und kamen zuweilen zu mir, wilde Buben und dennoch Angehörige der guten, erlaubten Welt. Trotzdem hatte ich nahe Beziehungen zu Nachbarsknaben, Schülern der Volksschale, die wir sonst verachteten. Mit einem von ihnen muß ich meine Erzählung beginnen. An einem freien Nachmittag—ich war wenig mehr als zehn Jahre alt — trieb ich midi mit zwei Knaben aus der Nachbarschaft herum. Da kam ein größerer dazu, ein kräftiger und roher junge von etwa dreizehn Jahren, ein Volksschüler, der Sohn eines Schneiders. Sein Vater war ein Trinker, und die ganze Familie stand in schlechtem Ruf. Franz Kromer war mir wohlbekannt, ich hatte Furcht vor ihm, und es gefiel mir nicht, als er jetzt zu uns stieß. Er hatte schon männliche Manieren und ahmte den Gang und die Redensarten der jungen Fabrikbursehen nach. Unter seiner Anführung stiegen wir neben der Brücke ans Ufer hinab und verbargen uns vor der Welt unterm ersten Brückenbogen. Das schmale Ufer zwischen der gewölbten Brückenwand und dem trag fließenden Wasser bestand aus lauter Abfällen, aus Scherben und Gerumpel, wirren Bündeln von verrostetem Eisendraht und anderem Kehricht. Man fand dort zuweilen brauchbare Sachen; wir mußten unter Franz Kromers Führung die Strecke absuchen und ihm zeigen, was wir fanden. Dann steckte er es entweder zu sich oder warf es ins Wasser hinaus. Er hieß uns darauf achten, ob Sachen aus Blei, Messing oder Zinn darunter wären, die steckte er alle zu sich, auch einen alten Kamm aus Horn. Ich. fühlte midi in seiner Gesellschaft sehr beklommen, nicht weil ich wußte, daß mein Vater mir diesen Umgang verbieten würde, wenn er davon wüßte, sondern aus Angst vor Franz selber. Ich war froh, daß er mich nahm und behandelte wie die andern. Er befahl, und wir gehorchten, es war, als sei das ein alter Brauch, obwohl ich das erstemal mit ihm zusammen war. Schließlich setzten wir uns an den Boden, Franz spuckte ins Wasser und sah aus wie ein Mann; er spuckte durch eine Zahnlücke und traf, wohin er wollte. Es begann ein Gespräch, und die Knaben, kamen ins Rühmen und Großtun mit allerlei Schülerheldentaten und bösen Streichen. Ich schwieg und fürchtete doch, gerade durch mein Schweigen aufzufallen und den Zorn des Kromer auf mich zu lenken. Meine beiden Kameraden waren, von Anfang an von mir abgerückt und hatten sich zu ihm bekannt, ich war ein Fremdling unter ihnen und fühlte, daß meine Kleidung und Art für sie herausfordernd sei. Als Lateinschüler und Herrensöhnchen konnte Franz mich unmöglich lieben, und die beiden andern, das fühlte ich wohl, würden mich, sobald es darauf ankäme, verleugnen und im Stich lassen. Endlich begann ich aus lauter Angst auch zu erzählen. Ich erfand eine große Räubetgeschichte, zu deren Heiden ich mich machte. In einem Garten bei der Eckmühle, erzählte ich, hätte ich mit einem Kameraden bei Nacht einen ganzen Sack voll Äpfel gestohlen, und nicht etwa gewöhnliche, sondern lauter Reinetten, und Goldparmänen, die besten Sorten. Aus den Gefahren. 18 19 des Augenblicks flüchtete ich mich in diese Geschichte, das Erfinden und Erzählen war mir geläufig. Um nur nicht gleich wieder aufzuhören und vielleicht in Schlimmeres verwickelt zu werden, ließ ich meine ganze Kunst glänzen. Einer von uns, erzählte ich, hatte immer Schild-wache stehen müssen, während der andre im Baum war und die Apfel heronterwarf, und der Sack sei so schwer gewesen, daß wir ihn zuletzt wieder öffnen und die Hälfte zurücklassen mußten, aber wir kamen nach einer halben Stunde wieder und holten auch sie noch. Als ich fertig war, hoffte ich auf einigen Beifall, ich war zuletzt warm geworden und hatte mich am Fabulieren berauscht. Die beiden Kleineren, schwiegen abwartend, Franz Kromer aber sah mich aus halb zugekniffenen Augen durchdringend an. und fragte mit drohender Stimme: ...Ist das wahr?" „Jawohl", sagte ich. „Also wirklich und wahrhaftig?'5 „Ja, wirklich und wahrhaftig", beteuerte ich trotzig, während ich innerlich vor Angst erstickte. „Kannst du schwören?" Ich. erschrak sehr, aber ich sagte sofort Ja. „Also sag: Bei Gott und Seligkeit!" Ich sagte: „Bei Gott und Seligkeit." „Na ja", meinte er dann und wandte sich ab. Ich dachte, damit sei es gut, und war froh, als er sich bald erhob und den Rückweg einschlug. Als wir auf der Brücke waren, sagte ich schüchtern, ich müsse jetzt nach Hause. „Das wird nicht so pressieren", lachte Franz, „wir haben ja den gleichen Weg." Langsam schlenderte er weiter, und ich wagte nicht auszureißen, aber er ging wirklich den Weg gegen unser Haus. Als wir dort waren, als ich unsre Haustür sah und den dicken messingen.«! Drücker, die Sonne in den Fenstern und die Vorhänge im Zimmer meiner Mutter, da atmete ich tief auf. OHeimkehr! Ogute, gesegnete Rückkunft nach Hause, ins Helle, in den Frieden! Als ich schnell die Tür geöffnet hatte und hinein-schlüpfte, bereit, sie hinter mir zuzuschlagen, da drängte Franz Kromer sich mit hinein. Im kühlen, düsteren Fiiesengan«, der nur vom Hof her Licht bekam, stand er bei mir, hielt mich, am Arm und sagte leise: „Nicht so pressieren, du!'' Erschrocken sah ich ihn an. Sein Griff um meinen Arm war fest wie Eisen. Ich überlegte, was er im Sinn haben könnte und ob er mich etwa mißhandeln wolle. Wenn ich jetzt schreien würde, dachte ich, laut und heftig schreien, ob dann wohl schnell genug jemand von droben dasein würde, um midi zu retten? Aber ich gab es auf. „Was ist?" fragte ich, „was willst du?" „Nicht viel. Ich muß dich bloß noch etwas fragen, Die andern brauchen das nicht zu hören." „So? ja, was soll ich dir noch sagen? ich muß hinauf, weißt du." „Du weißt doch", sagte Franz leise, „wem der Obstgarten bei der Eckmühle gehört?" 20 „Nein, ich weiß nicht, Ich glaube, dem Müller," Franz hatte den Arm um mich geschlungen und zog mich nun ganz dicht zu sich heran, daß ich ihm aus nächster Nähe ins Gesicht sehen mußte. Seine Augen waren böse, er lächelte schlimm, und sein Gesicht war voll Grausamkeit und Macht. „ja, mein junge, ich kann dir schon sagen, wem der Garten gehört. Ich weiß schon lang, daß die Apfel gestohlen sind, und ich weiß auch, daß der Mann gesagt hat, er gebe jedem zwei Mark, der ihm sagen kann, wer das Obst gestohlen hat." „Lieber Gott!" rief ich. „Aber du wirst ihm doch nichts sagen?" Ich fühlte, daß es annütz sein würde, mich an sein Ehrgefühl zu wenden. Er war aus der andern Welt, für ihn war Verrat kein Verbrechen. Ich fühlte das genau. In diesen Sachen waren die Leute aus der „anderen" Welt nicht wie wir. „Nichts sagen?" lachte Kromer. „Lieber Freund, meinst da denn, ich sei ein Falschmünzer, daß ich mir selber Zweimarkstücke machen kann ? Ich bin ein armer Kerl, ich habe keinen reichen Vater wie du, und wenn ich zwei Mark verdienen kann, muß ich sie verdienen. Vielleicht gibt er sogar mehr." Er ließ mich plötzlich wieder los. Unsre Haasflor roch nicht mehr nach Frieden und Sicherheit, die Welt brach um mich zusammen. Er würde mich anzeigen, ich war ein Verbrecher, man würde es dem Vater sagen, vielleicht wurde sogar die Polizei kommen. Alle Schrecken des Chaos drohten mir, alles Häßliche und Gefährliche war gegen mich aufgeboten. Daß ich gar nicht gestohlen hatte, war ganz ohne Belang. Ich hatte außerdem geschworen. Mein Gott, mein Gott! Tränen stiegen mir auf. Ich fühlte, daß ich midi loskaufen müsse, und griff verzweifelt in alle meine Ta-K>>" Apfel, kein Taschenmesser, gar nichts war 22 „Gellen wir ein Stück weit zusammen?" fragte er freundlich. Ich war geschmeichelt und nickte. Dann beschrieb ich ihm, wo ich wohne, „Ah, dort?" sagte er lächelnd. „Das Hans kenne ich schon, über eurer Haustür ist so ein merkwürdiges Ding angebracht, das hat midi gleich interessiert." Ich wußte gar nicht gleich, was er meine, and war erstaunt, daß er unser Haus besser zu kennen, schien als ich. Es war wohl als Schlußstein über der Torwölbung eine Art Wappen vorhanden, doch war es im Lauf der Zeiten flach und oftmals mit Farbe überstrichen worden, mit uns und unsrer Familie hatte es, soviel ich wußte, nichts zu tun. „Ich weiß nichts darüber", sagte ich schüchtern, „Es ist ein Vogel oder so was Ähnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll früher einmal zum Kloster gehört haben," „Das kann schon sein", nickte er, „Sieh dir's einmal gut an! Solche Sachen sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist." Wir gingen weiter, ich war sehr befangen. Plötzlich lachte Demian, als falle ihm etwas Lustiges ein. „ja, ich habe ja da eurer Stunde beigewohnt", sagte er lebhaft. „Die Geschichte von Kain, der das Zeichen auf der Stirn trug, nicht wahr? Gefällt sie dir?" Nein, gefallen hatte mir selten irgend etwas von all dem, was wir lernen mußten." Ich wagte es aber nicht zu sagen, es war, als rede ein Erwachsener mit mir. Ich sagte, die Geschichte gefalle mir ganz gut. 40 Demian klopfte mir auf die Schulter. ,,Du brauchst mir nichts vorzumachen, Lieber. Aber '1-t; Geschichte ist tatsächlich recht merkwürdig, ich 1 ciautse, sie ist viel merkwürdiger als die meisten an- ■'i dem, die im Unterricht vorkommen. Der Lehrer hat I ja nicht viel darüber gesagt, nur so das Übliche über I Gott und die Sünde und so weiter. Aber ich glaube—" j; er unterbrach sich, lächelte und fragte; „Interessiert es 1 dich aber?" ,,]a, ich glaube also", fuhr er fort, „man kann diese 1 Geschichte von Kain auch ganz anders auffassen. Die 1 meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz • wahr und richtig, abe> m in bar sie alle auch anders -u , b 1 " {', T tbtet f ft) ) "1, meistens haben sie vin i, v L> sv er - •>,». Mit diesem Kain zum i nii" o1 c / 1 t 1 auf seiner Stirn kann ? man doch nicht recht zufrieden sein, so wie er uns er- klärt wird. Findest du nicht auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschlägt, kann ja gewiß passieren, und daß er nachher Angst kriegt und Mein beigibt, ist auch möglich. Daß er aber für seine Feigheit extra, mit einem Orden ausgezeichnet wird, der ihn schützt und allen andern Angst ein sagt, ist doch recht sonderbar/* „Freilich", sagte ich interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. „Aber wie soll man die Geschichte anders erklären?" Er schlug mir auf die Sdralter. „Ganz einfach! Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren Anfang genommen hat, war das 41 Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht, ihn anzurühren, er imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob geht es im Leben selten zu. Viel eher war es etwas kaum wahrnehmbares Unheimliches, ein wenig mehr Geist und Kühnheit im Blick, als die Leute gewohnt waren. Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein .Zeichen', Man konnte das erklären, wie man 'wollte. Und ,man' will immer das, was einem bequem ist und recht gibt. Man hatte Furcht vor den Kainskindern, sie hatten ein Reichen'. Also erklärte man das Zeichen nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondere als das Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und das waren sie auch, Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, und nun hängte man diesem Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen, um sich für alle die ausgestandne Furcht ein bißchen schadlos zu halten. — Begreifst du?" „Ja — das heißt — dann wäre ja Kain also gar nicht böse gewesen? Und die ganze Geschichte in der Bibel wäre eigentlich gar nicht wahr?" „Ja und nein. So alte, uralte Geschichten sind immer wahr, aber sie sind nicht immer so aufgezeichnet und werden nicht immer so erklärt, wie es richtig wäre. Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und hier, weil man Angst vor ihm hatte, hängte man ihm diese Geschichte an. Die Geschichte war einfach ein Gerücht, so etwas, was die Leute herumschwätzen, und es war insofern ganz wahr, als Kain und seine Kinder ;3 wirklich eine Art .Zeichen' trugen und anders waren als die meisten Leute." Ich war sehr erstaunt. „Und dann glaubst du, daß auch das mit dem Totschlag gar nicht wahr ist?" fragte ich ergriffen. „Odoch! Sicher ist das wahr. Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen. Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann, man j a zweifeln. Es ist nicht wichtig, schließlich sind alle Menschen Brüder. Also ein Starker hat einen Schwachen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch nicht. Jedenfalls aber waren d.ie andern Schwachen jetzt voller Angst, sie beklagten sich sehr, und wenn man sie fragte; ,Warum schlaget ihr ihn nicht einfach auch tot?', dann sagten sie nicht: Weil wir Feiglinge sind', sondern sie sagten: ,Man kann nicht. Er hat ein Zeichen. Gott hat ihn gezeichnet:' Etwa so muß der Schwindel entstanden sein. — Na, ich halte dich auf. Adieu denn!" Er bog in die Altgasse ein und ließ mich allein, verwunderter, als ich je gewesen war. Kaum war er weg, so erschien mir alles, was er gesagt hatte, ganz unglaublich: Kain ein edler Mensch, Abel ein Feigling! Das Kainszeichen eine Auszeichnung! Es war absurd, 42 43 Ich nickte. Sagen konnte ich nichts, „ich sagte dir ja, es sieht komisch aus, das Gedankenlesen, aber es geht ganz natürlich zu. Ich könnte dir zum Beispiel auch ziemlich genau sagen, was du über mich gedacht hast, als ich einmal dir die Geschichte von Kain nnd Abel erzählt hatte. Nun, das gehört nicht hierher. Ich halte es auch iür möglich, daß du einmal von mir geträumt hast. Lassen wir das aber! Du bist ein gescheiter Junge, die meisten sind so dumm: Ich rede gern hie and da mit einem gescheiten jungen, zu dem ich Vertrauen habe. Eis ist dir doch recht?" „O ja. Ich verstehe nur gar nicht —" „Bleiben wir einmal, bei dem lustigen Experiment! Wir haben also gefunden: der Knabe S. ist schreckhaft — er fürchtet jemanden — er hat wahrscheinlich mit diesem andern ein Geheimnis, das ihm sehr unbequem ist. — Stimmt das ungefähr?" Wie im Traum unterlag ich seiner Stimme, seinem Einfluß. Ich nickte nur. Sprach da nicht eine Stimme, die nur aus mir selber kommen konnte? Die alles wußte? Die alles besser, klarer wußte als ich selber? Kräftig schlug mir Demian auf die Schulter. „Es stimmt also. Ich konnte mir's denken, jetzt bloß noch eine einzige Frage: weißt du, wie der Junge heißt, der da vorhin wegging?" Ich erschrak heftig, mein angetastetes Geheimnis krümmte sich schmerzhaft in mir zurück, es wollte nicht ans Licht, „Was für ein Junge? Es war kein Junge da, bloß ich." Er lachte. „Sag's nur!" lachte er. „Wie heißt er?" Ich flüsterte: „Meinst du den Franz Kromer?" Befriedigt nickte er mir zu. ,Bravo! Du bist ein fixer Kerl, wir werden noch Freunde werden. Nun muß ich dir aber etwas sagen: dieser Kromer, oder wie er heißt, ist ein schlechter Kerl. Sein Gesicht sagt mir, daß er ein Schuft ist! 