenz betrieben wurde, dessen Genauigkeit und Textnähe jetzt aber auf den Text selbst und die >Fäden< der verschiedensten Diskurse gerichtet wird, seine Textimmanenz also programmatisch aufgibt. Literaturwissenschaftlern des New Historicism geht es, orientiert an psychoanalytischen Deutungsmustern etwa Freuds oder Lacans, eher um die untergründig (wie ein gesellschaftliches Unbewusstes) am Text mitschreibenden Diskurse, also auch um etwas, was auf der Textoberfläche möglicherweise verdrängt oder ausgeschlossen ist. Stephen Greenblatt verfolgt dazu »einzelne Diskursfäden aus dem Text hinaus und in andere kulturelle Zonen, in andere Medien hinein« (ebd., 16). Dabei werden etwa Shakespeares Texte lesbar als das Ergebnis eines schier endlosen Einschreibungsprozesses anderer Diskurse, als Knotenpunkt komplexer Austauschprozesse. Über eine solche Einzeluntersuchung hinaus verbindet Greenblatt damit einen methodologischen Anspruch: Das mikroskopisch Untersuchte soll stellvertretend stehen für auch andere kulturelle bzw. historische Phänomene; mit seinen Untersuchungen liefert der New Historicism pars pro toto sowohl die gesamte Kultur und Geschichte als auch seine eigene Methodik: »Jeder neohistoristische Text gibt in seiner rhetorisch strukturierten Verknüpfung diskursiver Zusammenhänge zugleich eine Grammatik mit, eine Grammatik für jenes Sprachspiel, das man auf dem schwankenden Boden poststrukturalistischer Theorie noch und jeweils als historisches, als >Geschichte< bezeichnen kann« (ebd., 20). Literatur spielt in dieser historisch ausgerichteten Forschung nur die Rolle eines der vielfältigen, am kulturellen Ensemble beteiligten Diskurse: Ökonomie und Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Anthropologie, Geschichtswissenschaft, Religion und Literaturgeschichte sind nur einige (allerdings zentrale) Felder dieser elementar interdisziplinären Ausrichtung, die Literatur in einem Gesamt kulturwissenschaftlicher Untersuchungsfelder zu verorten sucht. 270 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien Literatur Baßler, Moritz: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt a.M. 1995. Kaes, Anton: »New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?«. In: Eggert, Hartmut (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Festschrift für Eberhard Lämmert. Stuttgart 1990, S. 56-66. White, Hayden V.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M. 1990. - : Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991. - : Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M. 1994. 6.11.4 Anthropologie Als umfassende Kulturwissenschaft, die sich aus verschiedenen Disziplinen wie Soziologie, Ethnologie, Philosophie, Kunst- und Literaturwissenschaften speist, verfolgt die Anthropologie als zentrale Fragestellung, welche Denk- und Wahrnehmungsformen der Mensch im Lauf der Geschichte ausgeprägt hat. Insofern ist sie eine >Menschenwissenschaft<, die ihre übergreifenden Perspektiven aus verschiedenen Spezialdiskursen beziehen. In Deutschland hatte sie zunächst eine deutliche soziologische Prägung, insbesondere durch Georg Simmel und Max Weber, die untersuchten, wie Denkformen und Mentalitäten bestimmten Gesellschaftsstrukturen entsprechen. Bei Simmel etwa wird die Frage der Geldzirkulation und ihr Entwicklung als Ausdruck bestimmter Lebens- und Wahrnehmungsweisen interpretiert (Philosophie des Geldes, 1900), und zwar als eine Entwicklung hin zum Möglichkeitsgewinn mit Gefahren der Entfremdung. Ferner stellt er Wahrnehmungsformen der Großstadt in einen zeitgenössischen sozialpsychologischen Zusammenhang (1890 ff./ 1998). Weber fragt nach dem Zusammenhang des Protestantismus, der innerweltlichen Askese und der Entwicklung des Kapitalismus (Die protestantische Ethik, 1905). Mit Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923-29/1994) werden anthropologische Fragen von der Gesellschaft weg in das einzelne erkennende Subjekt verlagert und nicht mehr soziologisch, sondern vor allem auf der Ebene der Denkformen, also als Geistesgeschichte analysiert. Ideen, Bilder, Mythen, Religionen, Philosophie, Sprachen und allgemein zeichenhaft vermittelte Erkenntnisinhalte sind es, die zusammengefasst im Begriff des Symbols den Wahrnehmungshorizont des Einzelnen formen und zugleich auch die Perspektive prägen, die seine Wahrnehmung der Welt bedingt. Denn diese ist nicht einfach empirisch vorgegeben und drückt sich ebenso wenig mit ihren sinnlichen Reizen wie auf einer Wachsplatte der subjektiven Wahrnehmung ab, sondern wird vom erkennenden Subjekt mitgeformt: die »Symbolwelt wird zum Anlaß, die Erlebnisinhalte und die Anschauungsinhalte in neuer Weise zu gliedern, zu artikulieren und zu organisieren« (1942/1994,15). Damit kann Cassirer zeigen, wie sich von Kulturwissenschaftliche Ansätze 271 den ersten überlieferten Zeugnissen des Denkens bis zur Gegenwartsphilosophie die Weltbilder und damit die Wahrnehmungen der Welt geändert haben. Solche Denkhorizonte machen Aussagen über den Menschen möglich, über seine Art und Weise, durch seine Wahrnehmung auch die Welt zu prägen. Sie erlauben aber auch Aussagen über kulturelle Zusammenhänge, wie Cassirers Überlegungen Zur Logik der Kulturwissenschaften zeigen (1942/1994). Insofern Sprache, Kunst, Musik und Philosophie Bedeutungswelten und Ausdrucksformen sind, gestalten sie auch das kulturelle Leben, über dessen soziologische