An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und dann in die Adlerstraße ein und hielt gleich danach vor einem, trotz seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im Uebrigen aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Oelfarbenanstrich wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit gegeben hatte, beinahe das Gegenteil. Im Fond des Wagens saßen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen, das sich der hell- und warmscheinenden Sonne zu freuen schien. Die links sitzende Dame von etwa Dreißig, augenscheinlich eine Erzieherin oder Gesellschafterin, öffnete, von ihrem Platz aus, zunächst den Wagenschlag, und war dann der anderen, mit Geschmack und Sorglichkeit gekleideten und trotz ihrer hohen Fünfzig noch sehr gut aussehenden Dame beim Aussteigen behülflich. Gleich danach aber nahm die Gesellschafterin ihren Platz wieder ein, während die ältere Dame auf eine Vortreppe zuschritt und nach Passierung derselben in den Hausflur eintrat. Von diesem aus stieg sie, so schnell ihre Corpulenz es zuließ, eine Holzstiege mit abgelaufenen Stufen hinauf, unten von sehr wenig Licht, weiter oben aber von einer schweren Luft umgeben, die man füglich als eine Doppelluft bezeichnen konnte. Gerade der Stelle gegenüber, wo die Treppe mündete, befand sich eine Entréethür mit Guckloch, und neben diesem ein grünes, knittriges Blechschild, darauf »Professor Wilibald Schmidt« ziemlich undeutlich zu lesen war. Die ein wenig asthmatische Dame fühlte zunächst das Bedürfnis, sich auszuruhen und musterte bei der Gelegenheit den ihr übrigens von langer Zeit her bekannten Vorflur, der vier gelbgestrichene Wände mit etlichen Haken und Riegeln und dazwischen einen hölzernen Halbmond zum Bürsten und Ausklopfen der Röcke zeigte. Dazu wehte, der ganzen Atmosphäre auch hier den Charakter gebend, von einem nach hinten zu führenden Corridor her ein sonderbarer Küchengeruch heran, der, wenn nicht alles täuschte, nur auf Rührkartoffeln und Carbonade gedeutet werden konnte, beides mit Seifenwrasen untermischt. »Also kleine Wäsche,« sagte die von dem allen wieder ganz eigentümlich berührte stattliche Dame still vor sich hin, während sie zugleich weit zurückliegender Tage gedachte, wo sie selbst hier, in eben dieser Adlerstraße, gewohnt und in dem gerade gegenüber gelegenen Materialwarenladen ihres Vaters mit im Geschäft geholfen und auf einem über zwei Kaffeesäcke gelegten Brett kleine und große Düten geklebt hatte, was ihr jedesmal mit »zwei Pfennig fürs Hundert« gut gethan worden war. »Eigentlich viel zu viel, Jenny,« pflegte dann der Alte zu sagen, »aber Du sollst mit Geld umgehen lernen.« Ach, waren das Zeiten gewesen! Mittags, Schlag Zwölf, wenn man zu Tisch ging, saß sie zwischen dem Commis Herrn Mielke und dem Lehrling Louis, die beide, so verschieden sie sonst waren, dieselbe hochstehende Kammtolle und dieselben erfrorenen Hände hatten. Und Louis schielte bewundernd nach ihr hinüber, aber wurde jedesmal verlegen, wenn er sich auf seinen Blicken ertappt sah. Denn er war zu niedrigen Standes, aus einem Obstkeller in der Spreegasse. Ja, das alles stand jetzt wieder vor ihrer Seele, während sie sich auf dem Flur umsah und endlich die Klingel neben der Thür zog. Der überall verbogene Draht raschelte denn auch, aber kein Anschlag ließ sich hören, und so faßte sie schließlich den Klingelgriff noch einmal und zog stärker. Jetzt klang auch ein Bimmelton von der Küche her bis auf den Flur herüber, und ein paar Augenblicke später ließ sich erkennen, daß eine hinter dem Guckloch befindliche kleine Holzklappe bei Seite geschoben wurde. Sehr wahrscheinlich war es des Professors Wirtschafterin, die jetzt, von ihrem Beobachtungsposten aus, nach Freund oder Feind aussah, und als diese Beobachtung ergeben hatte, daß es »gut Freund« sei, wurde der Thürriegel ziemlich geräuschvoll zurückgeschoben, und eine ramassierte Frau von Ausgangs Vierzig, mit einem ansehnlichen Haubenbau auf ihrem vom Herdfeuer geröteten Gesicht, stand vor ihr. »Ach, Frau Treibel ... Frau Commerzienrätin ... Welche Ehre ...« »Guten Tag, liebe Frau Schmolke. Was macht der Professor? Und was macht Fräulein Corinna? Ist das Fräulein zu Hause?« »Ja, Frau Commerzienrätin. Eben wieder nach Hause gekommen aus der Philharmonie. Wie wird sie sich freuen.« Und dabei trat Frau Schmolke zur Seite, um den Weg nach dem einfenstrigen, zwischen den zwei Vorderstuben gelegenen und mit einem schmalen Leinwandläufer belegten Entrée frei zu geben. Aber ehe die Commerzienrätin noch eintreten konnte, kam ihr Fräulein Corinna schon entgegen und führte die »mütterliche Freundin«, wie sich die Rätin gern selber nannte, nach rechts hin, in das eine Vorderzimmer. Dies war ein hübscher, hoher Raum, die Jalousien herabgelassen, die Fenster nach innen auf, vor deren einem eine Blumenestrade mit Goldlack und Hyacinthen stand. Auf dem Sophatische präsentierte sich gleichzeitig eine Glasschale mit Apfelsinen, und die Porträts der Eltern des Professors, des Rechnungsrats Schmidt aus der Heroldskammer und seiner Frau, geb. Schwerin, sahen auf die Glasschale hernieder - der alte Rechnungsrat in Frack und rotem Adlerorden, die geborene Schwerin mit starken Backenknochen und Stubsnase, was, trotz einer ausgesprochenen Bürgerlichkeit, immer noch mehr auf die pommersch-uckermärkischen Träger des berühmten Namens, als auf die spätere, oder, wenn man will, auch viel frühere posensche Linie hindeutete. »Liebe Corinna, wie nett Du dies alles zu machen verstehst und wie hübsch es doch bei Euch ist, so kühl und so frisch - und die schönen Hyacinthen. Mit den Apfelsinen verträgt es sich freilich nicht recht, aber das thut nichts, es sieht so gut aus ... Und nun legst Du mir in Deiner Sorglichkeit auch noch das Sophakissen zurecht! Aber verzeih', ich sitze nicht gern auf dem Sopha; das ist immer so weich, und man sinkt dabei so tief ein. Ich setze mich lieber hier in den Lehnstuhl und sehe zu den alten, lieben Gesichtern da hinauf. Ach, war das ein Mann; gerade wie Dein Vater. Aber der alte Rechnungsrat war beinah' noch verbindlicher, und einige sagten auch immer, er sei so gut wie von der Colonie. Was auch stimmte. Denn seine Großmutter, wie Du freilich besser weißt als ich, war ja eine Charpentier, Stralauer-Straße.« Unter diesen Worten hatte die Commerzienrätin in einem hohen Lehnstuhle Platz genommen und sah mit dem Lorgnon nach den »lieben Gesichtern« hinauf, deren sie sich eben so huldvoll erinnert hatte, während Corinna fragte, ob sie nicht etwas Mosel und Selterwasser bringen dürfe, es sei so heiß. »Nein, Corinna, ich komme eben vom Lunch, und Selterwasser steigt mir immer so zu Kopf. Sonderbar, ich kann Sherry vertragen und auch Port, wenn er lange gelagert hat, aber Mosel und Selterwasser, das benimmt mich ... Ja, sieh' Kind, dies Zimmer hier, das kenne ich nun schon vierzig Jahre und darüber, noch aus Zeiten her, wo ich ein halbwachsen Ding war, mit kastanienbraunen Locken, die meine Mutter, so viel sie sonst zu thun hatte, doch immer mit rührender Sorgfalt wickelte. Denn damals, meine liebe Corinna, war das Rotblonde noch nicht so Mode wie jetzt, aber kastanienbraun galt schon, besonders wenn es Locken waren, und die Leute sahen mich auch immer darauf an. Und Dein Vater auch. Er war damals ein Student und dichtete. Du wirst es kaum glauben, wie reizend und wie rührend das alles war, denn die Kinder wollen es immer nicht wahr haben, daß die Eltern auch einmal jung waren und gut aussahen und ihre Talente hatten. Und ein paar Gedichte waren an mich gerichtet, die hab' ich mir aufgehoben bis diesen Tag, und wenn mir schwer ums Herz ist, dann nehme ich das kleine Buch, das ursprünglich einen blauen Deckel hatte (jetzt aber hab' ich es in grünen Maroquin binden lassen) und setze mich ans Fenster und sehe auf unsern Garten und weine mich still aus, ganz still, daß es niemand sieht, am wenigsten Treibel oder die Kinder. Ach Jugend! Meine liebe Corinna, Du weißt gar nicht, welch' ein Schatz die Jugend ist, und wie die reinen Gefühle, die noch kein rauher Hauch getrübt hat, doch unser Bestes sind und bleiben.« »Ja,« lachte Corinna. »die Jugend ist gut. Aber ›Commerzienrätin‹ ist auch gut und eigentlich noch besser. Ich bin für einen Landauer und einen Garten um die Villa herum. Und wenn Ostern ist und Gäste kommen, natürlich recht viele, so werden Ostereier in dem Garten versteckt, und jedes Ei ist eine Atrappe voll Confitüren von Hövell oder Kranzler, oder auch ein kleines Necessaire ist drin. Und wenn dann all' die Gäste die Eier gefunden haben, dann nimmt jeder Herr seine Dame, und man geht zu Tisch. Ich bin durchaus für Jugend, aber für Jugend mit Wohlleben und hübschen Gesellschaften.