Karl-Heinz Meier-Braun Deutschland, Einwanderungsland Suhrkamp 4- Der lange Weg zum »Einwanderungsland Deutschland« 4.1. Spaghetti vom Arbeitsamt Die erste Phase der Ausländerpolitik: 1952-1973 »Die Bundesrepublik Deutschland braucht Zuwanderung, denn das Boot ist nicht voll, sondern es wird immer leerer.« Solche Sätze formulieren Wissenschaftler und kritische Beobachter seit langem, jedoch ohne ein entsprechendes Echo in Politik und Medien zu finden. Jetzt schreibt dies wortwörtlich Peter Müller (CDU), Ministerpräsident des Saarlandes und Vorsitzender der Zuwanderungskommission der CDU Deutschlands. Nachdem sich die Politik - vor allem die CDU/CSU - jahrzehntelang die Legende vom »Nichtein-wanderungsland« auf die Fahnen geschrieben hatte, war zumindest im Laufe der Jahre 2000/2001 ein wahrlich revolutionärer, parteiübergreifender Wandel zu verzeichnen. Ein Rückblick auf den langen Weg zum Bekenntnis »Deutschland ist Einwanderungsland« macht diesen historischen Wendepunkt deutlich: Die erste Phase der Ausländerpolitik, in der die Ausländerbeschäftigung als vorübergehende Erscheinung gesehen und davon ausgegangen wurde, dass die sogenannten »Gastarbeiter« über kurz oder lang wieder heimkehren würden, dauerte immerhin von 1952 bis 1973. Die Anwerbung erfolgte im Interesse der Wirtschaft, die einen wachsenden Bedarf an Arbeitskräften hatte. Schon damals wurde der wichtigste Eckpfeiler der Ausländerpolitik eingerammt, der noch bis vor kurzem galt: Die Bundesrepublik ist kein Einwariderungsland! Abgesehen vom Ausländerrecht und seinen Ausführungsbestimmungen existierte in der Ausländerpolitik lange Zeit kein Konzept infrastruktureller, sozial- und bildungspoliti- 3° scher Maßnahmen. Das Ausländergesetz wurde als Fremden-und Ausländerpolizeirecht verstanden, mit einem vielfältigen Abwehrinstrumentarium einschließlich Abschiebung und Ausweisung. Die wichtigste Grundlage war und ist: Ausländerpolitik bedeutet in erster Linie Arbeitsmarktpolitik. Das heißt: Die deutschen Arbeitsmarktinteressen, wie sie die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern definieren, stehen bis zum heutigen Tage im Mittelpunkt. Erst 1970 wurde von einer Bundesregierung so etwas wie ein Konzept zur Ausländerpolitik formuliert. In diesen »Grundsätzen zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer« heißt es: »Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik ist arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch notwendig. Ihr Umfang richtet sich nach der Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft.« Am 20. Dezember 1955 unterzeichneten Vertreter der deutschen und der italienischen Regierung eine Anwerbevereinbarung, so dass die ersten ausländischen Arbeitskräfte in das Nachkriegsdeutschland kommen konnten. Wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Ausländerbeschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg schon früher in Baden-Württemberg begonnen hat, und zwar auf den Bauernhöfen. Die ersten Versuche, oberitalienische Landarbeiter auf die Bauernhöfe zu locken, fanden bereits 1952 in Südbaden statt. Das wenn man so will allererste »Green Card-Projekt« in Deutschland scheiterte aber damals - zu einer Zeit, als die Arbeitsämter 1,65 Millionen deutsche Arbeitslose und eine Arbeitslosenquote von 9,5 Prozent feststellen mussten. Erich Straub hat diese Zeit miterlebt. Er arbeitete damals auf einem Bauernhof in Bermaringen auf der Schwäbischen Alb. Später wurde er Ortsvorsteher und Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Ulm. »Wir waren damals in der Zeit der sogenannten Landflucht«, erinnert er sich. »Wir hatten in der Landwirtschaft keine Arbeitskräfte mehr. Die eigenen 3i Söhne und Töchter sind immer mehr abgewandert in die Stadt. Haben Arbeit gesucht, wo man mehr verdienen kann, und die Betriebe waren noch sehr arbeitsintensiv ausgerichtet - wir brauchten also Leute für die Handarbeit. Und da hat man uns die Italiener empfohlen.« Die Behörden waren von diesen ersten Versuchen des Bauernverbandes Württemberg-Baden, wie er noch hieß, Saisonarbeiter für ein halbes Jahr wie in der Schweiz ins Land zu locken, gar nicht begeistert. Landesarbeitsamt, Arbeitsministerium, aber auch die Gewerkschaften hatten Bedenken. Jährlich meldeten die Bauernverbände in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre einen Fehlbedarf von jeweils 25 000 bis über zu 100000 Arbeitskräften an, obwohl immer noch im Durchschnitt dieser Jahre über eine Million Arbeitslose registriert waren. Freiwillig war damals kaum ein Arbeitsloser bereit, zu den kargen Lohnbedingungen in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ungeregelte Arbeitszeiten, Arbeit bei Wind und Wetter und oft an Sonn- und Feiertagen schreckten die meisten ab. Obwohl die Bauernverbände immer wieder auf ihre Probleme aufmerksam machten und ein staatliches Anwerbeabkommen forderten, blieben die Behörden bei ihrer Ablehnung. Karl Lutterbeck vom Bauernverband Württemberg-Baden machte sich deshalb auf eigene Faust auf nach Oberitalien, um die ersten Landarbeiter zu holen. Die Behörden drückten bei diesen zaghaften Anwerbeversuchen ohne staatliche Vereinbarung ein Auge zu. Schließlich waren die allerersten »Gastarbeiter« nichts anderes als »Illegale«, die von den Behörden toleriert wurden. Der frühere Sozialreferent vom Bauernverband blickt zurück: »Wir hatten ja keine Ahnung, wie man so etwas macht, wie man Arbeitskräfte in einem Land anwirbt, dessen Sprache man nicht beherrschte.« Der Vorstand des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes und Lutterbeck fuhren nach Mailand. Von dort aus führte die Reise bis nach Udine, an der jugoslawischen Grenze. Lut- 32 terbeck schildert die ersten Anwerbeversuche so: »In jeder Ortschaft, die irgendwie schön aussah, wo die Männer, wie man das von der damaligen Zeit kannte, an der Straße hockten und keine Arbeit hatten, da gingen wir in die Kneipen. Ich hatte mir Listen vorbereitet mit Adressen. Wir hatten uns Geld eingesteckt. Die bekommen ein Handgeld. Und ein paar Wochen später kommen wir dann wieder und sprechen die Leute an und sagen, da und da ist Abfahrt. Dann könnt ihr nach Deutschland kommen. Als wir 14 Tage durch die Lande gefahren waren, hatten wir zwar Unterschriften, aber wir waren nicht klüger als vorher, ob wir da jetzt überhaupt was zusammenbringen würden. Wir hatten einige Unterschriften, hatten auch etwas Geld ausgegeben, als Handgeld, aber es war primitiv.