'Was meinst du?" O ja", seufzte ich auf, „er ist schlecht, er ist ein Satan! Aber er darf nichts wissen! Um. Gottes willen, er darf nichts wissen! Kennst du ihn? Kennt er dich?" „Sei nur ruhig! Er ist fort, und er kennt mich nicht — noch nicht. Aber ich möchte ihn ganz gern kennenlernen. Er geht in die Volksschule?" Ja." „in welche Klasse?" „In die fünfte. — Aber sag ihm nichts! Bitte, bitte sag ihm nichts!" „Sei ruhig, es passiert dir nichts. Vermutlich hast du keine Lust, mir ein wenig mehr von diesem Kromer zu erzählen?" „Ich kann nicht! Nein, laß mich!" Er schwieg eine Weile. „Schade", sagte er dann, „wir hätten das Experiment noch weiter führen können. Aber ich will dich nicht plagen. Aber nicht wahr, das weißt du doch, daß deine Furcht vor ihm nichts Richtiges ist? So ci c 1 i'uht macht uns ganz kaputt, die muß man losweiusn. Du 54 55 mußt sie loswaden, wenn ein rechter Kerl aus dir werden soll. Bog teilst du?" „Gewiß, du hast ganz recht.. . aber es gellt nicht. Du weißt ja nicht. . ." „De hast gesehen, daß ich manches weiß, mehr als du gedacht hättest. —Bist du ihm etwa Geld schuldig?" „ja, das auch, aber das ist nicht die Hauptsache. Ich kann es nicht sagen, ich kann nicht!" „Es hilft also nichts, wenn ich dir soviel Geld gebe, wie du ihm schuldig bist? — Ich .könnte es dir gut geben." „Nein, nein, das ist es nicht. Und ich bitte dich: sage niemand davon! Kein Wort! Du machst mich unglücklich!'' „Verlaß dich auf mich, Sinclair. Eure Geheimnisse wirst du mir später einmal mitteilen —" „Nie, nie!" rief ich heftig. „Ganz wie du willst. Ich meine nur, vielleicht wirst du mir später einmal mehr sagen. Nur freiwillig, versteht sich! Du denkst doch nicht, ich werde es machen wie der Kromer selber?" „O nein — aber du weißt ja gar nichts davon i" „Gar nichts. Ich denke nur darüber nach. Und ich werde es nie so machen, wie Kromer es macht, das glaubst du mir. Du bist ja mir auch nichts schuldig." Wir schwiegen eine lange Zeit, und ich wurde ruhiger. Aber Demians Wissen wurde mir immer rätselhafter. „Ich geh jetzt nach Hause", sagte er und zog im Regen seinen Lodenmantel fester zusammen. „Ich möchte dir nur eins nochmals sagen, weil wir schon so weit sind — du solltest diesen Kerl loswerden! Wenn es gar nicht anders geht, dann schlage ihn tot! Es würde mir imponieren und gefallen, wenn du es tätest. Ich würde dir auch helfen." Ich bekam von neuem Angst. Die Geschichte von Kain fiel mir plötzlich wieder ein. Es wurde mir unheimlich, und ich begann sachte zu weinen. Zu viel Unheimliches war um mich her. „Nun gut", lächelte Max Demian. „Geh nur nach Hause! Wir'machen das schon. Obwohl Totschlagen das einfachste wäre. In solchen Dingen ist das Einfachste immer das Beste. Du bist in keinen guten Händen bei deinem Freund Kromer." Ich kam nach Hause, und mir schien, ich sei ein Jahr lang weg gewesen. Alles sah anders aus. Zwischen mir und Kromer stand etwas wie Zukunft, etwas wie Hoffnung. Ich war nicht mehr allein! Und erst jetzt sah ich, wie schrecklich allein ich wochen- und wochenlang mit meinem Geheimnis gewesen war. Und sofort fiel mir ein, was ich mehrmals durchgedacht hatte: daß eine Beichte vor meinen Eltern mich erleichtern und mich doch nicht ganz erlösen würde. Nun hatte ich beinahe gebeichtet, einem andern, einem Fremden, und Erlösungsahnung flog mir wie ein starker Duft entgegen! Immerhin war meine Angst noch lange nicht überwunden, und ich war noch auf lange und furchtbare Ausein andersetzungen mit meinem Feindegefaßt. Desto 56 57 und Angst und Ehrfurcht überkam mich, als ich sah und plötzlich fühlte, wie tief mein eigenstes, persöo- £> rraf mich tief. ,,Aber", schrie ich fast, „es gibt doch nun einmal tat-Siicnüch und wirklich verbotene und häßliche Dinge, das kaiinst du doch nicht leugnen.! Und sie sind nun rlmnai verboten, und wir müssen auf sie verzichten. Ich weiß ja, daß es Mord und alle möglichen Laster gibt. ;'t>er soll ich denn, bloß v/eil es das gibt, hingehen min e'R Verbrecher werden?" „Wir werden heute nicht damit fertig", begütigte " • . )u sollst gewiß nicht totschlagen oder Mädchen histmorclen, nein. Aber du bist noch nicht dort, i\o rruin einsehen kann, was ,erlaubt' und ,verboten' eigen d:ch heißt. Du hast erst ein Stück von der Wahrheit e,esj>iirt. Das andere kommt noch, verlaß dich drauf! Da hr-t jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist stärker als alle andern, und er gilt für .verboten'. Die Griechen und viele andere Völker fadh-jrt ">ii Gegenteil diesen Trieb zu einer Gottheit gemacht lind ihn in großen Festen verehrt. .Verboten* ist eise nichts Ewiges, es kann wechseln/Auch heute darf jr, jeder bei einer Frau schlafen., sobald er mit ihr beim Pfarrer gewesen ist und sie geheiratet hat. Bei andern Völkern ist das anders, auch heute nochdÖarum nufi j-der von ans für sich selber finden, was erlaubt und a -is verboten. — ihm verboten ist/Man. kann nie-rna's etwas Verbotnes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt — Eigentlich ist es Woi» eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, tan selber zu denken und selber sein Richter zu sein, 8S der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere Dinge erlaubt-, die sonst verpönt sind, jeder muß für sich selber stehe«.'