« »Das höre ich gern, Corinna, wenigstens gerade jetzt; denn ich bin hier, um Dich einzuladen, und zwar auf morgen schon; es hat sich so rasch gemacht. Ein junger Mr. Nelson ist nämlich bei Otto Treibel's angekommen (das heißt aber, er wohnt nicht bei ihnen) ein Sohn von Nelson & Co. aus Liverpool, mit denen mein Sohn Otto seine Hauptgeschäftsverbindung hat. Und Helene kennt ihn auch. Das ist so hamburgisch, die kennen alle Engländer, und wenn sie sie nicht kennen, so thun sie wenigstens so. Mir unbegreiflich. Also Mr. Nelson, der übermorgen schon wieder abreist, um den handelt es sich; ein lieber Geschäftsfreund, den Otto's durchaus einladen mußten. Das verbot sich aber leider, weil Helene 'mal wieder Plätttag hat, was nach ihrer Meinung allem anderen vorgeht, sogar im Geschäft. Da haben wir's denn übernommen, offen gestanden nicht allzu gern, aber doch auch nicht geradezu ungern. Otto war nämlich, während seiner englischen Reise, wochenlang in dem Nelson'schen Hause zu Gast. Du siehst daraus, wie's steht und wie sehr mir an Deinem Kommen liegen muß; Du sprichst englisch und hast alles gelesen und hast vorigen Winter auch Mr. Booth als Hamlet gesehen. Ich weiß noch recht gut, wie Du davon schwärmtest. Und englische Politik und Geschichte wirst Du natürlich auch wissen, dafür bist Du ja Deines Vaters Tochter.« »Nicht viel weiß ich davon, nur ein bißchen. Ein bißchen lernt man ja.« »Ja, jetzt, liebe Corinna. Du hast es gut gehabt und alle haben es jetzt gut. Aber zu meiner Zeit, da war es anders, und wenn mir nicht der Himmel, dem ich dafür danke, das Herz für das Poetische gegeben hätte, was, wenn es mal in einem lebt, nicht wieder auszurotten ist, so hätte ich nichts gelernt und wüßte nichts. Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten herangebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch manches. Und daß es so ist, sieh', das verdanke ich nächst Gott, der es in meine Seele pflanzte, Deinem Vater. Der hat das Blümlein groß gezogen, das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen - und Du glaubst gar nicht, wie prosaische Menschen es giebt - verkümmert wäre ... Wie geht es denn mit Deinem Vater? Es muß ein Vierteljahr sein oder länger, daß ich ihn nicht gesehen habe, den vierzehnten Februar, an Otto's Geburtstag. Aber er ging so früh, weil so viel gesungen wurde.« »Ja, das liebt er nicht. Wenigstens dann nicht, wenn er damit überrascht wird. Es ist eine Schwäche von ihm, und manche nennen es eine Unart.« »O, nicht doch, Corinna, das darfst Du nicht sagen. Dein Vater ist bloß ein origineller Mann. Ich bin unglücklich, daß man seiner so selten habhaft werden kann. Ich hätt' ihn auch zu morgen gerne mit eingeladen, aber ich bezweifle, daß Mr. Nelson ihn interessiert, und von den anderen ist nun schon gar nicht zu sprechen; unser Freund Krola wird morgen wohl wieder singen, und Assessor Goldammer seine Polizeigeschichten erzählen und sein Kunststück mit dem Hut und den zwei Thalern machen.« »O, da freu' ich mich. Aber freilich, Papa thut sich nicht gerne Zwang an, und seine Bequemlichkeit und seine Pfeife sind ihm lieber, als ein junger Engländer, der vielleicht dreimal um die Welt gefahren ist. Papa ist gut, aber einseitig und eigensinnig.« »Das kann ich nicht zugeben, Corinna. Dein Papa ist ein Juwel, das weiß ich am besten.« »Er unterschätzt alles Aeußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles, was schmückt und schön macht.« »Nein, Corinna, sage das nicht. Er sieht das Leben von der richtigen Seite an; er weiß, daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz wo anders liegt.« Sie schwieg bei diesen Worten und seufzte nur leise. Dann aber fuhr sie fort: »Ach, meine liebe Corinna, glaube mir, kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht.« Corinna lächelte. »Das sagen alle die, die drüber stehen und die kleinen Verhältnisse nicht kennen.« »Ich kenne sie, Corinna.« »Ja, von früher her. Aber das liegt nun zurück und ist vergessen oder wohl gar verklärt. Eigentlich liegt es doch so: alles möchte reich sein, und ich verdenke es keinem. Papa freilich, der schwört noch auf die Geschichte von dem Kamel und dem Nadelöhr. Aber die junge Welt ...« »... Ist leider anders. Nur zu wahr. Aber so gewiß das ist, so ist es doch nicht so schlimm damit, wie Du Dir's denkst. Es wäre auch zu traurig, wenn der Sinn für das Ideale verloren ginge, vor allem in der Jugend. Und in der Jugend lebt er auch noch. Da ist zum Beispiel Dein Vetter Marcell, den Du beiläufig morgen auch treffen wirst (er hat schon zugesagt), und an dem ich wirklich nichts weiter zu tadeln wüßte, als daß er Wedderkopp heißt. Wie kann ein so feiner Mann einen so störrischen Namen führen! Aber wie dem auch sein möge, wenn ich ihn bei Otto's treffe, so spreche ich immer so gern mit ihm. Und warum? Bloß weil er die Richtung hat, die man haben soll. Selbst unser guter Krola sagte mir erst neulich, Marcell sei eine von Grund aus ethische Natur, was er noch höher stelle als das Moralische; worin ich ihm, nach einigen Aufklärungen von seiner Seite, beistimmen mußte. Nein, Corinna, gib den Sinn, der sich nach oben richtet, nicht auf, jenen Sinn, der von dorther allein das Heil erwartet. Ich habe nur meine beiden Söhne, Geschäftsleute, die den Weg ihres Vaters gehen, und ich muß es geschehen lassen; aber wenn mich Gott durch eine Tochter gesegnet hätte, die wäre mein gewesen, auch im Geist, und wenn sich ihr Herz einem armen, aber edlen Manne, sagen wir einem Manne wie Marcell Wedderkopp, zugeneigt hätte ...« »... So wäre das ein Paar geworden«, lachte Corinna. »Der arme Marcell! Da hätt' er nun sein Glück machen können, und muß gerade die Tochter fehlen.« Die Commerzienrätin nickte. »Ueberhaupt ist es schade, daß es so selten klappt und paßt«, fuhr Corinna fort. »Aber Gott sei Dank, gnädigste Frau haben ja noch den Leopold, jung und unverheirathet, und da Sie solche Macht über ihn haben - so wenigstens sagt er selbst, und sein Bruder Otto sagt es auch, und alle Welt sagt es - so könnt' er Ihnen, da der ideale Schwiegersohn nun mal eine Unmöglichkeit ist, wenigstens eine ideale Schwiegertochter ins Haus führen, eine reizende, junge Person, vielleicht eine Schauspielerin ...« »Ich bin nicht für Schauspielerinnen ...« »Oder eine Malerin, oder eine Pastors- oder eine Professorentochter ...« Die Commerzienrätin stutzte bei diesem letzten Worte und streifte Corinna stark, wenn auch flüchtig indessen wahrnehmend, daß diese heiter und unbefangen blieb, schwand ihre Furchtanwandlung ebenso schnell wie sie gekommen war. »Ja, Leopold,« sagte sie, »den hab' ich noch. Aber Leopold ist ein Kind. Und seine Verheiratung steht jedenfalls noch in weiter Ferne. Wenn er aber käme ...« Und die Commerzienrätin schien sich allen Ernstes - vielleicht weil es sich um etwas noch »in so weiter Ferne« Liegendes handelte - der Vision einer idealen Schwiegertochter hingeben zu wollen, kam aber nicht dazu, weil in eben diesem Augenblicke der aus seiner Obersecunda kommende Professor eintrat und seine Freundin, die Rätin, mit vieler Artigkeit begrüßte. »Stör' ich?« »In Ihrem eigenen Hause? Nein, lieber Professor; Sie können überhaupt nie stören. Mit Ihnen kommt immer das Licht. Und wie Sie waren, so sind Sie geblieben. Aber mit Corinna bin ich nicht zufrieden. Sie spricht so modern und verleugnet ihren Vater, der immer nur in einer schönen Gedankenwelt lebte ...« »Nun ja, ja,« sagte der Professor. »Man kann es so nennen. Aber ich denke, sie wird sich noch wieder zurückfinden. Freilich, einen Stich ins Moderne wird sie wohl behalten. Schade. Das war anders als wir jung waren, da lebte man noch in Phantasie und Dichtung« Er sagte das so hin, mit einem gewissen Pathos, als ob er seinen Secundanern eine besondere Schönheit aus dem Horaz oder aus dem Parcival (denn er war Classiker und Romantiker zugleich) zu demonstrieren hätte. Sein Pathos war aber doch etwas theatralisch gehalten und mit einer feinen Ironie gemischt, die die Commerzienrätin auch klug genug war, herauszuhören. Sie hielt es indessen trotzdem für angezeigt, einen guten Glauben zu zeigen, nickte deshalb nur und sagte: »Ja, schöne Tage, die nie wieder kehren.« »Nein,« sagte der in seiner Rolle mit dem Ernst eines Großinquisitors fortfahrende Wilibald. »Es ist vorbei damit; aber man muß eben weiter leben.« Eine halbverlegene Stille trat ein, während welcher man, von der Straße her, einen scharfen Peitschenknips hörte. »Das ist ein Mahnzeichen,« warf jetzt die Commerzienrätin ein, eigentlich froh der Unterbrechung. »Johann unten wird ungeduldig. Und wer hätte den Mut, es mit einem solchen Machthaber zu verderben.« »Niemand,« erwiderte Schmidt. »An der guten Laune unserer Umgebung hängt unser Lebensglück; ein Minister bedeutet mir wenig, aber die Schmolke ...