Heinz Fassmann, Rainer Münz (Hg.) Migration in Buropa Historische Entwicklung, aktuelle Trends und politische Reaktionen Campus Verlag Frankfurt/New York 1. Europäische Migration- ein Überblick Heinz Fassmann und Rainer Münz Bis in die 30er Jahre des 20 Jahrhunderts dominierte in Buropa die Auswanderung nach Übersee. Zwischen 1815 und 1939 wanderten mehr als 50 Mio. Europäer nach Übersee aus, darunter fast 30 Mio. in die USA (Hoerder 1985). Nord- und Südamerika blieben allerdings nicht die einzigen Ziele. Im seihen Zeitraum kamen Hunderttausende polnische und ukrainische Arbeiter in die neu entstehenden Zentren der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie Frankreichs, Deutschlands und Englands. Andere slawische Migranten kamen in großer Zahl nach Berlin und Wien. Mehrere Hunderttausend Iren zogen auf Arbeitssuche nach England und Schottland. Italiener ließen sich zu Zehntauseoden in Frankreich, der Schweiz und dem heutigen Westösterreich nieder. Mehrere Hunderttausend osteuropäische Juden flohen vor Antisemitismus, vor Pogromen und materieller Not aus der Ukraine, aus Ostgalizien und dem Baltikum. Die quantitativ bedeutendste Form der Migration bildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ethnische Säuberungen bzw. Vertreibung und Umsiedlung ethnischer Gruppen nach dem Ersten Weltkrieg sowie während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Davon betroffen waren zwischen 1918 und 1950 in Summe weit mehr als 20 Mio. Menschen (Fassmann/Münz 1994b). Erst nach 1950 gewannen die Arbeitsmigration und in der Folge auch der Nachzug von Farniiienangehörigen dieser Arbeitsmigranten ihre zentrale Bedeutung fur das europäische Migrationsgeschehen. Damit ist nicht gesagt, daß alle anderen Typen von Migration völlig an Bedeutung verloren hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Wie heute allgemein bekannt, löste das Ende der politischen Spaltung Europas eine Migrationswelle von unerwarteter Größe aus. Zwischen 1989 und 1992 verließen mehr als 4 Mio. Mittel- und Osteuropäer ihre Heimatländer, darunter überproportional viele Volksdeutsche, Juden und Angehörige ande- 13 rer diskriminierter Minderheiten. Erstere fanden privilegierte Aufuahme in Deutschland oder in Israel; letztere wurden nach dem Ende des kalten Krieges vielfach nicht mehr als Flüchtlinge anerkannt, sondern bestenfalls geduldet. Dies gilt auch fiir jene 700.000 Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in einem westlichen Land Zuflucht fanden. Weitere 5-6 Mio. verloren zwischen 1991/92 und 1995 durch Krieg und ethnische Säuberungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien - vor allem in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien - und im Kaukasus ihre Heimat. Schließlich bewog der Zerfall der Sowjetunion seit Ende 1990 mehrere Millionen Menschen- vor allem ethnische Russen und Ukrainer- zur Rückkehr aus der ehemaligen sowjetischen Peripherie nach Rußland und in die Ukraine. Seit den Massenvertreibungen während und unmittelbar n~ch Ende des Zweiten Weltkriegs hat es auf unserem Kontinent keine Migration von vergleichbarer Größe mehr gegeben. Die Migrationswelle der Jahre 1988/89-1993 fiihrte dazu, daß internationale Wanderungen fiir einige Zeit ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit rückten. Im Vordergrund standen in der Regel Ängste und Abwehrreflexe. Von manchen wurde Europa sogar als "weiße Festung" (Chesnais 1995; Ruffin 1993) und als Kontinent im Belagerungszustand (Coleman 1994c) bezeichnet. Dabei wird häufig übersehen, daß Massenmigration weder ein neues Phänomen ist, noch den historischen Ausnahmefall darstellt. Seit Beginn der industriellen Revolution in Europa und der europäischen Siedlungskolonisation in Übersee ist räumliche Mobilität ein Charakteristikum moderner Gesellschaften. Allerdings haben sich die Gewichte verschoben. Europa, einst ein Auswanderungskontinent (Bade 1992, Hoerder 1985), besteht heute mehrheitlich aus Ländern mit einer positiven Wanderungsbilanz (Chesnais 1995; Europarat 1995; Muus 1993). 1.1 Historische Entwicklung seit 1945 Die Analyse internationaler Migration in und nach Europa wird durch das Fehlen einer einheitlichen und damit vergleichbaren Datengrundlage erschwert. Wer in Europa woher ein- bzw. wohin auswanderte, ist im nachhinein nicht mehr genau festzustellen. Das beginnt bei grundsätzlichen Fragen. Nicht immer ist klar, welche Personen aus Sicht der administrativen Sta- 14 tistik eines Landes als Migranten gelten. Die UNO-Empfehlung zur einheitlichen Definition von Migration wurde zwar von allen europäischen Staaten zur Kenntnis genommen, die wenigsten konnten oder wollten diese Definition jedoch bis jetzt anwenden. Wie4angecjemand,''der/eine internationale Grenze überschritten hat, im U)otentiellen).Zielland wohnen·muß, um dort als Einwanderer gezählt.zti werden,·bleibt vontand.zuLand verschieden. Überdies sind viele nationale Statistiken nicht in der Lage, genaue Angaben über den Zeitpunkt der Einreise und die Dauer des Aufenthaltes von grenzüberschreitenden Migranten zu machen. In den meisten westeuropäischen Ländern ist die Staatsangehörigkeit ein wesentliches Kriterium fiir die Unterscheidung zwischen ,,Einheimischen" und "Ausländern". Darüber hinaus werden letztere, je nach Freizügigkeit, in verschiedene Kategorien eingeteilt. Die meisten Länder unterscheiden zwischen EU-Staatsangehörigen, anderen privilegierten Ausländern und "sonstigen" ausländischen Einwohnern. Großbritannien trennt zwischen Immigranten mit ,,British Dependent Territory Citizenship" oder ,,British Overseas Citizenship", Immigranten mit der Staatsangehörigkeit eines zum Commonwealth gehörenden Landes und "sonstigen" Gruppen der ausländischen Wohnbevölkerung. Darüber hinaus werden in Großbritannien Daten erhoben, die zwischen Briten "weißer'' und "farbiger'' Herkunft unterscheiden. Schweden unterscheidet zwischen Ausländern und im Ausland geborenen schwedischen Staatsangehörigen und die Niederlande zwischen "einheimischen" Staatsangehörigen, früheren Einwohnern Surinams, der Niederländischen Antillen, Arubas und Indonesiens bzw. deren Nachkommen (d.h. anerkannten Minderheiten) und anderen ausländischen Staatsangehörigen (vgl. Coleman und Entzinger in diesem Buch). Andere Länder, deren Grenzen sich im Verlaufdes 20. Jahrhunderts deutlich verschoben und die Staatsangehörige aus ehemaligen Staats- und Siedlungsgebieten bei der Einwanderung bevorzugten oder sie sogar systematisch wiederansiedelten, beschritten häufig den entgegengesetzten Weg. Sie bemühten sich, diese Bürger nach ihrer Eingliederung möglichst nicht als Immigranten zu registrieren. Dies gilt fiir Frankreich, das im Verlauf der Dekolonisation rund 2 Mio. Personen repatriierte, aber auch fiir Deutschland, das nicht nur den Vertriebenen der Jahre 1945-1947, sondern auch volksdeutschen Aussiedlern aus Polen, Rumänien, Rußland und Zentralasien bis 1992 relativ problemlos die Staatsbürgerschaft gewährte und die Aufuahme von 15 Volksdeutschen, die auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion leben, weiterhin ermöglicht.1 Die Staatsangehörigkeit einer Person gibt nicht notwendigerweise darüber Auskunft, ob jemand Migrant ist oder nicht. Nur soviel ist klar: Seit 1945 war die Zahl der Migranten in Europa in Summe deutlich größer, als es die jeweiligen Ausländerzahlen vermuten ließen. Denn zu berücksichtigen sind auch eingebürgerte Vertriebene, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten, ferner ehemalige Siedler, Soldaten, Beamte und andere Ein- bzw. Rückwanderer aus früheren Kolonien, die bereits als britische, französische, niederländische, belgisehe oder portugiesische Staatsangehörige geboren wurden. Trotz dieser Einschränkungen vermittelt die Größe der ausländischen Wohnbevölkerungen in Westeuropa eine Vorstellung von der Bedeutung, die internationale Migration fur die einzelnen Zielländer hatte und hat. Verfugbare Statistiken2 zeigen in fast allen westeuropäischen Ländern von den 50er bis in die frühen 70er Jahre eine starke Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerungen. Dagegen gab es in den 80er Jahren, als Beschränkung und Kontrolle der Einwanderung zu einem wichtigen politischen Thema wurden, nur geringfugige oder gar keine Steigerungen. Anfang der 90er Jahre nahmen Zahl und Anteil der Ausländer schließlich wieder zu. Von 1950 bis in die frühen 70er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Ausländer in der westlichen Hälfte Europas (heutige 15 EU-Mitgliedstaaten, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz). 1950 lebten in diesen 18 westeuropäischen Ländern nur 4 Mio. Ausländer. Bis 1970/71 stieg diese Zahl auf fast 11 Mio. Zehn Jahre später, also 1982,3 lebten in der Westhälfte Europas rund 15 Mio. Ausländer. 