« Erst bei der dritten Fahrt, bei der man den italienischen Vizekonsul aus Freiburg mitnahm, gelang es, die Sache perfekt zu machen. So kamen die ausgesuchten 300 Landarbeiter 1955 nach Stuttgart, wo sie von ihren Bauern am Bahnhof in Empfang genommen wurden. Erich Straub denkt gern zurück an diese Zeit und an die Arbeit mit einem der ersten »Gastarbeiter«, die nach dem Krieg noch vor dem ersten Anwerbeabkommen mit Italien nach Deutschland gekommen sind: »Ich habe sehr schnell gelernt, dass >sempre avanti, sempre avanti< mehr arbeiten heißt, und da habe ich mir auch einen Spaß gemacht. Wir hatten damals den alten Lanz-Bulldog, und da hatte er einen Mordsspaß, wenn er mit mir auf das Feld fuhr und mit dem Lanz-Bulldog rumfahren konnte. Da hat er immer gerufen: >forte Lanz, forte Lanz<, das war also ein starker Lanz. Das war für ihn das Höchste. Wir sind dann auf das Feld gefahren zum Grünfutter-Holen. Das hat man damals noch von Hand aufgeladen. Wir sind zum Rübenhacken gefahren. Also, ich muss sagen, wir haben mit den Leuten sehr gut zusammengearbeitet.« Probleme traten schon bald auf. Da war das Heimweh, das den einen oder anderen Oberitaliener wieder nach Hause 33 trieb. Schwierigkeiten bereitete damals auch das Essen. Most und Backsteinkäse waren eine ungewohnte Kost für die Italiener. Battista Mutti betreute damals als junger Priester seine Landsleute. Als er einen Landwirt und seinen Italiener auf dem Hof besuchte, klagte ihm dieser sein Leid: »Es ist kein Witz, sondern eine Tatsache. Ich war einmal mit einem Herrn Weiss vom Landesarbeitsamt in der Nähe von Künzelsau, und da haben wir mit einem Italiener wegen Schwierigkeiten mit dem Essen gesprochen. Und da hat der Herr Weiss vom Landesarbeitsamt den Bauern gefragt: entschuldigen Sie, kennen Sie Spaghetti nicht?< >Spaghetti, was? Nein<. >Ja, gehen Sie denn nicht auf den Markt nach Schwäbisch Hall? Ja haben Sie da so etwas nicht gesehen?< >Nein, nirgends.< Und dann war es so, wie wenn wir von ihm eine besondere Erleuchtung bekommen hätten. Und dann fragte er den Herrn Weiss: entschuldigen Sie, schicken Sie mir zwei Pfund Samen. Ich werde die hier einsäen. Und wenn die Leute ernten, werden wir Ihnen Spaghetti anbieten.<« Don Mutti verteilte bei seinen Besuchen damals italienische Rezepte. Das Landesarbeitsamt in Stuttgart veröffentlichte eigens eine Pressemitteilung mit folgendem Text: »Die italienischen Arbeitskräfte bereiten ihre Speisen gerne selbst zu. Soweit aber Italiener vom Arbeitgeber verpflegt werden, sind folgende Ratschläge des Italienischen Konsulats in Stuttgart für die Zubereitung von Speisen für italienische Arbeitskräfte zu empfehlen: Der Italiener liebt im allgemeinen keine dünnen und flüssigen Soßen, insbesondere keine Mehlsoßen. Zu Teigwaren, die nicht zu weich gekocht werden sollten, gibt man Tomatensoße.« Der Bauernverband und Karl Lutterbeck holten ein Jahr später nochmals Arbeitskräfte auf die Höfe. Mit einem Sonderzug transportierten sie 300 Jugoslawen - Kroaten -, die nach Italien geflohen waren und in Lagern lebten, nach Stuttgart. Niemand hätte sich damals träumen lassen, dass aus den paar Hundert Landarbeitern einmal über sieben Millionen 34 Ausländer in der Bundesrepublik werden sollten. Heute ziehen diejenigen, die damals an der ersten Ausländerbeschäftigung beteiligt waren, alles in allem, eine positive Bilanz, wie Erich Straub: »Wir hatten mit den Italienern ein sehr gutes Verhältnis, ein kameradschaftliches Verhältnis. Die haben bei uns in der Familie gewohnt. Und das finde ich heute noch einen großen Vorteil. Es ist eigentlich nur zu empfehlen, dass der Austausch mit den anderen Ländern weitergeführt wird. Insgesamt, wenn man dieSache politisch betrachtet, muss ich natürlich auch sagen, dass mindestens so viele Vorteile da sind wie Nachteile. Schon allein das war ja nach der Nachkriegszeit in den Nachkriegsjahren kaum denkbar, dass man mit anderen Ländern wieder so schnell in Kontakt kommt. Wie man die Sache jetzt in den Griff bekommen soll, da habe ich vielleicht in die Seite der Industrie zu wenig Einblick. Ich bin der Meinung, dass die Industrie zu schnell an Produktion gewachsen ist und dadurch natürlich viele Arbeitskräfte aus dem Ausland geholt hat und jetzt mit den Problemen irgendwo nicht mehr richtig fertig wird. Man kann ja die Menschen nicht einfach wieder wegschicken. Das geht ja auch nicht!« Sicher wäre das sogenannte Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland und der Aufbau der Sozialsysteme nicht ohne die »Gastarbeiter« erreicht worden. Viele Deutsche stiegen aufgrund von deren Beschäftigung in bessere berufliche Positionen auf. So schafften nach den Berechnungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann zwischen i960 und 1970 rund 2,3 Millionen Deutsche den Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenpositionen, vor allem wegen der Ausländerbeschäftigung. Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre 1976 ermöglichten die ausländischen Arbeitnehmer unter Wahrung eines starken Wirtschaftswachstums eine starke Verringerung der Arbeitszeit der Deutschen. Die ausländischen Arbeitnehmer zahlten Steuern, ohne in entsprechendem Umfang öffentliche Leistungen 35 in Anspruch zu nehmen. Das gilt beispielsweise für die Beiträge zur Rentenversicherung. Bereits 15)71 hätten die Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung ansonsten erhöht werden müssen. Auch das »Rentenloch«, über das bereits in den 70er Jahren lamentiert wurde, wäre ohne diese Beiträge nicht zu stopfen gewesen. Den von den ausländischen Arbeitnehmern in die Rentenversicherung eingezahlten Beträgen standen nur rund ein Zehntel an Leistungen gegenüber. Die Rentenversicherung wurde lange Zeit von den ausländischen Arbeitnehmern weitgehend geradezu subventioniert. Trotzdem meldeten sich schon bald kritische Stimmen zu Wort, die vor dem »Gastarbeiterboom« warnten. In der Wirtschaftskrise der Jahre 1966/6 j sorgte Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), der als Wirtschaftsminister die ersten Anwerbeversuche mit italienischen Arbeitskräften unternommen hatte, für Schlagzeilen mit dem Ausspruch, wenn jeder Deutsche eine Stunde in der Woche länger arbeite, brauche man die ausländischen Arbeitskräfte nicht. Ausländer mussten schon bald als Sündenböcke herhalten, eine Funktion, die sich des Öfteren in schlechten wirtschaftlichen Zeiten und in Wahlkämpfen wiederholen sollte. Bereits in den 60er Jahren erreichten Parteien mit ausländerfeindlichen Parolen Wahlerfolge. So gelang es zwischen 1966 bis 1968 der rechtsradikalen NPD in sieben Landtage einzuziehen. Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte lief in den 60er Jahren weiter auf Hochtouren. Mit Spanien und Griechenland wurden i960 Anwerbeabkommen abgeschlossen, 1961 mit der Türkei, 1964 mit Portugal, 1968 mit Jugoslawien. 1965 traf die Bundesregierung entsprechende Vereinbarungen mit Tunesien und Marokko, was weitgehend unbekannt geblieben ist. Heute leben rund 80000 Marokkaner und 24 000 Tunesier in Deutschland. 1968 machte eine Tageszeitung mit der Schlagzeile auf: »Türken am meisten gefragt«. Der Journalist hielt fest: »Besonders begehrt sind von der deutschen Industrie wieder die Gastarbeiter, Türken werden 36 nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung am meisten angefordert. Deshalb sind sie auch am schwersten zu haben. Zehn Wochen müssen die Firmen allein auf Hilfsarbeiter warten. Türkinnen sind dagegen schon eher zu bekommen, vor allem die Analphabetinnen. Insgesamt stehen die Gastarbeiter in diesem Spätsommer hoch im Kurs. Weitgehend >ausverkauft< sind auch die Italiener, bis auf eine kleine Zahl von Handwerkern wie Schneider, Maler und Elektro-mechaniker oder verwandte Berufe.« 1964 kam bereits der millionste »Gastarbeiter« nach Deutschland. »Großer Bahnhof für einen kleinen Mann in Köln-Deutz«, sprach der Rundfunkreporter in sein Mikrofon, als der Zug am 10. September 1964 eintraf. Presse, Funk und Fernsehen warteten auf Armando Sä Rodrigues, der durch Losentscheid zum millionsten »Gastarbeiter« erklärt worden war. »Ohne die Mitarbeit der Gastarbeiter wäre die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht möglich gewesen«, lobte der Vertreter der Arbeitgeber die ausländischen Arbeitskräfte, überreichte dem 38-jährigen Portugiesen ein Diplom und schenkte ihm ein Moped. Immer wieder taucht dieses Bild in den Sendungen über die Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik auf. Uber sein weiteres Schicksal erfährt man allerdings wenig. Nun, der Zimmermann Armando Rodrigues fand gleich Arbeit in einer Holzfabrik in Süddeutschland, es ging ihm gut. In seinen Briefen, die er mit Geldüberweisungen nach Hause schickte, schwärmt der Portugiese von Deutschland, schreibt, wie beliebt er im Gastland bei seinem Chef sei. Bei einem Arbeitsunfall zog er sich aber dann eine Bauchverletzung zu. Ein deutscher Arzt gab ihm den Rat, zunächst einmal nach Portugal zu gehen, wo ein Magentumor festgestellt wurde. Der millionste »Gastarbeiter« gab seine Anstellung in Deutschland auf und blieb in Portugal. Niemand habe ihm gesagt - so berichtete seine Familie einer deutschen Besuchergruppe -, dass er Anspruch auf Krankengeld hätte. So gab seine Familie 37 sämtliche Ersparnisse, die er während der Jahre in Deutschland beiseite gelegt hatte, für Medikamente und ärztliche Behandlung aus. Schließlich wurde das Geld knapp, und die Familie ließ sich die Rentenansprüche auszahlen. 1981 starb Armando Rodrigues. Von seinem Gastarbeitertraum blieb nichts anderes übrig als ein kleines Häuschen für die Tochter in seiner Heimat Portugal, in dem nordportugiesischen Dorf Vale de Madeiros. Auch andere »Gastarbeiter-Jubilare« erhielten Geschenke, wie 1970 der 31-jährige Zvonimir Kanjir aus Kroatien in Stuttgart. Schließlich war er der 5oooooste ausländische Arbeitnehmer, der ins »Ländle«, nach Baden-Württemberg, kam. Zum Begrüßungskomitee gehörten der DGB-Landesvorsitzende, ein Repräsentant der Firma Daimler-Benz, die den Jugoslawen als Arbeitskraft brauchte, sowie der Präsident des Landesarbeitsamtes und sein Pressereferent Hans-Jörg Eckhardt, der sich noch gut an jenen 5. August im Jahre 1970 erinnert: »Alles was schreiben, filmen und Töne aufnehmen konnte, war da. Der Sonderzug lief ein - das war damals tatsächlich noch so, dass jede Woche verschiedene Sonderzüge mit Gastarbeitern aus Jugoslawien, aus der Türkei und aus Spanien kamen -, und hier nun also die Erwartung, wie der 500 oooste nun aussehen wird. Und Türe auf - und dann hat man ihn entsprechend präsentiert. Die Kameras liefen, und dann wurde ein Radio überreicht.« Eckhardt vom Landesarbeitsamt denkt zurück: »Es war für Baden-Württemberg lebensnotwendig aus Sicht der Wirtschaft, dass Gastarbeiter gekommen sind. Ich war selbst in den Jahren davor einmal bei unserer Verbindungsstelle in Griechenland, habe selbst Gastarbeiter für Baden-Württemberg mit angeworben, und damals kamen Fernschreiben unserer deutschen Firmen - auch aus dem >Ländle< -, in denen es dann ganz einfach hieß: >Bitte sofort 5 Stück Hilfsarbeitern« Die Griechen kamen übrigens mit einer »Grünen Karte« - 38 der »Prasini Karta« -, einem Ausweis der griechischen Arbeitsverwaltung, der ihnen bescheinigte, dass ihrer Arbeitsaufnahme in Deutschland nichts im Wege stand. Ohne eine solche Karte durften die deutschen Stellen die Anwerbung gar nicht aufnehmen. Für die Griechen öffnete das Dokument das Tor zum »gelobten Land Deutschland«. Die griechischen Gastarbeiter hüteten ihre »Green Card« deshalb wie ihren Augapfel. Die Karte war wirklich grün - im Gegensatz zur »Green Card«, die 40 Jahre später für ausländische Computerspezialisten eingeführt wurde. »Sie werden in Deutschland als gute Arbeiter und europäische Mitbürger willkommen sein und dort zum eigenen Nutzen und zur Hilfe für die deutsche Wirtschaft tätig werden.« So stand es in einem Merkblatt der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung für die ersten italienischen Arbeitskräfte, die gemäß dem Anwerbeabkommen mit Italien aus dem Jahre 1955 ins Land geholt worden waren. Nach dieser Vereinbarung sollte die Arbeitserlaubnis für höchstens ein Jahr erteilt werden, was sich jedoch schon sehr bald als unpraktisch herausstellte. Auf jeden Fall dachte die staatliche Anwerbepolitik in der Anfangsphase an eine Art Rotationsprinzip, in erster Linie also an ausländische Saisonarbeitskräfte nach dem »Schweizer Modell«, also an »Gastarbeiter« - eine Wortschöpfung, die natürlich falsch war, da man Gäste bekanntlich nicht arbeiten lässt und diese nach einiger Zeit wieder nach Hause gehen. Das aber traf für unsere »Gastarbeiter« nicht zu. Der Schriftsteller Max Frisch machte deshalb schon bald (1965) auf diesen »Denkfehler« der staatlichen Anwerbepolitik aufmerksam und brachte zu Papier, was - wenn auch verkürzt - zum geflügelten Wort werden sollte: »Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich.« Der Gedanke von Frisch, der in zahllosen Reden zum Ausländerthema in Deutschland bis zum 39 heutigen Tag immer wieder auftaucht, stammt aber eigentlich von Ernst Schnydrick vom Deutschen Caritasverband, der bereits 1961 sagte: »Wir wollten Arbeitskräfte importieren -und es kamen Menschen.« Heutzutage leben über sieben Millionen Ausländer in Deutschland, von denen die Mehrzahl als »Gastarbeiter« ins Land geholt wurde oder hier geboren und aufgewachsen ist. Mit 1 999 000 Personen stellen die Türken nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Eine solche Entwicklung hätte sich wohl kaum jemand träumen lassen, als am 30. Oktober 1961 die »Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Türkei zur Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland« unterzeichnet wurde. Diese deutsch-türkische Regierungsvereinbarung trat rückwirkend zum 1. September 1961 in Kraft. Bereits seit dem Juli des gleichen Jahres bestand in Istanbul eine deutsche Verbindungsstelle, die sich mit der Vermittlung geeigneter türkischer Arbeitskräfte nach Deutschland befasste. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei kam vor allem auch deshalb zustande, weil die Deutsche Bundesbahn einen sehr hohen Arbeitskräftebedarf für ihren Reinigungsdienst angemeldet hatte. Die Vereinbarung mit der Türkei war auch insofern interessant, als in Ziffer 9 eindeutig festgelegt wurde, dass die Aufenthaltserlaubnis für türkische Arbeitskräfte nicht über zwei Jahre hinaus erteilt werden sollte. Offensichtlich sollten die türkischen Arbeiter ebenfalls, wie ursprünglich die Italiener, nach dem »Rotationsprinzip« schon bald wieder gegen neue ausgetauscht werden. Erst durch einen Notenwechsel aus dem Jahre 1964 wurde die Regelung dann gestrichen. In der Vereinbarung aus dem Jahre 1961 hatte sich die Türkei verpflichtet, in der Verbindungsstelle im Istanbuler Stadtteil Tophane neben den üblichen Büromöbeln auch die für eine 40 ärztliche Untersuchung der Bewerber geeigneten Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Türken mussten sich in einem lokalen Arbeitsamt melden, wo sie voruntersucht wurden. Bei der Anwerbekommission in der »Lüleciler Cad. 24« arbeitete damals die Türkin Sim San als Dolmetscherin. »Die Auswahl für Deutschland«, erzählt sie, »erfolgte 10:1, d.h., wenn deutsche Arbeitgeber zehn Arbeitskräfte brauchten, suchte man 100 Bewerber, die zur Anwerbekommission in Istanbul bestellt wurden.« Zurückblickend sagt Sim San: »Es war für mich sehr traurig, denn die wussten alle, dass ich Türkin bin... Die Männer standen vor mir mit feuchten Augen und haben mich gebeten, die Fragen noch mal zu stellen, weil sie das nicht verstanden haben.« Inzwischen haben sich die Türken in Deutschland längst auf einen dauerhaften Aufenthalt eingerichtet. Allein unter demographischen Aspekten sind die aus der Türkei stammenden Mitbürger wichtig für die deutsche Wirtschaft, die Renten- und Sozialsysteme, betonte jetzt Rita Süssmuth, die Vorsitzende der Zuwanderungskommission der Bundesregierung. »Aber gerade bei uns fehlt es an Vertrautheit mit türkischer Kultur, an Kenntnissen des Koran und der Geschichte dieses Landes«, fügte die CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundestagspräsidentin anlässlich des 40. Jahrestages des Anwerbeabkommens für türkische Gastarbeiter im Herbst 2001 hinzu. Tatsache sei, so Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Grußwort zu dem Jubiläum, dass wir heute »von der >dritten Generation<« türkischer Familien in Deutschland sprechen. Rund 5 5 000 türkische Unternehmen in Deutschland »schaffen Arbeits- und Ausbildungsplätze und dynamisieren die deutsche Wirtschaft. Im Jahr 1999 erwirtschafteten sie mit 300000 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von etwa 50 Milliarden Mark«. Schröder weiter: »Die türkische Bevölkerung in Deutschland hat nicht nur in der Vergangenheit erheblich zum Erfolg der deutschen Wirtschaft beigetragen, sie hilft auch heute, 41 diesen Wohlstand als Steuer- und Beitragszahler, Verbraucher, Investor und Unternehmer zu sichern. Der wirtschaftliche Faktor ist aber nur ein Aspekt. Die türkische Bevölkerung bringt ihre Kultur in unsere Gesellschaft ein, bereichert unser Zusammenleben in Deutschland durch ihre Musik, Literatur, Kunst, Gastronomie und vielfältige zwischenmenschliche Kontakte und Begegnungen.« 4.2. Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung Die zweite Phase der Ausländerpolitik: 1973 bis 1979 Die zweite Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1973 bis 1979 und stand unter dem Motto »Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung«. Die Auseinandersetzung über die Vor-und Nachteile der Ausländerbeschäftigung setzte Anfang der 70er Jahre vor allem deshalb ein, weil immer mehr »Gastarbeiter« ihre Familien nachholten und erkennbar wurde, dass die Ausländerbeschäftigung kein vorübergehendes Phänomen sein konnte. Die Diskussion über Kosten und Nutzen der Arbeitsmigranten sowie die Furcht vor sozialen Konflikten schlug sich im Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte nieder, der am 23.November 1973 verhängt wurde. Gleichzeitig wurde erstmals eine Eingliederungspolitik für die ausländischen Familien angekündigt, die langfristig in der Bundesrepublik bleiben wollten. Der Anwerbestopp forderte allerdings den Familiennachzug geradezu heraus und führte dazu, dass diejenigen, die schon da waren, auf Dauer blieben. Die »Gastarbeiter« wussten jetzt, dass es keine Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland mehr gab. Insgesamt stieg die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung von rund 686000 im Jahre i960 auf 4,4 Millionen im Jahre 1980 an. Innerhalb von 20 Jahren hatte sich damit die Ausländerzahl fast versiebenfacht. 42 1973 machte Baden-Württembergs Ministerpräsident Fil-binger (CDU) von sich Reden, als er seine Idee »Rotationsprinzip« in die Debatte brachte. Nach einigen Jahren sollten die Arbeitnehmer gegen neue ausgetauscht werden. Diese Idee, die von der Opposition und Gewerkschaften heftig kritisiert wurde, erläuterte Filbinger so: »... das beste System mit den Gastarbeitern besteht darin - und zwar in beiderseitigem Interesse -, dass nach einiger Zeit, vielleicht nach drei Jahren, die Gastarbeiter wieder nach Hause zurückkehren zu ihren Familien, sofern sie die Familie dabei haben, diese mit nach Hause nehmen und dass die dann ersetzt werden durch neue und junge Gastarbeiter, die dann zu uns kommen.