« »Sie treffen es wie immer, lieber Freund.« Und unter diesen Worten erhob sich die Commerzienrätin und gab Corinna einen Kuß auf die Stirn, während sie Wilibald die Hand reichte. »Mit uns, lieber Professor, bleibt es beim alten, unentwegt.« Und damit verließ sie das Zimmer, von Corinna bis auf den Flur und die Straße begleitet. »Unentwegt,« wiederholte Wilibald, als er allein war. »Herrliches Modewort, und nun auch schon bis in die Villa Treibel gedrungen ... Eigentlich ist meine Freundin Jenny noch gerade so wie vor vierzig Jahren, wo sie die kastanienbraunen Locken schüttelte. Das Sentimentale liebte sie schon damals, aber doch immer unter Bevorzugung von Courmachen und Schlagsahne. Jetzt ist sie nun rundlich geworden und beinah' gebildet, oder doch, was man so gebildet zu nennen pflegt, und Adolar Krola trägt ihr Arien aus Lohengrin und Tannhäuser vor. Denn ich denke mir, daß das ihre Lieblingsopern sind. Ach, ihre Mutter, die gute Frau Bürstenbinder, die das Püppchen drüben im Apfelsinenladen immer so hübsch herauszuputzen wußte, sie hat in ihrer Weiberklugheit damals ganz richtig gerechnet. Nun ist das Püppchen eine Commerzienrätin und kann sich alles gönnen, auch das Ideale, und sogar »unentwegt«. Ein Musterstück von einer Bourgeoise.« Und dabei trat er ans Fenster, hob die Jalousien ein wenig und sah, wie Corinna, nachdem die Commerzienrätin ihren Sitz wieder eingenommen hatte, den Wagenschlag ins Schloß warf. Noch ein gegenseitiger Gruß, an dem die Gesellschaftsdame mit sauer-süßer Miene teilnahm, und die Pferde zogen an und trabten langsam auf die nach der Spree hin gelegene Ausfahrt zu, weil es schwer war, in der engen Adlerstraße zu wenden. Als Corinna wieder oben war, sagte sie. »Du hast doch nichts dagegen, Papa. Ich bin morgen zu Treibel's zu Tisch geladen. Marcell ist auch da, und ein junger Engländer, der sogar Nelson heißt.« »Ich was dagegen? Gott bewahre. Wie könnt' ich was dagegen haben, wenn ein Mensch sich amüsieren will. Ich nehme an, Du amüsierst Dich.« »Gewiß amüsier' ich mich. Es ist doch 'mal 'was anderes. Was Distelkamp sagt und Rindfleisch und der kleine Friedeberg, das weiß ich ja schon alles auswendig. Aber was Nelson sagen wird, denk' Dir, Nelson, das weiß ich nicht.« »Viel Gescheidtes wird es wohl nicht sein.« »Das thut nichts. Ich sehne mich manchmal nach Ungescheidtheiten.« »Da hast Du Recht, Corinna.« Siebentes Kapitel Das Zimmer war dasselbe, in welchem Corinna, am Tage zuvor, den Besuch der Commerzienrätin empfangen hatte. Der mit Lichtern und Weinflaschen gut besetzte Tisch stand, zu vieren gedeckt, in der Mitte; darüber hing eine Hängelampe. Schmidt setzte sich mit dem Rücken gegen den Fensterpfeiler, seinem Freunde Friedeberg gegenüber, der seinerseits, von seinem Platz aus zugleich den Blick in den Spiegel hatte. Zwischen den blanken Messingleuchtern standen ein paar auf einem Bazar gewonnene Porzellanvasen, aus deren halb gezahnter, halb wellenförmiger Öffnung - dentatus et undulatus, sagte Schmidt - kleine Marktsträuße von Goldlack und Vergißmeinnicht hervorwuchsen. Quer vor den Weingläsern lagen lange Kümmelbrote, denen der Gastgeber, wie allem Kümmlichen, eine ganz besondere Fülle gesundheitlicher Gaben zuschrieb. Das eigentliche Gericht fehlte noch, und Schmidt, nachdem er sich von dem statutarisch festgesetzten Trarbacher bereits zweimal eingeschenkt, auch beide Knusperspitzen von seinem Kümmelbrötchen abgebrochen hatte, war ersichtlich auf dem Punkte, starke Spuren von Mißstimmung und Ungeduld zu zeigen, als sich endlich die zum Entrée führende Thür aufthat, und die Schmolke, rot von Erregung und Herdfeuer, eintrat, eine mächtige Schüssel mit Oderkrebsen vor sich her tragend. »Gott sei Dank,« sagte Schmidt, »ich dachte schon, alles wäre den Krebsgang gegangen,« eine unvorsichtige Bemerkung, die die Kongestionen der Schmolke nur noch steigerte, das Maß ihrer guten Laune aber ebenso sehr sinken ließ. Schmidt, seinen Fehler rasch erkennend, war kluger Feldherr genug, durch einige Verbindlichkeiten die Sache wieder auszugleichen. Freilich nur mit halbem Erfolg. Als man wieder allein war, unterließ es Schmidt nicht, sofort den verbindlichen Wirt zu machen. Natürlich auf seine Weise. »Sieh', Distelkamp, dieser hier ist für Dich. Er hat eine große und eine kleine Schere, und das sind immer die besten. Es giebt Spiele der Natur, die mehr sind als bloßes Spiel und dem Weisen als Wegweiser dienen; dahin gehören beispielsweise die Pontac-Apfelsinen und die Borstorfer mit einer Pocke. Denn es steht fest, je pockenreicher, desto schöner ... Was wir hier vor uns haben, sind Oderbruchkrebse; wenn ich recht berichtet bin, aus der Küstriner Gegend. Es scheint, daß durch die Vermählung von Oder und Warthe besonders gute Resultate vermittelt werden. Übrigens, Friedeberg, sind Sie nicht eigentlich da zu Haus? Ein halber Neumärker oder Oderbrücher.« Friedeberg bestätigte. »Wußt' es; mein Gedächtnis täuscht mich selten. Und nun sagen Sie, Freund, ist dies, nach Ihren persönlichen Erfahrungen, mutmaßlich als streng lokale Produktion anzusehen, oder ist es mit den Oderbruchkrebsen wie mit den Werderschen Kirschen, deren Gewinnungsgebiet sich nächstens über die ganze Provinz Brandenburg erstrecken wird.« »Ich glaube doch,« sagte Friedeberg, während er durch eine geschickte, durchaus den Virtuosen verratende Gabelwendung, einen weiß und rosa schimmernden Krebsschwanz aus seiner Stachelschale hob, »ich glaube doch, daß hier ein Segeln unter zuständiger Flagge stattfindet, und daß wir auf dieser Schüssel wirkliche Oderkrebse vor uns haben, echteste Ware, nicht blos dem Namen nach, sondern auch de facto.« » De facto,« wiederholte der in Friedeberg's Latinität eingeweihte Schmidt, unter behaglichem Schmunzeln. Friedeberg aber fuhr fort: »Es werden nämlich, um Küstrin herum, immer noch Massen gewonnen, trotzdem es nicht mehr das ist, was es war. Ich habe selbst noch Wunderdinge davon gesehen, aber freilich nichts in Vergleich zu dem, was die Leute von alten Zeiten her erzählten. Damals, vor hundert Jahren, oder vielleicht auch noch länger, gab es so viele Krebse, daß sie durchs ganze Bruch hin, wenn sich im Mai das Überschwemmungswasser wieder verlief, von den Bäumen geschüttelt wurden, zu vielen Hunderttausenden.« »Dabei kann einem ja ordentlich das Herz lachen,« sagte Etienne, der ein Feinschmecker war. »Ja, hier an diesem Tisch; aber dort in der Gegend lachte man nicht darüber. Die Krebse waren wie eine Plage, natürlich ganz entwertet, und bei der dienenden Bevölkerung, die damit geatzt werden sollte, so verhaßt und dem Magen der Leute so widerwärtig, daß es verboten war, dem Gesinde mehr als dreimal wöchentlich Krebse vorzusetzen. Ein Schock Krebse kostete einen Pfennig.« »Ein Glück, daß das die Schmolke nicht hört,« warf Schmidt ein, »sonst würd' ihr ihre Laune zum zweitenmale verdorben. Als richtige Berlinerin ist sie nämlich für ewiges sparen, und ich glaube nicht, daß sie die Thatsache ruhig verwinden würde, die Epoche von ›ein Pfennig pro Schock‹ so total versäumt zu haben.« »Darüber darfst Du nicht spotten, Schmidt,« sagte Distelkamp. »Das ist eine Tugend, die der modernen Welt, neben vielem anderen, immer mehr verloren geht.« »Ja, da sollst Du recht haben. Aber meine gute Schmolke hat doch auch in diesem Punkte les défauts de ses vertus. So heißt es ja wohl, Etienne?« »Gewiß,« sagte dieser. »Von der George Sand. Und fast ließe sich sagen, › les défauts de ses vertus‹ und › comprendre c'est pardonner‹ - das sind so recht eigentlich die Sätze, wegen deren sie gelebt hat.« »Und dann vielleicht auch von wegen dem Alfred de Musset,« ergänzte Schmidt, der nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen ließ, sich, aller Klassizität unbeschadet, auch ein modern-litterarisches Ansehen zu geben. »Ja, wenn man will, auch von wegen dem Alfred de Musset. Aber das sind Dinge, daran die Litteraturgeschichte glücklicherweise vorübergeht.« »Sage das nicht, Etienne, nicht glücklicherweise, sage leider. Die Geschichte geht fast immer an dem vorüber, was sie vor allem festhalten sollte. Daß der alte Fritz am Ende seiner Tage dem damaligen Kammergerichtspräsidenten, Namen hab' ich vergessen, den Krückstock an den Kopf warf, und was mir noch wichtiger ist, daß er durchaus bei seinen Hunden begraben sein wollte, weil er die Menschen, diese ›mechante Rasse‹ so gründlich verachtete - sieh', Freund, das ist mir mindestens ebenso viel wert wie Hohenfriedberg oder Leuthen. Und die berühmte Torgauer Ansprache, ›Rackers, wollt ihr denn ewig leben‹, geht mir eigentlich noch über Torgau selbst.« Distelkamp lächelte. »Das sind so Schmidtiana. Du warst immer fürs Anekdotische, fürs Genrehafte. Mir gilt in der Geschichte nur das Große, nicht das Kleine, das Nebensächliche.