Die Ermordung einer Butterblume Der schwarzgekleidete Herr hatte erst seine Schritte gezählt, eins, zwei, drei, bis hundert und rückwärts. als er den breiten Fichtenweg nach St. Ottilien hinanstieg, und sich bei jeder Bewegung mit den Hüften stark nach rechts und links gewiegt, so daß er manchmal taumelte; dann vergaß er es. Die hellbraunen Augen, die freundlich hervorquollen. starrten auf den Erdboden, der unter den Füßen fortzog, und die Arme schlenkerten an den Schultern, daß die weißen Manschetten halb über die Hände fielen. Wenn ein gelbrotes Abendlicht zwischen den Stämmen die Augen zum Zwinkern brachte, zuckte der Kopf, machten die Hände entrüstete hastige Abwehrbewegungen. Das dünne Spazierstöckchen wippte in der Rechten über Gräser und Blumen am Wegrand und vergnügte sich mit den Blüten. Es blieb, als der Herr immer ruhig und achtlos seines Weges zog, an dem spärlichen Unkraut hängen.. Da hielt der ernste Herr nicht inne, sondern ruckte, weiter schlendernd, nur leicht am Griff, schaute sich dann, am Arm festgehalten, verletzt um, riß erst vergebens, dann erfolgreich mit beiden Fäusten das Stöckchen los und trat atemlos mit zwei raschen Blicken auf den Stock und den Rasen zurück, so daß die Goldkette auf der schwarzen Weste hochsprang. Außer sich stand der Dicke einen Augenblick da. Der steife Hut saß ihm im Nacken. Er fixierte die verwachsenen Blumen, um dann mit erhobenem Stock auf sie zu stürzen und blutroten Gesichts auf das stumme Gewächs loszuschlagen. Die Hiebe sausten rechts und links. Über den Weg flogen Stiele und Blätter. Die Luft laut von sich blasend, mit blitzenden Augen ging der Herr wei¬ter. Die Bäume schritten rasch an ihm vorbei; der Herr achtete auf nichts. Er hatte eine aufgestellte Nase und ein plattes bartloses Gesicht, ein ältliches Kindergesicht mit süßem Mündchen. Bei einer scharfen Biegung des Weges nach oben galt es aufzuachten, Als er ruhiger marschierte und sich mit der Hand gereizt den Schweiß von der Nase wischte, tastete er, daß sein Gesicht sich ganz verzerrt hatte, daß seine Brust heftig keuchte. Er erschrak bei dem Gedanken, daß ihn jemand sehen konnte, etwa von seinen Geschäftsfreunden oder eine Dame. Er strich sein Gesicht und überzeugte sich mit einer verstohlenen Handbewegung. daß es glatt war. Er ging ruhig. Warum keuchte er? Er lächelte verschämt. Vor die Blumen war er gesprungen und hatte mit dem Spazierstöckchen gemetzelt, ja, mit jenen heftigen aber wohlgezielten Handbewegungen geschlagen, mit denen er seine Lehrlinge zu ohrfeigen gewohnt war, wenn sie nicht gewandt genug die Fliegen im Kontor fingen und nach der Größe sortiert ihm vorzeigten. Häufig schüttelte der ernste Mann den Kopf über das sonderbare Vor¬kommnis. „Man wird nervös in der Stadt. Die Stadt macht mich ner¬vös“, wiegte sich nachdenklich in den Hüften, nahm den steifen engli¬schen Hut und fächelte die Tannenluft auf seinen Schopf. Nach kurzer Zeit war er wieder dabei, seine Schritte zu zählen, eins, zwei, drei. Fuß trat vor Fuß, die Arme schlenkerten an den Schultern. Plötzlich sah Herr Michael Fischer, wahrend sein Blick leer über den Wegrand strich, wie eine untersetzte Gestalt, er selbst, von dem Rasen zurücktrat, auf die Blumen stürzte und einer Butterblume den Kopf glatt abschlug. Greifbar geschah vor ihm, was sich vorhin begeben hatte an dem dunklen Weg. Diese Blume dort glich den andern auf ein Haar. Diese eine lockte seinen Blick, seine Hand, seinen Stock. Sein Arm hob sich, das Stöckchen sauste, wupp, flog der Kopf ab. Der Kopf überstürzte sich in der Luft, verschwand im Gras. Wild schlug das Herz des Kaufmanns. Plump sank jetzt der gelöste Pflanzenkopf und wühlte sich in das Gras. Tiefer, immer tiefer, durch die Grasdecke hindurch, in den Boden hinein. Jetzt fing er an zu sausen, in das Erdinnere, daß keine Hände ihn mehr halten konnten. Und von oben, aus dem Körperstumpf. tropfte es, quoll aus dem Halse weißes Blut, nach in das Loch, erst wenig, wie einem Gelähmten, dem der Speichel aus dem Mundwin¬kel läuft, dann in dickem Strom, rann schleimig, mit gelbem Schaum auf Herrn Michael zu, der vergeblich zu entfliehen suchte, nach rechts hüpfte, nach links hüpfte. der drüber wegspringen wollte, gegen dessen Füße es schon anbrandete. Mechanisch setzte Herr Michael den Hut auf den schweißbedeckten Kopf, preßte die Hände mit dem Stöckchen gegen die Brust. „Was ist geschehen?“ fragte er nach einer Weile. „Ich bin nicht berauscht. Der Kopf darf nicht fallen, er muß liegen bleiben, er muß im Gras liegen bleiben. Ich bin überzeugt, daß er jetzt ruhig im Gras liegt. Und das Blut --. Ich erinnere mich dieser Blume nicht, ich bin mir absolut nichts bewußt.“ Er staunte, verstört, mißtrauisch gegen sich selbst. In ihm starrte alles auf die wilde Erregung, sann entsetzt über die Blume, den gesunkenen Kopf den blutenden Stiel. Er sprang noch immer über den schleimigen Fluß. Wenn ihn jemand sähe, von seinen Geschäftsfreunden oder eine Dame. In die Brust warf sich Herr Michael Fischer, umklammerte den Stock mit der Rechten. Er blickte auf seinen Rock und stärkte sich an seiner Haltung. Die eigenwilligen Gedanken wollte er schon unterkriegen: Selbstbeherrschung. Diesen Mangel an Gehorsam würde er, der Chef energisch steuern. Man muß diesem Volk bestimmt entgegentreten: „Was steht zu Diensten? In meiner Firma ist solch Benehmen nicht üblich. Hausdiener. raus mit dem Kerl.“ Dabei fuchtelte er, stehen blei¬bend, mit dem Stöckchen in der Luft herum. Eine kühle, ablehnende Miene hatte Herr Fischer aufgesetzt; nun wollte er einmal sehen. Seine Überlegenheit ging sogar soweit, daß er oben auf der breiten Fahrstraße seine Furchtsamkeit bespöttelte. Wie würde es sich komisch machen, wenn an allen Anschlagsäulen Freiburgs am nächsten Morgen ein rotes Plakat hinge: „Mord begangen an einer erwachsenen Butterblume, auf dem Wege vom Immental nach St. Ottilien, zwischen sieben und neun Uhr abends. Des Mordes verdächtig“ et cetera. So spöttelte der schlaffe Herr in Schwarz und freute sich über die kühle Abendluft. Da unten würden die Kindermädchen, die Pärchen finden, was von seiner Hand geschehen war. Geschrei wird es geben und entsetztes Nachhauselaufen. An ihn würden die Kriminalbeamten denken, an den Mörder, der sich schlau ins Fäustchen lachte. Herr Michael erschauerte wüst über seine eigne Tollkühnheit, er hätte sich nie für so verworfen gehalten. Da unten lag aber sichtbar für die ganze Stadt ein Beweis seiner raschen Energie. Der Rumpf ragt starr in die Luft, weißes Blut sickert aus dem Hals. Herr Michael streckte leicht abwehrend die Hände vor. Es gerinnt oben ganz dick und klebrig, so daß die Ameisen hängen bleiben. Herr Michael strich sich die Schläfen und blies laut die Luft von sich. Und daneben im Rasen fault der Kopf Er wird zerquetscht, aufgelöst vom Regen, verwest. Ein gelber stinkender Matsch wird aus ihm, grünlich, gelblich schillernd, schleimartig wie Erbrochenes. Das hebt sich lebendig, rinnt auf ihn zu, gerade auf Herrn Michael zu, will ihn er¬säufen, strömt klatschend gegen seinen Leib an, spritzt an seine Nase. Er springt, hüpft nur noch auf den Zehen. Der feinfühlige Herr fuhr zusammen. Einen scheußlichen Geschmack fühlte er im Munde. Er konnte nicht schlucken vor Ekel, spie unauf¬hörlich. Häufig stolperte er, hüpfte unruhig, mit blaubleichen Lippen weiter. „Ich weigere mich, ich weigere mich auf das entschiedenste, mit Ihrer Firma irgendwelche Beziehung anzuknüpfen.“ Das Taschentuch drückte er an die Nase. Der Kopf mußte fort, der Stiel zugedeckt werden, eingestampft, verscharrt. Der Wald roch nach der Pflanzenleiche. Der Geruch ging neben Herrn Michael einher, wurde immer intensiver. Eine andere Blume mußte an jene Stelle gepflanzt werden, eine wohlriechende, ein Nelkengarten. Der Kadaver mitten im Walde mußte fort. Fort. Im Augenblick, als Herr Fischer stehen bleiben wollte, fuhr es ihm durch den Kopf, daß es ja lächerlich war, umzukehren, mehr als lächerlich. Was ging ihn die Butterblume an? Bittere Wut lohte in ihn, bei dem Gedanken, daß er fast überrumpelt war. Er hatte sich nicht zusammengenommen, biß sich in den Zeigefinger: „Paß auf du, ich sag dir's, paß auf, Lump, verfluchter.“ Zugleich warf sich hinterrücks Angst riesengroß über ihn. Der finstere Dicke sah scheu um sich, griff in seine Hosentasche, zog ein kleines Taschenmesser heraus und klappte es auf. Inzwischen gingen seine Füße weiter. Die Füße begannen ihn zu grimmen. Auch sie wollten sich zum Herrn aufwerfen; ihn empörte ihr eigenwilliges Vorwärtsdrängen. Diese Pferdchen wollte er bald kirren. Sie sollten es spüren. Ein scharfer Stich in die Flanken würde sie schon zähmen. Sie trugen ihn immer weiter fort. Es sah fast aus, als ob er von der Mordstelle fortliefe. Das sollte niemand glauben. Ein Rauschen von Vögeln, ein fernes Wimmern lag in der Luft und kam von unten herauf. „Halt, halt!“ schrie er den Füßen zu. Da stieß er das Messer in einen Baum. Mit beiden Armen umschlang er den Stamm und rieb die Wangen an der Borke. Seine Hände fingerten in der Luft, als ob sie etwas kneteten: „Nach Kanossa gehn wir nicht.“ Mit angestrengt gerunzelter Stirn studierte der todblasse Herr die Risse des Baumes, duckte den Rücken, als ob von hinten etwas über ihn hinwegspringen sollte. Die Telegrafenverbindung zwischen sich und der Stelle hörte er immer wieder klirren, trotzdem er mit Fußstößen die Drähte verwirren und zudrücken wollte. Er suchte es sich zu verbergen, daß seine Wut schon gelähmt war, dass in ihm eine sachte Lüsternheit aufzuckte, eine Lüsternheit nachzugeben. Ganz hinten lüsterte ihn nach der Blume und der Mordstelle. Herr Michael wippte versuchend mit den Knien, schnupperte in die Luft, horchte nach allen Seiten, flüsterte ängstlich: „Nur einscharren will ich den Kopf, weiter nichts. Dann ist alles gut. Rasch, bitte, bitte.“ Er schloß unglücklich die Augen, drehte sich wie versehentlich auf den Hacken um. Dann schlenderte er, als wäre nichts geschehen, geradeaus abwärts, in gleichgültigem Spaziergängerschritt. mit leisem Pfeifen, in das er einen sorglosen Ton legte, und streichelte, während er befreit aufatmete, die Baumstämme am Wege. Dabei lächelte er, und sein Mäul¬chen wurde rund wie ein Loch. Laut sang er ein Lied, das ihm plötzlich einfiel: „Häschen in der Grube saß und schlief.“ Das frühere Tänzeln, Wiegen der Hüften, Armschlenkern machte er nach. Das Stöckchen hatte er schuldbewußt hoch in den Ärmel hinauf geschoben. Manchmal schlich er bei der Biegung des Weges rasch zurück, ob ihn jemand beobachte. Vielleicht lebte sie überhaupt noch; ja woher wußte er denn, daß sie schon tot war? Ihm huschte durch den Kopf, daß er die Verletzte wieder heilen könnte, wenn er sie mit Hölzchen stützte und etwa ringsherum um Kopf und Stiel einen Klebeverband anlegte. Er fing an schneller zu gehen, seine Haltung zu vergessen, zu rennen. Mit einmal zitterte er vor Erwartung. Und stürzte lang an einer Biegung hin gegen einen abgeholzten Stamm, schlug sich Brust und Kinn, so daß er laut ächzte. Als er sich aufraffte, vergaß er den Hut im Gras; das zerbrochene Stöckchen zerriß ihm den Ärmel von innen; er merkte nichts. Hoho, man wollte ihn aufhalten, ihn sollte nichts aufhalten; er würde sie schon finden. Er kletterte wieder zurück. Wo war die Stelle? Er mußte die Stelle finden. Wenn er die Blume nur rufen könnte. Aber wie hieß sie denn? Er wußte nicht einmal, wie sie hieß. Ellen? Sie hieß vielleicht Ellen, gewiß Ellen. Er flüsterte ins Gras, bückte sich, um die Blumen mit der Hand anzu¬stoßen. „Ist Ellen hier? Wo liegt Ellen? Ihr, nun? Sie ist verwundet, am Kopf, etwas unterhalb des Kopfes. Ihr wißt es vielleicht noch nicht, Ich will ihr helfen, ich bin Arzt, Samariter. Nun, wo liegt sie? Ihr könnt es mir ruhig anvertrauen. sag ich euch.“ Aber wie sollte er, die er zerbrochen hatte, erkennen? Vielleicht faßte er sie gerade mit der Hand, vielleicht seufzte sie dicht neben ihm den letzten Atemzug aus. Das durfte nicht sein. Er brüllte: „Gebt sie heraus. Macht mich nicht unglücklich, ihr Hunde. Ich bin Samariter. Versteht ihr kein Deutsch?.“ Ganz legte er sich auf die Erde, suchte, wühlte schließlich blind im Gras, zerknäulte und zerkratzte die Blumen, während sein Mund offen stand und seine Augen gradaus flackerten. Er dumpfte lange vor sich hin. „Herausgeben. Es müssen Bedingungen gestellt werden. Präliminarien. Der Arzt hat ein Recht auf den Kranken. Gesetze müssen eingebracht werden.“ Die Bäume standen tiefschwarz in der grauen Luft am Wege und überall herum. Es war auch zu spät, der Kopf gewiß schon vertrocknet. Ihn ent¬setzte der endgültige Todesgedanke und schüttelte ihm die Schultern. Die schwarze runde Gestalt stand aus dem Grase auf und torkelte am Wegrand entlang abwärts. Sie war tot. Von seiner Hand. Er seufzte und rieb sich sinnend die Stirn. Man würde über ihn herfallen, von allen Seiten. Man sollte nur, ihn kümmerte nichts mehr. Ihm war alles gleichgültig. Sie würden ihm den Kopf abschlagen, die Ohren abreißen, die Hände in glühende Kohlen legen. Er konnte nichts mehr tun. Er wusste, es würde ihnen allen einen Spaß machen, doch er würde keinen Laut von sich geben, um die gemeinen Henkersknechte zu ergötzen. Sie hatten kein Recht, ihn zu stra¬fen, waren selbst verworfen. Ja, er hatte die Blume getötet, und das ging sie gar nichts an, und das war sein gutes Recht, woran er festhielte gegen sie alle. Es war sein Recht, Blumen zu töten, und er fühl¬te sich nicht verpflichtet, das nachher zu begründen. Soviele Blumen, wie er wollte, könnte er umbringen, im Umkreise von tausend Meilen, nach Norden, Süden, Westen, Osten, wenn sie auch darüber grinsten. Und wenn sie weiter so lachten, würde er ihnen an die Kehle springen. Stehen blieb er; seine Blicke gifteten in das schwere Dunkel der Fichten. Seine Lippen waren prall mit Blut gefüllt. Dann hastete er weiter. Er mußte wohl hier im Wald kondolieren, den Schwestern der Toten. Er wies darauf hin, daß das Unglück geschehen sei, fast ohne sein Zutun, erinnerte an die traurige Erschöpfung, in der er aufgestiegen war. Und an die Hitze. Im Grunde seien ihm allerdings alle Butterblumen gleichgültig. Verzweifelt zuckte er wieder mit den Schultern: „Was werden sie noch mit mir machen?“ Er strich sich mit den schmutzigen Fingern die Wangen; er fand sich nicht mehr zurecht. Was sollte das alles; um Gotteswillen, was suchte er hier! Auf dem kürzesten Wege wollte er davonschleichen, querabwärts durch die Bäume, sich einmal ganz klar und ruhig besinnen. Ganz langsam, Punkt für Punkt. Um nicht auf dem glatten Boden auszugleiten, tastet er sich von Baum zu Baum. Die Blume, denkt er hinterlistig, kann ja auf dem Wege stehen bleiben, wo sie steht. Es gibt genug solch toten Unkrauts in der Welt. Entsetzen packt ihn aber, als er sieht, wie aus einem Stamm, den er berührt, ein runder blaßheller Harztropfen tritt; der Baum weint. Im Dunkeln auf einen Pfad flüchtend, merkt er bald, daß sich der Weg sonderbar verengt, als ob der Wald ihn in eine Falle locken wolle. Die Bäume treten zum Gericht zusammen. Er muß hinaus. Wieder rennt er hart gegen eine niedrige Tanne; die schlägt mit aufgehobenen Händen auf ihn nieder. Da bricht er sich mit Gewalt Bahn, während ihm das Blut stromweise über das Gesicht fließt. Er speit, schlägt um sich, stößt laut schreiend mit den Füßen gegen die Bäume, rutscht sitzend und kollernd abwärts, läuft schließlich Hals über Kopf den letzten Abhang am Rand des Waldes herunter, den Dorflichtern zu, den zerfetzten Gehrock über den Kopf geschlagen, während hinter ihm der Berg drohsam rauscht, die Fäuste schüttelt und überall ein Bersten und Brechen von Bäumen sich hören läßt, die ihm nachlaufen und schimpfen. Regungslos stand der dicke Herr an der Gaslaterne vor der kleinen Dorfkirche. Er trug keinen Hut auf dem Kopf in seinem zerzausten Haar¬schopf waren schwarze Erde und Tannennadeln, die er nicht abschüttelte. Er seufzte schwer. Als ihm warmes Blut den Nasenrücken entlang auf die Stiefel tropfte, nahm er langsam mit beiden Händen einen Rockschoß hoch und drückte ihn gegen das Gesicht. Dann hob er die Hände an das Licht und wunderte sich über die dicken blauen Adern auf dem Handrücken. Er strich an den dicken Knollen und konnte sie nicht wegstreichen Beim Ansingen und Aufheulen der Elektrischen trollte er weiter, auf engen Gäßchen. nach Hause. Nun saß er ganz blöde in seinem Schlafzimmer, sagte laut vor sich hin: „Da sitz ich, da sitz ich“, und sah sich verzweifelt im Zimmer um. Auf und ab ging er, zog seine Sachen aus und versteckte sie in einer Ecke des Kleiderspindes. Er zog einen andern schwarzen Anzug an und las auf seiner Chaiselongue das Tagblatt. Er zerknäulte es im Lesen; es war etwas geschehen, es war etwas geschehen. Und ganz spürte er es am näch¬sten Tage, als er an seinem Pulte saß. Er war versteinert, konnte nicht fluchen, und mit ihm ging eine sonderbare Stille herum. Mit krampfhaftem Eifer sprach er sich vor, daß alles wohl geträumt sein müsse; aber die Risse an seiner Stirn waren echt. Dann muß es Dinge geben, die unglaublich sind. Die Bäume hatten nach ihm geschlagen, ein Geheul war um die Tote gewesen. Er saß versunken da und kümmerte sich zum Erstaunen des Personals nicht einmal um die brummenden Fliegen. Dann schikanierte er die Lehrlinge mit finsterer Miene, ver¬nachlässigte seine Arbeit und ging auf und ab. Man sah ihn oft, wie er mit der Faust auf den Tisch schlug, die Backen aufblies, schrie, er würde einmal aufräumen im Geschäft und überall. Man würde es sehen. Er lasse sich nicht auf der Nase herumtanzen, von niemandem. Als er rechnete, bestand er am nächsten Vormittag unerwartet etwas darauf, daß er der Butterblume zehn Mark gutschrieb. Er erschrak, verfiel in bitteres Sinnen über seine Ohnmacht und bat den Prokuristen, die Rechnung weiterzuführen. Am Nachmittag legte er selbst das Geld in einen besonderen Kasten mit stummer Kälte; er wurde sogar ver¬anlaßt, ein eigenes Konto für sie anzulegen; er war müde geworden, wollte seine Ruhe haben. Bald drängte es ihn, ihr von Speise und Trank zu opfern. Ein kleines Näpfchen wurde jeden Tag für sie neben Herrn Michaels Platz gestellt. Die Wirtschafterin hatte die Hände zusammen-geschlagen, als er ihr dies Gedeck befahl; aber der Herr hatte sich mit einem unerhörten Zornesausbruch jede Kritik verbeten. Er büßte, büßte für seine geheimnisvolle Schuld. Er trieb Gottesdienst mit der Butterblume, und der ruhige Kaufmann behauptete jetzt, jeder Mensch habe seine eigene Religion: man müsse eine persönliche Stel¬lung zu einem unaussprechlichen Gott einnehmen. Es gebe Dinge, die nicht jeder begreift. In den Ernst seines Äffchengesichts war ein leidender Zug gekommen; auch seine Körperfülle hatte abgenommen, seine Augen lagen tief. Wie ein Gewissen sah die Blume in seine Handlungen. streng, von den größten bis zu den kleinsten alltäglichen. Die Sonne schien in diesen Tagen oft auf die Stadt, das Münster und den Schloßberg, schien mit aller Lebensfülle. Da weinte der Verhärtete eines Morgens am Fenster auf, zum ersten Male seit seiner Kindheit. Urplötzlich, weinte, daß ihm fast das Herz brach. All