FluchtpunktEuropa Migration und Multikultur Herausgegeben von Martina Fischer Suhrkamp Thomas Schmid Die multikulturelle Gesellschaft als Chance und Zumutung. Kleines Plädoyer wider die Xenophilie Als die Bundesrepublik noch die »alte<< war, hatte die Rede von der multikulturellen Gesellschaft oft einen hoffnungsvollen und zukunftsgewissen Zug. Sicher, es gab auch die nicht unbeträchtliche Zahl derer, denen sie ein Graus war, die - wie Edmund Stoiber vor der »durchrassten<< Gesellschaft warnten und die mehr oder minder vehement für das Festhalten am ius sanguinis eintraten: Deutscher solle, von Ausnahmen abgesehen, auch in Zukunft nur sein, wer deutschen Blutes ist. Aber die Entwicklung ging in eine andere Richtung. Diesem Staat war- durch die Teilung - die nationale Selbstdefinition verwehrt, die dann dank Westbindung und konsumistischer Öffnung ohnehin an Bedeutung verlor. Zudem war die Bundesrepublik - die ohnehin schon die Zuwanderung , von Millionen »fremder Deutschen« erlebt hatte- seit den späten fünfzigerJahrenkontinuierlich von der Migration vor allem aus Südeuropa geprägt gewesen, und die einheimischen Bewohner der Bundesrepublik hatten sich, über Widerstände hinweg, allmählich mit dieser Tatsache arrangiert und teilweise auch befreundet. Ohne die Manifestation der Fremdenfeindlichkeit, die es auch schon vor 1989 gab, herunterspielen zu wollen: Nicht-Deutsche waren in der Bundesrepublik Deutschland etwas halbwegs Normales geworden. Länger schon war, insbesondere in Sozialarbeiterischen Kreisen und deren wirtschaftlichem Umfeld, die multikureHe Gesellschaft zu einem neuen Leitbcgriff avanciert. Doch es war Heiner Geißler, damals noch Generalsekretär der CDU, der den Begriff aus den Zirkeln der Eingeweihten herausholte und populär machte - und zwar durchaus in pragmatischer Absicht. Geißler plädierte ganz einfach für die Anerkennung der Tatsache, daß die BundesrepublikJängst einEinwanderungsland,geworden war. Frühzeitig sah er, daß in der Leugnung dieser Realität ein demokratiefeindlicher Zündstoff enthalten ist. Er warb für die multikulturelle Gesell- !2! schaftmit dem Verweis auf deren Nutzen, sprach emphatisch von einem nachnationalen Europa und setzte - als Rationalist - vielleicht zu sehr auf Aufklärung und Information. Aber er pflegte und pflegt einen weithin unideologischen Umgang mit dem Thema. Das kann man von der Linken- die in Geißler einen unwillkommenen fellow traveller sah und ihn natürlich im Verdacht hatte, ein Themenräuber zu sein- nicht unbedingt sagen. Ihr Umgang mit dem,ßegriff.der multikulturellen·Gesellschaftwarweriig pragmatisch;:sondern:eher:bekennefhaft, Für etliche unter den Linken mag die multikulturelle Gesellschaft so etwas wie das rettende Ersatzufer nach dem Hinschwinden des Sozialismus gewesen sein, dessen Sicherheiten ja lange schon erschüttert waren. Wichtiger scheint mir etwas anderes zu sein: Die Linke sprach in ihrer Mehrheitvon dermultikulturellen Gesellschaft nicht beschreibend;sondern appellativ, nicht feststellend, sondern ideologisch; es ging ihr weniger um eine:Realität undmehr um ein Projekt. Die Vision der multikulturellen Gesellschaft versprach- wenn auch schwächer als frühere Visionen - so etwas wie Identität. In diesem Sinne war sie ein Instrument linker Selbstfindung, ein Instrument der Abgrenzung von der großen Mehrheit. Oft wurde sie ins Spiel gebracht, um zu polarisieren - die guten Kosmopoliten ., gegen.die schlechten Deutschen. Ein besonders törichtes Beispiel dieser selbstgerechten und, wenn man will, umgekehrt rassistischen Gesinnung stellt eine Parole dar, die an Berliner Wänden zu lesen war und die an so manchem linken Stammtisch sicher für Heiterkeit gesorgt hat: »Liebe Ausländer, laßt uns mit den Deutschen nicht allein!<< Die Ausländer also als Instrument, um den »besseren<< Deutschen zu Distinktionsgewinnen gegenüber der Mehrheit zu verhelfen und die eigene Fremdheit im eigenen Land, die auch eine ebenso mutwillige wie fiktive ist, zu unterstreichen und in einer zunehmend unübersichtlichen und das heißt auch: multikulturellen Gesellschaft über die Runden zu retten. Dementis und Verklärungen- zwei Sackgassen In seinem Buch Die Wiedergeburt des Nationalismus in Europa vertritt Alain Mine die These, daß es für das Projekt des vereinten Europa vermutlich zu spät sei: Die Integration, zu der sich die eu- !22 ropäischen Staaten in den windstillen Zeiten des kalten Krieges, in denen sie möglich gewesen wäre, nicht aufraffen konnten, werde nun unter dem Druck der zahlreichen und kaum lösbaren europäischen Großprobleme erst recht nicht zustande kommen.1 Ähnliches mag man von der multikulturellen Gesellschaft und dem vernünftigen Umgang mit ihr vermuten. In den Zeiten der im Kern schon nachnationalen »alten<< Bundesrepublik ist es nicht gelungen, der multikulturellen Wirklichkeit dieser Gesellschaft institutionellen Ausdruck zu geben. Jetzt, wo ein vernünftiger Umgang mit der so oder so stattfindenden Einwanderung noch viel wichtiger wäre, scheint eine gesellschaftliche Mehrheit dafür kaum mehr möglich zu sein. Und diesangesichtskommender Zeiten, in denenes-in deutsch-deutscher, ost-westlicher wie nord-südlicher Hinsicht - mit Sicherheit deutlich multikultureller zugehen