« »Ja und nein, Distelkamp. Das Nebensächliche, so viel ist richtig, gilt nichts, wenn es blos nebensächlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es giebt einem dann immer das eigentlich Menschliche.« »Poetisch magst Du recht haben.« »Das Poetische - vorausgesetzt, daß man etwas anderes darunter versteht als meine Freundin Jenny Treibel - das Poetische hat immer recht; es wächst weit über das Historische hinaus ...« Es war dies ein Schmidt'sches Lieblingsthema, drin der alte Romantiker, der er eigentlich mehr als alles andere war, jedesmal so recht zur Geltung kam; aber heute sein Steckenpferd zu reiten, verbot sich ihm doch, denn ehe er noch zu wuchtiger Auseinandersetzung ausholen konnte, hörte man Stimmen vom Entrée her, und im nächsten Augenblicke traten Marcell und Corinna ein, Marcell befangen und fast verstimmt, Corinna nach wie vor in bester Laune. Sie ging zur Begrüßung auf Distelkamp zu, der ihr Pate war und ihr immer kleine Verbindlichkeiten sagte. Dann gab sie Friedeberg und Etienne die Hand und machte den Schluß bei ihrem Vater, dem sie, nachdem er sich auf ihre Ordre mit der breit vorgebundenen Serviette den Mund abgeputzt hatte, einen herzhaften Kuß gab. »Nun, Kinder, was bringt ihr? Rückt hier ein. Platz die Hülle und Fülle. Rindfleisch hat abgeschrieben ... gniechische Gesellschaft ... und die beiden anderen fehlen als Anhängsel natürlich von selbst. Aber kein anzügliches Wort mehr, ich habe ja Besserung geschworen und will's halten. Also Corinna, Du drüben neben Distelkamp, Marcell hier zwischen Etienne und mir. Ein Besteck wird die Schmolke wohl gleich bringen ... So; so ist's recht ... Und wie sich das gleich anders ausnimmt! Wenn so Lücken klaffen, denk' ich immer, Banquo steigt auf. Nun, Gott sei Dank, Marcell, von Banquo hast Du nicht viel, oder wenn doch vielleicht, so verstehst Du's, Deine Wunden zu verbergen. Und nun erzählt, Kinder. Was macht Treibel? Was macht meine Freundin Jenny? Hat sie gesungen? Ich wette das ewige Lied, mein Lied, die berühmte Stelle »Wo sich Herzen finden«, und Adolar Krola hat begleitet. Wenn ich dabei nur 'mal in Krola's Seele lesen könnte. Vielleicht aber steht er doch milder und menschlicher dazu. Wer jeden Tag zu zwei Diners geladen ist und mindestens anderthalb mit macht ... Aber bitte, Corinna, klingle.« »Nein, ich gehe lieber selbst, Papa. Die Schmolke läßt sich nicht gerne klingeln; sie hat so ihre Vorstellungen von dem, was sie sich und ihrem Verstorbenen schuldig ist. Und ob ich wieder komme, die Herren wollen verzeihen, weiß ich auch nicht; ich glaube kaum. Wenn man solchen Treibel'schen Tag hinter sich hat, ist es das schönste, darüber nachzudenken, wie das alles so kam und was einem alles gesagt wurde. Marcell kann ja statt meiner berichten. Und nur noch so viel, ein höchst interessanter Engländer war mein Tischnachbar, und wer es von Ihnen vielleicht nicht glauben will, daß er so sehr interessant gewesen, dem brauche ich bloß den Namen zu nennen, er hieß nämlich Nelson. Und nun Gott befohlen.« Und damit verabschiedete sich Corinna. Das Besteck für Marcell kam, und als dieser, nur um des Onkels gute Laune nicht zu stören, um einen Kost- und Probekrebs gebeten hatte, sagte Schmidt: »Fange nur erst an. Artischocken und Krebse kann man immer essen, auch wenn man von einem Treibel'schen Diner kommt. Ob sich vom Hummer dasselbe sagen läßt, mag dahin gestellt bleiben. Mir persönlich ist allerdings auch der Hummer immer gut bekommen. Ein eigen Ding, daß man aus Fragen derart nie herauswächst, sie wechseln blos ab im Leben. Ist man jung, so heißt es »hübsch oder häßlich«, »brünett oder blond«, und liegt dergleichen hinter einem, so steht man vor der vielleicht wichtigeren Frage »Hummer oder Krebse«. Wir könnten übrigens darüber abstimmen. Andererseits, so viel muß ich zugeben, hat Abstimmung immer 'was Totes, Schablonenhaftes und paßt mir außerdem nicht recht; ich möchte nämlich Marcell gern ins Gespräch ziehen, der eigentlich dasitzt, als sei ihm die Gerste verhagelt. Also lieber Erörterung der Frage, Debatte. Sage, Marcell, was ziehst Du vor?« »Versteht sich, Hummer.« »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Auf den ersten Anlauf mit ganz wenig Ausnahmen, ist jeder für Hummer, schon weil er sich auf Kaiser Wilhelm berufen kann. Aber so schnell erledigt sich das nicht. Natürlich, wenn solch ein Hummer aufgeschnitten vor einem liegt, und der wundervolle rote Rogen, ein Bild des Segens und der Fruchtbarkeit, einem zu allem anderen auch noch die Gewißheit giebt, ›es wird immer Hummer geben‹, auch nach Äonen noch, gerade so wie heute ...« Distelkamp sah seinen Freund Schmidt von der Seite her an. »... Also einem die Gewißheit giebt, auch nach Äonen noch werden Menschenkinder sich dieser Himmelsgabe freuen - ja, Freunde, wenn man sich mit diesem Gefühl des Unendlichen durchdringt, so kommt das darin liegende Humanitäre dem Hummer und unserer Stellung zu ihm unzweifelhaft zu gute. Denn jede philanthropische Regung, weshalb man die Philanthropie schon aus Selbstsucht kultivieren sollte, bedeutet die Mehrung eines gesunden und zugleich verfeinerten Appetits. Alles Gute hat seinen Lohn in sich, so viel ist unbestreitbar.« »Aber ...« »Aber es ist trotzdem dafür gesorgt, auch hier, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und neben dem Großen hat das Kleine nicht bloß seine Berechtigung, sondern auch seine Vorzüge. Gewiß, dem Krebse fehlt dies und das, er hat so zu sagen nicht das ›Maß‹, was, in einem Militärstaate wie Preußen, immerhin etwas bedeutet, aber dem ohnerachtet, auch er darf sagen: ich habe nicht umsonst gelebt. Und wenn er dann, er, der Krebs, in Petersilienbutter geschwenkt, im allerappetitlichsten Reize vor uns hintritt, so hat er Momente wirklicher Überlegenheit, vor allem auch darin, daß sein Bestes nicht eigentlich gegessen, sondern geschlürft, gesogen wird. Und daß gerade das, in der Welt des Genusses, seine besonderen Meriten hat, wer wollte das bestreiten. Es ist, so zu sagen, das natürlich Gegebene. Wir haben da in erster Reihe den Säugling, für den saugen zugleich leben heißt. Aber auch in den höheren Semestern ...« »Laß es gut sein, Schmidt«, unterbrach Distelkamp. »Mir ist nur immer merkwürdig, daß Du neben Homer und sogar neben Schliemann, mit solcher Vorliebe Kochbuchliches behandelst, reine Menufragen, als ob Du zu den Bankiers und Geldfürsten gehörtest, von denen ich bis auf weiteres annehme, daß sie gut essen ...« »Mir ganz unzweifelhaft.« »Nun, sieh' Schmidt, diese Herren von der hohen Finanz, darauf möcht' ich mich verwetten, sprechen nicht mit halb so viel Lust und Eifer von einer Schildkrötensuppe wie Du.« »Das ist richtig, Distelkamp, und sehr natürlich. Sieh', ich habe die Frische, die macht's; auf die Frische kommt es an, in allem. Die Frische giebt einem die Lust, den Eifer, das Interesse, und wo die Frische nicht ist, da ist gar nichts. Das ärmste Leben, das ein Menschenkind führen kann, ist das des petit crevé. Lauter Zappeleien; nichts dahinter. Hab' ich recht, Etienne?« Dieser, der in allem Parisischen regelmäßig als Autorität angerufen wurde, nickte zustimmend, und Distelkamp ließ die Streitfrage fallen oder war geschickt genug, ihr eine neue Richtung zu geben, indem er aus dem allgemein Kulinarischen auf einzelne berühmte kulinarische Persönlichkeiten überlenkte, zunächst auf den Freiherrn von Rumohr, und im raschen Anschluß an diesen auf den ihm persönlich befreundet gewesenen Fürsten Pückler-Muskau. Besonders dieser letztere war Distelkamp's Schwärmerei. Wenn man dermaleinst das Wesen des modernen Aristokratismus an einer historischen Figur werde nachweisen wollen, so werde man immer den Fürsten Pückler als Musterbeispiel nehmen müssen. Dabei sei er durchaus liebenswürdig gewesen, allerdings etwas launenhaft, eitel und übermütig, aber immer grundgut. Es sei schade, daß solche Figuren ausstürben. Und nach diesen einleitenden Sätzen begann er speziell von Muskau und Branitz zu erzählen, wo er vordem oft tagelang zu Besuch gewesen war und sich mit der märchenhaften, von »Semilasso's Weltfahrten« mit heimgebrachten Abessinierin über Nahes und Fernes unterhalten hatte. Schmidt hörte nichts Lieberes als Erlebnisse derart, und nun gar von Distelkamp, vor dessen Wissen und Charakter er überhaupt einen ungeheuchelten Respekt hatte. Marcell teilte ganz und gar diese Vorliebe für den alten Direktor und verstand außerdem - obwohl geborener Berliner - gut und mit Interesse zuzuhören; trotzdem that er heute Fragen über Fragen, die seine volle Zerstreutheit bewiesen. Er war eben mit anderem beschäftigt. So kam elf heran, und mit dem Glockenschlage - ein Satz von Schmidt wurde mitten durchgeschnitten - erhob man sich und trat aus dem Eßzimmer in das Entrée, darin seitens der Schmolke die Sommerüberzieher samt Hut und Stock schon in Bereitschaft gelegt waren. Jeder griff nach dem seinen, und nur Marcell nahm den Oheim einen Augenblick beiseite und sagte: »Onkel, ich spräche gerne noch ein Wort mit Dir,« ein Ansinnen, zu dem dieser, jovial und herzlich wie immer, seine volle Zustimmung ausdrückte. Darin, unter Vorantritt der Schmolke, die mit der Linken den messingenen Leuchter über den Kopf hielt, stiegen Distelkamp, Friedeberg und Etienne zunächst treppab und traten gleich danach in die muffig schwüle Adlerstraße hinaus. Oben aber nahm Schmidt seines Neffen Arm und schritt mit ihm auf seine Studierstube zu. * * * »Nun, Marcell, was giebt es? Rauchen wirst Du nicht, Du siehst mir viel zu bewölkt aus; aber verzeih', ich muß mir erst eine Pfeife stopfen.« Und dabei ließ er sich, den Tabakskasten vor sich herschiebend, in eine Sophaecke nieder. »So! Marcell... Und nun nimm einen Stuhl und setz' Dich und schieße los. Was giebt es?« »Das alte Lied.« »Corinna?« »Ja.« »Ja, Marcell, nimm mir's nicht übel, aber das ist ein schlechter Liebhaber, der immer väterlichen Vorspann braucht, um von der Stelle zu kommen. Du weißt, ich bin dafür. Ihr seid wie geschaffen für einander. Sie übersieht Dich und uns alle; das Schmidt'sche strebt in ihr nicht blos der Vollendung zu, sondern, ich muß das sagen, trotzdem ich ihr Vater bin, kommt auch ganz nah' ans Ziel. Nicht jede Familie kann das ertragen. Aber das Schmidt'sche setzt sich aus solchen Ingredienzien zusammen, daß die Vollendung, von der ich spreche, nie bedrücklich wird. Und warum nicht? Weil die Selbstironie, in der wir, glaube ich, groß sind, immer wieder ein Fragezeichen hinter der Vollendung macht. Das ist recht eigentlich das, was ich das Schmidt'sche nenne. Folgst Du?« »Gewiß, Onkel. Sprich nur weiter.« »Nun, sieh, Marcell, Ihr paßt ganz vorzüglich zusammen. Sie hat die genialere Natur, hat so den letzten Knips von der Sache weg, aber das giebt keineswegs das Übergewicht im Leben. Fast im Gegenteil. Die Genialen bleiben immer halbe Kinder, in Eitelkeit befangen, und verlassen sich immer auf Intuition und bon sens und Sentiment und wie all die französischen Worte heißen mögen. Oder wir können auch auf gut Deutsch sagen, sie verlassen sich auf ihre guten Einfälle. Damit ist es nun aber so so; manchmal wetterleuchtet es freilich eine halbe Stunde lang oder auch noch länger, gewiß, das kommt vor; aber mit einem Mal ist das Elektrische wie verblitzt, und nun bleibt nicht blos der Esprit aus wie Röhrwasser, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Ja, der erst recht. Und so ist es auch mit Corinna. Sie bedarf einer verständigen Leitung, d. h. sie bedarf eines Mannes von Bildung und Charakter. Das bist Du, das hast Du. Du hast also meinen Segen; alles andere mußt Du Dir selber besorgen.« »Ja, Onkel, das sagst Du immer. Aber wie soll ich das anfangen? Eine lichterlohe Leidenschaft kann ich in ihr nicht entzünden. Vielleicht ist sie solcher Leidenschaft nicht einmal fähig; aber wenn auch, wie soll ein Vetter seine Cousine zur Leidenschaft anstacheln? Das kommt gar nicht vor. Die Leidenschaft ist etwas plötzliches, und wenn man von seinem fünften Jahr an immer zusammen gespielt und sich, sagen wir, hinter den Sauerkrauttonnen eines Budikers oder in einem Torf- und Holzkeller unzählige Male stundenlang versteckt hat, immer gemeinschaftlich und immer glückselig, daß Richard oder Arthur, trotzdem sie dicht um einen herum waren, einen doch nicht finden konnten, ja, Onkel, da ist von Plötzlichkeit, dieser Vorbedingung der Leidenschaft keine Rede mehr.« Schmidt lachte. »Das hast Du gut gesagt, Marcell, eigentlich über Deine Mittel. Aber es steigert nur meine Liebe zu Dir. Das Schmidt'sche steckt doch auch in Dir und ist nur unter dem steifen Wedderkopp'schen etwas vergraben. Und das kann ich Dir sagen, wenn Du diesen Ton Corinna gegenüber festhältst, dann bist Du durch, dann hast Du sie sicher.« »Ach, Onkel, glaube doch das nicht. Du verkennst Corinna. Nach der einen Seite hin kennst Du sie ganz genau, aber nach der anderen Seite hin kennst Du sie gar nicht. Alles, was klug und tüchtig und, vor allem, was espritvoll an ihr ist, das siehst Du mit beiden Augen, aber was äußerlich und modern an ihr ist, das siehst Du nicht. ich kann nicht sagen, daß sie jene niedrigstehende Gefallsucht hat, die jeden erobern will, er sei wer er sei; von dieser Koketterie hat sie nichts. Aber sie nimmt sich erbarmungslos einen aufs Korn, einen, an dessen Spezialeroberung ihr gelegen ist, und Du glaubst gar nicht, mit welcher grausamen Konsequenz, mit welcher infernalen Virtuosität sie dies von ihr erwählte Opfer in ihre Fäden einzuspinnen weiß.« »Meinst Du?« »Ja, Onkel. Heute bei Treibel's hatten wir wieder ein Musterbeispiel davon. Sie saß zwischen Leopold Treibel und einem Engländer, dessen Namen sie Dir ja schon genannt hat, einen Mr. Nelson, der, wie die meisten Engländer aus guten Häusern, einen gewissen Naivitäts-Charme hatte, sonst aber herzlich wenig bedeutete. Nun hättest Du Corinna sehen sollen. Sie beschäftigte sich anscheinend mit niemand anderem, als diesem Sohn Albion's, und es gelang ihr auch, ihn in Staunen zu setzen. Aber glaube nur ja nicht, daß ihr an dem flachsblonden Mr. Nelson im geringsten gelegen gewesen wäre; gelegen war ihr blos an Leopold Treibel, an den sie kein einziges Wort, oder wenigstens nicht viele, direkt richtete, und dem zu Ehren sie doch eine Art von französischem Proverbe aufführte, kleine Komödie, dramatische Scene. Und wie ich Dir versichern kann, Onkel, mit vollständigstem Erfolg. Dieser unglückliche Leopold hängt schon lange an ihren Lippen und saugt das süße Gift ein, aber so wie heute habe ich ihn doch noch nicht gesehen. Er war von Kopf bis zu Fuß die helle Bewunderung, und jede Miene schien ausdrücken zu wollen: »Ach, wie langweilig ist Helene« (das ist, wie Du Dich vielleicht erinnerst, die Frau seines Bruders), »und wie wundervoll ist diese Corinna.« »Nun gut, Marcell, aber das alles kann ich so schlimm nicht finden. Warum soll sie nicht ihren Nachbar zur Rechten unterhalten, um auf ihren Nachbar zur Linken einen Eindruck zu machen? Das kommt alle Tage vor, das sind so kleine Capricen, an denen die Frauennatur reich ist.« »Du nennst es Capricen, Onkel. Ja, wenn die Dinge so lägen! Es liegt aber anders. Alles ist Berechnung: sie will den Leopold heiraten.« »Unsinn, Leopold ist ein Junge.« »Nein, er ist fünfundzwanzig, gerade so alt wie Corinna selbst. Aber wenn er auch noch ein bloßer Junge wäre, Corinna hat sich's in den Kopf gesetzt und wird es durch führen.« »Nicht möglich.« »Doch, doch. Und nicht blos möglich, sondern ganz gewiß. Sie hat es mir, als ich sie zur Rede stellte, selber gesagt. Sie will Leopold Treibel's Frau werden, und wenn der Alte das Zeitliche segnet, was doch, wie sie mir versicherte, höchstens noch zehn Jahre dauern könne, und wenn er in seinem Zossener Wahlkreise gewählt würde, keine fünfe mehr, so will sie die Villa beziehen, und wenn ich sie recht taxiere, so wird sie zu dem grauen Kakadu noch einen Pfauhahn anschaffen.« »Ach, Marcell, das sind Visionen.« »Vielleicht von ihr, wer will's sagen? aber sicherlich nicht von mir. Denn all das waren ihre eigensten Worte. Du hättest sie hören sollen, Onkel, mit welcher Suffisance sie von »kleinen Verhältnissen« sprach, und wie sie das dürftige Kleinleben ausmalte, für das sie nun 'mal nicht geschaffen sei; sie sei nicht für Speck und Wruken und all dergleichen und Du hättest nur hören sollen, wie sie das sagte, nicht blos so drüber hin, nein, es klang gerade zu was von Bitterkeit mit durch, und ich sah zu meinem Schmerz, wie veräußerlicht sie ist, und wie die verdammte neue Zeit sie ganz in Banden hält.« »Hm,« sagte Schmidt, »das gefällt mir nicht, namentlich das mit den Wruken. Das ist blos ein dummes Vornehmthun und ist auch kulinarisch eine Thorheit; denn alle Gerichte, die Friedrich Wilhelm I. liebte, so zum Beispiel Weißkohl mit Hammelfleisch oder Schlei mit Dill - ja, lieber Marcell, was will dagegen aufkommen? Und dagegen Front zu machen, ist einfach Unverstand. Aber glaube mir, Corinna macht auch nicht Front dagegen, dazu ist sie viel zu sehr ihres Vaters Tochter, und wenn sie sich darin gefallen hat, Dir von Modernität zu sprechen und Dir vielleicht eine Pariser Hutnadel oder eine Sommerjacke, dran alles chic und wieder chic ist, zu beschreiben und so zu thun, als ob es in der ganzen Welt nichts gäbe, was an Wert und Schönheit damit verglichen werden könnte, so ist das alles blos Feuerwerk, Phantasiethätigkeit, jeu d'Esprit, und wenn es ihr morgen paßt, Dir einen Pfarramtskandidaten in der Jasminlaube zu beschreiben, der selig in Lottchens Armen ruht, so leistet sie das mit demselben Aplomb und mit derselben Virtuosität. Das ist, was ich das Schmidt'sche nenne. Nein, Marcell, darüber darfst Du Dir keine grauen Haare wachsen lassen; das ist alles nicht ernstlich gemeint ...