diese Schönheit raubte ihm Ellen, die verhaßte Blume, mit jeder Schönheit der Welt klagte sie ihn jetzt an. Der Sonnenschein leuchtet, sie sieht ihn nicht; sie darf den Duft des weißen Jasmins nicht atmen. Niemand wird die Stelle ihres schmählichen Todes betrachten, keine Gebete wird man dort sprechen: das durfte sie ihm alles zwischen die Zähne werfen, wie lachhaft es auch war und er die Hände rang. Ihr ist alles versagt: das Mondlicht, das Brautglück des Sommers, das ruhige Zusammenleben mit dem Kuckuck, den Spaziergängern, den Kinderwagen. Er presste das Mündchen zusammen; er wollte die Menschen zurückhalten, als sie den Berg hinaufzogen. Wenn doch die Welt mit einem Seufzer untergegangen wäre, damit der Blume das Maul gestopft sei. Ja, an Selbstmord dachte er, um diese Not endlich zu stillen. Zwischendurch behandelte er sie erbittert, wegwerfend, drängte sie mit einem raschen Anlauf an die Wand. Er betrog sie in kleinen Dingen, stieß hastig, wie unabsichtlich, ihren Napf um, verrechnete sich zu ihrem Nachteil, behandelte sie manchmal listig wie einen Geschäftskon¬kurrenten. An dem Jahrestag ihres Todes stellte er sich, als ob er sich an nichts erinnerte. Erst als sie dringender auf eine stille Feier zu bestehen schien, widmete er ihrem Andenken einen halben Tag. In einer Gesellschaft ging einmal die Frage nach dem Leibgericht herum. Als man Herrn Michael fragte, was er am liebsten esse, fuhr er mit kalter Überlegung heraus: „Butterblumen; Butterblumen sind mein Leibgericht.“ Worauf alles in Gelächter ausbrach, Herr Michael aber sich zusammenduckte auf seinem Stuhl, mit verbissenen Zähnen das Lachen hörte und die Wut der Butterblume genoß. Er fühlte sich als scheusäli¬ger Drache, der geruhsam lebendiges herunterschluckt, dachte an wirr Japanisches und Harakiri. Wenngleich er heimlich eine schwere Strafe von ihr erwartete. Einen solchen Guerillakrieg führte er ununterbrochen mit ihr; ununter¬brochen schwebte er zwischen Todespein und Entzücken; er labte sich ängstlich an ihrem wütenden Schreien, das er manchmal zu hören glaubte. Täglich sann er auf neue Tücken; oft zog er sich, hoch auf¬geregt. aus dem Kontor in sein Zimmer zurück, um ungestört Pläne zu schmieden. Und so heimlich verlief dieser Krieg, und niemand wußte darum. Die Blume gehörte zu ihm, zum Komfort seines Lebens. Er dachte mit Verwunderung an die Zeit, in der er ohne die Blume gelebt hatte. Nun ging er oft mit trotziger Miene in den Wald nach St. Ottilien spazieren. Und während er sich eines sonnigen Abends auf einem gefallenen Baumstamm ausruhte, blitzte ihm der Gedanke: hier an der Stelle, wo er jetzt saß, hatte seine Butterblume, Ellen, gestanden. Hier mußte es gewesen sein. Wehmut und ängstliche Andacht ergriff den dicken Herrn. Wie hatte sich alles gewendet! Seit jenem Abend bis heute. Er ließ versunken die freundlichen, leicht verfinsterten Augen über das Unkraut gehen, die Schwestern, vielleicht Töchter Ellens. Nach langem Sinnen zuckte es spitzbübisch über sein glattes Gesicht. Oh, sollte seine liebe Blume jetzt eins bekommen. Wenn er eine Butterblume ausgrübe, eine Tochter der Toten, sie zu Hause einpflanzte, hegte und pflegte, so hatte die Alte eine junge Nebenbuhlerin. Ja, wenn er es recht überlegte, konnte er den Tod der Alten überhaupt sühnen. Denn er rettete dieser Blume das Leben und kompensierte den Tod der Mutter; diese Tochter verdarb doch sehr wahrscheinlich hier. Oh, würde er die Alte ärgern, sie ganz kaltstellen. Der gesetzkundige Kaufmann erinnerte sich eines Paragraphen über Kompensation der Schuld. Er grub ein nahes Pflänz¬chen mit dem Taschenmesser aus, trug es behutsam in der bloßen Hand heim und pflanzte es in einen goldprunkenden Porzellantopf, den er auf einem Mosaiktischchen seines Schlafzimmers postierte. Auf den Boden des Topfes schrieb er mit Kohle: „§2403 Absatz 5.“ Täglich begoß der Glückliche die Pflanze mit boshafter Andacht und opferte der Toten, Ellen. Sie war gesetzlich, eventuell unter polizeilichen Maßregeln zur Resignation gezwungen, bekam keinen Napf mehr, keine Speise, kein Geld. Oft glaubte er, auf dem Sofa liegend, ihr Win¬seln, ihr langgezogenes Stöhnen zu hören. Das Selbstbewußtsein des Herrn Michael stieg in ungeahnter Weise. Er hatte manchmal fast Anwandlungen von Größenwahn. Niemals verfloß sein Lehen so heiter. Als er eines Abends vergnügt aus seinem Kontor in seine Wohnung geschlendert war, erklärte ihm seine Wirtschafterin gleich an der Tür ge¬lassen, daß das Tischchen beim Reinemachen umgestürzt, der Topf zerbrochen sei. Sie hatte die Pflanze, das gemeine Mistzeug, mit allen Scherben in den Mülleimer werfen lassen. Der nüchterne, leicht ver¬ächtliche Ton, in dem die Person von dem Unfall berichtete, ließ erkennen, daß sie mit dem Ereignis lebhaft sympathisiere. Der runde Herr Michael warf die Tür ins Schloß, schlug die kurzen Hände zusammen, quiekte laut vor Glück und hob die überraschte Weibsperson an den Hüften in die Höhe, so weit es seine Kräfte und die Deckenlänge der Person erlaubten. Dann schwänzelte er aus dem Korri¬dor in sein Schlafzimmer, mit flackernden Augen, aufs höchste erregt; laut schnaufte er und stampften seine Beine; seine Lippen zitterten. Es konnte ihm niemand etwas nachsagen; er hatte nicht mit dem geheimsten Gedanken den Tod dieser Blume gewünscht, nicht die Fingerspitze eines Gedankens dazu geboten. Die Alte, die Schwiegermutter, konnte jetzt fluchen und Sagen; was sie wollte. Er hatte mit ihr nichts zu schaffen. Sie waren geschiedene Leute. Nun war er die ganze Butterblumensippschaft los. Das Recht und das Glück standen auf seiner Seite. Es war keine Frage. Er hatte den Wald übertölpelt. Gleich wollte er nach St. Ottilien, in diesen brummigen, dummen Wald hinauf. In Gedanken schwang er schon sein schwarzes Stöckchen. Blumen, Kaulquappen, auch Kröten sollten daran glauben. Er konnte morden, so viel er wollte. Er pfiff auf sämtliche Butterblumen. Vor Schadenfreude und Lachen wälzte sich der dicke, korrekt geklei¬dete Kaufmann Herr Michael Fischer auf seiner Chaiselongue. Dann sprang er auf, stülpte seinen Hut auf den Schädel und stürmte an der verblüfften Haushälterin vorbei aus dem Hause auf die Straße. Laut lachte und prustete er. Und so verschwand er in dem Dunkel des Bergwaldes. Der Ritter Blaubart Hinter der dünnen Birkenreihe, welche die Stadt von Norden her umsäumte, zog