« Dieses »Rotationsprinzip« ließ sich aber schon deshalb nicht verwirklichen, weil die Wirtschaft sich dagegen aussprach. Sie war daran interessiert, einmal eingearbeitete ausländische Arbeitskräfte auch längerfristig zu behalten. Sogar ökologische Argumente benutzte 1973 Berta Huber, Regierungsdirektorin im bayerischen Staatsministerium, um vor den - wie sie meinte - erkennbaren Folgen des »Ausländerzustroms« zu warnen: »Mehr Ausländer bedeutet nicht nur mehr Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser usw., sondern z. B. auch mehr Kraftfahrzeuge, Luftverschmutzung, Lärm, Autoschlangen, Verkehrsflächenbedarf, mehr Müll, mehr Abwasser usw. Der Ausländerzuzug bewirkt überdies zusätzliche Ballungseffekte in den Beschäftigungsschwerpunkten, da die Sogwirkung dort am stärksten ist. Die seuchenhygienische Situation verschlechtert sich. Auch psychische Reibungseffekte sind eine logische Folge der Verdichtung, die in extremen Fällen durchaus Krankheitswert annehmen können.« Im Juni 1973 lag dem Bundeskabinett eine grundsätzliche Ausarbeitung des Bundesarbeitsministeriums zur Ausländerpolitik vor. Die Probleme, die aus der Ausländerbeschäftigung entstanden waren, wurden jetzt überdeutlich angesprochen. Mancherorts seien bedrohliche Engpässe entstanden - 43 so hieß es in dieser Vorlage -, die zu gesellschaftspolitisch bedenklichen Missständen geführt hätten. Bei einer weiterhin ungesteuerten Entwicklung der Ausländerbeschäftigung könnten soziale Konflikte nicht mehr ausgeschlossen werden. Es müsse eine Politik der sozialverantwortlichen Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung eingeführt werden. Das Kabinettspapier enthält auch Vorschläge zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den Herkunftsländern im Rahmen der Entwicklungshilfe. Solche Forderungen, Maschinen zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt, sollten im Laufe der Jahre in der Ausländerpolitik des Öfteren wiederholt werden, sind aber bis zum heutigen Tage praktisch unerfüllt geblieben. 2002 begründeten Vertreter der Union ihre Ablehnung zum Einwanderungsgesetz der Bundesregierung mit diesem Argument. Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), der vor der endgültigen Abstimmung im Bundestag gesagt hatte, er wolle für das Gesetz stimmen, begründete seine Meinungsänderung und die Ablehnung des Gesetzes schließlich mit der Forderung, man solle lieber die Arbeitsplätze zu den Menschen bringen und nicht, wie seiner Meinung nach im Gesetz vorgesehen, die Menschen zu den Arbeitsplätzen. Um welche Herausforderung es geht, wenn man wirklich die Arbeitsplätze zu den Menschen bringen will, macht eine Zahl aus dem Jahre 1992 deutlich: Bei der gegenwärtigen Bevölkerungszunahme müssten die unterentwickelten Länder innerhalb von 20 Jahren mehr neue Arbeitsplätze schaffen, als es in der ganzen industrialisierten "Welt gibt. Hinzu kommt die Aufgabe, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die in vielen Entwicklungsländern bei 30 bis 50 Prozent liegt. Der Deutsche Caritasverband war es, der 1975 zum ersten Mal zuverlässige Daten über die schulische und gesellschaftliche Problemlage der zweiten Ausländergeneration, die bereits in Deutschland aufwuchs, veröffentlichte. Erschreckende Erkenntnisse über den schulischen Misserfolg, über 44 schlechte Berufschancen, über eine »Generation ohne Perspektiven« lagen auf dem Tisch. Verstärkte Integrationsmaßnahmen vor allem für diese Kinder und Jugendlichen wurden schon damals angemahnt. Im Jahre 1975 verringerte die Bundesregierung die Kindergeldsätze für ausländische Kinder, die im Heimatland geblieben sind. Die Kindergeldsätze orientieren sich an den Lebensunterhaltskosten in den Herkunftsländern und sind verschwindend niedrig. Zum 1. Januar 2002 wurden sie in Euro umgerechnet und betragen für das erste Kind 5,11 Euro und für das zweite Kind 12,78 Euro. Bereits in den 70er Jahren holten deshalb viele Eltern ihre Kinder nach Deutschland; die Zahl stieg und wurde nicht, wie angestrebt, verringert. Die später im Rahmen der Steuerreform vorgenommene Streichung der Kinder- und Ausbildungsfreibeträge für im Ausland lebende Kinder ausländischer Arbeitnehmer hatte dieselbe Auswirkung. Viele ausländerpolitische Maßnahmen erreichten so im Laufe der Jahre genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt worden war. Die sogenannte Verfestigung des Aufenthalts und die Entwicklung zum Einwanderungsland wurde durch diese Maßnahmen geradezu vorangetrieben. Selbst Warnungen vor »Einwanderung und Terrorismus« sind nicht neu. So befürchtete bereits 1974 der Wehrexperte der CSU, der Bundestagsabgeordnete Franz Handlos, dass die jugoslawischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik bei einer ernsthaften Krise in ihrer Heimat zu einem Sicherheitsrisiko für die Verteidigung der Bundesrepublik werden könnten. Bekanntlich ist Jugoslawien in den schlimmsten Bürgerkriegen, die man sich nur denken kann, auseinander gebrochen. Mord und Totschlag wurden aber nicht - wie an die Wand gemalt - bei uns ausgetragen, obwohl über eine Million Bürger aus dem früheren Jugoslawien in Deutschland leben. Kommissionen zur Ausländerpolitik wurden im Laufe der 45 Jahre immer wieder gebildet, so 1976 die Bund-Länder-Kommission zur Ausländerbeschäftigung. Nach den Vorschlägen dieser Kommission sollte die Rückkehrbereitschaft der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien verstärkt werden. Zwangsmaßnahmen wurden dabei abgelehnt. Außerdem sprach sich diese Kommission - wie so viele andere, die ihr folgen sollten - für verstärkte Integrationsmaßnahmen im Bereich Aufenthalts- und Arbeitsrecht, bei der Wohnsituation und vor allem bei den ausländischen Jugendlichen aus. 4.3. Integration im Mittelpunkt Die dritte Phase der Ausländerpolitik: 1979 bis 1980 In einer dritten kurzen Phase, von 1979 bis 1980, standen Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländerpolitik. So sorgte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) für Erstaunen, als er sagte: »Wir sind Einwanderungsland.