wird als zuvor. Daß die Chancen der ruhigen Zeiten nicht hinreichend genutzt wurden, daran trägt nicht nur die Rechte Schuld - es wurde ganz allgemeinfasteausschließlich ideologisch mit dem Thema umgegangen. Die eine Seite - im wesentlichen die jeweils regierungsoffizielle - ging von Beginn an fahrlässig mit der Tatsache Einwanderung um. Sie wollte die Wirklichkeit, die sie - etwa über Anwerbeverträge - selbst geschaffen hatte, nicht zur Kenntnis nehmen und hielt gegen alle Evidenzen an dem Kinderglauben fest, es handle sich bei der Einwanderung um ein vorübergehendes Phänomen. Fast alles sprach lange schon dagegen: Vergleichsweise schnell waren die Arbeitsmigranten zu einem integralen, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des deutschen Wirtschaftsgeschehens geworden und in der Folge zu einem großen Teil von >>Gastarbeitern<< faktisch zu Bürgern dieses Staates (wenngleich -darin besteht der Skandal- zu Bürgern zweiter Klasse). Dennoch hielt man an der ursprünglichen Version fest und behauptete, die vergleichsweise große Zahl von Nicht-Deutschen sei ein transitorisches Phänomen. Als es mit der >>Ölkrise<< in den siebziger Jahren ökonomisch enger wurde, versuchte man durch den >>Anwerbestopp<< die Zuwanderung zu begrenzen - um mit dieser Maßnahme tatsächlich die Zuwanderung noch zu steigern: Als die Bundesrepublik erstmals mit dem Gedanken liebäugelte, zu einer 1 Alain Mine, Die Wiedergeburt des Nationalismus in Europa, aus dem Französischen von Ilonka Bertheau, Harnburg I 992. 123 Art Festung zu werden, provozierte sie gerade damit den massiven Familiennachzug, der den ausländischen Bevölkerungsanteil (insbesondere den türkischen) endgültig etablierte. Ideologisch war die Politik, weil sie den Wunsch ungebremst über die Wirklichkeit siegen ließ und einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte, daß die Bundesrepublik Zuwanderung nicht nur braucht (etwa aus demographischen Gründen), sondern sich ihrer zudem mit demokratischen Mitteln gar nicht erwehren kann. Denn dieses Land ist aufgrund seiner Prosperität überaus attraktiv und zieht, angesichts des riesigen Entwicklungsgefälles zwischen hoch- und weniger entwickelten Ländern, Zuwanderer an. Nur mit einer radikalen Abschottung, die einen neuen Eisernen Vorhang nötig machen würde, also mit einer Kehrtwendung zumindest zum Polizeistaat, könnte die Bundesrepublik sich diesen Migrationsdruck vom Hals halten. Dreißig Jahre boten Zeit und Anlaß genug, sich mit der Tatsache vertraut zu machen, daß die Migration der vielleicht steuerbare, mit Sicherheit aber nicht rückgängig zu machende Normalfall moderner Gesellschaften ist. Und dreißig Jahre gab es Zeit und Anlässe genug, die Institutionen des Staates und der Gesellschaft allmählich dieser Tatsache anzupassen, etwa durch eine zeitgemäße, nicht mehr völkische Definition der Staatsbürgerschaft und durch eine Einwanderungsgesetzgebung. Was war und ist; sollte aber nicht sein, und so siegte das ideologisch motivierte Dementi über die Wirklichkeit. Verhängnisvoll war das deswegen, weil es ja nur die Hälfte der Wahrheit ist, wenn man von der Migration als dem Normalfall moderner Gesellschaften spricht. Denn es ist - wie gerade auch die Geschichte der Vereinigten Staaten als des Einwanderungslandes par excellence reichlich belegt- diesem Normalfall eigentümlich, daß er doch nie normal werden will, daß er nie als etwas Normales wahrgenommen wird. Das ist, wie vieles Inkongruente, von Komik nicht frei. Hans Magnus Enzensberger ist es daher nicht schwergefallen, auch in dieser Frage den Spötter zu spielen; in seinem schmalen BüchleinDie Große Wanderung rechnet er vor, welche ungeheuren Wanderungsbewegungen in Deutschland stattgefunden haben, seit die Nazis fast dem ganzen Rest der Welt den Krieg erklärten, um dann fortzufahren: »Es ist rätselhaft, daß eine Bevölkerung, die innerhalb ihrer eigenen Lebenszeit solche Erfahrungen gemacht hat, unter dem Wahn leiden kann, sie hätte es, angesichts heutiger Wanderungen, mit etwas noch nie Dagewesenem 124 zu tun.«2 Ja doch, rätselhaft ist es schon. Indes, es handelt sich um eines der Rätsel, die die Moderne hartnäckig begleiten, um eines der Rätsel, gegen die man zwar Evidenzen in Anschlag bringen kann, von denen man aber inzwischen auch wissen sollte, daß Aufklärung sie nur schwer auflösen und aus der Welt schaffen kann. Die"Geschichte~zeigt, daß Fremde selten willkommen.waren; doch der Haß auf sie war nicht die Regel, und das lag auch daran, daß sie in fast allen Gesellschaften die Ausnahme waren. Fremde waren zumeist ferne Fremde. In der Moderne aber sind sie, dank einer zuvor nicht vorstellbaren Zunahme der Mobilität (die u. a. auch durch Massentransportmittel möglich wurde), zu nahen Fremden geworden. Auch wenn sie real in fast allen Gesellschaften, in die sie einwanderten, so etwas wie »Entwicklungshelfer« waren und den Wohlstand nicht minderten, sondern mehrten3, wurden sie doch fast immer auch als Konkurrenten um materielle wie kulturelle Ressourcen wahrgenommen. Das Mißtrauen gegenüber den Fremden ist ein altes Phänomen, die zum Chauvinismus neigende Xenophobie jedoch·ein eminent modernes. Die Xenophobie ist ein Weg, auf die Verwerfungen der Moderne und die Wunden, die