-Er schien plötzlich zu bereuen, so viel gesagt ?,u haben, und brach ab. Schon damals konnte ich mh dem Gefühl einigermaßen begreifen, was er dabei empfand. So angenehm und scheinbar obenhin er nämlich seine Einfälle vorzubringen pflegte, so konnte er doch ein Gespräch „nur um des Redens willen", wie er einmal sagte, in den Tod nicht leiden. Bei mir aber spürte er, neben dem echten Interesse, zu viel Spiel, zu viel Freude am gescheiten Schwatzen, oder so etwas, kurz, einen Mangel an vollkommenem Ernst. Wie Ich das letzte Wort wieder lese, das ich geschrieben—„vollkommener Emst" —, fällt eine andere Szene mir plötzlich wieder ein, die eindringlichste, die ich mit Max Demian in jenen noch halbkindlichen Zeiten erlebt habe. Unsere Konfirmation kam heran, und die letzten Stunden des geistlichen Unterrichts handelten vom Abendmahl. Es war dem Pfarrer wichtig damit, und er gab sich Mühe, etwas von Weihe und Stimmung war in diesen Stunden wohl zu verspüren. Allein gerade in diesen paar letzten Unterweisungsstunden waren meine Gedanken an anderes gebunden, and zwar an die Person meines Freundes. Indem ich der Konfirmation entgegensah, die uns als die feierliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche erklärt wurde, drängte sich mir unabweislich der Gedanke auf, daß für mich der Wert dieser etwa halbjährigen Religionsunterweisung nicht in dem Hege, was wir hier gelernt hatten, sondern in der Nähe und dem Einfluß Demians. Nicht in nie Kirche 'war ich nun bereit aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwie auf Erden existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund empfand. ich suchte diesen Gedanken zurückzudrängen, es war mir Ernst damit, die Feier der Konfirmation, trotz allem, mit einer gewissen Würde zu erleben, and diese schien sich mit meinem neuen Gedanken wenig zu vertragen. Doch ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir allmählich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders zu begehen als die andern, sie sollte für mich die Aufnahme in eine Gedankenwelt bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte. In jenen Tagen war es, daß ich wieder einmal lebhaft mit ihm disputierte; es war gerade vor einer Unterweisungsstunde. Mein Freund war zugeknöpft and hatte keine Freude an meinen Reden, die wohl ziemlich altklug und wichtigtuerisch waren. „Wir reden zuviel", sagte er mit ungewohntem Ernst. „Das kluge Reden hat gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich selber 86 87 wegkommen ist Sünde. Man muß sich in sich selber völlig verkriechen können wie eine Schildkröte." Gleich darauf betraten wir den Schulsaal, Die Stunde begann, ich gab mir Mühe, aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte ich mich. um,. i Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und irt guter Haltung wie sonst. .Aber er sah dennoch ganz anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht, sein Aland war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichmäßig bleich, wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wde Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sondern wie feste, gute Hüllen um ein verborgenes starkes Leben.: Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinein Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte; das war Demian: Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, eitler, der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, so steinern, uralt, tierhart, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlieh voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod! jetzt ist der ganz in sich hineingegangen, fühlte ich unter Schauern. Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre. Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten auf schauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie ich denken mußte, götzenbaft steif, eine Fliege setzte sich auf seine Stirn, lief langsam über Nase und Lippen hinweg — er zuckte mit keiner Falte. Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was fühlte er? War er in einem Himmel, in einer Hölle? Es war mir nicht möglich, ihn darüber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er wie früher. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Erschien müde. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, seine Hände bewegten sich wieder, das braune Haar aber war jetzt glanzlos und wie ermüdet. 88 89 In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals einer neuen Übung hin: ich setzte mich, steil auf einen. Stuhl, machte die Augen starr, hielt mich vollkommen regungslos und wartete, wie lange ich es aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß müde und bekam ein heftiges jucken in den V 1 n v Bald nachher war die I die mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind. Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um midi her in Trümmer. Die Eitern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir die gewohnten Gefühle and Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch! So fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet. Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hanse fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir die Matter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht, mir Liebe, Heimweh und Unver-geßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war verreist. Ich war allein. 90 Ich sehe jetzt, daß ich diese kurze Begegnung in meisten Aufzeichnungen unterschlagen habe, und sehe, daß es aus Scham und Eitelkeit geschah. Ich muß es nachholen Also einmal in den Ferien, als ich mit dem blasierten und stets etwas müden Gesicht meiner Wirtshawszeit durch meine 'Vaterstadt schlenderte, meinen Spazier« stock schwang und den Philistern in die alten, gleichgebliebenen, verachteten Gesichter sah, da kam mir mein ehemaliger Freund entgegen. Kaum sah ich ihn, so zuckte ich zusammen. Und blitzschnell maßte ich an Franz Kromer denken. Möchte doch Demian die0e, Geschichte wirklich vergessen haben! Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben ~ eigentlich ja eine dumme Kindergeschichte, aber doch, eben eine Verpflichtung ... Er schien zu warten, ob ich ihn grüßen wolle, imä als ich es möglichst gelassen tat, gab er mir die Hand. Das war wieder sein Händedruck! So fest, warm und doch kühl, männlich! Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte: „Du bist groß geworden, Sinclair." Er selbst schien mir ganz unverändert, gleich alt, gleich jung wie immer. Er schloß sich mir an, wir machten einen Spaziergang und sprachen über lauter nebensächliche Dinge, nichts von damals. Es fiel mir ein, daß ich ihm einst mehrmals geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Ach, möchte er doch auch das vergessen haben, diese dummen, dummen Briefe! Er sagte nichts davon. Es gab damals noch keine Beatrice und kein Bildnis, ich war noch mitten in meiner wüsten Zeit. Vor der Stadt lud ich ihn ein, mit in ein Wirtshaus zu kommen. Er ging mit. Prahlerisch bestellte ich eine Flasche Wein, schenkte ein, stieß mit ihm an und zeigte mich mit den studentischen Trinkgebräuchen sehr vertraut, leerte auch das erste Glas auf einen Zug. Du gehst viel ins Wirtshaus?" fragte er mich. „Ach ja", sagte ich träge, „was soll man sonst tun? Es ist am Ende immer noch das Lustigste." „Findest du? Es kann schon sein. Etwas daran ist ja sehr schön — der Rausch, das Bacchische! Aber ich finde, bei den meisten Leuten, die viel im Wirtshaus sitzen, ist das ganz verlorengegangen. Mir kommt es so vor, als sei gerade das Wirtshauslaufen etwas richtig Philisterhaftes. Ja, eine Nacht lang, mit brennenden Fackeln, zu einem richtigen, schönen Rausch und Taumel! Aber so immer wieder, ein. Schüppchen ums andere, das ist doch, wohl nicht das Wahre? Kannst du dir etwa den Faust vorstellen, wie er Abend für Abend an einem Stammtisch sitzt?" Ich trank und schaute ihn feindselig an. „Ja, es ist eben nicht jeder ein Faust", sagte ich kurz. Er sah mich, etwas stutzig an. Dann lachte er mit der alten Frische und Überlegenheit. „Na, wozu darüber streiten? Jedenfalls ist das Leben eines Säufers oder Wüstlings vermutlich lebendiger als das des tadellosen Bürgers. Und dann — ich habe das einmal gelesen — ist das Leben des Wüstlings eine der I I 2 113 besten Vorbereitungen für den Mystiker. Es sind ja auch immer solche Leute wie der heilige Augustin, die zu Sehern werden. Der war vorher auch ein Genießer und Lebemann." Ich war mißtrauisch und wollte mich keineswegs von ihm meistern lassen. So sagte ich blasiert: „ja, jeder nach seinem Geschmack! Mir ist es, offen gestanden, gar nicht darum zu tun, ein Seher oder so etwas zu werden." Demianblitzte mich aus leicht eingekniffenen Äugen wissend an. „Lieber Sinclair", sagte er langsam, „es war nicht meine Absicht, dir Unangenehmes zu sagen, Übrigens — zu welchem Zweck du jetzt deine Schoppen trinkst, wissen wir ja beide nicht. Das in dir, was dein Leben macht, weiß es schon. Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber. — Aber verzeih, ich muß nach Hause." Wir nahmen kurzen Abschied. Ich blieb sehr mißmutig sitzen, trank meine Flasche 'vollends aus, und fand, als ich gehen wollte, daß Demian sie schon bezahlt hatte. Das ärgerte mich noch mehr. Bei dieser kleinen Begebenheit hielten nun meine Gedanken wieder an. Sie waren voll von Demian. Und die Worte, die er in jenem Gasthaus vor der Stadt gesagt, kamen in meinern Gedächtnis wieder hervor, seltsam frisch und unverloren. — „Es ist so gut, das zu wissen, daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß!" 114 Plötzlich, schlug er mir auf die Schulter, daß ich zusammenzuckte, „junge", sagte er eindringlich, „auch Sie haben Mysterien, Ich weiß, daß Sie Träume haben müssen, die Sie mir nicht sagen, ich will sie nicht wissen. Aber ich sage Ihnen: leben Sie sie, diese Träume, spielen Sie sie, bauen Sie ihnen Altäre! Es ist noch nicht das 'Vollkommene, aber es ist ein Weg. Ob wir einnial, Sie und ich und ein paar andere, die Welt erneuern werden, das wird sich zeigen. In uns drinnen aber müssen wir sie jeden Tag erneuern, sonst ist es nichts mit uns. Denken Sie dran! Sie sind achtzehn Jahr alt, Sinclair, Sie laufen nicht zu den Straßendirnen, Sie müssen Liebesträume, Liebeswünsche haben. Vielleicht sied sie so, daß Sie sich vor ihnen fürchten. Fürchten Sie sich nicht! Sie sind das Beste, was Sie haben! Sie können mir glauben. Ich habe damit viel verloren, daß ich in Ihren Jahren ineine Liebesträume vergewaltigt habe. Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht." Erschreckt wandte ich ein: „Aber man kann doch nicht alles tun, was einem einfällt! Man darf doch nicht einen Menschen umbringen, weil er einem zuwider ist." Er rückte näher zu mir. „Unter Umstanden darf man auch das. Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht, Kein, aber Sie sollen diese Einfälle, die ihren guten Sinn Iiaben, nicht dadurch schädlich machen, daß Sie sie veitreiben, und an ihnen herummoralisieren. Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wem trinken und dabei das Mysterium, des Opfers denken. Man kann« auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren. Sinn, und sie haben, alle Sinn. — Wenn Ihnen wieder einmal etwas recht Tolles oder Sündhaftes einfällt, Sinclair, wenn Sie jemand umbringen oder irgendeine gigantische Unflätigkeit begehen möchten, dann denken Sie einen Augenblick daran, daß es Abraxas ist, der so in Ihnen phantasiert! Der Mensch, den Sie töten möchten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur eine Verkleidung. Wv-uu wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf**" Nie hatte mir Pistorius etwas gesagt, was mich so tief im Heimlichsten getroffen hatte. Ich konnte nicht antworten. Was midi aber am stärksten und sonderbarsten berührt hatte, das war der Gleichklang dieses Zuspruches mit Worten Demians, die ich seit Jahren und Jahren in mir trug. Sie wußten nichts voneinander, und beide sagten mir dasselbe. ■„Die Dinge, die wir sehen", sagte Pistorius leise, „sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben/Darum leben 146 147 die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Weit in sich gar nicht zu Worte kommen lassen, Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unsrer ist schwer. — Wir wollen gehen." Einige Tage später, nachdem ich zweimal vergebens auf ihn gewartet hatte, traf ich ihn spät am Abend auf der Straße an, wie er einsam im kalten Nachtwinde um eine Ecke geweht kam, stolpernd und ganz betrunken, leb mochte ihn nicht anrufen. Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit glühenden und vereinsamten. Augen, als folge er einem dunklen Ruf aus dem Unbekannten, Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb wie an unsichtbarem Draht gezogen dahin, mit fanatischem und doch aufgelöstem Gang, wie ein Gespenst, Traurig ging ich nach Hause zurück, zu meinen uneriösten Träumen. „So erneuert er nun die Welt in sich!" dachte ich and fühlte noch im selben Augenblick, daß das niedrig und moralisch gedacht sei. Was wußte ich von. seinen Träumen? Er ging vielleicht in seinem Rausch den sicheren] Weg als ich in meiner Bangnis, In den Pausen, zwischen den Schulstunden war mir zuweilen aufgefallen, daß ein Mitschüler meine Nähe suchte, den ich. nie beachtet hatte. Es war ein kleiner, schwach aussehender, schmächtiger Jüngling mit 148 Gesicht mit dem entschlossenen Mund und der eigentümlichen Helligkeit auf der breiten Stirn. „Demian!" rief ich. Er stredtte mir die Hand entgegen. „Also da bist du, Sinclair! Ich habe dich erwartet." „Wußtest du, daß ich "hier bin?" „Ich wußte es nicht gerade, aber ich hoffte es bestimmt. Gesehen habe ich dich erst heute abend, du bist uns ja die ganze Zeit nachgegangen." „Du kanntest mich also gleich?" „Natürlich. Du hast dich zwar verändert. Aber da hast ja das Zeichen." „Das Zeichen? Was für ein Zeichen?" „Wir nannten es früher