eine wellige Ebene nach dem Meere zu, wenig mit niedrigen Kiefern und Strauchwerk besetzt. Kein einziger Weg führte aus dem Durchbruch der Stadtmauer nach dem Strand, der kaum zwei Stunden entfernt ist; eine Kleinbahn fuhr in weitem Bogen um die Einöde herum an das Wasser. In vielen Senkungen der Ebene stand der Sumpf, schwarz und steif wie Leim; Ratten und Kröten hausten hier; öfter stieß ein Häher durch die dicke Luft und schlug ein Weichtier an. Wo sich die Hügelreihe am stärksten erhob, ragten quadratische und unförmige Steinblöcke scharf auf, Reste verwitterter Klippen. Das Meer hatte sich früher über das Land gestreckt; jetzt lag die Ebene verstört und frostig da; Meer und Erde wandten sich von ihr ab. Diese Fläche war vor langen Jahren auf eine sonderbare Weise in den Besitz eines Barons Paolo di Selvi gekommen. Er war von einer Weltreise durch den Sund in diese See gesteuert, um in der Stadt den Vater seines ersten Bootsmannes zu besuchen, der unter dem Äquator dem Schwarzwasserfieber erlegen war. Er stieg ans Land, sprühend von Laune, träumerisch, eroberungssicher. Breitschulterig ging er mit den leicht gebogenen Beinen des Reiters über die Anlegebretter. Der Wind pfiff scharf an dem Morgen, und warf ihm die schiefsitzende Kapitänsmütze mit einem glatten Schlag ins Wasser, so daß er barhäuptig und lachend unter seinen Leuten stand, die das böse Omen entsetzte. Seine Augen waren etwas schräg gestellt, dicht an der Nase, die klein und stumpf war und mit ihrer Wurzel tief einsetzte. Die klaren hellgrauen Augen stimmten schlecht zu dem Munde von mädchenhafter Weiche, zu der Sanftheit seiner Stimme. Er ritt auf einem schwarzen Hengst hinter einem Maultiergespann den weiten Umweg nach der Stadt; zwei Truhen schleppte man zu dem alten Manne, den er suchte, eine mit Andenken und allem Nachlaß des Bootsmannes, die andere mit japanischer Seide, indischen Perlen und Juwelen, mit sibirischem Pelzwerk. Kaum zwei Stunden blieb er in der Stadt, dann trabte er pfeifend und lachend allein zurück, unbekannt der Gegend, den kurzen Weg durch die Ebene. Es ist nichts bekannt über die Geschehnisse in der Ebene an dem Mittag. Der Baron muß schon am Eingang des Gebietes vom Pferd abgesessen sein und sich allein durch den Sand und Morast gemacht haben. Beim nächsten Morgengrauen fand man den Vermißten besinnungslos auf der Klippe liegen, lang auf den Rücken ausgestreckt, über und über mit Tang und Lehm bedeckt, das Gesicht eigentümlich geschwollen, glühend, mit Bläschen, wie verbrannt, auch an der rechten Hand und dem Vorderarm löste sich die Haut in Fetzen ab. Man lagerte den ohnmächtigen Mann auf eine Bahre, trug ihn schräg über das Brachland auf die nächste Chaussee, wo man einen Heuwagen requirierte und in die Stadt fuhr. Die Wundflächen heilten in einer Woche. Der Baron wußte nicht, was ihm geschehen war. Nur die Krankenschwestern berichteten, daß seine Augen gegen Abend einen leidenden entsetzten Ausdruck annähmen, daß er den rechten Arm zur Abwehr in die Höhe hebe und trostlos wimmere. Als er völlig genesen war, schenkte er die Yacht seinem ersten Steuermann, entließ seine Leute und zog in die Stadt. Zuerst bewohnte er ein Haus im Süden der Stadt, ganz im Freien liegend; viele Singvögel umgaben ihn; er pflog mit keinem Menschen Verkehr. Nach einigen Monaten zog er an die Stadtmauer in eine ganz alte Wohnung, die einen weiten Blick auf die dunstige Heide gewährte. Auf der Stadtmauer spazierte und saß der völlig veränderte unzugängliche Mann oder ritt die Chaussee langsam nach dem Meere zu. Bis er nach fast Jahresfrist frühmorgens durch die Straßen der Stadt ging, auf dem Marktplatz nach einem Baumeister fragte und diesen mit kurzen Worten beauftragte, ihm in der Heide auf der höchsten Anhöhe um die Klippe herum ein Wohnhaus zu bauen. Der Baumeister brauche sich nicht zu beeilen, sagte er, indem er die Arme verschränkte; es solle ein Schloß werden, heimlich und weitläufig, mit vielem festlichen Schmuck; denn er wolle in sechs Monaten seine Gemahlin heimführen. So zogen die Wegebauer in die Heide, stampften von der Chaussee einen sicheren Nebenweg nach der Klippe. Die Maurer fuhren lärmend an; sie planten den Hügel ab, gruben die Pfeiler ein und umbauten den Felsen, der sich bis zum ersten Stock des Hauses erhob und frei in die Zimmer ragte, -- ein weites gedehntes Gebäude aus grauem Kalkstein, mit bunten Kirchenfenstern, zierlichen Türmen. Mitten in der Einöde erhob sich das Schloß, ein Gelächter der Bauleute, ein Kopfschütteln der Städter. Knapp einen Monat, nachdem die Wände, Zimmer mit Kostbarkeiten erfüllt waren, führte der Baron eine fremde, junge Frau in sein Schloß. Sie erschien einmal im Theater der Stadt, die Portugiesin, ein braunes kindliches Wesen, das nicht vom Arme des Mannes wich; der lachte wieder wie früher und bezauberte alle. Sie tanzten an dem Abend im Bürgersaal. Der Baron spitzte seinen Mund und pfiff im Tanz; er strich den braunen Vollbart und zeigte spottend die Brandnarben auf seiner rechten Hand. Das zweite Mal, daß man von der Portugiesin hörte, war eine Woche später, als ein reitender Bote nachts vom Schloß herjagte, dem Arzt die Türe einschlug, ihn nach der Heide schleppte an die Leiche der jungen Frau. Sie lag mit blaurotem Gesicht im Nachtkleide auf dem dunklen Korridor vor ihrem Zimmer. Neben ihr brannte noch die Kerze, mit der sie wohl aus der Tür gestürzt war. Der Baron folgte dem Arzt mit starren Augen; keine Frage beantwortete er, keine Miene verzog er. Aus den Worten einer schluchzenden Zofe hörte der Arzt von dem alten Herzleiden der fremden Frau; er knöpfte seinen Pelz zu; sie war einer Lungenembolie erlegen. Nach drei Wochen erschien der Baron wieder in der Stadt; man lud ihn zu den Gesellschaften ein. Oft und öfter ritt er in die Stadt, er fuhr zur Jagd, beteiligte sich an Kampfspielen und Rennen, saß abends beim Wein und erzählte von seinen Fahrten und Abenteuern. Lange Zeit sah man ihn lustig, schwärmend und träumerisch, mit den Soldaten und Seeleuten der Stadt, er fuhr eines Märztages mit zweien von ihnen wieder in See. Es kam nach einem halben Jahr etwa ein Brief von ihm an bei dem Verwalter seines Schlosses, daß die Wohngemächer grün auszuschlagen und grüne Läufer zu legen seien, und daß im Damenzimmer Orchideen gesetzt werden sollten. Rund acht Monate nach seiner Abfahrt kehrte er zurück. Wieder führte er eine junge fremde Frau auf sein Schloß. Diese hat kein Städter gesehen. Eines Morgens lag sie in schwarzem Reitkleid, den Schleier vor dem stolzen weißen Gesicht, eine Gerte in der Hand, tot auf dem Hof des Schlosses. Im Volk, bei den Schiffern und Vorstadtarbeitern munkelte man, wenn der finstere Baron in seinem schwarzen Ledermantel vorüberritt; die Kinder schrieen vor ihm auf, warfen kleine Steinchen nach ihm, schossen mit dem Katapult auf seinen Hengst. Die Tochter eines Ratsherrn, ein schmächtiges hellblondes Mädchen, sah ihm vom Fenster aus nach. Ihr traten Tränen in die taubengrauen Augen, wenn die Männer ingrimmig von dem Geschick des schwarzen Ritters sprachen; sie weinte in ihrem Zimmer um ihn und war eines Tages auf seinem Schlosse und wurde seine Frau. Alle angstvollen Beschwörungen der Verwandten konnten dies nicht verhindern. Scharen von tobenden Menschen wälzten sich über den dunklen Weg nach dem Schloß, noch ehe ein Monat verstrichen war, als man die Leiche des süßen Geschöpfes eines Abends an dem Mauerdurchbruch fand. Die Polizei umringte das Schloß zum Schutz, der Baron wurde in Haft genommen. Das Gericht verfügte die Exhumierung der beiden ersten Frauen, die genaue chemische Analyse der drei Leichen auf Giftstoffe. Die Untersuchung blieb ergebnislos. Der Baron wurde auf freien Fuß gesetzt, das Volk streckte ohnmächtig die Hände nach ihm aus und wollte ihn zerreißen, als er seinen Revolver in der rechten Hand, langsam, höhnisch lachend, nach der Heide hinausritt. Von nun an mied er die Stadt völlig. Er hauste allein in der Heide; nur sein Reichtum hielt die Dienerschaft im Schloß zurück. Da landete eines Tages eine kleine Yacht vor der Stadt. Ein silbernes Horn blies über die Heide; Miß Ilsebill kutschierte ein Schimmelgespann durch die glatte Chaussee nach der Stadt. In dem Gasthof am Markt logierte sie sich ein. Sie fragte den Wirt nach dem Baron Paolo und seinem verrufenen Schloß; sie fragte zum zweiten, ob jetzt noch eine Frau bei ihm wäre; sie fragte zum dritten, wo sie ihn sehen könne. Bei den Rennen, die morgen in Stirming, dem Vororte, stattfänden. Frühmorgens rüstete man das Gespann; der Groom stieg auf den Bock; auf dem Polster schaukelte Miß Ilsebill. Die schnurgraden Alleen herunter sausten die Wagen, die Automobile; sie lenkten in weitem Bogen vor das Portal der Rennbahn. Der Himmel war stahlblau, es wehte eine sommerliche Luft. Die Menschen drängten auf die Rennbahn, sie füllten die Tribüne vor dem weiten, grünen Rasen; der Lärm der Stimmen und Gefährte brauste, ein Riesenvogel, über die leere Fläche. Die Miß fuhr zuletzt, kurz vor dem Start, am Sattelplatz vor. Zwei sanfte Schimmel zogen den offenen, blauausgeschlagenen Wagen durch den knirschenden Sand. Sie stieg aus, im blauen wallenden Samtkleide, eine weiße Feder wehte in den bloßen Nacken; sie glitt durch die hölzerne Sperre auf ihren Platz. Sie hatte eine gelbweiße Haut, ebenmäßige Züge. Ihre tiefschwarzen Augen schlüpften zögernd über die Menschen und Gegenstände, wie ein schleimiger Schneckenleib, ließ eine Spur. Sie saß lachend da und kaute Schokolade. Baron Paolo lehnte an der Stange; er sah mit Vergnügen die weißen Pferde antraben, hielt seinen weichen Filzhut zum Schutz über die spähenden Augen. Als die weiße Straußenfeder steil in dem Winde sich aufstellte, ging er die vier Stufen der Treppe hinunter, schob sich seitlich durch die Menge und trat vor Miß Ilsebill. Er hob die hohlen Hände wie ein Araber auf; beugte seinen Nacken vor ihr. Sie erschrak und lachte dann. Kalvello hieß der Favorit. Das braune schlankbeinige Tier jagte lässig hinter dem Rudel her; schon waren zwei Runden um, die Entscheidungsstrecke kam. Miß Ilsebill ließ das Silberpapier fallen, stützte das feste Kinn auf die Hand, jauchzte über die gebundene Ruhe des Pferdes. Sie waren dicht am Ziel; da legte sich der blauweiße Jockey dicht an das Ohr der Pferdes, flüsterte »Kalvello, ho, Kalvello«. Das Tier senkte den Kopf, flog in vier Sprüngen hin, siegte. Sie strahlte. Der Lärm der Menge rauschte über sie. Kaum das Hürdenspringen vorüber war, stand sie auf und lud den schweigenden Mann zu einer Spazierfahrt mit ihr ein. Während sie durch die Wälder im Süden der Stadt fuhren, sagte er, daß er der Baron Paolo di Selvi sei, daß er durch sein Geschick hierher verschlagen sei und drüben in der Heide wohne. Sie erzählte, sie wäre Miß Ilsebill; er hätte auf seinem Heideschloß drei Frauen verloren, und sie trauere über sein Geschick. Worauf er einen trüben Blick auf sie warf, den grauen Kopf senkte; der Groom aber riß die Schimmel herum; sie fuhren die Chaussee zurück, auf den geraden Weg zur Heide. An der Wendung zur Schloßallee verengerte sich der Weg. Paolo nahm dem Kutscher die Leine ab. Die Pferde sträubten sich. Er stieg aus und riß sie vor. Unter Peitschenhieben zogen sie an, sie schnaubten und wollten durchgehen, aber er hielt die Leine straff. Prunkend stand in der Wüstenei das graue Schloß; über dem Dach des Damenflügels ragte die Spitze einer weißen Klippe. Paolo saß aufrecht im weichen Hut, eingefallen waren seine braunen Wangen und seine Schläfen, seine schräg gestellten grauen Augen blickten leer, nur sein Mund war rund und weich und sehnsüchtig wie immer. In der Dämmerung kamen sie vor sein Haus. Am Portal gab er ihr zum Abschied die Hand. Miß Ilsebill stieg aber aus und bat sich bei ihm zu Gaste auf ein paar Tage; sie wollte ihn pflegen und mit schöner Musik erheitern. Sie bezog die Zimmer des Damenflügels. Sie ritten morgens und mittags aus; Ilsebill sang und spielte vor ihm in den Gemächern. Sie trug bunte und nixengrüne Gewänder; in ihren Augen war ein weißes Schimmern, wenn sie auf den Teppichen tanzte; ihr schwarzes Haar hatte sie in Zöpfen gebunden, die sie mit den blitzenden Zähnen festhielt. Paolo lag stumpf auf den Polstern, rauchte und hüllte sich in Dampf, später warf er sich auf den Teppich, sah ihr neugierig aus seinen hellen Augen zu, hörte sie summen zu der Guitarre, in die ihre Dienerin griff. Seine Stimme wurde heller, sein Gang rascher. Und als sie einmal auf dem Balkon standen, brach sie in ein ungefüges Weinen aus; sie wollte wissen, was es mit ihm sei, sie wollte ihm helfen. Er aber nahm ihre beiden gelbweißen, heißen Hände, legte sie auf seine Stirn, indem er die Worte eines fremden Gebets flüsterte; sie hing an seinem Hals, während er entsetzt bebte und lauter sprach und schrie, was sie nicht verstand. Schon war er wieder still und sanft, geleitete Miß Ilsebill in ihr Zimmer. Und am Abend schlich sie sich, indessen der Baron im Herrenflügel schlief, allein trotzig und finster an die Tür des verschlossenen Zimmers, in das die Klippe hineinragte. Sie rüttelte an dem Holz, sie stemmte sich seufzend mit der Schulter an; das Schloß hielt fest. Da nahm sie das goldene Kreuz vom Halse ab, flehte die Mutter Gottes um Hilfe an, fand am Fuße der Tür einen Riegel bloßliegen, schob ihn, den Finger einschlagend, in die Höhe, mit schwerer Mühe, so daß ihr Arm schmerzte. Lautlos sprang die Tür auf; Miß Ilsebill, die zarte, in ein schwarzes Tuch geschlagen, hob die Kerze: es war ein schmales, freundliches Gemach, mit zärtlichem Frauentand die Tischchen und Wände bedeckt; der rohe zackige Felsen bildete die breite Hinterwand; er schattete sonderbar in dem unsichern Lichte; in seiner Nische, über dem Boden, stand das grünbezogene Nachtlager, zu dem zwei Stufen führten. Miß Ilsebill tänzelte freudig über den dicken Teppich, warf ihr Tuch ab, sog den schwachen Blumengeruch ein, zündete zwei Ampeln an und war in dem heimlichsten Zimmer. Die grüne japanische Seide hing von der Decke herab, Bilder und Tapeten lächelten ruhevoll und sanft, auch die sonderbare Klippe schimmerte wie ein spielerischer, phantastischer Einfall. Sie legte leise die Tür an, sprang auf das Lager, lag träumend stundenlang, schlüpfte frühmorgens wieder durch die Korridore auf ihr Zimmer, nachdem sie das Licht gelöscht, sorgfältig die schweren Riegel herabgeschoben hatte. »War nichts geschehen, ist mir nichts geschehen,« sagte sie glücklich vor sich hin; glitt nun Nacht für Nacht hinüber in das Felsenzimmer, dort zu schlafen. Des Tages aber fand Miß Ilsebill kein Ende des Plauderns, Singens und Lockens vor dem versunkenen Manne. Aus ihren tiefschwarzen schlüpfenden Augen schlug öfter ein greller Blick zu ihm, und als sie einmal unter den fünf raschelnden Schleiern vor ihm getanzt hatte und er lachend über ihre tollen Sprünge ihre Handgelenke hielt, warf sie ihre Schönheit vor ihm hin und bettelte an seinem Hals: »Ich bin Ihr Eigen, Paolo.« »Sind Sie das, Miß Ilsebill? Sind Sie das? Und sein Blick war nicht grell und heiß, sondern derart schwermutsvoll, fragend und ohne Trost, daß sie von ihm abwich, die Schleier um sich warf und aus dem Zimmer schlich. Er umgab sie aber mit so viel stiller Ehrfurcht, daß er die blaßwangige Ilsebill ganz in staunendes Glück versenkte. Auf ihren Streifzügen durch die Wälder trug der schwarze Ritter sie oft auf den Armen und betete, manchmal in die starken Kniee sinkend, in fremder harter Sprache. Sie hob nie die Lippen zu seinem Munde, nur selten nahm er ihre gelbweißen Hände und preßte sie an seine Stirn. Welche Kleider trug Ilsebill mit den feinen Knöcheln? Wieviel Zöpfe hingen aus ihrem blauschwarzen Haar? Grüne Kleider, wie die Seide in dem Felsenzimmer trug Miß Ilsebill; grüne Blätter lagen auf ihrem Haare und waren eingeflochten in drei dichten Zöpfen. Miß Ilsebill und Paolo spielten und jagten zusammen, sie saßen oft am Meere, sie träumten zu zweit. Paolos Augen sprühten. Eines Mittags sagte sie ihm, daß sie ihn um etwas bitten möchte. Und als Paolo freundlich fragte, biß sie sich auf die Unterlippe und meinte, daß sie ihm etwas sagen müsse. Ob es nicht zweckmäßig wäre, wenn sie einen Arzt kommen ließen aus der Stadt; sie glaube, sie sei etwas krank. Paolos Lippen wurden schneeweiß, er atmete schwer mit geschlossenen Augen: was ihr denn fehle. Sie höre immer, fast immer ein leises Scharren. Es sei ein Geräusch, ganz weit entfernt, ein gleichmäßiges Streifen, Rieseln und Scharren, gleich als liefe ein Tier über Sand und bliebe immer wieder schnaufend stehen. Es sei so fein, daß es ihr oft wie ein Pfeifen klinge. Er stand am Fenster und blies gegen die Scheibe, fuhr mit rauher Stimme heraus, es sei kein Arzt not bei solcher Krankheit; sie müsse sich zerstreuen; sie müsse jagen, reisen; am besten, sie ginge fort von hier. Da lachte Miß Ilsebill aus vollem Halse und sagte, ihre beiden Pferde seien nur schwer den Weg hierher gelaufen und jetzt, wo fände sie Pferde, die sie zurücktragen würden ohne ihn. Der untersetzte Mann hatte sich umgedreht, seine Stirn lag in Falten, sein mageres Gesicht glühte, er klagte heiser: sie solle gehen, sie solle gehen, sie solle gehen, er wolle sie doch nicht; er wolle kein Weib und keinen Menschen und nichts; er hasse sie alle, die höhnischen, sinnlosen Wesen; sie solle gehen, o sie solle gehen. Ein Messer wolle er ihr gleich geben, damit solle sie sich ihre Krankheit aus dem Herzen schälen. Wie Miß Ilsebill mit schaukelnden Hüften auf ihn zuging, kam er auf sie gewankt, taumelnd wie ein Kind, sah sie an derart schwermutsvoll und ohne Trost, daß sie sein Haar streichelte und in fesselloses Schluchzen ausbrach, als er an ihrer Brust zitterte. Sie stellte keine Frage an ihn; sie nahm heimlich einen Dolch von der Wand, versteckte ihn unter ihrem Kleid. Miß Ilsebill ging nun in ihrem dünnen Kleid oft allein aus, sie streifte bis an die Stadtmauer, brachte Paolo seltene Muscheln, blaue Steine mit, auch streng duftende Narzissen, die er liebte. Und auf einem Wege sprach sie in der Vorstadt einen alten Bauern an, der erzählte, der Baron habe sich mit Leib und Seele einem bösen Untier verkauft. Das läge aus Urzeiten auf dem alten Meeresgrunde, dort auf der Heide; in der Klippe hause es und brauche alle paar Jahre einen Menschen. Es klänge wie ein Märchen und sei doch wahr. Wäre nicht bei den Frauen jetzt die Unzucht und Gottlosigkeit so groß, so wäre der arme Ritter längst befreit von dem Tier. Sie hörte es mit Glück, denn sie wußte es schon lange. Sie spielte auf ihrem Zimmer mit Eidechsen, die sie fing. Als Paolo sie einmal unter Lächeln klagen hörte, sie suche im Grunde nur nach dem Tier, das so laut scharre und murre und raschelte, meinte er, nach einem langen, schüttelnden Gelächter, er wolle einen Dichter einladen, den er kenne in der Stadt, der solle sie mit Märchen und seltsamen Geschichten unterhalten. Es sei ein seelenkundiger Mann. Am nächsten Mittag spazierte über den breiten Hauptweg der Dichter auf das Schloß; sie saßen zu dritt bei Tisch. Dann lud Paolo ihn ein, den Arzt zu spielen bei Miß Ilsebill und ihre Schwermut zu beheben; denn