sie auch schlägt, zu antworten.4 Ohne irgend etwas entschuldigen zu wollen: Der Haß auf die Fremden verweist auf die dunklen Seiten der Moderne, die weit mehr beinhalten als Not und soziale Unsicherheit. Die Xenophobie ist kein atavistisches Relikt, kein Dunkel, das sich durch den Siegeszug der Moderne lichten wird - die Xenophobie ist vielmehr, als Möglichkeit, ein ständiger Begleiter der Moderne.5 2 Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. Dreiunddrezßig Markierungen, Frankfurt/M. I992, S. 5of. So wäre etwa in den Vereinigten Staaten die industrielle Massenproduktion, die um die Jahrhundertwende einsetzte, ohne Immigranten überhaupt nicht möglich gewesen. Und die Geschichte der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik zeigt, daß sie der bundesdeutschen Wirrschaft mehrfach aus der Klemme geholfen und vielen Deutschen zu Aufstiegen verholfen hat, die ohne Zuwanderung nicht möglich gewesen wären. Vgl. ausführlicher: Daniel Cohn-Bendit/Thomas Schmid, Heimat Baby/on. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie, Harnburg I992, S. I I5-I75 (•Von der willkommenen Ausnahme zur ungeliebten Regel: Ausländer in Deutschland«). 4 Das gilt übrigens nicht nur für die jeweiligen Mehrheiten, sondern oft auch für die Minderheiten. Die Politik der Ethnizität etwa, mit der bestimmte Minderheiten in den Vereinigten Staaten ihre Besonderheit, ihre (oft erfundenen) Traditionen sowie ihre angebliche Überlegenheit gegen die Mehrheitsgesellschaft ausspielen, ist nicht weniger fremdenfeindlich als die Intoleranz der Mehrheitsgesellschaft. Das ist im übrigen den Sozialwissenschaften (insbesondere in Europa) lange ent- 125 Das heißt: So unsinnig es ist, vor den Tatsachen von Mobilität und Migration die Augen zu verschließen und an der trüben Vision einer vergleichsweise geschlossenen Gesellschaft festzuhalten, so unsinnig ist es andererseits, die Migration und die offene Gesellschaft, die immer auch ein,Wagnis ist, zu verklären. Gerrau das aber hat, kaum anders als ihr,konservariver,Gegenpart, die Linke oft getan. Zu Teilen hat sie idyllische Bilder von multikultureller. Vielfalt und Völkerversöhnung entworfen, die zwar viel über den alten Wunsch nach Aufnebungvon Widersprüchen, nach Versöhnung und letzter Einheit verraten, nichts aber mit der Realität von Einwanderungsgesellschaften zu tun haben, die nun einmal- wenn auch oft viel weniger als die Gegner der Zuwanderung vermuten - vom Konflikt zwischen Kulturen, Lebensweisen und Werten geprägt ist. Aber auch dort, wo die Linke6 auf das multikulturelle Eiapopeia verzichtete, hat sie sich nicht selten ziemlich stur geweige,rt,Jt~oa~ von den konfliktreichen Seiten der Einwanderungsgesellschaft ZU' sprechen. Da sie hinter jedem Unbehagen an der Zuwanderungviel zu schnell die Fratze des alten deutschen Fremdenhasses'und Chauvinismus' ausmachte, tabuisierte sie die Kritik an der multikulturellen Gesellschaft? Diese Gesellschaft ist aber stets auch lästig unharmonisch, und weil die Linke davon - wie weiland von gangen, weil sie- mit Max Weber- die Moderne fälschlicherweise für ein Unternehmen hielten, das auf Uniformität und Abschleifung alles Besonderen und Partikularen hinauslaufe. Klarer sahen da früh schon amerikanische Gesellschaftswissenschaftler, die den melting pot vor Augen hatten, der - wie sie sahen - in Wahrheit die Unterschiede jedoch nicht einschmolz. Vgl. etwa: Robert Ezra Park, Race and Culture, Glencoe/111. 1950. 6 Wenn hier von »der« Linken die Rede ist, enthält das sicher ein zu hohes Maß an Verallgemeinerung. Es gab und gibt ohne Zweifel auch Linke, die mit der Glorifizierung der multikulturellen Gesellschaft nichts im Sinn haben und durchaus auf deren Probleme hinweisen (das gilt zunehmend für jene Linke, die den Gewerkschaften nahesteht und mit Sorge die Anfälligkeit von Teilen der abhängig Beschäftigten für die xenophobe Propaganda verfolgt). Ich benutze dennoch die generalisierende Wendung, weil die in dieser Frage kritischen Stimmen doch eher vereinzelt und nicht immer deutlich zu hören sind. 7 Nicht anders verhielt sie sich in der Frage des Asyls. Weil dies die andere Seite hätte bestärken können, hat sie sich zu großen Teilen hartnäckig geweigert, die offensichtliche Tatsache des Asylmißbrauchs zur Kenntnis zu nehmen. Statt für eine Trennung von Einwanderung und Asyl {letzteres auf die tatsächlichen Fälle von politischer, rassistischer, religiöser etc. Verfolgung beschränkt), hat sie Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundsatzes mit ideologischer Sturheit verteidigt und es damit den Gegnern, die mühelos die blinden Flecke der Argumentation herausstellen konnten, leichtgemacht. !26 den dunklen Seiten des Sozialismus und seiner Regimes - nur äußerst ungern und erst dann sprach, wenn es gar nicht mehr anders ging, ist sie'"auGh ~in dieser Frage unglaubwürdig geworden. Und etwas Weiteres kommt hinzu: Oft war die multikulturelle Gesellschaft für die Linke nur ein Vorwand, um andere Ziele, die damit nichts zu tun haben, verfolgen zu können. Wo die Ausländer begrüßt wurden, weil sie- bitteschön- die »guten« Deutschen nicht mit den »bösen<< Deutschen alleine lassen sollten, ging es natürlich nicht um konkrete Ausländer und das pure Faktum