1992/93 waren es bereits 19 Mio. Dieser Trend zdgt deutlich die zunehmende Internationalisierung westeuropäischer Bevölkerungen, Arbeitsmärkte und Gesellschaften. Trotzdem wäre es falsch zu behaupten, daß Westeuropa einen wohlhabenden Subkontinent bildet, der von Ausländern überrannt wird. Von den 383 Mio. Menschen, die in dieser Region leben, sind nur 5% nicht Staatsbürger ihres jeweiligen Aufenthaltslandes, darunter ein Drittel Staatsangehörige eines anderen westeuropäischen Lan- des. Kleinstaaten wie Liechtenstein (21,4% der Gesamtbevölkerung) und Luxemburg (9,8%) sowie die Schweiz (6,1%), Österreich (4,7%),4 Belgien (4,3%) und Frankreich (4,1%) hatten um 1950 die höchsten Anteile ausländischer Einwohner. Gleichzeitig war der Anteil in Schweden (1,8%), in der 16 Tabelle 1.1: Ausländische Wohnbevölkerung in 18 westeuropäischen Staaten, 1950- 1992/93 (ausl. Wohnbevölkerung in 1.000 und Anteil an der Bevölkerung) 1950 1970/71 1982 1990 1992/93 Land in 1.000 %in 1.000 %in 1.000 %in 1.000 %in 1.000 % Deutschland (1) 568 1,1 2.976 4,9 4.667 7,6 5.338 8,4 6.878 8,5 Frankreich 1.765 4,2 2.621 5,1 3.660 6,7 3.607 6,3 3.790 6,6 Großbritannien * * 2.000 3,6 2.137 3,8 1.904 3,3 2.001 3,5 Schweiz (2) 285 6,1 1.080 17,4 926 14,4 1.127 16,7 1.260 18,1 Belgien 368 4,3 696 7,2 886 9,0 903 9,0 987 9,1 Niederlande 104 1,0 255 1,9 547 3,8 692 4,6 920 5,1 Österreich 323 4,7 212 2,8 303 4,0 482 6,2 779 8,6 Italien 47 0,1 * * 312 0,6 469 0,8 689 1,7 Schweden 124 1,8 411 5,1 406 4,9 484 5,6 507 5,8 Spanien 93 0,3 148 0,4 183 0,5 279 0,7 430 1,1 Griechenland 31 0,4 15 0,2 60 0,6 173 1,7 204 2,0 Dänemark * * * * 102 2,0 161 3,1 189 3,6 Norwegen 16 0,5 76 2,0 91 2,2 143 3,4 162 3,8 Portugal 21 0,2 32 0,4 64 0,6 108 1,1 124 1,2 Luxemburg 29 9,8 63 18,5 96 26,3 109 28,2 122 31,1 Irland * * 137 4,6 232 6,6 80 2,3 95 2,7 Finnland 11 0,3 6 0,1 13 0,3 26 0,5 55 1,1 Liechtenstein 3 21,4 7 33,3 9 34,1 11 38,1 11 37,5 Westeuro2a (3~ 3.785 1,3 10.728 3,2 14.685 4,2 16.085 4,5 19.208 5,2 Anmerkungen: (1) 1950-1990: Westdeutschland, seit 1991: Ost- und Westdeutschland. (2) Ohne Saisonniers. (3) Summiert sind nur die aufgeführten Länder mit verfiigbaren Daten. *Keine Daten verfiigbar. Quelle: Europarat 1995, OECD 1995. Bundesrepublik Deutschland (1,1%)5 und in den Niederlanden (1,0%) fast zu vernachlässigen. In absoluten Zahlen hatte Frankreich in den fiühen 50er Jahren die größte ausländische Bevölkerung (1,8 Mio.), weitaus mehr als Westdeutschland (1950: 568.000), Belgien (368.000) und Österreich (323.000). 1970 war die Bundesrepublik Deutschland innerhalb Europas bereits das Land mit der größten Zahl wohnhafter Ausländer (3 Mio. = 4,9% der Gesamtbevölkerung). Danach folgten Frankreich (2,6 Mio. Ausländer= 5,3% der Gesamtbevölkerung), die Schweiz (1,1 Mio. = 17,4%), Belgien (700.000 = 7,2%), Schweden (410.000 = 5,1%), die Niederlande (260.000 = 1,9%) und Österreich (210.000 = 2,8%).6 Die Mehrheit dieser Ausländer waren Ar- beitsmigranten. Quantitativ am stärksten fallen Ausländer und Zuwanderer auch derzeit in den Zwergstaaten Europas ins Gewicht (1993 Monaco: 60%, Liechtenstein: 39%, Luxemburg: 30%). Von den Flächenstaaten Europas hat die Schweiz 17 mit Abstand den höchsten Ausländeranteil, nämlich 18%, mit Saisonniers und Beamten internationaler Organisationen sogar über 19%. In Deutschland liegt der Gesamtanteil der Zuwanderer aufgrund früherer und aktueller Zuwanderung von Volksdeutschen aus dem Osten und zahlreicher Arbeitsmigranten bei ca. 14%. Die Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer ist mit 7 Mio. (= 8,6%) bei weitem die größte in Europa. Wichtigste Nationalität sind die 2 Mio. in Deutschland lebenden Türken, die 2,5% der deutschen Wohnbevölkerung ausmachen. Die zweitgrößte ausländische Bevölkerung hat Frankreich (3,8 Mio. = 6,6%), gefolgt von Großbritannien (2 Mio. = 3,5%), der Schweiz (1,2 Mio. = 18%) und Belgien (0,9 Mio. = 10%). In allen genannten Ländern liegt der Anteil der Ausländer unter dem Prozentsatz der Zuwanderer, weil etliche Migranten schon als "Inländer'' ins Land kamen oder inzwischen eingebürgert wurden. Nur die Schweiz bildet da eine Ausnahme. Zugleich ist klar, daß nicht alle in Europa lebenden Ausländer selber eingewandert sind. Eine wachsende Minderheit wurde als Kinder ausländischer Eltern im Inland geboren. Das gilt insbesondere fur Länder, in denen es keine automatische oder erleichterte Einbürgerung der sogenannten "zweiten Generation" von Immigranten gibt. 1.2 Typen von Zuwanderung in und nach Europa Als ,,Zuwanderer'' oder "Ausländer'' können mindestens funf Gruppen von Migranten gelten, die in einzelnen Staaten Europas unterschiedlich stark ins Gewicht fallen: 1. Koloniale und postkoloniale Wanderer (Zuwanderer gleicher und anderer Nationalität aus ehemaligen Kolonien), 7 2. Ethnische Wanderer (Zuwanderer gleicher ethnischer Zugehörigkeit),8 3. Arbeitsmigranten und deren Angehörige, 4. Flüchtlingswanderung (anerkannte Flüchtlinge, de-facto-Flüchtlinge, geduldete Kriegsopfer), 5. "sonstige" Zuwanderer. 9 18 1.2.1 Koloniale undpostkoloniale Wanderer Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dominierten in Buropa die Auswanderungsgesellschaften. Mit Ende des Kolonialzeitalters und dem Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dies in Westeuropa relativ rasch. Im Zuge der Entkolonialisierung kehrte eine große Zahl "weißer" Siedler, Soldaten und Verwaltungsbeamter samt "farbiger" Hilfstruppen in die ehemaligen Mutterländer zurück. Während der 50er und 60er Jahre wanderten Kolonisten aus Übersee nach Belgien, Frankreich, Italien, in die Niederlande und nach Großbritannien zu oder zurück. Gleiches galt in den 70er Jahren fiir die Rückwanderung aus dem südlichen Afrika nach Portugal. Auf den Spuren der Kolonisten kamen seit den 50er Jahren in Summe mehrere Millionen Menschen außereuropäischer Herkunft aus Asien, Afrika und der Karibik zuerst nach Großbritannien, Frankreich und in die BeneluxStaaten, später auch nach Portugal und Spanien. Schlechte Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Dritten Welt und die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in Buropa setzten diesen Wanderungsstrom in Gang, das koloniale Erbe kanalisierte ihn. Dabei spielten die kulturelle Orientierung an London, Paris oder Lissabon, die Kenntnis einer westeuropäischen Sprache, etablierte Verkehrsverbindungen zwischen ehemaligen Kolonien und Mutterländern, in etlichen Fällen auch eine gemeinsame Staatsbürgerschaft oder die bevorzugte Behandlung ehemaliger Kolonien bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen eine Rolle. All dies erleichterte Iren, Pakistanis, Bengalen aus Bangladesch und Anglo-Karibiern die Zuwanderung nach Großbritannien, Nordafrikanern aus dem Maghreb die Zuwanderung nach Frankreich, Molukkern und Surinamern die Einwanderung in die Niederlande. Dieser Typus von Migration hat die Großstädte Westeuropas in multikulturelle Inseln innerhalb etablierter Nationalstaaten verwandelt, neue ethnische Netzwerke erzeugt und sichtbare "farbige" Minderheiten (z.B. Pakistanis in Großbritannien, Schwarzafrikaner in Frankreich) entstehen lassen. Die Existenz solcher ethnischer Gruppen und Netzwerke erklärt auch, warum die Zuwanderung aus Asien, Afrika und der Karibik trotz zunehmender Arbeitslosigkeit und Anwerbestopp sowie verschärfter Anti-Immigrationspolitik in Buropa nie völlig zum Stillstand kam. Die kolonialen Wanderungen verloren nach der Entkolonialisierung der Dritten Welt an Bedeutung. Der Höhepunkt der Auswanderung von "weißen" Kolonisten aus den Mutterländern lag in der ersten Hälfte des 20. 19 Jahrhunderts, jener der Rückwanderung in die ehemaligen Mutterländer in den 60er und 70er Jahren. Dieser Typ kolonialer Wanrlerung ist mit der Rückgabe von Hongkong und Macao an China weitgehend abgeschlossen. Was jedoch weiter bestehen bleibt, sind die durch die Kolonialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert geschaffenen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, die nach wie vor eine spezifische Verflechtung von Herkunfts- und Zielgebieten bewirken. 1.2.2 "Ethnische" Migration ,,Ethnische" Migration repräsentiert den zweiten wichtigen Typus europäischer Wanderungen. Ein Großteil der europäischen Ost-West-Migration entfällt auf diese Kategorie. Die Klassifikation ist jedoch nicht immer präzise. Viele "ethnische" Migranten nahmen die sich bietende Möglichkeit wahr, ihr Herkunftsland aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen zu verlassen. Ob sie dies durften, hing bis 1989 von bilateralen Verhandlungen und dem generellen Stand der Ost-West-Beziehungen ab. Vielfach war diese Migration weniger ein Ausdruck ökonomischer Disparitäten als das Resultat politischer Tauschgeschäfte zwischen Herkunfts- und Zielländem. Aus diesem Grund beschränkte sich die Ost-West-Migration in Europa bis 1989 fast ausschließlich aufAngehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten, die von einem westlichen Land oder einer gut organisierten Lobby unterstützt wurden bzw. werden. Die zwei augenfälligsten Beispiele sind jüdische und volksdeutsehe Emigranten. Israel garantiert allen Personen jüdischer Herkunft das Recht auf Einwanderung (,,Rückkehr''). Mit Hilfe der USA gelang es jüdischen Organisationen, die ehemalige Sowjetunion in diesem Punkt zu Zugeständnissen zu zwingen. Geredet wurde von Reisefreiheit und Menschenrechten. Das Interesse des Westens galt damals jedoch fast ausschließlich der Emigration von Personen jüdischer und armenischer Herkunft. Davon profitierten zwischen 1973 und 1992 rund 850.000 Emigranten aus diesen beiden Gruppen. Auch Deutschland kannte bis 1992 ein relativ uneingeschränktes Einwanderungsrecht fiir Volksdeutsche aus der östlichen Hälfte Europas und aus Zentralasien. Das Grundgesetz der Bundesrepublik definiert sie (im Gegensatz zu den ebenfalls deutschsprachigen Elsässern, Österreichern, Luxenburgern und Deutschschweizern) als Deutsche. Sie können somit die deutsche 20 Staatsbürgerschaft erwerben und einreisen ("Aussiedler''). Für sie gibt es in Deutschland eine Reihe von Integrationsmaßnahmen. Die große Zahl der Anträge hat Deutschland allerdings dazu bewogen, das Verfahren stärker zu reglementieren, ab 1991 nur noch rund 220.000 Aussiedler pro Jahr ins Land zu lassen und die Anspruchsberechtigung seit 1993 im wesentlichen auf Volksdeutsche aus den GUS-Staaten zu beschränken. Zwischen 1950 und 1995 wanderten ungefähr 3,4 Mio. Volksdeutsche nach Deutschland ein. Die meisten kamen aus Polen (1,4 Mio.), aus der früheren UdSSR bzw. den GUS-Staaten (1,4 Mio.), ein geringerer Teil aus Rumänien (0,4 Mio.; Leciejewski 1990; MünziUlrich 1996). Auch die Migration zwischen beiden deutschen Staaten, die eng mit der Geschichte des kalten Krieges zusammenhängt, paßt in dieses Muster. Zwischen 1949 und 1990 gingen ungefähr 5,3 Mio. DDR-Bürger in die Bundesrepublik, etwa 0,5 Mio. migrierten (vor allem während der 50er Jahre) aus der Bundesrepublik in die DDR (Rudolph in diesem Buch). Seit Oktober 1990 ist dieser spezielle Typ der Ost-West-Migration Teil der deutschen Binnenwanderung. In den Jahren 1989 bis 1992 erreichte die Migration zwischen Ost- und Westdeutschland ihrenjüngsten Höhepunkt (Grundmann 1994; Hullen/Schulz 1994; MünzJUlrich 1996). Inzwischen hat sich das Tempo der Abwanderung aus den neuen Bundesländern erheblich verlangsamt. Zwischen 1950 und 1994 verließen ungefähr 2,5 Mio. Menschen die UdSSR bzw. ihre Nachfolgestaaten, darunter über 1,6 Mio. alleiP..e in den Jahren 1990-199410 (Chesnais 1991a; Shevtsova 1992; Vishnevski/Zayonchkovskaya in diesem Buch). Fast alle gehörten einer ethnischen oder religiösen Minderheit an oder waren mit Angehörigen von Minderheiten verheiratet. Fast die Hälfte (1,2 Mio.) waren volksdeutsehe Aussiedler (bzw. deren nichtdeutsehe Familienmitglieder), die in die Bundesrepublik Deutschland auswanderten. Fast gleich groß (1,1 Mio.) war die jüdische Auswanderung. Von den auswandernden Juden und ihren nichtjüdischen Angehörigen wählten etwas über 50% Israel als Zielland, rund ein Drittel die USA und der Rest andere Länder, darunter viele auch Deutschland (1991-1995: 48.000). Unter den übrigen Auswanderern aus der UdSSR bzw. deren Nachfolgestaaten ins westliche Ausland waren Armenier, Griechen und Angehörige kleiner protestantischer Glaubensgemeinschaften stark vertreten (Chesnais 1992; Reitmann 1991). Seit 1992 sinkt die Zahl der offiziell registrierten Auswanderer aus Rußland und anderen GUS-Staaten nach Israel (Dornis bzw. Vishnevsky/ 21 Zayonchkovskaya in diesem Buch}, nicht jedoch nach Deutschland und in die USA Die Zahl der volksdeutseben Aussiedler stieg auf das von Deutschland festgesetzte Limit von 200.000 pro Jahr. Die massive Migration anderer europäischer Minderheiten, z.B. von Türken aus Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien, slawischen Moslems (Pomaken, Bosniaken) und von Ungarn aus Siebenbürgen und der Vojvodina fand wesentlich weniger Aufi:nerksamkeit. Dennoch folgt die Auswanderung dieser Gruppen ganz ähnlichen Mustern (Bobeva und DövenyiNukovich in diesem Buch; Vasileva 1992; Centar za demografska istrazivanja 1971}. 1.2.3 Arbeitsmigration Nach der Integration von Flüchtlingen, Vertriebenen und Kriegsheimkehrern begannen einige Staaten Westeuropas Mitte der 50er Jahre, ihren zusätzlichen Bedarf an billigen, wenig qualifizierten Arbeitskräften durch Zuwanderung aus ehemaligen oder damals noch bestehenden Kolonien und Überseegebieten zu decken. Andere Länder holten Gastarbeiter aus dem Mittelmeerraum: zuerst aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, später aus Marokko, Algerien, Tunesien, der Türkei und dem früheren Jugoslawien (Böhning 1972; Castles!Miller 1993; Stark 1989). In den meisten Fällen wurde die Rekrutierung durch bilaterale Abkommen zwischen den Herkunft- und Zielländern geregelt. Anfang der 70er Jahre erreichte die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in den Ländern Westeuropas ihren vorläufigen Höhepunkt (Gordon 1989; OECD 1995; Stalker 1994). Mitte der 70er Jahre reagierten die westeuropäischen Regierungen und Arbeitgeber auf die wirtschaftliche Rezession und die geschrumpfte Aufflabmekapazität des Arbeitsmarktes im Gefolge des ersten Ölpreisschocks von 1973 mit einem Anwerbestopp fiir ausländische Arbeitskräfte sowie mit restriktiven Einwanderungsbestimmungen fiir die Einwohner früherer Kolonien und Überseegebiete (Hollifield 1992}. In einigen westeuropäischen Ländernbesonders in Großbritannien und Frankreich - fiihrte die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation der "sichtbaren" Immigrantengruppen und von Teilen der einheimischen Unterschichten zu sozialen Spannungen (Angenendt 1992; Booth 1992; Coleman 1994d). In der zweiten Hälfte der 70er Jahre bewirkten Anwerbestopp und Einwanderungsbeschränkungen in einigen Ländern eine Verkleinerung der aus- 22 ländischen Wohnbevölkerungen. Am stärksten sank der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerungen in der Schweiz. Dort gab es schon damals eine einflußreiche fremdenfeindliche Lobby. Einige ihrer Vertreter wurden in das Parlament gewählt. Zusätzlich übten mehrere landesweite Volksabstimmungen über Maßnahmen zur Beschränkung der Zahl der Ausländer politischen Druck aus. Denn obwohl die genannten Vorschläge keine Mehrheit bekamen, verstärkten sie bereits bestehende xenophobe Tendenzen und bewirkten, daß die Schweizer Regierung von sich aus restriktive Maßnahmen vorschlug (Fischer/Straubhaar in diesem Buch). Eine Reduktion ausländischer Arbeitskräfte wurde vor allem dadurch erreicht, daß befristete Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnisse nicht mehr verlängert wurden (Haug 1980). Ähnliche Maßnahmen wurden auch in Österreich, Deutschland und Schweden ergriffen (Fassmann!Münz und Rudolph in diesem Buch). Dagegen gab es im seihen Zeitraum in anderen westeuropäischen Ländern, z.B. in Frankreich, den Beneluxländern und in Großbritannien keine Abnahme der ausländischen Wohnbevölkerung. Obwohl in einigen Fällen mit Nachdruck zur Rückkehr der Ausländer aufgefordert und Rückkehrbeihilfen ausbezahlt wurden (z.B. 1983/84 in der Bundesrepublik Deutschland), fiihrten die neuen Beschränkungen in den meisten Ländern nur zu einer Verlangsamung, aber zu keinem Ende der Einwanderung. In vielen Ländern machten Zuwanderung im Rahmen der Familienzusammenfiihrung und steigende Geburtenzahlen unter der ausländischen Wohnbevölkerung den Stopp der Arbeitsmigration wieder wett. Beides hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung, die zuvor hauptsächlich aus Männern im arbeitsfähigen Alter bestanden hatte. Durch Familiennachzug und Geburten im Zielland wuchs nun der Anteil der Frauen sowie jener der Kinder und Jugendlichen.11 Die Folgen waren nicht nur·demographischer Art (Stalker 1994). Da feststand, daß Rückwanderer aus ihrer Heimat später nicht wieder nach Westeuropa kommen konnten, bremste der Anwerbestopp nach 1973 die Rückkehr in die Herkunftsländer - ein unerwarteter Nebeneffekt, der zu einer merklichen Verlängerung der Aufenthaltsdauer der in Westeuropa lebenden Ausländer fiihrte (K.uijsten 1994; Münz!Ulrich 1996). Insgesamt hat die Internationalisierung europäischer Arbeitsmärkte weit über 20 Mio. Menschen nach Westeuropa oder aus peripheren Regionen Westeuropas (z.B. Irland, Portugal, Süditalien) in die industriellen Zentren 23 und Großstädte in Bewegung gesetzt. Derzeit leben rund 19 Mio. Menschen als Ausländer in einem der Staaten Westeuropas, die meisten am unteren Ende der sozialen und beruflichen Hierarchien. Diese neuen Unterschichten werden von den traditionellen Gewerkschaften schlecht und von den politischen Parteien in der Regel gar nicht vertreten. Denn im Gegensatz zu den USA oder Kanada werden in Buropa Migranten mehrheitlich nicht eingebürgert. Sie bleiben damit vom Wahlrecht und von anderen Bürgerrechten ausgeschlossen und können weder politisch einflußreiche Lobbies noch ethnische Wählerblocks bilden (Hammar 1990; Bauböck 1994). In Ländern wie Deutschland, der Schweiz und Österreich gilt dieser Ausschluß vom Wahlrecht und anderen Bürgerrechten auch fur die zweite und dritte Generation. Weder die im Inland geborenen Kinder von Zuwanderern noch die Enkel erhalten automatisch die Staatsbürgerschaft dieser westeuropäischen Länder. Daneben fuhrte die Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West zu einer wachsenden Zahl irregulärer Migranten. Die Existenz informeller ethnischer Netzwerke und die Möglichkeit, als Tourist, Student oder mit einem kurzfristigen Arbeitsvertrag nach Westeuropa einzureisen, bildeten die wichtigsten Grundlagen fur diesen Migrationstyp. Es liegen keine genauen Daten über irreguläre Migranten vor, und wir können über die Größenordnung des Phänomens nur spekulieren. Möglicherweise gibt es mehr als 2 Mio. irreguläre Migranten in West- und Südeuropa (Böhning zitiert in Coleman 1994c). Die meisten von ihnen bleiben nicht fur immer, sondern nur fur wenige Wochen oder Monate. Dadurch entstanden in den letzten Jahren neue Muster von Saisonarbeit und Pendelwanderungen über große Entfernungen. 1.2.4 Flüchtlinge undAsylbewerber Eine dritte Migrantengruppe, die Ausmaß und Struktur des europäischen Wanderungsgeschehens entscheidend beirrflußt, sind Flüchtlinge und Asylbewerber. Zumeist hingen diese Migrationsströme mit politischen Krisen oder ethnischen Konflikten in den Herkunftsländern zusammen. 24 194.000 Ungarn verließen ihre Heimat kurz bevor das Kadär-Regime mit Hilfe sowjetischer Truppen den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich wieder errichtete (Dövenyi/Vukovich 1994). - Ungefahr 160.000 Tschechen und Slowaken verließen ihr Land während des ,,Prager Frühlings" oder kurz nach seiner Unterdrückung durch die Staaten des Warschauer Paktes (Chesnais 1992; Fassmann!Münz 1992). Eine große Welle polnischer Flüchtlinge (Schätzung: 250.000 Personen) flüchtete vor der Verhängung des Kriegsrechts und dem Beginn politischer Repressionen gegen die Solidarnosc-Bewegung nach Westeuropa (Chesnais 1992; Fassmann!Münz 1992). Bis 1989 reduzierten administrative Schikanen, Mauer und Eiserner Vorhang die Mobilität zwischen Ü3t und West auf ein Minimum. Für den Westen war eine Politik der "offenen Tür'' gegenüber Ostmitteleuropa somit risikolos, aber von großer symbolischer Bedeutung. Die wenigen, die es trotz Stacheldraht und Schießbefehl schaffien, Mittel- und Osteuropa zu verlassen, wurden im Westen gerne aufgenommen. Im Wettstreit der Systeme demonstrierten dieseMigrantendie höhere Attraktivität des Westens. Die Logik des kalten Krieges unterstellte all jenen, die ein kommunistisch regiertes Land verließen oder von dort freigekauft wurden, edle Motive. Folglich wurden fast alle Zuwanderer aus der östlichen Hälfte Europas- unabhängig von ihren individuellen Migrationsgründen - im Westen auf der Basis der Genfer Konvention als Flüchtlinge anerkannt. Zugleich forderten die Staaten Westeuropas im Rahmen der KSZE-Verhandlungen fur alle Bürger kommunistisch regierter Staaten nicht nur Reisefreiheit, sondern auch das Recht aufAuswanderung. Dazu kam in den westeuropäischen Staaten angesichts der prosperierenden Volkswirtschaften ein tendenzieller Nachfrageüberhang nach Arbeitskräften. Die in Summe relativ wenigen Flüchtlinge aus der östlichen Hälfte Europas waren problemlos in das Beschäftigungssystem Westeuropas zu in- tegrieren. Neben der seit 1989/90 geänderten politischen Lage ist auch die verminderte Aufuahmefähigkeit westeuropäischer Arbeitsmärkte von erheblicher Bedeutung. Die Volkswirtschaften Westeuropas sind Mitte der 90er Jahre im Unterschied zur Situation in den 50er und 60er Jahren von struktureller Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die Zahl der Arbeitslosen blieb trotz guter konjunktureller Entwicklung beachtlich hoch. Zuwanderer, gleichgültig ob diese als Asylbewerber, Aussiedler oder im Zuge des Familiennachzugs nach Westeuropa kommen, werden nun in erster Linie als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt oder als zusätzliche Belastung fur den Wohlfahrtsstaat gesehen. 