es scheine ihm eine Art Schwermut zu sein, was in ihr scharre und raschele und sie zu verschlingen drohe. Der Dichter sprach mit ihr auf ihrem Balkonzimmer; es war ein schlanker, junger Mann mit langen Armen und mit freien Bewegungen. Er fuhr über sie mit herrscherischen Blicken, sie lachten zusammen, über ihre Bilder gebückt. Er bat sie, sie möchte tanzen, als schon die Lust dazu in der Wilden erwacht war; sie tanzten zusammen unter Ilsebills letztem Schleier, und die Entfesselte sprang mit ihm auf den Balkon und lachte mit einmal über das Schloß und den Sumpf und die scharrenden Tiere. Sie krümmte sich über das Eisengitter, schrie ihr Gelächter über die dämmerige Heide hin. Wahnsinnig, ja wahnsinnig wäre sie, eine Leiche bei lebendigem Leibe. Mögen alle vorsintflutlichen Drachen ausbrechen und Paolos Glück morden: sie kenne nur ein Tier, das ausbrechen wolle, und das sei sie selber. Sie streckte ihre runden Arme über sich, rief das Meer an, sie wolle wieder fort, sie wolle reisen und wandern und wolle immer lieben und immer küssen. Und eh die Dunkelheit einbrach, ging der Dichter fort; trällernd riß sie ein grünes Blatt aus ihrem Haar und steckte es zwischen seine Lippen. Kaum war es finster im Schloß geworden, da warf sich Miß Ilsebill ihr schwarzes Tuch um, nahm noch mit glühenden Wangen eine Kerze in die Hand und belud ihren linken Arm mit zwei Scheiten Holz: sie wollte zum Schluß die Felsenkammer in Brand stecken und dann in Nacht und Nebel verschwinden. Auf dem Meer wartete schon die Yacht, die der Dichter zur Flucht besorgt hatte. Den dunklen Gang keuchte sie hin; aus dem Dunklen, ihr entgegen, kamen Schritte. Die Scheite ließ sie über die Kniee leise zu Boden gleiten, es war Paolo, der sie nicht fragte, ihre Kerze sachte an den Boden stellte und sie zärtlich, ohne zu sprechen, streichelte über Haar und Hände. Die schwarzen Augen Miß Ilsebills schlüpften nicht fort von seinen, die voll Teilnahme blickten und einen erschreckenden Trost spendeten, schlüpften nicht ab von der ruhigen Aufgeschlossenheit seines heiteren Gesichts. Seine schräggestellten Augen strahlten über sie gar eine Dankbarkeit, sein Mund näherte sich zum ersten Male ihren Lippen und küßte sie. Er sagte, er ginge noch heute in die Stadt. Sie kauerte auf dem Gang, die Kerze war erloschen, eine unbezwingliche Angst schüttelte ihre Schultern. Sie hielt das Kreuz in beiden Händen hoch, sie richtete sich auf, die Scheite ließ sie liegen, sie mußte über den Gang, sie mußte nach der Tür, sie mußte in die Kammer. Hart war ihr Gesicht, dann verzerrte es sich hilflos. Hinter dem Kreuz schleppte sich Miß Ilsebill, weinend und sich kasteiend. Den Riegel schob sie hoch. In der Kammer ging sie händeringend auf und ab, schlug sich die Brust, schlummerte auf dem weichen Teppich ein. Im Traume hörte sie ein Scharren und Krachen, ein lautes Rufen von Männerstimmen: »Ilsebill, rette dich; rette dich, Ilsebill, Ilsebill!« Richtete sich auf. Kam aus dem Felsen eine blasende Flamme, ein brennender Mund her. Der Felsen sprang mitten auseinander, aus der Höhle strömte das Wasser, wälzte sich ein grauenhaftes Meeresungeheuer, eine Meduse mit zahllosen ringelnden Fängen; aus dem Leib schlug die zitternde, blaurote Flamme wie der Atem. Miß Ilsebill stürzte nach der Tür; die fand sie nicht; da schrie sie gell und wahnsinnig: »Paolo, Paolo.« Das Untier zischte nach ihr; eine lähmende Süße durchfloß sie; sie schlug in Todesangst gegen die Wand. Ein blanker Spieß hing da, sie riß ihn herunter, schleuderte ihn blind in die Flamme hinein. Halbumfallend fand sie die Tür, lief, schreiend, mit den versengten Händen um sich schlagend, über die stummen Gänge; blieb vor ihrer Zimmertür liegen.Bis an den grauen Morgen lag die stolze Miß Ilsebill. Als sie sich aufrichtete, löste sie mit starrer Ruhe ihre Schuhe und Strümpfe ab, band ihre Zöpfe auf, ging barhäuptig, in bloßem, dünnem Röckchen aus dem Hause, durch den Torweg nach der Stadt zu über die Heide, bis da, wo die Birken stehen. Sie wandte sich nicht einmal um. Hinter ihr tobte es; vom Meere her kam ein Donnern und Bersten. Eine Springflut, eine meilenweite graue Wand durchbrach die Dämme und Deiche, setzte rollend und schäumend über die verwunschene Ebene, bedeckte wieder, was ihr schon einmal gehört hatte, dazu ein graues Schloß und viele schlafende, armselige Menschen. Das furchtbare Wasser warf seine Wellen bis dicht an den Berg heran vor der Stadt, auf dem die Birken stehen. Ilsebill wanderte auf den Berg. Und wie sie zwischen den Bäumen ging, trat der Nebel in den Wald. Aus einem Baume, an dem sie betete und ihr Kreuz aufhing, trat ein feiner, feiner Rauch, der süßer als Flieder duftete. Er legte sich um die wandernde Ilsebill, so daß sie eingehüllt war in die Falten eines weiten, duftenden Mantels. Sie sah keinen Schritt vor sich und keinen Schritt hinter sich; und als sie merkte, daß der Mantel der Mutter Gottes sie einhüllte, fing sie an zu weinen wie ein zages Mädchen. Rascher und rascher lief sie, aber sie stürzte bei jedem Schritt: »Ich möchte doch leben. Ach, liebe Mutter Gottes, laß mich doch die Blumen noch sehen, laß mich doch die Vöglein sehen. Ach, liebe Mutter Gottes, sei gut zu mir. Ich sehe, -- du bist gut zu mir, wie ich zu dir bin.« Ihre Lippen blaßten. Sie wurde dünner und dünner. Seufzend löste sie sich auf und verschwand in dem feinen Nebel, der über die Birken zog. Schon hob sich die Sonne über dem Wasser, da trabte langsam ein schwarzer Hengst mit einem Reiter durch den Mauerdurchbruch von der Stadt her. Der Reiter ritt über den Berg, und wie er auf der Höhe stand, schäumte meilenweit vor ihm das graue, tobende Wasser und kein Weg und kein Schloß. Er stieg ab, band das Pferd an einen Stamm, ging zwischen den Birken. Ein winziges goldenes Kreuz hing an einem Baum; um den ging ein süßer Geruch herum. Er zog den weichen Hut, kniete nieder und legte die Stirn an die Rinde: »Große Angst hast du uns beschert, holde Mutter Gottes; große Liebe hast du uns beschert, du holde Mutter Gottes.« Die Städter sahen noch einmal den schwarzen Reiter an diesem Tage des Dammbruches durch die Stadt jagen. Dann hörte man nach vielen Jahren wieder von ihm, als die Kämpfe in Mittelamerika tobten. Als Führer einer Freischar gegen die heidnischen Indianer fiel er damals mit seiner ganzen Mannschaft bei einem heimtückischen Angriff.