« 1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD), ein Memorandum vor. Kühn kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt gewesen sei. Er forderte die Anerkennung der »faktischen Einwanderung« und beispielsweise ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon auf die Geburtenentwicklung und die Auswirkung auf den Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine »Gastarbeiter« mehr, sondern Einwanderer. Der erste Ausländerbeauftragte stellte eine Forderung auf, die bis heute unerfüllt geblieben ist: Religionsunterricht für muslimische Kinder im deutschen Regelunterricht. Wie später die Vorsitzende der Zuwanderungskommission der Bundesregierung, Rita Süssmuth (CDU), in ihrem Be- 46 rieht im Jahre 2001, forderte Kühn schon seinerzeit einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel. Kühn machte deutlich, dass die Öffentlichkeit sachlich informiert und die »gesellschaftspolitische Notwendigkeit einer neuen Weichenstellung« verdeutlicht werden müsste. Auch er rief schon die Medien auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Ahnlich wie Rita Süssmuth sagte er, »dass das, was wir heute nicht für Lehrer ausgeben, um diese jungen Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren, wir morgen für Polizisten ausgeben müssen. Mit diesem Bild will ich die Gefahr verdeutlichen: was wir nicht in Schulen hineinstecken, müssen wir später in Strafvollzugsanstalten stecken.« Kühn verlangte ein »Optionsrecht der in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen auf Einbürgerung« sowie eine Reform des Ausländerrechts. Sein Vorschlag, Kinder und Jugendliche der sogenannten zweiten Ausländergeneration auf eigenen Wunsch - »per Postkarte« wie er es formulierte - einzubürgern, stieß auf Kritik vor allem bei der oppositionellen CDU/CSU. Für die CSU bezeichnete der Bundestagsabgeordnete Michael Glos die Aussage Kuhns, wonach die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden sei, als »verantwortungsloses Gerede«. Heinz Kühn hatte geschrieben: »... muss die künftige Politik gegenüber den heute in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien davon ausgehen, dass hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die Mehrzahl der Betroffenen nicht mehr >Gastarbeiter<, sondern Einwanderer sind, für die eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer aus den verschiedensten Gründen nicht mehr in Betracht kommt.« Die SPD/FDP-Bundesregierung dagegen meinte in ihrem Kabinettsbeschluss nach dem Kühn-Bericht: »Ob der Aufenthalt in der Bundesrepublik und die Integration in unser gesellschaftliches Leben im Einzelfall in die Einwanderung münden, muss der Ausländer selbst entscheiden.« Über 20 Jahre sollte es dauern, bis Ein- 47 Wanderung nicht nur als Einzelfall und Ausnahme verstanden, sondern als Realität anerkannt wurde. Wie der Kühn-Bericht verlangte 1979 auch ein Forschungsverbund beim Bundesminister für Forschung und Technologie ein »radikales Umdenken in der bisherigen Politik der Ausländerbeschäftigung«. Die Wissenschaftler stellten fest: »Die Alternative heißt, entweder das Risiko einer unkontrollierten sozialen Entwicklung mit erheblichem Konfliktpotential einzugehen oder den faktischen Status der Bundesrepublik als Einwanderungsland auch rechts- und sozialpolitisch mit allen Konsequenzen nachzuvollziehen.« Wiederum brauchte es zwanzig Jahre, bis sich Wissenschaftler, die sich im »Rat für Migration« zusammengeschlossen hatten, mit ähnlichen Forderungen Gehör verschaffen konnten. 1980 blieb die damalige SPD/FDP-Bundesregierung mit ihren ausländerpolitischen Beschlüssen weit hinter den Forderungen ihres Ausländerbeauftragten zurück und lehnte dessen Vorschlag für ein Ausländerwahlrecht bzw. Einbürgerungserleichterungen für ausländische Jugendliche ab. Auch in den Bundesländern wie Baden-Württemberg drehte sich der Wind sehr schnell. Sozialminister Dietmar Schlee (CDU) wies auf eine steigende Ausländerfeindlichkeit hin. Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung drohe von ausländerfreundlich in ausländerfeindlich umzuschlagen. »Der unaufhörliche Strom von Gastarbeitern, Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen habe das Fass zum Uberlaufen gebracht«, so der Minister weiter: »Einer Springflut gleich sind Flüchtlinge in den letzten Monaten in unser Land gedrängt. Die deutsche Bevölkerung sah sich plötzlich einer Schwemme von Menschen aus verschiedenen europäischen, asiatischen und afrikanischen Ländern ausgesetzt. Dieser Strom der Zufluchtsuchenden hat sich in die abgelegensten Dörfer ausgebreitet, und in der Großstadt beherrschen die Ausländer das Straßenbild.« Die Diskussion verlagerte sich nun eindeutig 48 vom Thema »Gastarbeiterfamilien« auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik. »Mit einem Ausländeranteil von 4,65 Millionen ist die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublik erreicht, in Ballungsräumen sogar überschritten«, meinte die baden-württembergische Landesregierung. Die Rückkehrbereitschaft sollte deshalb gestärkt und der Familiennachzug eingeschränkt werden. Immer wieder forderte die CDU-Landesregierung, das Nachzugsalter auf sechs Jahre zu senken - ein Dauerbrenner in der Ausländerpolitik bis zum heutigen Tage. Dabei hatte die Realität die Notwendigkeit für eine solche Maßnahme schon damals überholt. So stellte das Sozialministerium in Stuttgart bald selbst fest, dass sich »eine Komplettierung der türkischen Kleinfamilien in Baden-Württemberg« vollzogen habe und dass das Nachzugpoten-tial für Ausländerkinder damit praktisch erschöpft sei. 4.4. Wende in der Ausländerpolitik Die vierte Phase der Ausländerpolitik: 1981 bis 1990 Die vierte Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1981 bis 1990 und lässt sich unter das Motto »Wende in der Ausländerpolitik« stellen. Aus einem kurzen Wettlauf um Integrationskonzepte wurde 1981 plötzlich ein Rennen um eine Begrenzungspolitik. Zahllose, zum Teil äußerst dramatisierende Warnungen vor den »Ausländerproblemen« und Ankündigungen, diese durch restriktive Maßnahmen zu lösen, standen im Mittelpunkt der 80er Jahre. Die Realitäten eines Einwanderungslandes wurden weiter geleugnet, die Entwicklung eines Zuwanderungs- und Integrationskonzepts unterblieb. Im Laufe des Jahres 1981 mehrten sich die Stimmen, die eine härtere Ausländerpolitik forderten. Frankfurts Oberbürgermeister Walter Wallmann (CDU) schlug vor, einen Zuzugsstopp für Ausländer in Frankfurt für den Fall einzu- 49 führen, dass der Ausländeranteil in der Stadt die 30-Prozent-Grenze überschreiten sollte. Dem widersprach allerdings sein Stuttgarter Amtskollege und Parteifreund Manfred Rommel, Oberhaupt einer Großstadt mit einem ähnlich hohen Ausländeranteil. In seiner Regierungserklärung am 2. Juli 1981 sagte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker (CDU), Ausländer müssten auf Dauer zwischen zwei Möglichkeiten wählen: »... entweder Rückkehr in die alte Heimat; hierzu wird der Senat materielle Anreize und Hilfestellungen geben, oder Verbleib in Berlin; dies schließt die Entscheidung ein, auf die Dauer Deutscher zu werden.