« »Es ist ernstlich gemeint ...« »Und wenn es ernstlich gemeint ist - was ich vorläufig noch nicht glaube, denn Corinna ist eine sonderbare Person - so nutzt ihr dieser Ernst nichts, gar nichts, und es wird doch nichts draus. Darauf verlaß Dich, Marcell. Denn zum heiraten gehören zwei.« »Gewiß, Onkel. Aber Leopold will womöglich noch mehr als Corinna ...« »Was gar keine Bedeutung hat. Denn laß Dir sagen, und damit sprech' ich ein großes Wort gelassen aus: die Commerzienrätin will nicht.« »Bist Du dessen so sicher?« »Ganz sicher.« »Und hast auch Zeichen dafür?« »Zeichen und Beweise, Marcell. Und zwar Zeichen und Beweise, die Du in Deinem alten Onkel Wilibald Schmidt hier leibhaftig vor Dir siehst ...« »Das wäre.« »Ja, Freund, leibhaftig vor Dir siehst. Denn ich habe das Glück gehabt, an mir selbst, und zwar als Objekt und Opfer, das Wesen meiner Freundin Jenny studieren zu können. Jenny Bürstenbinder, das ist ihr Vatersname, wie Du vielleicht schon weißt, ist der Typus einer Bourgeoise. Sie war talentiert dafür, von Kindesbeinen an, und in jenen Zeiten, wo sie noch drüben in ihres Vaters Laden, wenn der Alte gerade nicht hinsah, von den Traubenrosinen naschte, da war sie schon gerade so wie heut' und deklamierte den »Taucher« und den »Gang nach dem Eisenhammer« und auch allerlei kleine Lieder, und wenn es recht was Rührendes war, so war ihr Auge schon damals immer in Thränen, und als ich eines Tages mein berühmtes Gedicht gedichtet hatte, Du weißt schon, das Unglücksding, das sie seitdem immer singt und vielleicht auch heute wieder gesungen hat, da warf sie sich mir an die Brust und sagte: »Wilibald, Einziger, das kommt von Gott.« Ich sagte halb verlegen etwas von meinem Gefühl und meiner Liebe, sie blieb aber dabei, es sei von Gott, und dabei schluchzte sie dermaßen, daß ich, so glücklich ich einerseits in meiner Eitelkeit war, doch auch wieder einen Schreck kriegte vor der Macht dieser Gefühle. Ja, Marcell, das war so unsere stille Verlobung, ganz still, aber doch immerhin eine Verlobung; wenigstens nahm ich's dafür und strengte mich riesig an, um so rasch wie möglich mit meinem Studium am Ende zu sein und mein Examen zu machen. Und ging auch alles vortrefflich. Als ich nun aber kam, um die Verlobung perfekt zu machen, da hielt sie mich hin, war abwechselnd vertraulich und dann wieder fremd, und während sie nach wie vor das Lied sang, mein Lied, liebäugelte sie mit jedem, der ins Haus kam, bis endlich Treibel erschien und dem Zauber ihrer kastanienbraunen Locken und mehr noch ihrer Sentimentalitäten erlag. Denn der Treibel von damals war noch nicht der Treibel von heut, und am andern Tag kriegte ich die Verlobungskarten. Alles in allem eine sonderbare Geschichte, daran, das glaub' ich sagen zu dürfen, andere Freundschaften gescheitert wären; aber ich bin kein Übelnehmer und Spielverderber, und in dem Liede, drin sich, wie Du weißt, »die Herzen finden« - beiläufig eine himmlische Trivialität und ganz wie geschaffen für Jenny Treibel - in dem Liede lebt unsre Freundschaft fort bis diesen Tag, ganz so, als sei nichts vorgefallen. Und am Ende, warum auch nicht? Ich persönlich bin drüber weg, und Jenny Treibel hat ein Talent, alles zu vergessen, was sie vergessen will. Es ist eine gefährliche Person und um so gefährlicher, als sie's selbst nicht recht weiß, und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz »für das Höhere« zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt, und für viel weniger als eine halbe Million giebt sie den Leopold nicht fort, die halbe Million mag herkommen, woher sie will. Und dieser arme Leopold selbst. So viel weißt Du doch, der ist nicht der Mensch des Aufbäumens oder der Escapade nach Gretna Green. Ich sage Dir, Marcell, unter Brückner thun es Treibels nicht, und Koegel ist ihnen noch lieber. Denn je mehr es nach Hof schmeckt, desto besser. Sie liberalisieren und sentimentalisieren beständig, aber das alles ist Farce; wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heißt es: Gold ist Trumpf und weiter nichts.« »Ich glaube, daß Du Leopold unterschätzest.« »Ich fürchte, daß ich ihn noch überschätze. ich kenn' ihn noch aus der Untersekunda her. Weiter kam er nicht; wozu auch? Guter Mensch, Mittelgut, und als Charakter noch unter Mittel.« »Wenn Du mit Corinna sprechen könntest.« »Nicht nötig, Marcell. Durch Dreinreden stört man nur den natürlichen Gang der Dinge. Mag übrigens alles schwanken und unsicher sein, eines steht fest: der Charakter meiner Freundin Jenny. Da ruhen die Wurzeln Deiner Kraft. Und wenn Corinna sich in Tollheiten überschlägt, laß sie; den Ausgang der Sache kenn' ich. Du sollst sie haben, und Du wirst sie haben, und vielleicht eher, als Du denkst.« Zwölftes Kapitel Ziemlich um dieselbe Zeit, wo der Felgentreusche Wagen in der Adlerstraße hielt, um daselbst abzusetzen, hielt auch der Treibelsche Wagen vor der kommerzienrätlichen Wohnung, und die Rätin samt ihrem Sohne Leopold stiegen aus, während der alte Treibel auf seinem Platze blieb und das junge Paar - das wieder die Pferde geschont hatte - die Köpnickerstraße hinunter bis an den »Holzhof« begleitete. Von dort aus, nach einem herzhaften Schmatz (denn er spielte gern den zärtlichen Schwiegervater) ließ er sich zu Buggenhagen's fahren, wo Parteiversammlung war. Er wollte doch 'mal wieder sehen, wie's stünde und, wenn nötig, auch zeigen, daß ihn die Korrespondenz in der »Nationalzeitung« nicht niedergeschmettert habe. Die Commerzienrätin, die für gewöhnlich die politischen Gänge Treibels belächelte, wenn nicht beargwohnte - was auch vorkam - heute segnete sie Buggenhagen und war froh, ein paar Stunden allein sein zu können. Der Gang mit Wilibald hatte so vieles wieder in ihr angeregt. Die Gewißheit, sich verstanden zu sehen - es war doch eigentlich das Höhere. »Viele beneiden mich, aber was hab' ich am Ende? Stuck und Goldleisten und die Honig mit ihrem sauersüßen Gesicht. Treibel ist gut, besonders auch gegen mich; aber die Prosa lastet bleischwer auf ihm, und wenn er es nicht empfindet, ich empfinde es ... Und dabei Commerzienrätin und immer wieder Commerzienrätin. Es geht nun schon in das zehnte Jahr, und er rückt nicht höher hinauf, trotz aller Anstrengungen. Und wenn es so bleibt, und es wird so bleiben, so weiß ich wirklich nicht, ob nicht das andere, das auf Kunst und Wissenschaft deutet, doch einen feineren Klang hat. Ja, den hat es ... Und mit den ewigen guten Verhältnissen! Ich kann doch auch nur eine Tasse Kaffee trinken, und wenn ich mich zu Bett lege, so kommt es darauf an, daß ich schlafe. Birkenmaser oder Nußbaum macht keinen Unterschied, aber Schlaf oder Nichtschlaf, das macht einen, und mitunter flieht mich der Schlaf, der des Lebens Bestes ist, weil er uns das Leben vergessen läßt ... Und auch die Kinder wären anders. Wenn ich die Corinna ansehe, das sprüht alles von Lust und Leben, und wenn sie bloß so macht, so steckt sie meine beiden Jungen in die Tasche. Mit Otto ist nicht viel, und mit Leopold ist gar nichts.« Jenny, während sie sich in süße Selbsttäuschungen wie diese versenkte, trat ans Fenster und sah abwechselnd auf den Vorgarten und die Straße. Drüben, im Hause gegenüber, hoch oben in der offenen Mansarde stand, wie ein Schattenriß in hellem Licht, eine Plätterin, die mit sicherer Hand über das Plättbrett hinfuhr - ja, es war ihr, als höre sie Mädchen singen. Der Commerzienrätin Auge mochte von dem anmutigen Bilde nicht lassen, und etwas wie wirklicher Neid überkam sie. Sie sah erst fort, als sie bemerkte, daß hinter ihr die Thür ging. Es war Friedrich, der den Thee brachte. »Setzen Sie hin, Friedrich, und sagen Sie Fräulein Honig, es wäre nicht nötig.« »Sehr wohl, Frau Commerzienrätin. Aber hier ist ein Brief« »Ein Brief?« fuhr die Rätin heraus. »Von wem?« »Vom jungen Herrn.« »Von Leopold?« »Ja, Frau Commerzienrätin ... Und es wäre Antwort ...« »Brief ... Antwort ... Er ist nicht recht gescheidt,« und die Commerzienrätin riß das Kouvert auf und überflog den Inhalt. »Liebe Mama! Wenn es Dir irgend paßt, ich möchte heute noch eine kurze Unterredung mit Dir haben. Laß mich durch Friedrich wissen, ja oder nein. Dein Leopold.« Jenny war derart betroffen, daß ihre sentimentalen Anwandlungen auf der Stelle hinschwanden. So viel stand fest, daß das alles nur etwas sehr Fatales bedeuten konnte. Sie raffte sich aber zusammen und sagte: »Sagen Sie Leopold, daß ich ihn erwarte.« Das Zimmer Leopold's lag über dem ihrigen; sie hörte deutlich, daß er rasch hin und her ging, und ein paar Schubkästen, mit einer ihm sonst nicht eigenen Lautheit, zuschob. Und gleich danach, wenn nicht alles täuschte, vernahm sie seinen Schritt auf der Treppe. Sie hatte recht gehört, und nun trat er ein und wollte (sie stand noch in der Nähe des Fensters) durch die ganze Länge des Zimmers auf sie zuschreiten, um ihr die Hand zu küssen; der Blick aber, mit dem sie ihm begegnete, hatte etwas so Abwehrendes, daß er stehen blieb und sich verbeugte. »Was bedeutet das, Leopold? Es ist jetzt Zehn, also nachtschlafende Zeit, und da schreibst Du mir ein Billet und willst mich sprechen. Es ist mir neu, daß Du 'was auf der Seele hast, was keinen Aufschub bis morgen früh duldet. Was hast Du vor? Was willst Du?« »Mich verheiraten, Mutter. ich habe mich verlobt.« Die Commerzienrätin fuhr zurück, und ein Glück war es, daß das Fenster, an dem sie stand, ihr eine Lehne gab. Auf viel Gutes hatte sie nicht gerechnet, aber eine Verlobung über ihren Kopf weg, das war doch mehr, als sie gefürchtet. War es eine der Felgentreu's? Sie hielt beide für dumme Dinger und die ganze Felgentreuerei für erheblich unterm Stand; er, der Alte, war Lageraufseher in einem großen Ledergeschäft gewesen und hatte schließlich die hübsche Wirtschaftsmamsell des Prinzipals, eines mit seiner weiblichen Umgebung oft wechselnden Wittwers, geheiratet. So hatte die Sache begonnen und ließ in ihren Augen viel zu wünschen übrig. Aber verglichen mit den Munks, war es noch lange das Schlimmste nicht, und so sagte sie denn: »Elfriede oder Blanca?« »Keine von beiden.« »Also .« »Corinna.« Das war zu viel. Jenny kam in ein halb ohnmächtiges Schwanken, und sie wäre, angesichts ihres Sohnes, zu Boden gefallen, wenn sie der schnell Herzuspringende nicht aufgefangen hätte. Sie war nicht leicht zu halten und noch weniger leicht zu tragen; aber der arme Leopold, den die ganze Situation über sich selbst hinaus hob, bewährte sich auch physisch und trug die Mama bis ans Sopha. Danach wollte er auf den Knopf der elektrischen Klingel drücken, Jenny war aber, wie die meisten ohnmächtigen Frauen, doch nicht ohnmächtig genug, um nicht genau zu wissen, was um sie her vorging, und so faßte sie denn seine Hand, zum Zeichen, daß das Klingeln zu unterbleiben habe. Sie erholte sich auch rasch wieder, griff nach dem vor ihr stehenden Flaçon mit Kölnischem Wasser und sagte, nachdem sie sich die Stirn damit betupft hatte: »Also mit Corinna.« »Ja, Mutter.« »Und alles nicht bloß zum Spaß. Sondern um euch wirklich zu heiraten.« »Ja, Mutter.« »Und hier in Berlin und in der Luisenstädtschen Kirche, darin Dein guter, braver Vater und ich getraut wurden?« »Ja, Mutter.« »Ja, Mutter, und immer wieder ja, Mutter. Es klingt, als ob Du nach Kommando sprächst, und als ob Dir Corinna gesagt hätte, sage nur immer: Ja, Mutter. Nun, Leopold, wenn es so ist, so können wir beide unsere Rollen rasch auswendig lernen. Du sagst in einem fort ›ja, Mutter‹, und ich sage in einem fort ›nein, Leopold‹. Und dann wollen wir sehen, was länger vorhält, Dein ›Ja‹ oder mein ›Nein‹. »Ich finde, daß Du es Dir etwas leicht machst, Mama.« »Nicht, daß ich wüßte. Wenn es aber so sein sollte, so bin ich bloß Deine gelehrige Schülerin. Jedenfalls ist es ein Operieren ohne Umschweife, wenn ein Sohn vor seine Mutter hintritt und ihr kurzweg erklärt: ›Ich habe mich verlobt‹. So geht das nicht in unsern Häusern. Das mag beim Theater so sein oder vielleicht auch bei Kunst und Wissenschaft, worin die kluge Corinna ja groß gezogen ist, und einige sagen sogar, daß sie dem Alten die Hefte korrigiert. Aber wie dem auch sein möge, bei Kunst und Wissenschaft mag das gehen, meinetwegen, und wenn sie den alten Professor, ihren Vater (übrigens ein Ehrenmann) auch ihrerseits mit einem ›ich habe mich verlobt‹ überrascht haben sollte, nun, so mag der sich freuen; er hat auch Grund dazu, denn die Treibel's wachsen nicht auf den Bäumen und können nicht von jedem, der vorbeigeht, heruntergeschüttelt werden. Aber ich, ich freue mich nicht und verbiete Dir diese Verlobung. Du hast wieder gezeigt, wie ganz unreif Du bist, ja, daß ich es ausspreche, Leopold, wie knabenhaft.« »Liebe Mama, wenn Du mich etwas mehr schonen könntest ...« »Schonen? Hast Du mich geschont, als Du Dich auf diesen Unsinn einließest? Du hast Dich verlobt, sagst Du. Wem willst Du das weiß machen? Sie hat sich verlobt, und Du bist bloß verlobt worden. Sie spielt mit Dir, und anstatt Dir das zu verbitten, küßest Du ihr die Hand und lässest Dich einfangen wie die Gimpel. Nun, ich hab' es nicht hindern können, aber das Weitere, das kann ich hindern und werde es hindern. Verlobt euch so viel ihr wollt, aber wenn ich bitten darf, im Verschwiegenen und Verborgenen; an ein Heraustreten damit ist nicht zu denken. Anzeigen erfolgen nicht, und wenn Du Deinerseits Anzeigen machen willst, so magst Du die Gratulationen in einem Hôtel garni in Empfang nehmen. In meinem Hause nicht. In meinem Hause existiert keine Verlobung und keine Corinna. Damit ist es vorbei. Das alte Lied vom Undank erfahr' ich nun an mir selbst und muß erkennen, daß man unklug daran thut, Personen zu verwöhnen und gesellschaftlich zu sich heraufzuziehen. Und mit Dir steht es nicht besser. Auch Du hättest mir diesen Gram ersparen können und diesen Skandal. Daß Du verführt bist, entschuldigt Dich nur halb. Und nun kennst Du meinen Willen, und ich darf wohl sagen, auch Deines Vaters Willen, denn so viel Thorheiten er begeht, in den Fragen, wo die Ehre seines Hauses auf dem Spiele steht, ist Verlaß auf ihn. Und nun geh', Leopold, und schlafe, wenn Du schlafen kannst. Ein gut Gewissen ist ein gutes Ruhekissen ...« Leopold biß sich auf die Lippen und lächelte verbittert vor sich hin. »... Und bei dem, was Du vielleicht vor hast - denn Du lächelst und stehst so trotzig da, wie ich Dich noch gar nicht gesehen habe, was auch bloß der fremde Geist und Einfluß ist - bei dem, was Du vielleicht vor hast, Leopold, vergiß nicht, daß der Segen der Eltern den Kindern Häuser baut. Wenn ich Dir raten kann, sei klug und bringe Dich nicht um einer gefährlichen Person und einer flüchtigen Laune willen um die Fundamente, die das Leben tragen, und ohne die es kein rechtes Glück gibt.« * * * Leopold, der sich, zu seinem eigenen Erstaunen, all' die Zeit über durchaus nicht niedergeschmettert gefühlt hatte, schien einen Augenblick antworten zu wollen; ein Blick auf die Mutter aber, deren Erregung, während sie sprach, nur immer noch gewachsen war, ließ ihn erkennen, daß jedes Wort die Schwierigkeit der Lage bloß steigern würde; so verbeugte er sich denn ruhig und verließ das Zimmer. Er war kaum hinaus, als sich die Commerzienrätin von ihrem Sophaplatz erhob und über den Teppich hin auf- und abzugehen begann. Jedesmal, wenn sie wieder in die Nähe des Fensters kam, blieb sie stehen und sah nach der Mansarde und der immer noch im vollem Lichte dastehenden Plätterin hinüber, bis ihr Blick sich wieder senkte und dem bunten Treiben der vor ihr liegenden Straße zuwandte. Hier, in ihrem Vorgarten, den linken Arm von innen her auf die Gitterstäbe gestützt, stand ihr Hausmädchen, eine hübsche Blondine, die mit Rücksicht auf Leopold's » mores« beinahe nicht engagiert worden wäre, und sprach lebhaft und unter Lachen mit einem draußen auf dem Trottoir stehenden »Cousin,« zog sich aber zurück, als der eben von Buggenhagen kommende Commerzienrat in einer Droschke vorfuhr und auf seine Villa zuschritt. Treibel, einen Blick auf die Fensterreihe werfend, sah sofort, daß nur noch in seiner Frau Zimmer Licht war, was ihn mitbestimmte, gleich bei ihr einzutreten, um noch über den Abend und seine mannigfachen Erlebnisse berichten zu können. Die flaue Stimmung, der er anfänglich infolge der Nationalzeitungskorrespondenz bei Buggenhagen's begegnet war, war unter dem Einfluß seiner Liebenswürdigkeit rasch gewichen, und das um so mehr, als er den auch hier wenig gelittenen Vogelsang schmunzelnd preisgegeben hatte. Von diesem Siege zu erzählen, trieb es ihn, trotzdem er wußte, wie Jenny zu diesen Dingen stand; als er aber eintrat und die Aufregung gewahr wurde, darin sich seine Frau ganz ersichtlich befand, erstarb ihm das joviale »guten Abend, Jenny« auf der Zunge, und ihr die Hand reichend, sagte er nur: »Was ist vorgefallen, Jenny? Du siehst ja aus wie das Leiden ... nein, keine Blasphemie ... Du siehst ja aus, als wäre Dir die Gerste verhagelt.« »Ich glaube, Treibel,« sagte sie, während sie ihr Auf und Ab im Zimmer fortsetzte, »Du könntest Dich mit Deinen Vergleichen etwas höher hinaufschrauben; »verhagelte Gerste« hat einen überaus ländlichen, um nicht zu sagen bäuerlichen Beigeschmack. Ich sehe, das Teupitz-Zossen'sche trägt bereits seine Früchte ...