25 Die Möglichkeiten, die hohe Arbeitslosigkeit abzubauen und gleichzeitig eine große Zahl von Asylbewerbern und anderen Neuzuwanderern aufzunehmen, sind gering. Die europaweite Tendenz zur Verschärfung des Asylrechts und die tagtäglich geübte restriktive Praxis im Umgang mit Asylbewerbern muß auch vor diesem strukturellen Hintergrund gesehen werden. Zwischen 1985 und 1995 beantragten rund 3,4 Mio. Menschen in den heutigen 15 EU-Staaten politisches Asyl. Dazu kamen 0,25 Mio. Asylsuchende in Norwegen und der Schweiz (Eurostat 1996). Dies war in der europäischen Nachkriegsgeschichte außergewöhnlich, wenngleich nicht einmalig. Die Entwicklung seit 1980 war durch drei unterschiedliche Phasen gekenn- zeichnet: - Anfang der 80er Jahre (erste Periode) blieb die Zahl der Asylbewerber konstant und betrug nur wenige Zehntausend pro Jahr. - 1987 begann eine zweite Periode, die durch einen Take-off der Asylsuchenden in Europa gekennzeichnet war. Innerhalb von funf Jahren verdreifachte sich die Zahl der Asylbewerber. 1992 wurden in den 15 EUStaaten über 674.000 Asylanträge gestellt; davon zwei Drittel in Deutschland. Der Anstieg der Asylbewerber zwischen 1987 und 1992 war im wesentlichen eine Konsequenz des Wegfalls des Eisernen Vorhangs, der politischen und ökonomischen Instabilität in vielen postsozialistischen Ländern sowie der Kriege und ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, in der Türkei und im Mittleren Osten. Die Gesamtzahl der Vertriebenen und Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Ex-Jugoslawiens betrug Mitte 1993 etwa 3,5 Mio. und Ende 1995 bereits 4,6 Mio., von denen sich an die 2,7 Mio. auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas, rund eine halbe Mio. in Kroatien und ca. 600.000 in Serbien aufhielten. Nur etwa 700.000 Personen befanden sich in westeuropäischen Aufuahmeländem. Fast 80% dieser letzten Gruppe flüchteten dabei nach Deutschland (344.000), Österreich (80.000) und in die Schweiz (87.000). Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden dabei in allen drei Staaten vorwiegend außerhalb des Asylverfahrens aufgenommen. Die meisten von ihnen bekamen staatliche Unterstützung und ein vorübergehendes Bleiberecht fur die Dauer der Kriegshandlungen, aber nicht den Status anerkannter Flüchtlinge. - Trotz Fortgang der militärischen Auseinandersetzungen und der ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien kam es in 26 Europa ab 1992 zu einer deutlichen Verringerung der Zahl der Asylbewerber. 1993 gab es 520.000 Asylanträge, 1994 nur mehr 305.000. 1995/96 setzte sich die rückläufige Tendenz in den Ländern der Europäischen Union fort. Innerhalb von nur zwei Jahren reduzierte sich die Zahl der Asylbewerber somit um mehr als die Hälfte. Die Gründe fiir die Reduktion der Zahl der Asylbewerber liegen weniger im Wegfall der Fluchtursachen, sondern eher in der Implementierung neuer Asylprozeduren und der verstärkten Kontrolle der Wanderungswege. Fast alle Länder Europas gelten heute als sichere Herkunftsländer, in denen es eigentlich keine Fluchtgründe geben dürfte, und sie gelten als sichere Transitstaaten, in denen potentielle Asylbewerber aus den GUS-Staaten, der Türkei oder der Dritten Welt auf ihrem Weg nach Westeuropa ihren Antrag stellen sollten, statt dies in Deutschland, Österreich oder Skandinavien zu tun. Diese Regelungen, verschärfte Visabestimmungen, Strafen fiir Luftlinien, die Personen ohne gültige Papiere aufFlügen nach Westeuropa an Bord lassen, aber auch niedrige Anerkennungsraten, die Verkürzung der Verfahrensdauer, die Abschiebung abgewiesener Asylbewerber und schließlich der Wegfall bestimmter Begünstigungen (Unterbringung, Unterstützungen, manchmal auch Zugang zum Arbeitsmarkt) fiir abgelehnte Asylbewerber fiihrten zu einer deutlichen Senkung der Zahl der Anträge und zu einer Abschreckung potentiell zuwanderungsbereiter Personen. Die Erhöhung der Zahl der mit der Prüfung der Asylanträge befaßten Personen, die EDV-unterstützte Erfassung der Asylbewerber, die Beschleunigung der Verfahren und die Reduktion der Unterstützung auf Sachleistungen wirkten auf potentielle Asylbewerber ebenfalls abschreckend. 1.2.5 Elitenwanderung Ein fiinfter Typ von Massenmigration bleibt in der Regel unbeachtet oder wird zumindest unterschätzt. Es handelt sich um die Wanderungen von Managern und hochqualifizierten Technikern international operierender Konzerne, von Wissenschaftlern, Diplomaten, Künstlern und von Beamten internationaler Organisationen. Auch sie konkurrieren in vielen Fällen mit Einheimischen um begehrte Wohnlagen und Arbeitsplätze. Dennoch wurden sie bemerkenswerterweise kaum je zur Zielscheibe von Fremdenfeindlichkeit und 27 Gewaltakten. Auch diese Elitenwanderung hat inzwischen Massencharakter angenommen. Dennoch gilt sie als unproblematisch, obwohl die betroffenen Manager, Wissenschaftler und internationalen Beamten meist noch viel weniger Assimilationsbereitschaft zeigen als die nicht priviligierten Arbeitsmi- granten. In den letzten Jahren stieß allerdings die Auswanderung hochqualifizierter Personen aus der östlichen Hälfte Europas und den Ländern der GUS im Westen unter dem Stichwort ,,Brain-Drain" aufwissenschaftliches und politisches Interesse (Rhode 1991; Salt 1992). Dabei spielte zweierlei eine Rolle: zum einen die Sorge, daß einige Experten in Dritte-Welt-Länder gehen und dort an der Entwicklung nuklearer, chemischer oder biologischer Waffen mitarbeiten könnten, zum anderen die Befurchtung, daß die wirtschaftlichen und gesel!schaftli~hen Reformen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus durch die Abwanderung der Eliten gebremst werden könnten. Weniger unbemerkt blieb die internationale Wanderung wohlhabender Rentner vor allem aus Großbritannien und Deutschland. Sie haben sich in großer Zahl in Südportugal, an den spanischen und französischen Mitleimeerküsten sowie am Südrand der Alpen (Italien, Schweiz, Österreich) niedergelassen. Im Gegensatz zu den Business-Eliten lösten diese Alterswanderer an etlichen Orten bei der einheimischen Bevölkerung erhebliche Ressentiments, Angst vor Überfremdung und Widerstände gegen den "Ausverkauf der Heimat" aus. 1.3 Die geographische Perspektive Zwischen 1945 und 1949 verliefen die Migrationsströme in Buropa hauptsächlich zwischen Ost und West. Nach 1950 reduzierte sich diese Ost-WestMigration auf den (bis 1961 beachtlich großen) Migrationsstrom zwischen beiden Teilen Deutschlands, auf die Migration von Angehörigen ethnischer Minderheiten und auf einige wenige spektakuläre Flüchtlingswellen. Per Saldo verloren die (ehemals) kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas (ohne UdSSR) zwischen 1950 und 1969 durch Auswanderung fast 6 Mio. Einwohner und zwischen 1970 und 1993 weitere 5,7 Mio. Innerhalb Europas gewann seit Mitte der 50er Jahre die Süd-Nord-Migration an Bedeutung. Es erhöhte sich die Zuwanderung sowohl aus Italien, 28 Spanien, Portugal und Griechenland als auch aus der Türkei, der Karibik und Teilen der ,,Dritten Welt" nach Westeuropa. Während der gesamten Nachkriegszeit war der Migrationssaldo Westeuropas positiv. Zwischen 1950 und 1969 betrug der Wanderungsgewinn +9,4 Mio., 1970-1993 fast ebensoviel (+8,9 Mio.). Die Migration nach Westeuropa war und ist keine "Einbahnstraße". Viele Arbeitsmigranten kehrten später wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Zugleich wurden die europäischen Mittelmeerländer von Auswanderungsländern (Wanderungssaldo 1950-1969: -6 Mio.) zu Einwanderungsländern (1970-1993: +2,9 Mio.). Traditionelle Auswanderungsländer wie Griechenland, Italien und Spanien sind nun selbst Ziel von Zuwanderung aus der östlichen Hälfte Europas sowie aus Nord- bzw. Westafiika. Tabelle 1.2: Migrationssalden der Hauptregionen Europas 1950-1993 (in Mio.) 1950-59 1960-69 1970-79 1980-89 1990-93 1950-93 Mittel- u. Osteuropa -4,0 -1,9 -1,1 -2,3 -2,3 -11,6 UdSSRIGUS 0,1 0,1 -0,4 -0,4 -1,4 -2,0 Skandinavien -0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,7 Südeuropa -2,9 -3,1 0,6 1,6 0,7 -3,1 WesteuroEa 4,3 5,1 2,5 2,5 3,9 18,2 EuroEa ins~esamt -2,7 0,3 1,9 1,6 1,1 2,2 Anmerkungen: Mittel- und Osteuropa: die (früheren) sozialistischen Länder (einschließlich Albanien und früheres Jugoslawien), ab 1991 ohne Ostdeutschland; UdSSRIGUS (einschließlich Estland, Lettland, Litauen); Skandinavien: Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden; Südeuropa: Griechenland, Italien, Portugal, Spanien; Westeuropa: restliche Länder Europas, ab 1991 das wiedervereinte Deutschland als Teil Westeuropas Quellen: Chesnais 1995; Europarat 1994; Fassmann!Münz 1994b; Rallu/Blum 1991. Bemerkenswert ist schließlich, daß internationale Migration seit den 50er Jahren zum größten Teil zwischen einzelnen europäischen Ländern stattfindet. Immigration aus Süd- und Westasien (mit Ausnahme der Türkei) sowie aus Afrika (mit Ausnahme des Maghreb) spielt in Buropa insgesamt eine relativ geringe, Immigration aus Ostasien und Lateinamerika fast gar keine Rolle. Bis Mitte der 60er Jahre war die Zahl nach Übersee emigrierender Europäer höher als die Zahl der neuen Immigranten aus