der Zuwanderung, sondern um Distinktionsgewinne: die allgemeine, nicht konkrete Solidarisierung mit Ausländern als ein Mittel, um sich ein weiteres Mal von der Mehrheitsgesellschaft wenigstens imaginär absondern zu können.8 Diese ~on.zwei Seiten her betriebene Ideologisierung des Themas hatte zur Folge, daß Realität und Erfahrung der gesellschaftlichenMitte kaum berücksichtigt wurden. Die Mitte, alsO alle die, die..die.Zuwanderung weder begrüßt noch verurteilt, sondern sich mitihr allmählich abgefunden und arrangiert hatten, blieb, wenn men.will, sich selbst überlassen. Die eine Seite pries diese Mitte die multikulturelle Gesellschaft als einen Segen, und die andere sprach nur von Gefahren. Beides hatte mit der Wirklichkeit wenig zu tun, in beidem konnte die Mehrheit das nicht wiedererkennen, was sie im Alltag erlebte. Als in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Zahl der Arbeitsmigranten sprunghaft zunahm, wurde das z. T. emphatisch begrüßt, bewies es doch die Attraktivität der Bundesrepublik. Das änderte sich, als mit der Ölkrise der siebziger Jahre erstmals deutlich wurde, daß auch die Bundesrepublik kein Abonnement auf immerwährende Prosperität hat. Während zuvor noch ein halbwegs.realistisch(;!r Umgang mit dem Phänomen. der Arbeitsmigration.üblich.w:ar, setzte nun die Ideologisierung ein. Die eine Seite.unterschlugip. mwerantw:ortlicher. Weise die Tatsache, daß diesesLand erstens aufZuwanderung angewiesen: ist und daß Es ist nicht ohne Ironie, daß Linke damit genau dasselbe taten, was sie dem Rest der Gesellschaft vorwarfen. Die Moderne löst bekanntlich alte Bindungen auf und verflüssigt herkömmliche Identitäten. Gerade das ruft das gegenläufige Bemühen auf den Plan, sich nämlich durch Festhalten am erschütterten Alten oder gar durch neu erfundene »Traditionen« von anderen wie von der Unübersichtlichkeit der Gesellschaft insgesamt abzusetzen. Man kann das tun, indem man etwa ein Heimatbewußtsein (das etwas Modernes darstellt) entwickelt; und man kann es ebenso tun, indem man auf Biegen und Brechen ein Fremder im eigenen Land bleiben will. !27 es - als Demokratie - lernen muß, mit den Problemen, die das auch bringt, umzugehen; und die andere Seite erklärte;u. a/auch durch einen inflationären und damit ebenfalls unverantwortlichen warnenden Bezug auf die f1ationalsozialistische Vergangenheit, die Zuwanderung zu. einemmoralisch überhöhten Geschehen. Beide Seiten ließen Pragmatismus vermissen und ideologisierten das Problem. Während die Mehrheit allmählich die Überzeugung gewann, daß die multikulturelle Gesellschaft einerseits zu den unvermeidlichen Ärgernissen einer modernen, weltoffenen Gesellschaft gehört, andererseits aber auch ihre positiven und nützlichen Seiten hat, wurde das Multikulturelle von rechts und links eher als eine Glaubensfrage behandelt. Diejenigen, die für Interpretationen und die Produktion von Sinn zuständig sind, hatten der Mehrheit kaum Deutungen anzubieten, die zu deren Erfahrung gepaßt hätten. Die multikulturelle Gesellschaft als prekärer Normalfall »Multikulturelle Gesellschaft<< ist eines jener schillernden Zauberworte, die Ketten von Assoziationen auslösen können und vor allem vorgeben, mit der Bezeichnung eines Problems habe man dieses auch schon im Griff. Auch ist gegen den Begriff eingewandt worden, er privilegiere in ungebührlicher Weise den kulturellen Aspekt9 der Migration und unterschlage gewissermaßen deren (ökonomische) Basis. Ich möchte mich an diesem Streit um einen - zugegebenermaßen ziemlich unglücklichen und pompösen Begriff- nicht beteiligen. In Ermangelung eines besseren·Begriffs benutze ich die Wendung in vorläufiger und heuristischer Absicht. Was also könnte eine multikulturelle Gesellschaft sein? ErsHinmaLgilt fast immer: Jede Gesellschaft ist, langebevor sie durch·Zuwanderung beunruhigtwird,·schon·sehr viel multikultureller als sie glaubt. Es fällt schwer, überhaupt einen einigermaßen passenden Gegenbegriff zu finden. Am ehesten käme noch der im ethnischen Sinne verstandene Nationalstaat in Frage, der bemüht 9 Gegen diese Kritik läßt sich natürlich leicht und zu Recht einwenden, daß ebensogut das gemeint sein könnte, was die historische Anthropologie »materiale Kultur« nennt. Zudem hat sich inzwischen herumgesprochen, daß es sinnvoll ist, Kultur nicht als abgeleitetes Phänomen zu begreifen, sondern als etwas, das für Gesellschaften konstitutiver ist als etwa Ökonomie und Politik. u8 ist, sich möglichst gegen fremde Einflüsse zu schützen. Schon dieses - keineswegs in polemischer Absicht angeführte - Beispiel macht deutlich; daß es sich bei denAlternativen zur multikulturellen.Gesellschaft weithin um fiktionen handelt;· Es geht·nicht um das:Ob,~:Sc;mdern:nur um das Wie· der multikulturellen· Gesellscha:ft;d. h. darum, wie sehr sich eine Gesellschaft ihres multikulturellen Charakters und Unterbaus bewußt wird und wieweit sie bereit ist, sich darauf einzulassen. Um dies am Beispiel Deutschlands zu erläutern: Es ist nahezu unmöglich zu definieren, was denn das Spezifische und Einheitliche der Deutschen, die es als besondere Spezies gleichwohl gibt, ausmache. Ethnische und völkische Reinheit kommen, wie ein beliebiger Blick in die Geschichte zeigt, sicher nicht in