« Ähnlich hatte sich auch Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) geäußert. Am 20. November 1981 setzte der Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU) massive Einschränkungen der Familienzusammenführung in Kraft. Protest von SPD, FDP, Gewerkschaften, Kirchen und Ausländerinitiativen folgten. Der sogenannte »Lummer-Erlass« wurde sogar innerhalb der CDU kritisiert. So distanzierte sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) von der, wie er es nannte, »Abschiebungspolitik« des Berliner Innensenators. Der Erlass wurde schließlich abgeschwächt. Alarmiert von ausländerfeindlichen Parolen und Zwischenfällen schrieb Bischof Helmut Hermann Wittler an den Bundeskanzler: »Eine wachsende Ausländerfeindlichkeit darf sich nicht in ausländerfeindlichen Gesetzen niederschlagen.« Die Bundesregierung geriet unterdessen in der Ausländerpolitik immer mehr unter den Druck der CDU/CSU-Opposition, der von den unionsregierten Bundesländern noch verstärkt wurde. Unter Zugzwang gesetzt, formulierte die Bundesregierung am 2. Dezember 1981 selbst eine Politik der Begrenzung. Als »Sofort-Regelung« empfahl sie den Ländern unter anderem die Senkung des Nachzugsalters von 18 auf 16 Jahre, eine Maßnahme, die noch bis ins Jahr 2002 hinein diskutiert wurde. Bremen folgte diesem Vorschlag damals 5° aus verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. Außerdem wurden damals die Wohnraumrichtlinien verschärft. In Baden-Württemberg mussten Ausländer zwölf Quadratmeter pro Familienmitglied nachweisen, unabhängig davon, ob es in Deutschland lebte oder nicht. Eine Voraussetzung, die seinerzeit nach Angaben des Bundesbauministeriums auch 1,2 Millionen Deutsche nicht erfüllten. Der Bundeskanzler sagte am 11. November 1981 bei einer Pressekonferenz: »Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden. Einigkeit... bestand auch darüber, dass der Zuzug und die Nachführung von Familienangehörigen unter Anwendung aller rechtlichen Mittel im Rahmen des Grundgesetzes gestoppt werden soll.« Zur Begründung ihres Kurswechsels in der Ausländerpolitik führte die Bundesregierung die Furcht vor sozialen und politischen Spannungen an, die den gesellschaftlichen Frieden in der Bundesrepublik gefährden könnten. In einem internen Kabinettspapier der Bundesregierung hieß es: »Sämtliche Möglichkeiten, deren Realisierung einen geringeren Anstieg der Ausländerzahlen als angenommen zur Folge hätten, müssen ausgeschöpft werden.« Außerdem kommt in dem Papier zum Ausdruck, wie sehr die Bundesregierung über die Stimmung in der Bevölkerung beunruhigt war: »... könnte auch die Schwelle erreicht werden, ab der das Unbehagen beträchtlicher Teile der deutschen Bevölkerung in offene Abwehrhaltung umschlägt. Die Folge wären soziale und politische Spannungen, die den gesellschaftlichen Frieden in der Bundesrepublik gefährden werden.« Die CDU/CSU-Opposition bezeichnete die Beschlüsse der Bundesregierung ■als unzureichend und forderte härtere Maßnahmen. In einem Entschließungsantrag im Bundestag stellte die Union fest, dass die Aufnahmemöglichkeiten der Bundesrepublik erschöpft seien und die Ausländerzahlen verringert werden müssten. Es drohten schon heute irreparable Schäden für das politische und soziale Umfeld, für Staat und Wirtschaft. Die 51 Untätigkeit der Bundesregierung sei weitgehend für diese unerträgliche politische Situation verantwortlich. Ihre Unent-schlossenheit, eine ausländerpolitische Gesamtposition zu entwickeln und politisch durchzusetzen, habe zu einer zunehmend emotionalisierten Diskussion geführt, die die zusätzliche Gefahr der Ausländerfeindlichkeit heraufbeschwören würde. Die Zusammenführung von Familien sollte - so die CDU/CSU in ihrem Antrag - in erster Linie durch die Forderung der Rückkehr in die Heimat bewirkt werden. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen verabschiedete am i. Februar 1982 einstimmig eine Entschließung, wobei er feststellte, dass die Aufnahmefähigkeit des Landes erschöpft sei. Der Landtag in Wiesbaden schloss sich dieser Meinung an; auch die Aufnahmemöglichkeit des Landes Hessen sei erschöpft. Wie fragwürdig diese Beschlüsse waren, zeigt die weitere Entwicklung in diesen Ländern. Inzwischen ist die Zahl der Ausländer in Nordrhein-Westfalen von i982biszum Jahr 2000 von 1,4 auf 1,9 Millionen angestiegen. Das entspricht einer Steigerung von 33 Prozent. In Hessen nahm die ausländische Wohnbevölkerung in diesem Zeitraum von 522 800 auf 707 800 zu. Dies ist eine Steigerung um 53 Prozent. Bundesweit lag der Anstieg sogar bei 64 Prozent, ohne dass die vielbeschworene »Grenze der Belastbarkeit« erreicht worden wäre. Bislang hat auch niemand definiert, wann diese Grenze erreicht sei und nach welchen Kriterien man sie festlegen kann. Die Zunahme der Ausländerzahlen erfolgte im Übrigen unter den geltenden ausländerpolitischen Bestimmungen und nicht etwa »illegal«. Den Ausländern wurde aber schon damals durch den Hinweis auf die vermeintlich zu hohen Zahlen signalisiert, sie seien unerwünscht. Damit wurde das Klima bereits in einer Zeit vergiftet, in der man die Weichen rechtzeitig in Richtung Integration hätte stellen können. Die CDU/CSU-Opposition führte Anfang der 80er Jahre sogar die deutsche Teilung als Argument ins Feld. Die Bundesrepublik trage als Teil des gespaltenen Deutschland his- 52 torische und verfassungsrechtliche Verantwortung für die Deutsche Nation. Deutschland könne nach seiner Geschichte und seinem Selbstverständnis kein Einwanderungsland sein und werden, ein Standpunkt der von Teilen der Union im Kern noch bis heute vorgetragen wird. Im Entwurf des Entschließungsantrags vom 25. November 1981 wurde die Union noch deutlicher: »Die Rolle der Bundesrepublik Deutschland als nationaler Einheitsstaat und Teil einer gespaltenen Nation erlaubt nicht die Einleitung einer unumkehrbaren Entwicklung zum Vielvölkerstaat.