das Kainszeichen, wenn du dich noch erinnern kannst. Es ist unser Zeichen. Du hast es immer gehabt, darum bin ich dein Freund geworden. Aber jetzt ist es deutlicher geworden." „Mi wußte es nicht. Oder eigentlich doch. Einmal habe ich ein Bild von dir gemalt, Demian, und war erstaunt, daß es auch mir ähnlich war. War das das Zeichen?" „Das war es, Gut, daß du nun da bist! Auch meine Mutter wird sich freuen." Ich erschrak. „Deine Mutter? Ist sie hier? Sie kennt mich ja gar nicht." „Oh, sie weiß von dir. Sie wird dich kennen, auch ohne daß ich ihr sage, wer du bist. — Du hast lange nichts von dir hören lassen." „Oh, ich wollte oft schreiben, aber es ging nicht. Seit einiger Zeit habe ich gespürt, daß ich dich bald finden müsse. Ich habe jeden Tag darauf gewartet." Er schob seinen Arm in meinen und ging mit mir weiter. Ruhe ging von ihm aus und zog in mich ein.. Wir plauderten bald wie früher. Wir gedachten der Schulzeit, des Konfirmationsunterrichtes, auch jenes unglücklichen Beisammenseins damals in den Ferien — nur von dem frühesten und engsten Bande zwischen uns, von der Geschichte mit Franz Kromer, war auch jetzt nicht die Rede. Unversehens waren wir mitten in seltsamen und ahnungsvollen Gesprächen. Wir hatten, an jene Unterhaltung Demians mit dem Japaner anklingend, vom Studentenleben gesprochen und waren von da auf anderes gekommen, das weitab zu liegen schien; doch verband es sich in Demians Worten zu einem innigen Zusammenhang. Er sprach vom Geist Europas und von der Signatur dieser Zeit, überall, sagte er, herrsche Zusammenschluß and Herdenbildung, aber nirgends Freiheit und Liebe, Alk diese Gemeinsamkeit, von der Studentenverbindung und dein Gesangverein bis zu den Staaten, sei eine Zwangsbildung, es sei eine Gemeinschaft aus Angst, aus Furcht, aus Verlegenheit, und sie sei im Innern faul und alt und dem Zusammenbruch nahe. „Gemeinsamkeit", sagte Demian, „ist eine schöne Sache. Aber was wir da überall blühen, sehen, ist gar keine. Sie wird neu entstehen, aus dem Voneinander- 174 wissen der Einzelnen, und sie wird für eine Weile die Welt umformen. Was jetzt an Gemeinsamkeit da ist, ist nur Herdenbildung. Die Menschen fliehen zueinander, weil sie voreinander Angst haben — die Herren für sich, die Arbeiter für sich, die Gelehrten für sich! Und warum haben sie Angst? Alan hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist, Sie haben Angst, weil sie sich nie zu sich selber bekannt haben. Eine Gemeinschaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selber Angst haben! Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts von allern ist dem angemessen, was wir brauchen. Hundert und mehr Jahre lang hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht,um einen Menseben zu töten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet, sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergnügt sein kann. Sieh dir einmal so eine Studentenkneipe an! Oder gar einen Vergnügungsort, wo die reichen Leute hinkommen! Hoffnungslos!'—- Lieber Sinclair, ans alledem kann nichts 'Heiteres kommen. Diese Menschen, die sich so ängstlich zusammentun, sind voll von Angst und voll von. Bosheit, keiner traut dem andern. Sie hängen an Idealen, die keine mehr sind, und steinigen jeden, der ein neues aufstellt. Ich spüre, daß es Auseinandersetzungen gibt. Sie werden kommen, glaube mir, sie werden bald kommen! Natürlich werden sie die Welt nicht r/6 .verbessern'. Ob die Arbeiter ihre Fabrikanten totschlagen, oder ob Rußland und Deutschland aufeinander schießen, es werden nur Besitzer getauscht. Aber umsonst wird es doch nicht sein. Es wird die Wertlosigkeit der heutigen Ideale dartun, es wird ein Aufräumen mit steinzeitlichen Göttern geben. Diese Weit, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen, und sie wird es." „Und was wird dabei aus uns?" fragte ich. „Aus uns? Oh. vielleicht gehen wir mit zugrunde. Totschlagen kann man ja auch unsereinen. Nur daß wir damit nicht erledigt sind. Um das, was von uns bleibt, oder um die von uns, die es überleben, wird der Wille der Zukunft sich sammeln. Der Wille der Menschheit wird sich zeigen, den unser Europa eine Zeitlang mit seinem Jahrmarkt von Technik und Wissenschaft überschrien hat, Und dann wird sich zeigen, daß der Wille der Menschheit nie und nirgends gleich ist mit dem der heutigen Gemeinschaften, der Staaten und Völker, der Vereine und Kirchen, Sondern das, was die Natur mit dem Menschen will, steht in den Einzelnen geschrieben, in dir und mir. Es stand in Jesus, es stand in Nietzsche. Für diese allein wichtigen Strömungen — die natürlich jeden Tag anders aussehen können, wird Raum sein, wenn die heutigen Gemeinschaften zusammenbrechen." Wir machten spät vor einem Garten am Flusse halt, „Hier wohnen wir", sagte Demian. „Komm bald zu uns. Wir erwarten dich sehr." 177