Frage. Als »rein deutsch<< können die Besitzerinnen und Besitzer deutscher Pässe nur dann gelten, wenn man einen synchronen Schnitt macht und das diachrone Hinterland vernachlässigt. Denn in sämtlichen deutschen Regionen sind die Einheimischen vorläufiges Endprodukt einer langen Kette von Vermischungen: Die.Multikultur.ist immer schon da. Mit anderen Worten:. jede moderne Gesellschaft istfaktisch multikulturell. Eine ganz andere Frage ist, wie sie damit umgeht. Ist sie sich ihres multikulturellen Charakters bewußt? Läßt sie sich darauf, auch in Hinblick auf die Zukunft, ein? Ist sie in der Lage, das Fremde und die Fremden zu integrieren, ohne dabei jene Spezifika einzubüßen, die es erlauben, zwar vereinfachend, aber auch zutreffend von den Deutschen, den Engländern, den Franzosen zu sprechen? Reagiert sie eher furchtsam und abwehrend oder eher gelassen und neugierig auf die Tatsache, daß die Welt unwiderruflich in Bewegung ist? Von einer monokultureilen Reinheit der Deutschen kann, wie gesagt, nicht die Rede sein. Dennoch gibt es unterschiedliche Wege, mit dieser Tatsache umzugehen. In der alten Bundesrepublik ist es im Laufe der Zeit halbwegs gelungen, die normale und nützliche Seite dieser Tatsache zu entdecken. Ganz anders in der ehemaligen DDR: Als Folge von mehr als einem halben Jahrhundert Abschließung von der Welt fehlt dort fast alle praktische Erfahrung im Umgang mit dem Frenden. Das hat u. a. zur Folge, daß man dort dazu neigt, die eigene multikulturelle Tradition als eine monokulturelle mißzuverstehen, und auf dieser Grundlage dem Fremden, das nun in Gestalt von Menschen, Waren und kulturellen Einflüssen eindringt, mit Mißtrauen und Abwehr begegnet. Mit anderen Worten: 129 moderne Gesellschaften sind zwar immer multikulturell- von ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Stärke hängt es aber ab, ob sie in der Lage sind, das zur Kenntnis zu nehmen und als den zukünftigen Normalfall halbwegs gelassen zu akzeptieren. Alle modernen Gesellschaften vertragen weit mehr an Zuwanderung, als sie meinen. Sie wissen letzteres nicht, weil es sogar in Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten und erst recht natürlich in Einwanderungsländern, die dies sind, aber nicht sein wollen, keine entwickelten Methoden gibt, die Zuwanderungserfahrung kollektiv und nachhaltig zu speichern. Die jeweils Zugewanderten haben stets gegen Animositäten und die Abwehr der Einheimischen zu kämpfen, und nur sehr langsam gelingt ihnen die Integration. Fortan aber begreifen sie sich selbst als Einheimische und treten den neu Zuwandernden oft mit der gleichen Ablehnung entgegen, die sie einstmals selbst erfahren mußten.10 Die endlich Dazugehörenden neigen dazu, den »Makel<< der fremden Herkunft vergessen zu machen - sich selbst wie den anderen gegenüber. Und so kommt es, daß die Erfahrung der Migration, die in Deutschland spätestens seit dem Beginndes 19:Jahrhunderts etwas durchaus Normales war, immer noch·und immerwiederals die Ausnahme erscheint. Immer wieder lassen sich Gesellschaften von der Migration überraschen. Sie erleben sie als Bruch, als Gefahr und oft auch als Unglück. Und weil sie hier so vergeßlich sind, neigen sie dazu, die Migration als ein Unwetter, als ein Naturphänomen mißzuverstehen und zu dämonisieren. Überspitzt formuliert: in ihrer Selbstwahrnehmung sind moderne Gesellschaften oft bemüht, die Erfahrungen, die sie doch machen, zu dementieren. Eben deswegen ist es so gefährlich, mit Metaphern zu operieren, die Naturphänomene beschreiben oder eine trügerische Überschaubarkeit vorgaukeln. Flut, Welle, Überschwemmung: alle diese Bilder geben die Wirklichkeit nicht nur in maßloser Verzerrung wieder, sie tragen vor allem auch dazu bei, den Menschen die Erfahrungen, die sie gemacht haben und machen, zu entfremden und zu entwirklichen. Sie verführen zum · 10 Ein gutes Beispiel dafür geben die Flüchtlinge ab, die nach 1945 in millionenfacher Zahl in den Westen Deutschlands kamen. Sie stießen z. T. auf entschiedene Ablehnung, und nur sehr langsam gelang es ihnen, in der bundesdeutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. Und oft sind es gerade ehemalige Flüchtlinge, die heute den neuen Zuwanderern und Asylbewerbern besonders ablehnend gegenüberste- hen. 130 Dementi, das für viele ohnehin schon verlockend genug ist. Und Metaphern wie die vom immer schon »vollen Boot<< suggerieren, eine Gesellschaft könne sich ernsthaft von den Migrationsbewegungen freihalten, die die industrielle Moderne erzwungen hat und die durch die neue Weltunordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sicher nicht abnehmen werden.11 Man kann gegen die Rhetorik der Abwehr Evidenzen anführen. Man kann etwa ökonomisch argumentieren, kann nach der Finanzierbarkeit der Renten und danach fragen, wer denn wohl sonst all die Arbeiten verrichten wolle, die heute fest in nichtdeutseher Hand sind. Und man kann Geschichten aus der langen Geschichte der Aus- und Einwanderung erzählen, die allesamt belegen, daß Migration stets als eineMühe und eine Lastbegonnen hat und meist zum~VorteiLvon Einwanderern wie Einheimischen geendet hat. Man kann darauf hinweisen, daß die Konflikte im Umfeld der Migration, die heute als etwas noch nie Dagewesenes