der Türkei, Asien, Afrika, der Karibik und Südamerika. Es überwog die Emigration in die USA, nach Kanada, Israel und in andere Zielländer außerhalb Europas. Zwischen 1950 und 1959 verlor Buropa dadurch netto 2,7 Mio. Einwohner (Tabelle 1.2). Zwischen 1960 und 1969 war die Migrationsbilanz gegenüber dem Rest 29 der Welt nur geringfi.igig positiv (+250.000). Erst nach 1970 wurde Buropa als ganzes zu einem Einwanderungskontinent Der europäische Wanderungssaldo betrug 1970-1979: +1,9 Mio., 1980-1989: +1,6 Mio. und 1990-1993: +1,1 Mio. Es gab also deutlich mehr Zuwanderer aus anderen Kontinenten als Aus- und Rückwanderer dorthin. Für den gesamten analysierten Zeitraum war die Auswirkung der internationalen Migration (Saldo 1950-1993: +2,2 Mio. Personen; Tabelle 1.2) auf die Gesamtbevölkerung Europas unterm Strich eher gering. Gleichwohl gewann sie ab 1970 an Bedeutung. Die Migration innerhalb Europas ist sowohl durch Kontinuitäten als auch durch Brüche gekennzeichnet. Zwischen einigen Regionen und Staaten Europas existieren seit längerer Zeit relativ stabile Muster von Zu- und Abwanderungen. Manche Staaten haben fest zuordenbare ,,Hinterländer", aus denen sie Arbeitskräfte und andere Migranten rekrutieren. Daneben lassen sich aber auch klare Veränderungen über die Zeit beobachten. Einige Staaten verloren durch politische oder wirtschaftliche Entwicklungen ihr traditionelles Hinterland, andere dehnten ihr Rekrutierungsgebiet aus. 28 Jahre Berliner Mauer, 40 Jahre Eiserner Vorhang zwischen Österreich und Ungarn oder der während 50 Jahren weitgehend unterbrochene Personenverkehr zwischen Skandinavien und dem Baltikum sind deutliche Beispiele hiefiir. In diesen Fällen machte das Ende der Spaltung Europas die Grenzen durchlässiger oder brachte sie im Fall Deutschlands sogar zum Verschwinden. Andernorts geschieht das Gegenteil. Am einst relativ durchlässigen Mittelmeer entstehen neue Barrieren gegen den ökonomisch krisengeschüttelten und z.T. vom islamischen Fundamentalismus geprägten Norden Afrikas. In etlichen Fällen änderte die Migration ihr Vorzeichen: Frühere Auswanderungsländer wurden zu Einwanderungsländern. 1.3.1 Einwanderungsländer in Westeuropa Vier Länder Westeuropas hatten zu Beginn der 90er Jahre eine ausländische Wohnbevölkerung von mehr als einer Million Menschen. Es waren dies die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Schweiz. Für sie soll die Verflechtung von Herkunfts- und Zielgebieten der Migration graphisch dargestellt und kurz beschrieben werden.14 Im Detail geben die entsprechenden Länderkapitel in diesem Buch Auskunft. 30 Tabelle 1.3: Ausländische Wohnbevölkerung in den 10 wichtigsten Staaten Westeuropas 1990/94 (nach Herkunftsland) Zielland Deutsch- Frank- Groß- Schweiz Belgien Nieder- Öster- Italien Schwe- Spanien ausl. Wohnbev. land reich brit. lande reich den Herkunftsland 1994% 1990% 1992 % 1993 % 1994% 1994% 1993 % 1993 % 1994% 1993 % in 1.000 % Türkei 28,1 5,6 1,4 6,0 9,6 26,1 18,5 0,5 4,7 0,0 2.704 15,3 Ex-Jugoslawien 18,3 1,5 * 12,7 0,6 1,9 48,3 * 8,5 0,0 1.858 10,5 Italien 8,2 7,0 3,7 30,1 23,5 2,2 1,3 0,8 3,5 1.534 8,7 Marrokko 1,2 15,9 * * 16,7 23,8 * 16,0 * 34,8 1.221 6,9 Portugal 1,7 17,9 0,9 9,1 2,4 1,2 0,0 0,5 0,3 7,3 959 5,4 Algerien 0,0 17,0 * * 1,3 * * * * * 626 3,5 Spanien 1,9 6,0 1,9 8,9 5,4 2,2 0,0 1,3 0,6 573 3,2 Griechenland 5,1 0,2 1,1 0,7 2,2 0,7 0,1 1,9 1,0 0,1 437 2,5 Polen 3,8 1,3 1,4 0,4 0,5 0,8 2,9 1,4 3,2 0,8 400 2,3 Tunesien 0,0 5,7 * * 0,7 0,4 * 10,7 * * 276 1,6 USA 1,5 0,7 5,8 0,9 1,3 1,7 * 2,9 * 3,6 318 1,8 österreich 2,6 0,0 0,2 2,3 0,1 0,4 0,8 0,5 0,4 235 1,3 Finnland 0,0 0,0 0,3 0,1 0,1 0,1 0,0 0,1 20,0 0,5 116 0,7 sonst. Europa 9,7 6,4 36,2 21,1 27,3 20,9 20,2 27,0 26,8 37,5 2.875 16,3 sonst. Länder 17,8 14,7 46,9 7,6 8,4 17,6 8,8 36,9 33,7 11,4 3.509 19,9 total 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 ausl. Wohnbev. 6.991 3.607 2.008 1.243 921 779 625 566 508 393 17.642 in 1.000 Anmerkung: Den Daten über die ausländische Wohnbevölkerung liegt die Staatsangehörigkeit zugrunde, nicht der Geburtsort. *keine Daten verfiigbar. Quelle: Europarat 1995, OECD/SOPEMI 1995, Fassmann/Münz 1994a Deutschland Deutschland ist heute das wichtigste Einwanderungsland in Europa. Rund zwei Drittel der gesamten Zuwanderung nach Westeuropa entfiel in den 80er und 90er Jahren auf Deutschland. 1995 betrug die Zahl der Ausländer in Deutschland bereits 7 Mio., darunter rund 1,2 Mio. im Inland geborene Kinder mit ausländischem Paß (Ausländeranteil: 8,6%). 28% der Ausländer besitzen die türkische Staatsbürgerschaft, 18% sind Bürger eines der Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Weitere wichtige Gruppen sind die Italiener (8%), die Griechen (5%) und die Polen (4%, vgl. Tabelle 1.3). Zwei Drittel aller Ausländer in Deutschland stammen aus diesen funf Herkunftsstaaten. Der Anteil der Zuwanderer aus außereuropäischen Staaten ist gering. DeutschAbbildung 1.1: Herkunft der ausländischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland 32 land ist das Zielland von Migration über relativ geringe Distanz. Der Typus "postkoloniale Wanderung" ist hier kaum von Bedeutung. Zur ausländischen Wohnbevölkerung von 7 Mio. kommen mehr als 3 Mio. Aussiedler volksdeutseher Abstammung (3,9% der Bevölkerung). Die meisten von ihnen immigrierten nach 1985. Hauptherkunftsländer waren Polen, Rumänien und die UdSSR bzw. ihre Nachfolgestaaten. Obwohl Aussiedler automatisch Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft haben, ist ihre Situation mit jener der ausländischen Immigranten durchaus vergleichbar. Frankreich Frankreich ist nach Deutschland das zweitwichtigste Aufhahmeland Europas. Derzeit leben in Frankreich rund 3,6 Mio. ausländische Staatsbürger, der Ausländeranteil beträgt 6,6%. Hinzu kommt eine größere Zahl noch lebender Kolonialheimkehrer der SOer und 60er Jahre, darunter die größte Gruppe aus Algerien ("pieds noirs"). WRhrend die Herkunftsgebiete der westdeutschen Zuwanderung fast ausschließlich im Osten und Südosten Europas sowie in der Türkei liegen, erstreckt sich das Rekrutierungsgebiet der französischen Zuwanderung auf den gesamten westlichen Mittelmeerraum: Portugal, Spanien, Marokko, Algerien, Tunesien sowie Italien. Die Zuwanderung von Arbeitsmigranten oder Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei war und ist dagegen gering. Die Herkunftsstruktur der Ausländer in Frankreich hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert.12 Die Herkunftsgebiete der Immigranten in Frankreich und Deutschland sind somit komplementär, "Überschneidungen" gibt es kaum. Rund 18% der Ausländer in Frankreich besitzen die portugiesische Staatsbürgerschaft. Aus der ehemaligen französischen Kolonie Algerien stammen 17% der in Frankreich lebenden ausländischen Staatsbürger, aus Marokko 16% und aus dem kleineren Tunesien fast 6%. Fast 40% der in Frankreich lebenden Ausländer und rund zwei Drittel aller noch lebenden Kolonialheimkehrer stammen somit aus Nordafrika. Typologisch ist die Zuwanderung nach Frankreich durch "koloniale und postkoloniale Wanderungen" geprägt. Im Zuge der Entkolonisierung und des raschen Wirtschaftswachstums kamen nach dem Krieg einerseits ÜberseeFranzosen ins Land, die in der Bevölkerungsstatistik nicht als Ausländer aufschienen, andererseits wurden Bewohner ehemaliger Kolonien und angren- 33 zender lateineuropäischer Länder nach Frankreich geholt, die in der Statistik und rechtlich als Ausländer galten. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch das Staatsbürgerschaftsrecht: Da Frankreich Immigranten der sog. "zweiten Generation" relativ problemlos einbürgert, hat das Land einen geringeren Ausländeranteil als vergleichbare andere Länder. Abbildung 1.2: Herkunft der ausländischen Wohnbevölkerung in Frankreich Großbritannien Die Zuwanderung nach Großbritannien beruht in besonders hohem Maße auf "privilegierten" Beziehungen. Der Typus "koloniale und postkoloniale Wanderung" besitzt fur Großbritannien zentrale Bedeutung. Von den rund 2 Mio. Ausländern in Großbritannien stammt fast die Hälfte aus außereuropäischen, 34 meist afrikanischen oder asiatischen Staaten. In den meisten Fällen strukturieren koloniale Beziehungen die Migrationsverflechtungen. Der Ausländeranteil ist mit 3,5% gering. Würden jedoch Kolonialrück:kehrer und Angehörige ethnischer Minderheiten mit britischer Staatsangehörigkeit dazugezählt, dann wäre dieser Wert fast doppelt so hoch. Abbildung 1.3: Herkunft der ausländischen Wohnbevölkerung in Großbritannien Q 2 Mio. Ausländer in Großbritannien sind irische Staatsbürger. Damit stammen fast drei Viertel aller "europäischen" Zuwanderer aus diesem sozioökonomischen und demographischen ,,Hinterhof', der bis 1920 zum Vereinten Königreich gehörte. Eine Arbeits- oder Flüchtlingswanderung aus Jugoslawien und der Türkei bzw. aus dem westlichen Mittelmeerraum gab es nicht. Stattdessen domi- 35 nierte seit den SOer Jahren die Zuwanderung aus Südasien (bzw. von Indern aus Ostafrika), aus der Karibik und aus einigen anderen englischsprachigen Ländern (z.B. USA). Geographische "Überschneidungen" dieser Herkunftsgebiete mit jenen von Deutschland und Frankreich gibt es nicht. Wichtig ist noch ein weiterer Unterschied. Da alle in Großbritannien geborenen Kinder automatisch britische Staatsbürger sind, gibt es keine Ausländer der "zweiten Generation". Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Westeuropas gab es bis in die ?Oer Jahre mehr Auswanderung aus Großbritannien als Einwanderung in dieses Land. Schweiz In der Schweiz leben derzeit rund 1,2 Mio. Ausländer. Gemessen an der Wohnbevölkerung beträgt der Ausländeranteil 18%. Die Schweiz hat damit unter allen Flächenstaaten Europas den mit Abstand höchsten Ausländeranteil an ihrer Wohnbevölkerung. Höher ist dieser Prozentsatz nur in "Zwergstaaten" wie Liechtenstein, Luxemburg und Monaco (Tabelle 1.1). Dieser hohe Ausländeranteil ist nicht das Ergebnis hoher Zuwanderung der letzten Jahre, sondern weiter zurückliegender Zuwanderungswellen und einer restriktiven Einbürgerungspolitik. In der Schweiz wird wenig und erst nach langer Aufenthaltsdauer eingebürgert. Die Zahl ausländischer Staatsbürger nahm daher in dem Ausmaß zu, in dem die Zahl der jährlichen Staatsbürgerschaftsverleihungen hinter der jährlichen Zuwanderung und der Zahl der Geburten bei ausländischen Eltern zurückblieb. Die Herkunftsstruktur der Zuwanderung in die Schweiz weist ebenfalls eine Besonderheit auf 30% aller Ausländer stammen aus Italien, das damit ein "privilegiertes" Herkunftsland von Zuwanderung in die Schweiz darstellt. Geographische Nähe und eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Rekrutierung von Arbeitskräften aus Italien waren dafur zweifellos ausschlaggebend. Hinzu kommt, daß Italienisch eine der offiziellen Landessprachen ist. Relativ hoch ist auch der Anteil der Bürger eines der Nachfolgestaaten Jugoslawiens (13%), der Portugiesen (9%) und der Spanier (9%). Vergleichsweise gering ist dagegen der Anteil türkischer Staatsbürger. Hoch ist schließlich der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung aus den Nachbarstaaten Österreich und Deutschland. Relativ wenig Zuwanderung gibt es bis heute aus außereuropäischen Staaten. 36 ---' Abbildung 1.4: Herkunft der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz Andere Zielländer Andere wichtige Zielländer in Buropa sind Belgien (0,9 Mio. bzw. 10% Ausländeranteil), die Niederlande (0,8 Mio. bzw. 5,3%), Österreich (0,7 Mio. bzw. 9%), Italien (0,6 Mio. bzw. 1%) und Schweden (0,5 Mio. bzw. 5,8%). Außerdem hat sich Rußland während der 90er Jahre durch die massive Rückwanderung ethnischer Russen aus anderen Nachfolgestaaten der UdSSR zu einem der wichtigsten Zielländer Europas entwickelt. Angesichts eines Potentials von fast 25 Mio. in den anderen GUS-Staaten und im Baltikum lebender Russen dürfte Rußland entgegen allen Erwartungen auf absehbare Zeit ein Netto-Einwanderungsland bleiben (siehe Dornis in diesem Buch). 37 1.3.2 Auswandenmgsländer Von den 17,6 Mio. ausländischen Staatsbürgern in den 10 wichtigsten Zielländern Westeuropas stammen über 40% aus lediglich vier Staaten: Türkei, Ex-Jugoslawien, Italien und Marokko. Für diese Auswanderungsländer werden die Zielgebiete der Migration im folgenden kurz analysiert. Trotz der nicht ganz so großen Zahl im Ausland lebender polnischer Staatsangehöriger gehört Polen aufgrund der großen Zahl in Polen geborener Migranten ohne polnische Staatsbürgerschaft ebenfalls zu den Hauptauswanderungsländern und wird daher auch kurz beschrieben. Türkei Insgesamt leben derzeit 2,7 Mio. türkische Staatsbürger in Westeuropa. Die meisten von ihnen wurden als Arbeitskräfte angeworben oder kamen als Familienangehörige (Ehegatten, mindetjährige Kinder). Seit 1979/80 erhöhte sich der Anteil der Asylbewerber aus der Türkei an der gesamten Auswanderung. Dies betraf zuerst politische Dissidenten und später in erster Linie kurdische Flüchtlinge. Die fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zu einer politischen Lösung der von kurdischer Seite erhobenen Forderung nach kultureller Autonomie und der erbitterte Bürgerkrieg zwischen türkischer Armee und kurdischer Guerilla bewirkte in den vergangeneu Jahren einen konstant hohen Zustrom von Asylbewerbern. Heute ist die Türkei das zweitwichtigste Herkunftsland von Asylbewerbern in Westeuropa. Die aus der Türkei stammende türkische und kurdische Bevölkerung in Westeuropa ist räumlich stark konzentriert. 73% der "Auslandstürken" leben in Deutschland, fast 8% in Frankreich und ebenso viele in den Niederlanden. Diese K~nzentration der türkischen Bevölkerung auf nur drei Zielländer hat zwei Ursachen: die "Initialzündung" der Gastarbeiterrekrutierung und die anschließende Bildung ethnischer Netzwerke, die die Wanderung strukturierten. Vorhandene türkische und kurdische "Gemeinden" stellen seit dem Anwerbestopp Kristallisationskerne weiterer Zuwanderung auf der Basis von Familiennachzug, Einheirat und Neugründung von Familien sowie Flucht und Asyl dar. Dies ist fiir die Zuwanderung aus geographisch und kulturell entfernteren Herkunftsgebieten wie der Türkei wichtiger als fiir Wanderungen aus unmittelbaren Nachbarstaaten von Zielländern. 38 1 Tabelle 1.4: Ausländische Wohnbevölkerung in den 10 wichtigsten Staaten Westeuropas 1990/94 (nach Zielland) Zielland Deutsch- Frank- Groß- Schweiz Belgien Nieder- Öster- Italien Schwe- Spanien in 1.000 land reich britan. lande reich den Herkunftsland 1994% 1990% 1992% 1993% 1994% 1994% 1991% 1993% 1994% 1993% Türkei 72,7 7,6 1,1 2,8 3,3 7,6 4,4 0,1 0,9 0,0 100,0 2.704 Ex-Jugoslawien 69,0 2,9 * 8,8 0,3 0,8 16,8 * 2,4 0,0 100,0 1.858 Italien 37,3 16,6 4,9 24,6 14,2 1,1 0,5 0,3 0,9 100,0 1.534 Marrokko 6,7 46,9 * * 12,5 15,2 * 7,4 * 11,2 100,0 1.221 Portugal 12,3 68,2 1,9 12,0 2,3 1,0 0,0 0,3 0,1 3,0 100,0 959 Algerien 0,0 96,6 * * 1,8 * * * * * 100,0 626 Spanien 23,1 37,6 6,6 19,2 8,6 2,9 0,0 1,3 0,5 100,0 573 Griechenland 81,4 1,5 5,3 1,9 4,7 1,3 0,2 2,5 1,2 0,1 100,0 437 Polen 65,8 11,0 6,9 1,3 1,2 1,4 4,3 1,9 3,8 0,8 100,0 400 Tunesien 0,0 67,7 * * 2,2 1,0 * 19,9 * * 100,0 276 USA 34,1 7,9 36,9 3,7 3,7 4,2 * 5,2 * 4,5 100,0 318 Österreich 78,8 1,4 2,1 12,3 0,5 1,2 1,8 1,1 0,6 100,0 235 Finnland 0,0 1,4 5,2 1,6 0,8 1,0 0,0 0,7 87,8 1,6 100,0 116 sonst. Europa 23,6 7,7 24,2 8,7 8,4 5,4 0,7 5,1 4,5 4,9 100,0 2.875 sonst. Länder 35,6 16,7 29,6 3,0 2,4 4,3 0,2 6,6 5,4 1,4 100,0 3.509 ausl. Wohnbev. 6.991 3.607 2.008 1.243 921 779 625 566 508 393 17.642 in 1.000 Verteilun~ in% 39,6 20,6 11,5 7,1 5,3 4,4 3,6 3,2 2,9 2,2 100,0 Anmerkung: Den Daten über die ausländische Wohnbevölkerung liegt die Staatsangehörigkeit zugrunde, nicht der Geburtsort. *keine Daten verfügbar Quellen: Europarat 1995; OECD 1995; Fassmann/Münz 1994a. Abbildung 1.5: Verteilung der türkischen Staatsbürger in Westeuropa Früheres Jugoslawien Von allen Ausländern, die in den zehn wichigsten Zielländern Westeuropas leben, stammen rund 1,9 Mio. aus dem ehemaligen Jugoslawien. Von ihnen wurde ein größerer Teil als Arbeitskräfte angeworben. Im Unterschied zu der türkischen "Gastarbeiterwanderung", die erst in den 70er Jahren einsetzte, begann die durch zwischenstaatliche Abkommen geregelte Zuwanderung aus dem ehemaligen Jugoslawien bereits Mitte der 60er Jahre. Jugoslawien war das erste kommunistische Land, das fast allen seinen Bürgern die Emigration erlaubte. In der Folge warben die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Skandinavien mindestens 0,5 Mio. Arbeitsmigranten an, denen eine unbekannte Anzahl von Familienangehörigen folgte. 40 Abbildung 1.6: Verteilung der ehemalsjugoslawischen Staatsbürger in Westeuropa In der Zahl von 1,9 Mio. im Ausland lebenden Staatsbürgern aus dem ehemaligen Jugoslawien sind zummdest teilweise Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge enthalten. Der Ausbruch offener Feindseligkeiten und kriegerischer Auseinandersetzungen ließ die Zahl der Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien in Westeuropa von 27.000 (1990) auf 101.000 (1991) und 226.000 (1992) hinaufschnellen. Die wichtigsten Zielstaaten der Asylbewerber und auf Zeit geduldeten Kriegsvertriebenen waren jene mit einem hohen Anteil an Arbeitskräften und Familienangehörigen aus dem ehemaligen Jugoslawien: Deutschland, Schweden, Österreich und die Schweiz. Durch Kriege und ethnische Säuberungen ist das ehemalige Jugoslawien seit 1990/91 zur zweitwichtigsten Herkunftsregion der europäischen Migration geworden. 69% der innerhalb Europas emigrierten Bürger des ehemali- 41 gen Jugoslawien leben in Deutschland, 17% im benachbarten Österreich, 9% in der Schweiz und 3% in Frankreich. Zugleich lebt eine viel größere Anzahl Menschen als Kriegsopfer, ethnische Flüchtlinge oder Vertriebene auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien (fast 4 Mio.). Italien Abbildung 1. 7: Verteilung der italienischen Staatsbürger in Westeuropa Italien zählte seit dem 19. Jahrhundert zu den typischen Auswanderungsländern Europas. Die Emigration nach Übersee, die am Beginn des 20. Jahrhunderts quantitativ sehr bedeutend war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Auswanderung in wirtschaftlich prosperierende Länder Westeuropas abgelöst. Mit dem ökonomischen Aufstieg Italiens wurde die Auswanderung zunehmend durch Binnenwanderung in den Norden des Landes abgelöst. Ita- 42 lien wurde fur Zuwanderer aus Marokko, Tunesien, Albanien und einigen westafrikanischen Staaten attraktiv. Gleichzeitig setzte eine Rückwanderung von seinerzeit ausgewanderten italienischen "Gastarbeitern" ein. Mitte der 90er Jahre lebten noch rund 1,5 Mio. Italiener in einem der anderen Länder Westeuropas. Das regionale Muster weist jedoch keine Dominanz eines spezifischen Ziellandes auf 38% der "Auslandsitaliener" leben in Deutschland, 25% in der Schweiz, 17% in Frankreich und 14% in Belgien. Die geringe Wanderungsdistanz und die grundsätzliche Niederlassungsfreiheit im Rahmen der EWG und später der EU hat die Bedeutung einzelner ethnischer ,,Brückenköpfe" reduziert und fur eine größere räumliche Verteilung bei gleichzeitig sinkendem Auswanderungsdruck gesorgt. Marokko Abbildung 1.8: Verteilung der marokkanischen Staatsbürger in Westeuropa Itali)ren7,4% . . ~~· 0 43 Das viertwichtigste Herkunftsland von Migranten in Europa ist Marokko. Rund 1,2 Mio. Marokkaner lebten Mitte der 90er Jahre in Westeuropa. Fast die Hälfte davon in Frankreich (47%), 15% in den Niederlanden, 13% in Belgien und 11% in Spanien. Die Zuwanderung aus Marokko entspricht fast ausschließlich dem Typus einer "postkolonialen Arbeitskrä:ftewanderung". Die Bedeutung von Flucht und Asyl ist gering. Die Arbeitskräftewanderung aus Marokko setzte deutlich später ein als jene aus Italien oder Jugoslawien. Sie ist Ausdruck einer geographischen Expansion westeuropäischer Arbeitsmärkte zu Beginn der 70er Jahre. Die Türkei wurde damals zu einem wichtigen Rekrutierungsgebiet fiir den westdeutschen Arbeit~markt, Marokko fur den französischen, niederländischen und belgiseben Arbeitsmarkt. Polen Abbildung 1.9: Verteilung der polnischen Staatsbürger in Westeuropa 44 Andere Auswanderungsländer Weitere wichtige Herkunftsländer von Migranten in Europa sind Portugal (1 Mio.), Algerien (0,6 Mio.), Spanien (0,6 Mio.) und Griechenland (0,4 Mio.). Aufgrund der Abwanderung von ethnischen Russen und Angehörigen anderer Minderheiten wurden inzwischen auch viele GUS-Staaten zu Auswanderungsländern. Am bemerkenswertesten ist jedoch Albanien, das zwischen 1991 und 1994/95 rund 10% seiner Bevölkerung durch Auswanderung in Richtung Griechenland, Italien und andere Länder verloren haben dürfte. 