Grundlagen Cassirer freilich keine Aussagen macht. Die soziologische und die geistesgeschichtliche Richtung markieren zwei mögliche Orientierungen der Anthropologie. Die soziologische Tradition dominiert, wenn man beispielsweise die Karriere des Begriffs der >Mentalitäten< in Frankreich untersucht, der nicht auf die großen geistesgeschichtlichen Strömungen wie etwa den Protestantismus blickt, sondern auf Zeugnisse der Alltagsgeschichte in privaten historischen Dokumenten, die Aufschluss geben können über Denkhaltungen, alltägliche Lebensformen, aber auch Gefühlskultur oder Einstellungen zu sozialen Fragen (Philippe Ariěs: Die Geschichte der Kindheit, 1960- 75; Ariěs/Duby: Geschichte des privaten Lebens vom römischen Imperium bis zur Gegenwart, 1989). In einem allgemeinen Sinn hat Wolfgang Iser (1991) anthropologische Denkfiguren auf Literatur angewandt. Literatur verbindet insofern das Fiktive und das Imaginäre, als sie Denkmodelle bereitstellt bzw. inszeniert, die auf Überschreitung des pragmatischen, bloß wirklichkeitsbezogenen Denkens angelegt sind. Grundsätzlich ist auch den alltäglichen Erzählungen oder Träumen das Fiktive eingeschrieben; davon aber unterscheidet sich Literatur darin, dass sie sich dessen bewusst ist, sie weist auf das ihr eigene Fiktive selbst hin. Historisch haben sich zwar die (literarischen) Formen des Fiktiven gewandelt, grundsätzlich aber ermöglicht Literatur nachzuvollziehen, welche Perspektiven Menschen an das Denken in Möglichkeitshorizonten geknüpft haben: welche Wünsche, Sehnsüchte, aber auch Ängste sich in die Texte eingeschrieben haben. Dieser Bereich des Vorstellbaren ist das Imaginäre, der unabgeschlossene Bereich des überhaupt Denkbaren. Für literaturwissenschaftliche Fragestellungen ist besonders die Frage relevant, welches Wissen über den Menschen den Horizont eines Autors bei Abfassung eines Textes geprägt hat, d.h. von welchen Perspektiven aus er geschrieben hat. Literatur gibt dann, wie etwa Wolfgang Riedel in seiner Schiller-Studie (1985) zeigt, Auskünfte über andere Wissenschaften wie Medizin oder Naturwissenschaften, ist in ihren Formen und Inhalten aber selbst auch von ihnen geprägt: thematisch, da sie das zeitgenössische Wissen über den Menschen in Handlungs- und Geschehensabläufe umsetzt, und formal, insofern sie es nach eigenen Regeln darstellt, diese aber auch (z.B. in den Erzählweisen) wandelt. Diese Rekonstruktion der Wissensräume, die einen Autor oder Text geprägt haben, ist zwar insgesamt ideengeschichtlich orientiert, der Einbezug beispielsweise des medizinischen Diskurses aber geht darüber hinaus. Ein ausführlich untersuchtes Themenfeld in der literarischen Anthropologie ist insgesamt die Herausbildung der Anthropologie als eigener wissenschaftli- 272 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien eher Disziplin, wie sie auch die Literatur des 18. Jahrhunderts geprägt hat, und zwar mit der Intention, einen Menschen, der zwischen Körper und Seele, aber auch seinen verschiedenen sozialen Funktionen aufgespannt ist, zum >ganzen Menschen< zu vereinen (vgl. die Beiträge in Schings 1994). Die Erweiterung mancher anthropologischen Erkenntnis ins Kollektive und Allgemeine lässt sich dann kritisieren, wenn Fundamentalaussagen zum Menschen konstruiert werden, die nicht mehr geschichtlich festzumachen sind. Eine offene Frage bleibt, wie das Verhältnis zwischen kulturellen Denkformen und den gesellschaftlichen Strukturen zu behandeln ist. Foucault, der Cassirer durchaus schätzte, hat das Problem knapp formuliert: »Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken« (Foucault 1987, 289). Gerade in der weitergehenden Einbeziehung diskursanalytischer Fragestellungen könnte eine wichtige Arbeitsperspektive für die literarische Anthropologie liegen. Ähnliches gilt für die Frage nach der Rolle der Medien, die ihrerseits die Wahrnehmungs- und Denkformen prägen können. Hier hat Karl-Ludwig Pfeiffer mit seiner auf Iser anspielenden Studie über Das Mediale und das Imaginäre (1999) gezeigt, wie bestimmte Medienkonstellationen das Denken und die Literatur geprägt haben, ferner hat Koschorke (1999) mit seinem mediologischen Ansatz die Verbindung des Schriftmediums und des Denkens herausgearbeitet. Literatur Aries, Philippe/Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens [1985-87]. 5 Bde. Frankfurt a.M. 1989. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen [1923/25/29], 3 Bde. Darmstadt I 0 1994. - : Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942]. Darmstadt 6 1994. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation [1939 ff.]. Frankfurt a.M. 1991. Fauser, Markus: »Literarische Anthropologie«. In: ders.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003, S. 41-65. Foucault, Michel: »Interview« in H.L. Dreyfus/P. Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1987, S. 265-292. Gebauer, Gunter (Hg.): Anthropologie. Leipzig 1998. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg 1985. Schings, Hans-Jürgen (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994. Simmel, Georg: Soziologische Ästhetik [1890-1911]. Hg. u. eingeh von Klaus Lichtblau. Darmstadt 1998. - : Philosophie des Geldes [1900]. Bd. 6 der Gesamtausgabe. Frankfurt a.M. 1989. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1905]. Weinheim 3 20 00. Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997.