erscheinen, ziemlich alt und immer wieder dieselben sind: Selten spielte die reale Konkurrenz um Ressourcen und Besitzstände eine Rolle, immer aber ging es um Fragen der Kultur, der Sprache, der Schule, der Religion, also um die Frage der Koexistenz unterschiedlicher Lebensweisen und Wertvorstellungen. Undimmer hat es sich gezeigt, daß Imegratiqn dort amehesten möglich war, wo man in der Kultur der Fremden - bis zum Beweis des Gegenteils - erst einmal keine Bedrohung sah. Wo immer man die Fremden nach ihrer Fasson selig werden ließ, dort waren sie am schnellsten bereit, sich gegenüber der neuen Lebenswelt zu öffnen und ihre eigenen Traditionen den Einflüssen der neuen Gesellschaft auszusetzen. Wo immer man ihnen aber mißtrauisch begegnete und sie zur möglichst schnellen Abkehr von der Kultur ihrer Herkunft nötigte, dort insistierten die Fremden auf ihrer Besonderheit und schlossen sich von der neuen Umwelt ab. Und so kam dann- insbesondere die Deutschen in Ost- und Südosteuropa mußten das in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erfahren- regelmäßig ein unseliger Prozeß wechselseitiger kultureller Mißverständnisse und Schuldzuweisungen in Gang, der Brücken nicht baute, sondern abbrachY 1 1 Ganz abgesehen davon enthält die Metapher vom »vollen Boot« eine perfide Umkehrung. Denn vom Untergang sind ja nicht wir bedroht, sondern die vielen Fremden, die vom Reichtum der Moderne ausgeschlossen sind. 12 Ausführlicher dazu: Cohn-Bendit/Schmid (s. Anm. 3), S. 176-238 (»Neue Heimaten. Szenen aus der Geschichte der Aus- und Einwanderung«). 131 Die Geschichte der Aus- und Einwanderung enthält zahlreiche Episoden, die spürbar machen, welche überraschenden Potentiale die Migration enthält. Man sollte diese Geschichten immer wieder erzählen, weil sie vielleicht ein wenig zur Gelassenheit und zur Neugier auf das ermuntern können, was sich konkret hinter dem multikulturellen Etikett verbirgt; und weil sie eine Ahnung verschaffen können von dem in aller Regel weit unterschätzten Aufnahme-, Integrations- und Verarbeitungsvermögen jeder modernen Gesellschaft. Man sollte sich aber auch darüber im klaren sein, daß das alles schwache Argumente sind, mit denen man für die Anerkenntnis der multikulturellen Realität wirbt. Denn während der Sozialismus und andere messianische Bewegungen für ein Ziel warben, an dem die Unübersichtlichkeit der Welt ein Ende haben würde, hat einer, der zur Offenheit gegenüber der multikulturellen Wirklichkeit verlocken will, nichts dergleichen zu bieten, ganz im Gegenteil. Er wirbt für ein Einlassen mit ungewissem Ausgang. Das einzige, was er zu bieten hat, ist die »schwache« Einsicht, daß es nach Lage der modernen Dinge besser und vernünftiger ist, mit zukünftigen Migrationen, also auch Unübersichtlichkeiteil und Belastungen zu rechnen, als sie, den Kopf im Sand, auszuschließen. Der Umgang mit der Migration ist auch deswegen so schwierig, weil sie Teil eines grundlegenden Dilemmas der Moderne ist, wie es Ulrich Beck an anderen Beispielen erläutert hat 13: Die Migration gehört zu den Prozessen, die keinen Probelauf kennen, sondern gewissermaßen nur unter den Bedingungen des Ernstfalls stattfinden. Ein bißchen Migration da oder dort: Das gibt es nicht. Wo Migration stattfindet, ist stets das Spiel der unintended effects voll im Gang. Das birgt Überraschungen, gute wie böse. Da aber nicht vorauszusehen ist, wie die Überraschung ausfallen wird, macht Migration immer auch angst. Das vielleicht überzeugendste Argument (das aber, weil »bloß<< Argument, nur begrenzte Wirkung haben kann) dafür, sich auf die multikulturelle Realität einzulassen, setzt am kulturellen Nutzen, an den Chancen, die kulturelle Mehrsprachigkeit eröffnet, an. Es liegt nahe, auf das Überwältigende der Moderne mit Abgrenzung, mit der Betonung und Verfestigung der eigenen Identität, die Schutz bieten soll, zu -reagieren. Unschwer ist jedoch zu zeigen, t 3 Ulrich Bcck, Risikogesellscbaft. Aufdem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt/ M. t986, S. 254-299. 132 daß diese Verfestigung nicht widerstandsfähiger, sondern gebrechlicher macht. Nicht die eine Identität, sondern die Vervielfältigung der Identitäten macht widerstandsfähig. Sehr schön hat dieses Programm Michael Walzer in seinem Aufsatz über »Das neue Stammeswesen<< formuliert: »Wenn mein Parochialismus bedroht ist, dann fühle ich nur noch und zwar radikal parochial: als Serbe, als Pole, als Jude und als nichts anderes. Aber dies ist in der heutigen Welt eine künstliche Situation (und vielleicht war sie es auch in der Vergangenheit). Dem Selbst widerstrebt unter normalen Bedingungen eine Teilung nicht. Es kann sich zumindest aufteilen, und es gedeiht sogar dabei. Wenn ich mich sicher fühlen kann, werde ich eine komplexere Identität erwerben, als es der Gedanke des Parochialismus nahelegt. Ich werde mich selbst mit mehr als einer Gruppe identifizieren; ich werde Amerikaner, Jude, Ostküstenbewohner, Intellektueller und Professor sein. Man stelle sich eine ähnliche Vervielfältigung der Identitäten überall auf der Erde vor, und die Erde beginnt, wie ein weniger gefährlicher Ort auszusehen. Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Lei- denschaften.