1.4 Strukturmuster europäischer Wanderungen Ausmaß, Intensität und Verlauf der europäischen Migration lassen sich nicht im Rahmen einer geschlossenen Theorie erklären. Die Vielfalt europäischer Wanderungen macht es nötig, verschiedene Erklärungsansätze heranzuzie- hen. 1.4.1 Geographische Distanz Ein Teil der Migration läßt sich als Resultat der räumlichen Distanz zwischen Herkunfts- und Zielgebiet begreifen. Wanderungen zwischen Nachbarstaaten sind demnach häufiger, solche zwischen weiter entfernten Ländern seltener. Die Ursachen liegen auf der Hand. Die Nähe von Herkunfts- und Zielgebiet erleichtert den Entschluß zur Auswanderung, erleichtert die Rückkehr, reduziert das Risiko und "verbilligt" somit die Wanderungen. Wenn benachbarte Ht>rkunfts- und Zielgebiete überdies dem gleichen Sprachraum angehören, dann sinken nicht nur die Transportkosten, sondern auch die "sozialen" Kosten von Aufuahme und Integration. Ein Teil der europäischen Wanderungen läßt sich damit erklären: Die Migrationsbeziehungen zwischen Finnland und Schweden, Irland und Großbritannien, dem ehemaligen Jugoslawien und Österreich sowie zwischen Österreich und Deutschland oder zwischen Albanien und Griechenland werden durch geringe Distanzen gefördert. Auch bei der Arbeitsmigration von Italien in die Schweiz und von Portugal nach Frankreich dürfte die relative Nähe eine Rolle gespielt haben. 45 Es gibt allerdings zahllose Gegenbeispiele. Viele der "großen" Migrationsströme in Buropa lassen sich mit dem Argument geringer Distanz nicht erklä- ren. 1.4.2 Okonomische undpolitische Disparitäten Ein Teil der Migrationsströme wird von politischen und ökonomischen Faktoren bestimmt. Staaten mit prosperierender Wirtschaft, hoher Nachfrage nach Arbeitskräften, hohem Lohnniveau sowie demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen entwickeln Anziehungskräfte (PuD-Faktoren). Sie werden damit :fii.r Migranten aus Staaten mit Unterbeschäftigung, geringem Lohnniveau, stagnierender Wirtschaft, krisenanfälligem politischem System und ethnischer oder religiöser Unterdrückung (Push-Faktoren) attraktiv. Mit Hilfe solcher Disparitäten lassen sich generelle Migrationsmuster erklären. Es ist davon auszugehen, daß Migration von den instabilerenund ärmeren Staaten der europäischen Peripherien bzw. der Dritten Welt ausgeht und in Richtung der reichen Zentralräume erfolgt. Auf der einen Seite wirkt die Nachfrage auf den westeuropäischen Arbeitsmärkten oder die erhoffie Sicherheit vor Verfolgung, aufder anderen Seite das ökonomische Gefälle zwischen östlicher und westlicher Hälfte Europas sowie zwischen Nordafiika bzw. dem Nahen Osten und Buropa sowie politische Repression und andauernde Mißachtung grundlegender Menschen- bzw. Bürgerrechte in etlichen Herkunftsstaaten wanderungsauslösend. Angesichts der Verringerung der bisherigen räumlichen Disparitäten innerhalb der Europäischen Union dehnt sich das Einzugsgebiet der europäischen Wanderungen auf neue Peripherien aus. Weltweit wächst derzeit das Gefälle zwischen Zentren und Peripherien und motiviert sogar zur Migration in Regionen mit relativ gesättigten Arbeitsmärkten bzw. mit Arbeitslosigkeit.13 In der hier formulierten Allgemeinheit ist das Push- und Pull-Modell sicherlich zutreffend. Dieser Ansatz erklärt, wieso Migrationsprozesse in Gang kommen und gibt auch eine ungefahre Richtung und Stärke der Wanderungen an. Im Detail ist dieser Ansatz jedoch nicht in der Lage, zu begründen oder zu prognostizieren, warum bestimmte Wanderungen tatsächlich stattfinden und andere trotz erheblicher Disparitäten nicht in Gang kommen. Ginge es allein nach der ökonomischen Logik, dann müßten mehr Portugiesen in Deutschland als in Frankreich Arbeit suchen. Die Chance auf lega- 46 I len Zugang zum Arbeitsmarkt haben sie als EU-Bürger in beiden Staaten. Trotz eines deutlich höheren Lohnniveaus leben aber nur 10% aller Auslandsportugiesen in Deutschland. Wie sich zeigt, wird die europäische Migrationsverflechtung erheblich durch kulturelle, politische und historische Verbindungen zwischen bestimmten Herkunfts- und Zielregionen überformt. 1.4.3 Historische undkulturelle Beziehungen Von großem Einfluß ist ein Diffusionsprozeß von Informationen über tatsächlich stattfindende Migration, erfolgreiche Migranten sowie über existierende Probleme und Chancen aufden Arbeits- und Wohnungsmärkten potentieller Zielländer. Um welche Informationen es sich dabei handelt, wird im Bewußtsein potentieller Migranten sehr wesentlich durch historische, sprachliche und kulturelle Verbindungen strukturiert werden. Die Informationen über Wanderungen werden über Kontaktträger (Rückkehrer, Migranten auf Heimaturlaub, Medien) in geographisch und sozial entfernte Regionen getragen. Sprachkenntnisse und Bildungshintergründe können - vor allem als Erbe der Kolonialzeit - die Migration in ehemalige europäische Kolonialmächte erheblich begünstigen. Solche Informationen breiten sich aus und machen immer mehr Menschen zu potentiellen Migranten. Zugleich helfen bereits bestehende ethnische und soziale Netzwerke entscheidend bei der Integration von Neuzuwanderern in "traditionellen" Zielländern. Als Ergebnis dieser historisch-kulturellen Beziehungen ergibt sich ein Strukturmuster europäischer Wanderungen mit "privilegierten" Beziehungen zwischen einzelnen Herkunfts- und Zielländern. Am klarsten erkennbar ist dies an der Monopolstellung, die einzelne europäische Zielländer im Migrationsgeschehen haben. Auch nach Ende des Kolonialzeitalters spielten die Kolonialbeziehungen von einst fiir das Migrationsgeschehen von heute eine zentrale Rolle. Die Dominanz des Englischen, Französischen, Niederländischen (Afrikaans) oder Portugiesischen als Lingua franca in den zahlreichen Ländern der Dritten Welt und die dort verbreitete ökonomische und kulturelle Orientierung an London, Paris, Amsterdam oder Lissabon begünstigten und steuerten die Einwanderung in die ehemaligen Kolonialmächte. Damit importierte Buropa nicht bloß Arbeitskräfte oder Flüchtlinge, sondern auch einen Teil der zuvor räumlich ausgelagerten ethnischen bzw. sozialen Konflikte und Asymmetrien. 47 Analog zu Großbritannien und Frankreich, die die Nachfahren "weißer'' Überseeauswanderer als Rückwanderer akzeptieren, spielte und spielt Deutschland, das schon seit 1918 keine Überseekolonien mehr hat, als Auswanderungsziel fur Millionen von Volksdeutschen in Polen, Rumänien und der ehemaligen Sowjetunion die Rolle eines Quasi-Mutterlandes. Eine ähnliche Funktion erfullt UngarnfurAngehörige ungarischer Minderheiten in Ostmitteleuropa, Griechenland fur die griechische Diaspora in den GUS-Staaten und Israel fur die emigrationswilligen jüdischen Bürger in der östlichen Hälfte Europas und anderswo. Frankreich hat "privilegierte" Migrationsbeziehungen zu Portugal und zu einer Reihe von Überseestaaten. Es ist nicht nur erstes Ziel der Zuwanderung aus seinen noch vorhandenen Überseegebieten,14 auch fast alle in Buropa lebenden Algerier haben ihren Wohnsitz in Frankreich. Zwei Drittel aller im europäischen Ausland registrierten Portugiesen und Tunesier und fast die Hälfte aller Marokkaner leben in Frankreich. Ähnliches gilt fur Deutschland, wo fast alle deutschstämmigen Aussiedler, acht von zehn Auslandsgriechen, vier von funf Auslandsösterreichern und zwei Drittel aller Ex-Jugoslawen mit Wohnsitz in Westeuropa leben. In Großbritannien herrschen ähnliche Muster vor. Dort hält sich ein Großteil der Auslandsiren auf,15 ferner haben dort fast alle in Buropa lebenden Inder, Pakistanis, Bangladeschis und Auswanderer aus den anglophonen Staaten Westindiens ihren Wohnsitz. 1.4.4 Politische Regulative Als weiterer entscheidender Faktor, der die europäische Migration strukturiert, sind politische Regulative zu nenrten. Unabhängig von der Funktion der Distanz, der regionalökonomischen Disparitäten und der historisch-kulturellen Verflechtungen prägen rechtliche Regelungen und politische Maßnahmen die europäische Migration. Die europäische Ost-West-Wanderung, deren Dynamik durch die Spaltung Europas zwar 40 Jahre lang gebremst, aber keineswegs gestoppt war, wurde durch administrative Reisebeschränkungen fur Bürger kommunistischer Staaten einerseits und durch bilaterale Ausreisevereinbarungen andererseits kanalisiert. Dies bestimmte bis 1989 die Höhe und Richtung der Migration. Die Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Ost-West-Wanderung spontan erfolgte, änderte sich Ende der 80er Jahre sehr rasch. Inzwischen sind je- 48 doch neue Restriktionen an die Stelle der alten getreten. Heute sorgen verschärfte Asylgesetze in Westeuropa, harmonisierte Visabestimmungen und Kontrollen der EU-Außengrenzen fiir eine Beschränkung potentieller wie aktueller europäischer Migrationsströme. 