« »Liebe Jenny, die Schuld liegt, glaube ich, weniger an mir als an dem Sprach- und Bilderschatze deutscher Nation. Alle Wendungen, die wir als Ausdruck für Verstimmungen und Betrübnisse haben, haben einen ausgesprochenen Unterschichtscharakter, und ich finde da zunächst nur noch den Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen.« Er stockte, denn es traf ihn ein so böser Blick, daß er es doch für angezeigt hielt, auf das Suchen nach weiteren Vergleichen zu verzichten. Auch nahm Jenny selbst das Wort und sagte: »Deine Rücksichten gegen mich halten sich immer auf derselben Höhe. Du siehst, daß ich eine Alteration gehabt habe, und die Form, in die Du Deine Teilnahme kleidest, ist die geschmackloser Vergleiche. Was meiner Erregung zugrunde liegt, scheint Deine Neugier nicht sonderlich zu wecken.« »Doch, doch, Jenny ... Du darfst das nicht übel nehmen; Du kennst mich und weißt, wie das alles gemeint ist. Alteration! Das ist ein Wort, das ich nicht gern höre. Gewiß wieder was mit Anna, Kündigung oder Liebesgeschichte. Wenn ich nicht irre, stand sie ...« »Nein, Treibel, das ist es nicht, Anna mag thun, was sie will und meinetwegen ihr Leben als Spreewälderin beschließen. Ihr Vater, der alte Schulmeister, kann dann an seinem Enkel erziehen, was er an seiner Tochter versäumt hat. Wenn mich Liebesgeschichten alterieren sollen, müssen sie von anderer Seite kommen ...« »Also doch Liebesgeschichten. Nun sage wer?« »Leopold.« »Alle Wetter ...« Und man konnte nicht heraushören, ob Treibel bei dieser Namensnennung mehr in Schreck oder Freude geraten war. »Leopold? Ist es möglich?« »Es ist mehr als möglich, es ist gewiß; denn vor einer Viertelstunde war er selber hier, um mich diese Liebesgeschichte wissen zu lassen »Merkwürdiger Junge ...« »Er hat sich mit Corinna verlobt.« Es war ganz unverkennbar, daß die Commerzienrätin eine große Wirkung von dieser Mitteilung erwartete, welche Wirkung aber durchaus ausblieb. Treibel's erstes Gefühl war das einer heiter angeflogenen Enttäuschung. Er hatte 'was von kleiner Soubrette, vielleicht auch von »Jungfrau aus dem Volk« erwartet und stand nun vor einer Ankündigung, die, nach seinen unbefangeneren Anschauungen, alles andere als Schreck und Entsetzen hervorrufen konnte. »Corinna,« sagte er. »Und schlankweg verlobt und ohne Mama zu fragen. Teufelsjunge. Man unterschätzt doch immer die Menschen und am meisten seine eigenen Kinder.« »Treibel, was soll das? Dies ist keine Stunde, wo sich's für Dich schickt, in einer noch nach Buggenhagen schmeckenden Stimmung ernste Fragen zu behandeln. Du kommst nach Haus und findest mich in einer großen Erregung, und im Augenblicke, wo ich Dir den Grund dieser Erregung mitteile, findest Du's angemessen, allerlei sonderbare Scherze zu machen. Du mußt doch fühlen, daß das einer Lächerlichmachung meiner Person und meiner Gefühle ziemlich gleich kommt, und wenn ich Deine ganze Haltung recht verstehe, so bist Du weit ab davon, in dieser sogenannten Verlobung einen Skandal zu sehen. Und darüber möchte ich Gewißheit haben, eh, wir weiter sprechen. Ist es ein Skandal oder nicht?« »Nein.« »Und Du wirst Leopold nicht darüber zur Rede stellen?« »Nein. »Und bist nicht empört über diese Person?« »Nicht im geringsten.« »Über diese Person, die Deiner und meiner Freundlichkeit sich absolut unwert macht, und nun ihre Bettlade - denn um viel 'was anderes wird es sich nicht handeln - in das Treibel'sche Haus tragen will.« Treibel lachte. »Sieh', Jenny, diese Redewendung ist Dir gelungen, und wenn ich mir mit meiner Phantasie, die mein Unglück ist, die hübsche Corinna vorstelle, wie sie so zu sagen zwischen die Längsbretter eingeschirrt, ihre Bettlade hierher ins Treibel'sche Haus trägt, so könnte ich eine Viertelstunde lang lachen. Aber ich will doch lieber nicht lachen und Dir, da Du so sehr fürs Ernste bist, nun auch ein ernsthaftes Wort sagen. Alles, was Du da so hinschmetterst, ist erstens unsinnig und zweitens empörend. Und was es außerdem noch alles ist, blind, vergeßlich, überheblich, davon will ich gar nicht reden ...« Jenny war ganz blaß geworden und zitterte, weil sie wohl wußte, worauf das »blind und vergeßlich« abzielte. Treibel aber, der ein guter und auch ganz kluger Kerl war, und sich aufrichtig gegen all' den Hochmut aufrichtete, fuhr jetzt fort: »Du sprichst da von Undank und Skandal und Blamage, und fehlt eigentlich blos noch das Wort »Unehre«, dann hast Du den Gipfel der Herrlichkeit erklommen. Undank. Willst Du der klugen, immer heitren, immer unterhaltlichen Person, die wenigstens sieben Felgentreu's in die Tasche steckt - nächststehender Anverwandten ganz zu geschweigen - willst Du der die Datteln und Apfelsinen nachrechnen, die sie von unserer Majolikaschüssel, mit einer Venus und einem Cupido darauf, beiläufig eine lächerliche Pinselei, mit ihrer zierlichen Hand heruntergenommen hat? Und waren wir nicht bei dem guten alten Professor unsererseits auch zu Gast, bei Wilibald, der doch sonst Dein Herzblatt ist, und haben wir uns seinen Brauneberger, der ebenso gut war wie meiner, oder doch nicht viel schlechter, nicht schmecken lassen? Und warst Du nicht ganz ausgelassen und hast Du nicht an dem Klimperkasten, der da in der Putzstube steht, Deine alten Lieder 'runtergesungen? Nein, Jenny, komme mir nicht mit solchen Geschichten. Da kann ich auch 'mal ärgerlich werden ...« Jenny nahm seine Hand und wollte ihn hindern weiter zu sprechen. »Nein, Jenny, noch nicht, noch bin ich nicht fertig. Ich bin nun 'mal im Zuge. Skandal sagst Du und Blamage. Nun, ich sage Dir, nimm Dich in acht, daß aus der bloß eingebildeten Blamage nicht eine wirkliche wird und daß - ich sage das, weil Du solche Bilder liebst - der Pfeil nicht auf den Schützen zurückfliegt. Du bist auf dem besten Wege, mich und Dich in eine unsterbliche Lächerlichkeit hineinzubugsieren. Wer sind wir denn? Wir sind weder die Montmorency's noch die Lusignan's - von denen, nebenher bemerkt, die schöne Melusine herstammen soll, was Dich vielleicht interessiert - wir sind auch nicht die Bismarck's oder die Arnim's oder sonst was Märkisches von Adel, wir sind die Treibel's, Blutlaugensalz und Eisenvitriol, und Du bist eine geborene Bürstenbinder aus der Adlerstraße, Bürstenbinder ist ganz gut, aber der erste Bürstenbinder kann unmöglich höher gestanden haben als der erste Schmidt. Und so bitt' ich Dich denn, Jenny, keine Übertreibungen. Und wenn es sein kann, laß den ganzen Kriegsplan fallen und nimm Corinna mit so viel Fassung hin, wie Du Helene hingenommen hast. Es ist ja nicht nötig, daß sich Schwiegermutter und Schwiegertochter furchtbar lieben, sie heiraten sich ja nicht; es kommt auf Die an, die den Mut haben, sich dieser ernsten und schwierigen Aufgabe allerpersönlichst unterziehen zu wollen ...« Jenny war während dieser zweiten Hälfte von Treibel's Philippika merkwürdig ruhig geworden, was in einer guten Kenntnis des Charakters ihres Mannes seinen Grund hatte. Sie wußte, daß er in einem überhohen Grade das Bedürfnis und die Gewohnheit des Sichaussprechens hatte, und daß sich mit ihm erst wieder reden ließ, wenn gewisse Gefühle von seiner Seele heruntergeredet waren. Es war ihr schließlich ganz recht, daß dieser Akt innerlicher Selbstbefreiung so rasch und so gründlich begonnen hatte; was jetzt gesagt worden war, brauchte morgen nicht mehr gesagt zu werden, war abgethan und gestattete den Ausblick auf friedlichere Verhandlungen. Treibel war sehr der Mann der Betrachtung aller Dinge von zwei Seiten her, und so war Jenny denn völlig überzeugt davon, daß er über Nacht dahin gelangen würde, die ganze Leopold'sche Verlobung auch 'mal von der Kehrseite her anzusehen. Sie nahm deshalb seine Hand und sagte: »Treibel, laß uns das Gespräch morgen früh fortsetzen. Ich glaube, daß Du, bei ruhigerem Blute, die Berechtigung meiner Anschauungen nicht verkennen wirst. Jedenfalls rechne nicht darauf, mich anderen Sinnes zu machen. Ich wollte Dir, als dem Manne, der zu handeln hat, selbstverständlich auch in dieser Angelegenheit nicht vorgreifen; lehnst Du jedoch jedes Handeln ab, so handle ich. Selbst auf die Gefahr Deiner Nichtzustimmung.« »Thu', was Du willst.« Und damit warf Treibel die Thür ins Schloß und ging in sein Zimmer hinüber. Als er sich in den Fauteuil warf, brummte er vor sich hin: »Wenn sie am Ende doch recht hätte!« Und konnte es anders sein? Der gute Treibel, er war doch auch seinerseits das Produkt dreier, im Fabrikbetrieb immer reicher gewordenen Generationen, und aller guten Geistes- und Herzensanlagen unerachtet und trotz seines politischen Gastspiels auf der Bühne Teupitz-Zossen - der Bourgeois steckte ihm wie seiner sentimentalen Frau tief im Geblüt.