<<14 Man beachte: Walzer redet keiner »Überwindung<< des Parochialismus das Wort. Er hält ihn für eine selbstverständliche Haltung, vor der auch die »besseren<< Menschen nicht gefeit sind. Es geht Walzer vielmehr um Bedingungen der Sicherheit, die es den Angehörigen der verschiedenen Sprengel erlauben, auf mehreren Hochzeiten zu tanzen. Es genügt nicht, allein den Universalismus und das, was er gebietet, im Auge zu haben. Es geht um einen Universalismus, der den Pluralismus zuläßt. Die babylonische Werteverwirrung der multikulturellen Gesellschaft Das:heißtfreilich"nicht,""".daß,~in ungezügelter Pluralismus das Be,wegungsgesetz der multikulturellen Gesellschaft sein sollte. Diese muß vielmehr stets auch bemüht sein, dem Pluralismus entgegenzuarbeiten. Es wäre ganz unverantwortlich, die multikulturelle Gesellschaft vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der kulturel- 14 Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, aus dem Amerikanischen von Christiane Goldmann, Berlin 1992, S. 136. 1 33 len Bereicherung und der Vielfalt zu betrachten. Da sie (wie die Moderne insgesamt) die Eigenschaft hat, sich sprunghaft zu bewegen und die Verarbeitungskapazität der Menschen zu überfordern, wirkt sie immer auch zentrifugal. Stets vermehrt sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, stets wirft sie die Frage auf, wie die Vielfalt zu jenem Gebilde integriert werden kann, das man Gemeinwesen nennt und das ein solches nur ist, wenn es über das nötige Maß gemeinsam geteilter Wertvorstellungen verfügt. So gesehen, ist Multikulturalität erst einmal nichts anderes als das, was in (fast) allen modernen Gesellschaften der Fall ist. Es bedarf der ordnenden Gegenanstrengung, um daraus ein tragfähiges Gemeinwesen zu machen. Migranten sind nicht die Zugvögel, die einen schöneren gesellschaftlichen Frühling ankündigen. Sie sind erst einmal Repräsentanten einer anderen Kultur und einer anderen Lebensweise, die die Mehrheitsgesellschaft herausfordern. In aufgeklärten Kreisen geht man gemeinhin davon aus, daß nicht die Migranten, denen man meist Aufgeschlossenheit unterstellt, das Problem sind, sondern die Mehrheitsgesellschaft, der man Abwehr und mangelnde Bereitschaft nachsagt, sich auf den Segen des Neuen einzulassen. Dieser Gedanke ist nicht ganz falsch und in der migrationsfreundlichen Literatur inzwischen derart ausgiebig dargestellt und popularisiert, daß ich diesen Aspekt übergehen und die andere Seite hervorheben kann. Um es pointiert zu formulieren: Die Mehrheitsgesellschaft hat gar nicht so unrecht, wenn sie auf Zuwanderung besorgt reagiert.15 Denn sie hat etwas zu verteidigen- und zwar nicht nur materielle Besitzstände, sondern auch den mühsam gewonnenen gesellschaftlichen Konsens. Sicher stimmt es in längerer Perspektive, daß Zuwanderer letztlich zu dessen Festigung beitragen können (freilich nur dann, wenn die Mehrheitsgesellschaft bereit ist, vom völkischen Herr- 15 Um allfälligen Mißverständnissen wenigstens ein kleines Hindernis in den Weg zu legen: Das Folgende ist nicht als Rechtfertigung von Xenophobie zu verstehen. Dieser geht es schließlich nicht um die Verteidigung von Gemeinwesen und Demokratie. Und ihr ist jedwede Vielfalt der Gesellschaft immer schon zuviel. Daß es jedoch auch ein legitimes Mißtrauen gegenüber dem Fremden geben kann, beweist z. B. das neuere deutsch-deutsche Geschehen: Es gibt viele in der »alten« Bundesrepublik, die im Hinzukommen der Kultur unserer Brüder und Schwestern ganz zu Recht keineswegs nur einen Segen sehen. Denn diese Ungleichzeitigkeiten, die die Bundesrepublik ohne Zweifel um eine überraschende neue Variante des Multikulturellen bereichern, tragen nicht eben immer zur Festigung der demokratischen Substanz Deutschlands bei. 134 im-Haus-Standpunkt des ius sanguinis abzurücken und den Zuwanderern- unter bestimmten Voraussetzungen- die vollen Bürgerrechte einzuräumen). Aber erst einmal gilt diese Regel nicht. Zuwanderern ist der kodifizierte und erst recht der ungeschriebene, viel schwerer aufspürbare Konsens der neuen Gesellschaft zunächst fremd. Und sie interessieren sich auch nicht für ihn. Denn sie haben, anfangs auf einen nur befristeten Aufenthalt in der Fremde eingestellt, nicht die neue Gesellschaft, sondern einen Arbeitsplatz und späteres Wohlergehen in der alten Heimat im Sinn. Ihr Verhältnis zur neuen Gesellschaft ist funktional, sie fühlen sich an deren Regeln, denen sie ja nicht qua Herkunft und Gewöhnung verpflichtet sein können, kaum gebunden: Wenn man bedenkt, wie gefährdet das gesellschaftliche Gleichgewicht in der Moderne stets ist, dann wird deutlich, daß Zuwanderer insofern zumindest nicht unmittelbar zu dessen Festigung beitragen, als sie vorerst gewissermaßen die Zahl derer vergrößern, die zur schweigenden, an der res publica wenig interessierten Mehrheit gehö- ren.16 Die Zuwanderer können natürlich auch zur Diffusion der die Gesellschaft tragenden Werte beitragen. Dieser Aspekt wird oft, insbesondere unter Verweis auf den islamischen Fundamentalismus, maßlos übertrieben. Aber es wäre umgekehrt ebenso falsch, das Problem rundweg zu leugnen. Die Stabilität und vergleichsweise Offenheit vieler westlicher Gesellschaften verdankt sich u. a. auch der Tatsache, daß in ihnen in den letzten]ahrzehnten Prosperität und die Festigung eines republikanischen Konsenses Hand in Hand gegangen sind. Ob letzterer wirklich tragfähig ist, wird sich jetzt mit dem Ende der goldenen Zeiten zeigen müssen. Sicher aber gilt für Zuwanderer in der Regel, daß sie nicht dieses Konsenses, sondern der Prosperität wegen kommen. Und sie sind, nicht anders als alle anderen auch, durchaus bemüht, möglichst viele ihrer Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten und des für sie Verbindlichen in die neue Heimat hinüberzuretten. Das führt dann zu dem oft beschriebenen und nicht selten dramatisierten Zusammenstoß der Kulturen, der insofern sehr wohl ein Problem darstellt, als er die westlichen Gesellschaften an ihrer 16 Es versteht sich, daß die institutionell sichtbar gemachte Bereirschaft der Mehrheitsgesellschaft, die Fremden als Bürger zu akzeptieren, eine gute Voraussetzung darstellt, den Migranten den Weg aus der Abschottung in das neue Gemeinwesen zu ermöglichen. 1 35 vermutlich schwächsten Stelle trifft: an der ihrer Werte. Es hat nach 1789 zwei Jahrhunderte gedauert, bis die Substanz der Menschenrechte wenigstens einigermaßen anerkannt war, und die großen Barbareien dieses Jahrhunderts sind ein Beweis dafür, wiegefährdet dieser Konsens nach wie vor ist. Da liegt es auf der Hand, daß die westlichen Gesellschaften nach wie vor anfällig sein konnten für die Abkehr vom immer auch schwierigen Weg der Zivilität. Es wäre ganz unsinnig, das Schreckgespenst etwa der islamisch-fundamentalistischen Unterwanderung und Zerrüttung der Bundesrepublik Deutschland an die Wand zu malen. Solcher Missionsversuche wird sich diese Gesellschaft, die in dieser Frage an einen sehr alten Glaubenskampf anknüpfen kann, zu erwehren wissen. Die Gefahr lauert an anderer Stelle: Ist eine Gesellschaft wie die bundesrepublikanische (die ohnehin schon mit dem elends-chauvinistischen Fundamentalismus im Osten des eigenen Landes konfrontiert ist) stabil genug, um trotz des Sich-Spiegeln in anderen Kulturen und deren Werthorizonten an den eigenen Werten festzuhalten? Oder nimmt sie die Tatache, daß es andere Werte gibt, zum Anlaß, mit den eigenen Werten läßlicher umzu- gehen? Mit anderen Worten: Je multikultureller eine Gesellschaft wird, desto stärker wird in ihr die Versuchung, die Selbstverpflichtung auf die eigenen Werte zu lockern. Aus der multikulturellen Gesellschaft kann also nur dann etwas Republikanisches werden, wenn es nicht nur Toleranz gegenüber fremden Kulturen gibt, sondern auch ein stabiles Selbstverständnis der Gesellschaft darüber, was den unantastbaren Bestand ihrer Werte ausmacht. >>Pluralistische Integration« Qohn Higham17) wäre in der Tat das beste Leitmotiv der multikulturellen Gesellschaft. Das setzt aber nicht nur - wie die Freunde völkerversöhnender Straßenfeste ausschließlich hervorheben- die Offenheit der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Kulturen der verschiedenen Minderheiten, sondern auch das stabile Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft darüber voraus, wo diese Offenheit ein Ende haben muß, welche Werte also - als mühsam errungene Übereinkunft - auf jeden Fall zu verteidigen sind. Aus der multikulturellen Gesellschaft kann nur dann etwas werden, wenn die Mehrheitsgesellschaft weder xenophob noch 17 John Higham, Send These to Me. Immigrants in Urban America, Baltimore/London 1984. IJ6 xenophil, sondern ihrer selbst gewiß und auch bereit ist, ihr zivilisatorisches Minimum zu verteidigen. Es ist daher nicht nur dumm, sondern unverantwortlich und gefährlich, offene Grenzen zu fordern. Denn damit greift man die demokratische Substanz dieser Gesellschaft an. Will man das Gemeinwesen nicht völkisch definieren, dann besteht es aus all denen, die da sind. Diese machen den Souverän aus. An ihnen (und nicht an den Notleidenden der Welt) liegt es, diesem Gemeinwesen funktionierende und der unwiderruflichen Realität der Migration angemessene Regeln der Ein- und Ausschließung zu geben. Die Bundesrepublik Deutschland kann und sollte den Zugang erleichtern- sie muß ihn aber regeln. Wer das Land nur öffnen will, mißachtet die demokratische Substanz, auf die sich die Mehrheitsgesellschaft im Laufe der Zeit über beträchtliche Widerstände hinweg geeinigt hat. Wer die Rechte der Migranten einseitig gegen die Mehrheitsgesellschaft in Anschlag bringt, nimmt die Erosion des gesellschaftlichen Konsenses zumindest billigend in Kauf. Der aber wird in Zukunft dringend notwendig sein. Denn der Migrationsdruck wird (wenn auch in geringerem Umfange als die vielen Horrorszenarien suggerieren) zunehmen, und er wird nur ein Teil jener großen neuen Unübersichtlichkeit sein, die die Folge des Endes der stählernen Ordnung von Jalta ist. Es wird nicht um die Verteilung von wachsenden Erträgen, sondern um den Umgang mit Krisen gehen. Nicht die Umverteilung, sondern das Teilen wird auf der Tagesordnung stehen. Um dabei bestehen zu können, braucht es nicht multikulturelle Gratisbegeisterung, sondern Offenheit und Toleranz gegenüber Zuwanderern und soziale Verantwortung gegenüber denen, die in der Zuwanderung - diesmal mit größerem Recht als zuvor- eine Zumutung sehen. Vor allem aber braucht es republikanische Standfestigkeit.