1.5 Ausblick Internationale Migration in und nach Europa wird es auch in Zukunft geben. Dies läßt sich heute schon vorhersagen. Dafiir sorgt zum einen die Anwesenheit von rund 19 Mio. Ausländern in Westeuropa. Dafiir sorgt zum anderen die berechtigte Erwartung, daß sich an den zentralen Wanderungsursachen der letzten Jahre in absehbarer Zeit kaum etwas ändern wird. Ein Ende der ethnischen Konflikte und Vertreibungen, der religiösen Fundamentalismen, der Kriege um Land und Ressourcen und der politischen Gewalt gegen Andersdenkende in unserer Nachbarschaft ist nicht absehbar. In der südlichen und östlichen Nachbarschaft Europas ist das Bevölkerungswachstum ungebrochen. Die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen kann mit der demographischen nicht Schritt halten. Allein in den Maghrebstaaten wird sich die Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren verdoppeln. In der östlichen Hälfte Europas gibt es zwar keine Überbevölkerung, doch dort ist seit 1990 sowohl die Zahl der wirtschaftlich und sozial marginalisierten Bürger als auch die Zahl der Ambitionierten mit höherer Qualifikation gewachsen, die in ihrem Land fiir sich und ihre Kinder keine Zukunft sehen. Die politische Antwort Europas besteht derzeit eher in einer Verschärfung der Eintrittsbarrieren als in einer energischen Bekämpfung von Flucht- und Migrationsursachen. Die oft zitierte "Festung Europa" ist längst in Bau, während Mechanismen der gerechten Verteilung von Aufgaben und Lasten- z.B. bei der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen - auf europäischer Ebene nach wie vor fehlen. Die restriktive Migrations- und Asylpolitik der Staaten Westeuropas zeigt bereits Wirkung. Gegenüber 1991/92 ist die Zahl der Asylbewerber fast überall in Europa wieder gesunken, obwohl sich die Verhältnisse in einigen Konfliktregionen (z.B. Algerien, Kosovo, Türkei, Irak) keineswegs verbessert haben. Größer geworden ist auch die Skepsis gegenüber ethnisch privilegier- 49 ten Zuwanderern. Dies bekommen heute sowohl Aussiedler in Deutschland als auch jüdische Zuwanderer in Israel zu spüren. Die seit 1993 reduzierten Migrantenzahlen sprechen fiir die Wirksamkeit alljener Restriktionen und Kontrollen, die in den Staaten West- und Mitteteuropas aufgebaut wurden. Verschärfte Einreisebestirnmungen, Fokussierung der Asylgewährung auf Kerngruppen und Plafondierung der Ausländerbeschäftigung ließen den Migrantenstrom aus Ostmitteleuropa nicht allzu stark anschwellen. Österreich erfiillte hier mit neuen Asyl-, Fremden- und Aufenthaltsgesetzen eine gewisse Vorreiterrolle. Trotz aller Abschottungsversuche wird das Wohlstandsgefälle zwischen Westeuropa und den benachbarten Weltregionen weiterhin fiir ein gewisses Maß an Migration in die reichen Industriestaaten sorgen. Die Grenze, die Westeuropa von seinen östlichen Nachbarn und von den südlichen Mittelmeeranrainern trennt, wird nie völlig kontrollierbar sein. Die Grenze zwischen den USA und Mexiko belegt das sehr gut. Bewaflhete Grenzposten, Zäune und eine rigide Asylpolitik sind weder die einzige, noch die beste Lösung fiir den Migrationsdruck aufWesteuropa. Bloße Abschottung kann kein Ersatz fiir Migrationspolitik sein, denn sie löst keines der Probleme, die die Menschen auf dem Balkan, in der östlichen Hälfte Europas, in den GUSStaaten und anderswo heute dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Anmerkungen 1 Die Migration von Ost- nach Westdeutschland wurde zwischen 1949 und 1990 von den bundesdeutschen Behörden nicht einmal als grenzüberschreitende Migration registriert, da die frühere DDR nach der Rechtsauffassung der Bundesrepublik kein "Ausland" dirrstellte. 2 Die Tabellen 1.1, 1.3 und 1.4 basieren auf Auswertungen der aktuellen SOPEMI-Statistiken der OECD (1995), aufvom Europarat (1995) veröffentlichten Daten, UN- und Eurostat-Bevölkerungsstatistiken sowie auf offiziellen Statistiken der von uns analysierten Länder. Die SOPEMI-Datenbasis, die uns als wichtigste Informationsquelle diente, ist ein von der OECD eingerichtetes System zur kontinuierlichen Berichterstattung über Migration. In den meisten OECD-Ländern und einigen Ländern Ostmitteleuropas sanuneln und interpretieren nationale Berichterstatter vor Ort die vorhandenen Daten über internationale Migration. Das Ziel von SOPEMI ist es, vorhandene nationale Daten zu pnblizieren. Es wird jedoch nicht der Versuch unternommen, Änderungen an den Verfahren zur Datensanunlung vorzunehmen bzw. amtliche Statistiken zu korrigieren. Die SOPEMI-Daten sowie die von Eurostat und vom Europarat veröffent- 50 lichten Daten hängen weitgehend von der Qualität nationaler Verfahren zur Datensammlung ab. Generell können wir davon ausgehen, daß in Ländern wie Deutschland und der Schweiz, die ein Melderegister fiir Ausländer führen, die Qualität der Daten besser ist als in Ländern wie Großbritannien oder Irland, wo mangels Melderegister Schätzungen auf Basis besonderer Erhebungen vorgenommen werden müssen (s. OECD 1995, Europarat 1995). Zur Diskussion über die Vergleichbarkeit von Daten über internationale Migration siehe Poulain (1990). 3 1982 wurde (statt 1980/81) wegen der besseren Qualität der fiir dieses Jahr vorliegenden Daten als Bezugsjahr gewählt. 4 Zur gleichen Zeit lebten annähernd 350.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Mittelund Osteuropa in Österreich. Die Mehrheit von ihnen wurde bis dahin nicht eingebürgert, sondern war staatenlos oder besaß noch die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes (Fassrnann/Münz 1995). Nicht berücksichtigt sind alliierte Truppen, die bis 1955 in Österreich stationiert waren, sowie deren ziviles Personal und Familienange- hörige. 5 Im Gegensatz zu Österreich hatte Westdeutschland zu jener Zeit die heimatvertriebenenVolksdeutschensowie die meisten anderen innerhalb des Staatsgebiets lebenden Flüchtlinge aus dem Osten bereits eingebürgert. Nicht berücksichtigt sind alliierte und andere ausländische in Deutschland stationierte Truppen und deren ziviles Personal sowie ausländische Familienangehörige der Soldaten. 6 Österreich war das einzige westeuropäische Land, in dem die Zahl der Ausländer zwischen 1950 und 1970 deutlich abnahm. Im Gegensatz zur Situation im Jahre 1950 waren bis 1970 alle Vertriebenen und Flüchtlinge der Nachkriegszeit sowie die ungarischen Flüchtlinge der Jahre 1956/57, die noch in Österreich lebten, eingebürgert worden (siehe Fassrnann/Münz in diesem Buch). 7 Dies betrafBelgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Portugal und Spanien. 8 Dies betrifft vor allem die Bundesrepublik Deutschland (Ost- und Volksdeutsche), Finnland (Karelier), Griechenland (Griechen aus der Türkei und den GUS-Staaten), Italien (Italiener aus Istrien und Dalmatien), Polen (Polen aus Litauen, Weißrußland und der Ukraine), die Tschechische Republik (Tschechen aus Wolhynien und Serbien), die Slowakei (Slowaken aus Ungarn und der Karpato-Ukraine) und Ungarn (Ungarn aus der Slowakei, Siebenbürgen und der Karpato-Ukraine). 9 Hierunter fällt erstens die beträchtliche europäische Nord-Süd-Wanderung älterer Menschen (z.B. Briten nach Spanien, Deutsche nach Spanien, in die Schweiz und nach Italien), zweitens die internationale Elitenwanderung (multinationale Konzerne, Hochschul- und Forschungsbereich, internationale Organisationen), drittens die Rückkehr der Nachfahren von Überseeauswanderern (was z.B. in Spanien, Italien und Griechenland quantitativ eine Rolle spielt) und viertens die Rückkehr von Arbeitsmigranten innerhalb Europas (z.B. Portugiesen nach Portugal), was nur zum Teil als Altenwanderung nach Erreichen des Rentenalters erklärbar ist. Üblicherweise nicht registriert und mitgezählt werden stationierte ausländische Truppen samt Zivilpersonal und Angehö- rigen. 10 Wanderungen zwischen den GUS-Staaten sind in diesen Zahlen nicht enthalten (vgl. dazu Dornis in diesem Buch). 51 11 Darunter waren im Ausland geborene Kinder, die ihren eingewanderten Eltern zu einem späteren Zeitpunkt des familiären Lebenszyklus folgten, sowie Immigranten der "zweiten Generation", d.h. die im Aufnahmeland geborenen Kinder ausländischer Eltern. Aufgrund des in den meisten europäischen Ländern geltenden Abstammungsprinzip (jus sanguinis) bleiben diese Kinder, obwohl nicht im Ausland geboren, ausländische Staatsangehörige. 12 Aus datentechnischen Gründen wurde nicht die Dekade 1955-1965, sondern 1965- 1975 für den Zeitvergleich herangezogen. 13 Bestes Beispiel dafür ist Griechenland, wo in den letzten Jahren (trotz hoher Sockelarbeitslosigkeit) ca. 200.000 Albaner und mehrere 10.000 Polen in irgendeiner Form erwerbstätig waren. 14 Z.B. Französische Antillen, Guyana, Tahiti. 15 Iren werden in Großbritannien in bestimmten Bereichen administrativ nicht als "Ausländer" behandelt. 52 2. Großbritannien und die internationale Migration: Die Bilanz hat sich geändert David Coleman 2.1 Die britische Migrationsgeschichte Großbritannien war in der Vergangenheit vor allem ein "Auswanderungsland". Bis in jüngere Zeit emigrierten Briten vor allem in englischsprachige Länder: die Vereinigten Staaten und die Republik Südafrika sowie nach Kanada, Australien und Neuseeland. Die Auswanderung in die britischen Überseegebiete wurde im 19. Jahrhundert anfangs gefördert, um die Zahl der Armen zu verringern, und später, um das britische Empire als multinationale englischsprachige Einflußzone und damit die Rolle als Weltmacht zu stärken (Tabelle 2.1). Diese Wanderungsbewegung fand 1913 ihren Höhepunkt. Sie wurde später durch die Regierungspolitik, wie z.B. das Gesetz über die Niederlassung im Empire aus dem Jahr 1922 und andere, anfangs nur fiir ehemalige Empire-Beamte gültige Maßnahmen, unterstützt, um "die ökonomische Stärke und den Wohlstand des Empire als Ganzes und Großbritanniens im besonderen zu fördern". Das Emigrationsförderungsgesetz von 1922 war über 30 Jahre lang die Basis der britischen Emigrationspolitik Erst 1952 wurde es neu gefaßt. Damals wurde die Migrationskommission fiir Übersee geschaffen (Oversea Migration Board 1954). Mit einer Ausnahme gab es nie eine offizielle Politik, mit der Einwanderer angeworben oder ermutigt wurden. Ziel der Politik war es vielmehr, potentielle Migranten draußen zu halten, was mit dem Fremdengesetz des Jahres 1905 begann. Nur ein einziges Mal warb Großbritannien offiziell Arbeitskräfte fiir spezielle wirtschaftliche Zwecke an. Zwischen 1947 und 1950 wurden 75.000 "freiwillige europäische Arbeitskräfte" ins Land geholt, um in Sanatorien und Spitälern sowie in der Baumwollindustrie und anderen Industriebranchen zu arbeiten. Anfangs waren dies vor allem Haltinnen aus La- 53