DAS ,VERWORFENE" EUROPA I 77 tet werden. Vor dem Hintergrund dieser Klarungen soll dann abschlieBend nochmals auf den Fall von Gogh Bezug genommen werden. Die Rede uber den Mord an van Gogh eine Kontroverse europaischer lntellektueller Die zentralen Protagonisten der Kontroverse heiBen: Ian Buruma, Pascal Bruckner und Timothy Garton Ash. Ausgel6st wurde sie durch Pascal Bruckner, der am 24. 01. 2007 in einem Essay mit dem Titel: ,Fundamentalismus der Aufklarung oder Rassismus der Antirassisten?" den Streit urn Universalismus versus Partikularismus, sprich: Aufklarung versus Multikulturalismus eroffnete. Bereits die dem Titel unmittelbar folgende These Hisst keinen Zweifel daran, worum es geht, und wer gemeint ist: ,Ayaan Hirsi Ali sieht nicht nur gut aus, sondem beruft sich auch noch auf Voltaire. Da tibertreibt sie, finden Ian Buruma und Timothy Garton Ash, und erklaren sie zur ,Fundamentalistin der Aufklarung'. Sie selbst verki:irpem den Rassismus der Antirassisten" (Ash 2006). Ian Burumas 2006 verfasste und vieldiskutierte Schrift: ,Die Grenzen der Toleranz"- halb Reportage, halb Gesellschaftsanalyse - zum Mord an Theo van Gogh wurde von Timothy Garton Ash im September in der New York Review of Books unter der schlichten Uberschrift: ,Islam in Europe" besprochen. Buruma und Ash reagieren verstandnislos auf Bruckners Kritik; mitnichten hatten sie eine so wichtige Position wie die von Ayaan Hirsi Ali vertretene angreifen wollen. Wie konnten sie nur so missverstanden werden? Waren sie nicht klar und eindeutig in ihren Aussagen, dass der somalischstammigen niederlandischen Politikerin das groBe Verdienst zukomme, die Augen fur die Kehrseite der multikulturellen Idylle geOffnet zu haben: die Beschneidung von Madchen und andere gegen Menschenrechte und Gleichberechtigung verstoBende Praktiken? Bruckners Bezug wiederum sind Passagen wie die folgende aus der Rezension von Timothy Garton Ash: ,Having in her youth been tempted by Islamist fundamentalism, under the influence of an inspiring schoolteacher, Ayaan Hirsi Ali is now a brave, outspoken, slightly simplistic Enlightenment fundamentalist. In a pattern familiar to historians of political intellectuals, she has gone from one extreme to the other, with an emotional energy perfectly summed up by Shakespeare: ,As the heresies that men do leave/are hated most ofthose they did deceive'" (ebd. 2006). In dieser Passage ist eindeutig die Rede davon, dass Ayaan Hirsi Ali den einen Fundamentalismus durch einen anderen ersetzt hat. Zudem findet Buruma ihr DAS ,VERWORFENE" EUROPA I 83 Unterschichtung und Relegation auf die unteren Range der Erwerbstatigkeit, als insgesamt gelungen zu bezeichnen ist. Dies liegt daran, dass die sozialen Rechte, die unmittelbar an ein vertragliches Erwerbsverhtiltnis gekoppelt sind, auf die alltagliche Lebensgestaltung einen direkteren Einfluss ausuben als die politischen. In die Systeme der sozialen Sicherung aber waren die Migranten qua in den Anwerbe- und Arbeitsvertragen abgesicherte Erwerbstatigkeit auch ohne Gewahrung der Staatsburgerschaft integriert. Da dauerhafte Zuwanderung zu dieser und auch in der Folgezeit tabuisiert blieb, stellte sich die Frage nach vollstandiger ,Vergemitgliedschaftung" in das nationale Kollektiv nicht. Der Status des ,Gastes" ist per definitionem ein transitorischer. Die Rationalisierung lautete eher so: Die sozialen Sicherungssysteme, von der und fur die solidarische deutschen Volksgemeinschaft (eriunert sei hier an die Begriindung der ZugehOrigkeit zum nationalen Kollektiv auf der Basis des ius sanguinis) errichtet, wurden den erwerbstatigen ,Glisten" zur Verfugung gestellt. Der Anspruch begriindete sich also v.a. durch eine erbrachte Leistung, durch einen Beitrag fur das Kollektiv, aber, so der offizielle Diskurs, nicht durch grundsatzlich anerkannte Zugehorigkeit. Sie waren als Wohnburger;'als''i;denizens" (Hammar 1989); zwar in vielem den Staatsbiirgem gleichgestellt, aber eben nicht als vollwertige Gesellschaftsmitglieder anerkannt. Nur vor dem Hintergrund einer veranderten Wahmehmung lasst sich erklaren, warum die vollerwerbstatig gewesenen Arbeitsmigranten der ersten Generation, die einst als wertvolle Beitragende zum gesellschaftlichen Wohlstand wertgeschtitzt wurden, nun als eigentliche Begriinder von Parallelgesellschaften betrachtet werden, denen vorgeworfen wird, sie htitten eine Eingliederung ihrer Kinder und Enkelkinder verhindert. Zur aktuellen Integrations- und Migrationspolitik Michael Bommes beschrieb den oben skizzierten Zusammenhang kiirzlich (2006) als bedeutsames historisches Phtinomen: In Europa korrespondierten die Phasen intensiver Migrationsbewegungen in den sechziger und siebziger Jahren mit dem Ausbau der Sozialsysteme. Dadurch erklare sich die Ineinanderschiebung von Migrations- und Integrationspolitik, die dazu vor dem Hintergrund der noch fortwirkenden wohlfahrtsstaatlichen Traditionen, trotz Umstellung auf Eigenaktivierung und staatlicher Forderung, noch immer durch ein hohes Ma13 an staatlicher Intervention gekennzeichnet sei. Die aktuell diskutierten Integrationskurse, in Form von Sprachkursen seien hierfur typisch. Dennoch setzt sich der sorgende Staat nicht einfach fort: