ZUM PARADIGMA KULTURELLER DIFFERENZ I 43 Wahmehmung einer Revision unterziehe. So konnte man, wenn man die Debatte der letzten zwei oder drei Jahre verfolgt, zu dem Schluss kommen, dass das ,Problem" mit den Einwanderem erst jetzt erkannt worden ist, nachdem man in den Jahrzehnten eines unbeschwerten Multikulturalismus die Augen davor verschlossen habe. Erst heute seien die ,Integrationsdefizite" und die ,Parallelgesellschaft" der Einwanderer offenbar geworden. Diese Wahmehmung ist jedoch eine Fiktion, denn weder hat es in Deutschland jemals eine generelle Politik des Multikulturalismus gegeben, noch ist die Thematisierung von Immigranten als ,Problem" etwas Neues. Schon 1973 widmete Der Spiegel den ,AusUindem" eine erste alarmistische Tite1geschichte. Der Titel lautete damals: ,Ghettos in Deutschland- eine Million Tlirken in Deutschland." Im Heft begann der Artikel mit der Oberschrift: ,Die Tlirken kommen - rette sich, wer kann".1 Yom ,Ghetto" zur ,Parallelgesellschaft" - jenseits der Wortwahl hat sich die Wahrnehmung kaum geandert. Die Kategorisierung von Migranten als Problem ilir die Gesellschaft ist in Deutschland seit langem zu einer sozialen Tatsache im Sinne Durkheims geworden, die weitgehend unhinterfragt eine Pramisse der gesellschaftlichen Wahrnehmung darstellt (vgl. Griese 2002: 34). Ich will damit weder sagen, dass es keine Probleme in Zusammenhang mit Migration gibt, noch dass Politik und Diskurse keine Veranderung erfahren haben. Eine wichtige Veranderung war zweifelsohne die Reform des Staatsangeh6rigkeitsrechts, die Anfang 2000 wirksam wurde, und die erstmals ein Element des ius soli in das deutsche Recht einbrachte. Aber die Geschichte dieser Reform zeigt wiederum die Konstante der Politik: In der Kampagne gegen die Reform, die die CDU zur Landtagswahl in Hessen 1999 startete, standen ,die Auslander" als Problem ilir Deutschland im Zentrum, es ging urn Abgrenzung, und viele Burger in Hessen nutzten die Chance, ,gegen Auslander zu unterschreiben." Was als eine Reform der Offuung gedacht war, geriet nur halbherzig, mit noch teils unabsehbaren rechtlichen Folgen. Auch im Diskurs verschieben sich die Themen. Wurde in den siebziger und achtziger Jahren etwa die oft benachteiligte Situation von Immigrantinnen v.a. unter dem Stichwort patriarchalischer Familienstrukturen abgehandelt, so wird heute in erster Linie ,der Islam" ilir problematische Geschlechterverhi:iltnisse verantwortlich gemacht. Andere Probleme sind hinzugekommen, die friiher weniger beachtet wurden, wie die schulische Situation und die geringen Bildungschancen junger ,Migranten". Heute wird die Problemdebatte v.a. von der Angst vor Islamismus und Terrorismus dominiert. Als problematisch gelten somit heute in erster Linie muslimische Migranten. Die Problematisierung von Migration ist nicht nur eine Konstante allgemeinOffentlicher und politischer Diskurse, sie charakterisiert ebenso weite Teile des wissenschaftlichen Diskurses tiber Migration in Deutschland. Dies gilt ilir verschiedene Disziplinen, wie die Padagogik, die Sozialpsychologie oder die SozioDer Spiegel, Nr. 31, 30. Juli 1973. 44 MARTIN SOKEFELD logie. Die Padagogik stellte Einwanderer als defizitare Wesen dar, denen mit spezifischen MaBnahrnen geholfen werden musste. Hamburger et al. schrieben schon 1984, dass die MaBnahrnen der Auslanderpadagogik dazu beitrugen, ,dass Situation und Status der Auslander zunehrnend jener der Behinderten, Sonderschi.iler, Obdachlosen usw. ahneln, namlich der der abgegrenzten und handhabbaren Randgruppe, die Gegenstand von Programmen wissenschaftlicher wie praktischer Artist" (Hamburger et. al. 1984: 33). Diese Perspektive gilt nicht nur fur die Erziehungswissenschaften. Auch die soziologische AusUinderforschung war stark ,problemorientiert" und nahrn Binwanderer stets als ,soziales und politisches Problem wahr" (Treibel1988: 11). In ahnlicher Weise beschaftigte sich die Sozialpsychologie v.a. mit den Sozialisations- und Identitatsproblemen von Einwanderem, besonders von Jugendlichen (vgl. Gontovos 2000). Kultur als Problem Warum sind Gastarbeiter, Auslander oder Zuwanderer dem Diskurs zufolge so inharent problematisch? Ein Erklarungsmodell begann sich Ende der 1970er Jahre durchzusetzen: Kultur. Einwanderer sind danach deshalb so problematisch, weil sie einer anderen Kultur angehoren als ,wir", weil ,ihre" Kultur so anders ist als ,unsere". In der Padagogik setzte sich die ,Differenzhypothese" als Erklarungsmodell gegen die ,Defizithypothese" durch. Kultur wird dabei in ein Assimilations- oder Integrationsmodell eingeordnet: Danach verlangte die Integration in Deutschland einerseits von Einwanderem, dass sie ihre ,Heimatkultur" wenigstens teilweise aufgeben und dafiir Elemente der ,deutschen Kultur" i.ibemehrnen. Andererseits werden dem Modell zufolge aber die Einwanderer durch ihre Herkunftskultur gerade daran gehindert, sich zu integrieren. Es kommt daher zum ,Kulturkonflikt". Die. These des Kulturkonfliktes dominierte~ weite.Bereiche des.wissenschaftlichen Diskurses uber Einwanderung, besonders in den 1980er Jahren. Inzwischen, seit Samuel Huntingtons ,Clash of Civilizations", ist sie sogar als These zur Erklarung globaler Konflikte hoffahig geworden und es scheint, dass sie, v.a. in der Politik, Anhanger gewinnt. Heute wird in der Migrationsdebatte nicht mehr so banal argumentiert wie in den siebziger Jahren, als etwa Schrader et al. in einer Studie uber die ,Zweite Generation" schrieben: ,Seine einrnal ubemommene kulturelle Rolle kann der einzelne nicht mehr abwerfen: Er ist Deutscher, Franzose, Ti.irke oder Italiener" (Schrader et al. 1976: 58). Die Argumente sind heute subtiler. Dennoch wird auch die heutige Debatte von zwei Elementen eines hOchst problematischen Kulturkonzeptes dominiert. Diese sind die Betonung von Grenzen und ein impliziter Determinismus. Die Betonung von Grenzen zeigt sich darin, dass auch der heutige Migrationsdiskurs fast durchgangig mit der Dichotomie von ,wir" und ,den anderen" arbeitet. ,Wir", das sind ,die Deutschen", und die Anderen, das 48 I MARTIN SOKEFELD vorgeworfen, dass er letztlich das Paradigma k:ultureller Differenz bestatige, da Hybriditat, etwa im Sinne der Genetik, die Vermischung von zwei zuvor getrennten Entitaten bezeichne.5 Darum geht es jedoch gerade nicht, sondem eher urn eine Umkehrung der Perspektive. Hybriditat bezeichnet dann die Vorstellung, dass Dbergange, Passagen und Zwischenraume genauso ,normal" sind wie Prozesse der Vermischung, dass es keine urspliingliche ,Reinheit" von und Trennung zwischen Kulturen gibt, und dass Kulturen - wenn man denn das Konzept im Plural uberhaupt beibehalten mochte - nicht als scharf voneinander abgegrenzt gedacht werden konnen, sondem als Gebilde, die an den Randem ,ausfransen" und ohne scharfe Grenze in einander ubergehen. Eine solche Vorstellung von Kultur erscheint fur den common sense heute ungewohnlich und schwer nachvollziehbar, hat doch die dominante politische Institution der Modeme, der Nationalstaat, seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert erfolgreich alles daran gesetzt, die gegenteilige Idee durchzusetzen und zur Normalitat zu machen. Der Nationalstaat ist auf scharfe, eindeutige Grenzen gebaut, auf die Eindeutigkeit der Grenze seines Territoriums genauso wie auf die Eindeutigkeit der Unterscheidung, wer ihm angehi:irt und wer nicht. Hybriditat und Ambivalenz der Zugehi:irigkeit hat der Nationalstaat aktiv bekampft und als unzuverlassig, d.h. nicht eindeutig zugehi:irig geltende Bevolkerungsgruppen ausgegrenzt. Damit einher geht das nationalstaatliche Bemuhen der Homogenisierung von Kultur, die keineswegs die Voraussetzung des Nationalstaats ist, sondem sein, in vielen Bereichen nur unvollkommen erreichtes, Produkt. Fur Frankreich hat etwa Eugene Weber (1976) detailliert nachgezeichnet, wie der Nationalstaat aus ,Bauem" ,Franzosen" gemacht hat - ein Prozess, der trotz massiver institutioneller Anstrengungen und DisziplinierungsmaJ3nahmen hundert Jahre dauerte. Die Unvollstandigkeit k:ultureller Homogenisierung im Nationalstaat lieJ3 sich in Deutschland plastisch an der Debatte uber die ,deutsche Leitk:ultur" erkennen, die nicht zu einem Ergebnis kam, worin diese gemeinsame, ,deutsche" Kultur denn eigentlich bestehe. Die Konzepte der modemen Nation und der Pluralitat der Kulturen haben sich parallel und in wechselseitiger Abhangigkeit entwickelt. Ein Konzept von Kultur, das Hybriditat ins Zentrurn stellt, kann nicht durch das nationalstaatliche Modell visualisiert werden, das etwa Landkarten mit verschiedenfarbigen, voneinander klar abgegrenzten Flachen zeichnet. Stattdessen musste man sich vielleicht ein Bild im Stil des Impressionismus vorstellen, in dem zwar bestimmte Farbflecken und Konturen erkennbar sind, die aber gleichzeitig an den Randem verlaufen, teils ineinander ubergehen, oder Zwischenraume frei lassen. Anstelle von Differenz wfude das Konzept Gemeinsarnkeiten und Kontinuitaten betonen und zwar weniger im Sinne gemeinsamer Eigenschaften, als im Sinne von sozialen Prozessen und einer geteilten Fahigkeit zur Interaktion und Kommunikation, 5 Vgl. etwa die Kritik von <;:aglar 1997. Fi.ir einen Uberblick i.iber die HybriditatsDebatte siehe Pieterse 2001. 50 I MARTIN SOKEFELD etwa heute andere Gruppen als die paradigmatischen Fiille des Anderen gelten als in der Vergangenheit, oder dass die Differenz mit anderen Mitteln konstruiert wird. So wird Differenz heute in erster Linie als religiose Differenz betrachtet, wahrend vor nicht allzu langer Zeit Differenz v.a. in nationalen Kategorien gedacht wurde. Waren bis vor einigen Jahren v.a. ,die Tiirken" die anderen, so sind es heute ,die Muslime". Nach wie vor werden gesellschaftliche Konflikte durch kulturelle Unterschiede erklart; allerdings werden Einwanderer in ihrem Anderssein nicht mehr, wie zu Zeiten der ,Differenzhypothese", durch den Verweis aufihre andere Kultur ,entschuldigt". In dieser Hinsicht ist das Ende der Toleranz gekommen. Anpassung, Assimilation wird gefordert. Die unhinterfragte Verkniipfung von Migration mit dem Paradigma kultureller Differenz und von Differenz mit Konflikt geht implizit von der Pramisse aus, dass erstens die Gesellschaft ohne Einwanderung kulturell homogen ware und dass zweitens eine solche homogene Gesellschaft, so es sie denn gabe, konfliktfrei ware. Beide Annahmen sind offensichtlich unhaltbar, und es ist auBerst fraglich, ob die Politik der Assimilation und Homogenisierung, falls sie denn uberhaupt erfolgreich sein konnte, tatsachlich zur Verringerung von Konflikten ftihren wtirde. Recht sicher lasst sich aber das Gegenteil dieser Vorstellung begrtinden, dass sich namlich die diskursive Betonung der Differenz, die mit Misstrauen verkntipfte Pramisse des Andersseins der Migranten, welche die unvermeidliche Rtickseite der Forderung nach Assimilation ist, in gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken der Ausgrenzung niederschlagt, und zwar von beiden Seiten. Der gesellschaftliche Deutungs- und Handlungsspielraum wird dadurch eingeschrankt. Integration, egal, ob man darunter nur ein anderes Wort ftir Anpassung versteht oder das Ziel gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe, wird erschwert und letztlich vielleicht sogar unmoglich gemacht. Islam als das Paradigma des Anderen Ich mochte diesen fatalen Zusammenhang am Beispiel des Verhaltnisses zu Muslimen illustrieren. ,Der Islam" - selbst ein diskursiv homogenisierte Konstrukt, das die tatsachliche Vielfalt muslimischer Lebensstile negiert- gilt heute als das radikal Andere der deutschen oder insgesamt ,westlichen" Kultur. Trotz aller Aufrufe zu Dialog und Verstandigung wird die Differenz zwischen islamischer und deutscher Kultur als weitgehend untiberbrtickbar betrachtet. Der Islam gilt als ,fremde" Religion. Er wird ganz uberwiegend mit Negativem in Verbindung gebracht. Die Assoziation des Islam mit Gefahr und Gewalt ist so gangig geworden, dass beispielsweise der ,Spiegel" kommentarlos einen Artikel tiber Krimi- ZUM PARADIGMA KULTURELLER DIFFERENZ J 55 von Migrationsfolgephanomenen in schwabischen Kleinstadten zu anderen Ergebnissen fi.ihren wiirde, als die iiblichen Studien tiber Berlin Kreuzberg, Duisburg Marxloh oder Hamburg Wilhelmsburg. Sie finden nur viel zu wenig statt, weil das ,Unproblematische" kaum als untersuchungswiirdig gilt. Mir geht es hier nicht darum, das Bild einer heilen Welt zu zeichnen, sondem darum, der Dberproblematisierung von Migration und ihren Folgen entgegenzuwirken. So mochte ich zum Abschluss meines Vortrags drei Vorschlage machen, wie die Sozialwissenschaften dem Paradigma kultureller Differenz und der Uberproblematisierung von Migration und ,Migranten" bzw. ihren Nachkommen entgegenwirken konnen: (1) Die Sozialwissenschaften sollten verstarkt betonen, dass Migration ein ,normales" Phanomen ist, das erst im Rahmen des Nationalstaats mit seiner Fiktion kultureller Homogenitat der Nation und seinen Bemiihungen urn AusschlieBung der anderen zum Ausnahmefall und ,Problem" wird. Das heiBt, wir miissen den methodologischen Nationalismus, mit dem wir uns die Perspektive des Nationalstaats zu Eigen machen, ablegen. Dazu gehOrt, zu betonen, dass auch eine Gesellschaft ohne Migration weder kulturell homogen noch konfliktfrei ware. (2) Wir sollten sehr bewusst und reflektiert mit den Begriffen ,Migration" und ,Migranten" u.A. umgehen. Diese Begriffe sollten auf die Menschen beschrankt bleiben, die tatsachlich gewandert sind. Im akademischen Rahmen etwa von ,Migranten der dritten Generation" zu reden, bedeutet, sich dem ausschlieBenden allgemein-gesellschaftlichen Diskurs anzuschlieBen. Die Rede von ,Menschen mit Migrationshintergrund" finde ich ebenfalls nicht besonders geeignet, weil sehr bemiiht. In der englischsprachigen Literatur ist zum Teil von post-migrants und post migration die Rede. Ich kann Ieider keine idealen begrifflichen Altemativen anbieten, aber ich denke, wir sollten uns emsthaft auf die Suche danach begeben. (3) Die Forschung sollte Migration nicht von vornherein als ein Problem betrachten, sondem auch die Normalitat von Migration untersuchen. Forschungen jenseits stadtischer Problemgebiete sollten durchgefuhrt werden. Dabei soliten Migranten und Post-Migranten auch nicht von vornherein als eigenstandige Kategorie betrachtet werden. Ob sie das sind oder nicht, das sollte eine empirische Frage sein. Es kame darauf an, etwa Interaktionsraume zu beobachten und zu untersuchen, ob es zum Beispiel nicht viel mehr Beziehungen jenseits herkommlicher Kategorien und angenommener Grenzen gibt, als gemeinhin vermutet. Wenn das Paradigma kultureller Differenz dazu fuhrt, dass Einwanderem und ihren Nachkommen die Anerkennung als ,normale" Mitglieder der Gesellschaft