« Das Motto der Ausländerpolitik zu Beginn der 80er Jahre - »Rückkehrbereitschaft stärken« - setzte sich auf breiter Front durch. Das neue Klima der ausländerpolitischen Diskussion artikulierte sich auch im sogenannten »Heidelberger Manifest« vom 17. Juni 1981, einer pseudowissenschaftlichen Unterfütterung der restriktiven Ausländerpolitik. Zahlreiche Intellektuelle wandten sich darin gegen die - wie es hieß -»Unterwanderung des Deutschen Volkes durch Ausländer, gegen die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums«. Ausländerfeindlichkeit schlug sich Anfang der 80er Jahre in Bürgerinitiativen zum »Ausländer-Stopp« nieder. Unter Androhung von Anschlägen und mit Parolen »Deutschland den Deutschen!« versuchte 1982 beispielsweise eine ausländerfeindliche Gruppe in Baden-Württemberg Firmen zu erpressen und verlangte, dass sie ausländische Arbeitnehmer entließen. Ein junger Neonazi lief im gleichen Jahr in Nürnberg Amok und erschoss drei Ausländer. Immer wieder haben Intellektuelle und Politiker in der Bundesrepublik den Rechtsradikalen im Laufe der Zeit - ob gewollt oder ungewollt, spielt eigentlich keine Rolle - Argumente geliefert. So sagte sogar der Historiker Golo Mann, bekanntlich Spross einer berühmten deutschen Emigrantenfamilie, in einem Zeitungsinterview zum Thema Türken in Deutschland:» So recht wohl fühle ich mich dabei nicht. Und 53 ich weiß nicht, wie andere Länder sich dabei fühlen. Mir wäre es lieber, sie blieben zuhause. Auf der anderen Seite ist es sicher gut für sie, wenn sie einen völlig anderen Kulturkreis gründlich kennen lernen. Wenn sie dann nach Hause zurückkehren und dort berichten, kann das einen Fortschritt in ihrem Land bedeuten. Aber: sie sollten zurückkehren.« Auf die Frage: »kann Deutschland ein Einwanderungsland sein?« antwortete Mann: »Nein, das Boot ist voll.« Der SPD-Politiker Martin Neuffer bezeichnete die Türken als eine »im Ganzen wenig assimilationsfähige völkische Minderheit«. Der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß meinte: »Es strömen die Tamilen zu Tausenden herein. Und wenn sich die Situation in Neukaledonien zuspitzt, dann werden wir bald die Kanaken im Land haben.« Strauß warnte vor einer »Wohlstandsasylepidemie«. Wörtlich: »Wir können in Bayern nicht sagen: Kommt alle zu uns, die ihr mühselig und beladen seid, aus allen Ländern der Erde.« Dann hätten wir hier bald die Einwohnerzahl von China, meinte Strauß. Der Berliner CDU-Fraktionschef Landowsky sprach in einem Interview von Ausländern, die »bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort >Asyl< rufen, dem Steuerzahler in einem siebenjährigen Verfahren auf der Tasche liegen«. In zahlreichen Wahlkämpfen, so im Landtagswahlkampf von Baden-Württemberg im Jahre 1980, spielte die Asylpolitik eine bedeutende Rolle. Die Landesregierung befürchtete, dass der Flugbetrieb in Stuttgart-Echterdingen bei der Ankunft weiterer Flüchtlinge zusammenbrechen könne. Innenminister Palm sprach im Februar 1980 davon, dass es »eine fluktuierende Flüchtlingsmasse« gebe, »die überall dorthin überschwappe«, wo es wirtschaftlich besser gehe. Es gebe dabei ein »Zuflussproblem« und ein »Abflussproblem« - und eine »Asylantenlawine«. Bei einer Wahlkampfveranstaltung warnte Palm vor einer zunehmenden Übervölkerung der Bundesrepublik durch Ausländer. Zum Wahlrecht für Aus- 54 länder Palm wörtlich: »Soll deutsches Schicksal von Leuten entschieden werden, die weiter Türken bleiben wollen«? In einzelnen Kindergärten müsse sich mitunter »bei zu viel Muselmanen« die Kindergärtnerin fragen, »ob sie noch das christliche Weihnachtsfest« feiern könne. Rechtsradikale verübten bereits damals Anschläge auf Asylbewerbereinrichtungen. Zwei Vietnamesen waren dabei getötet worden. Die NPD zog in den Bundeswahlkampf mit dem Slogan »Deutschland den Deutschen«. In Nordrhein-Westfalen sammelte eine Bürgerinitiative »Ausländer-Stopp« Unterschriften für ein Volksbegehren. In Baden-Württemberg zitierten ähnliche Initiativen in ihren Formblättern immer wieder Ministerpräsident Späth und andere Vertreter der Landesregierung mit ihren Warnungen vor der Gefahr einer »Ausländerüberflutung«. Bürgern, die sich gegen Ausländerfeindlichkeit öffentlich aussprachen und zur Vernunft mahnten, flatterten schon damals Briefe wie dieser ins Haus: »Was soll denn das dumme Gerede, dreckige Türken zu integrierend Wir wollen privat mit diesem Pack nichts zu tun haben. Es ist schon verrückt, diese Bande nach Deutschland zu holen, wo wir über 800000 Arbeitslose haben... Fahren Sie mal in die Türkei, und sehen Sie sich an, wie die dort hausen und wie die Schweine leben. Und mit solchem Gesindel sollen wir ein Ei und ein Kuchen sein? Wenn Sie und Ihre Helfershelfer das wollen, dann sind bei Ihnen ein paar Schrauben locker... Durch das Ausländergesindel ist Deutschland ja zu einem Tummelplatz für Verbrecher geworden. Denken Sie an die Molukker in Holland, die Vietnamesen, die Nigger aus Eritrea, die Jugoslawen, das Kommunistenpack aus den Ostblockländern, die Makkaronifresser usw... Wir werden dem Gesindel das Fürchten lehren und ihnen zeigen, dass sie in Deutschland nur geduldet sind. Wer sich als Ausländer bei uns mausig macht, randaliert, stiehlt, mordet, den werden wir jagen und das Fürchten lehren.« Berlins Innensenator Lummer brachte seine Meinung sei- 55 nerzeit auf den folgenden Punkt: »Wir haben ein Asylrecht, da kann die ganze Rote Armee kommen und der KGB dazu. Wenn die an unserer Grenze >Asyl< sagen, können wir sie nicht zurückschicken.« Um der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit entgegenzuwirken, traf sich am 22. Juni 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. Eine weitere Verschlechterung in der Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern zeigte sich im Verlauf desselben Jahres. Umfragen belegten, dass zwei Drittel der Befragten eine Rückkehr der ausländischen Arbeitnehmer in ihre Heimat befürworteten. Im Jahr 1978 waren es nur 39 Prozent gewesen, die sich dafür ausgesprochen hatten. Eine umfangreiche Untersuchung, die sogenannte »Sinus-Studie«, hatte bereits ein erschreckendes Ausmaß von Ablehnung zu Tage gefördert. Die Analyse, die von der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden war, erregte Aufsehen wie selten zuvor eine sozialwissenschaftliche Erhebung. Über zehn Prozent der deutschen Wähler haben ein rechtsextremes Weltbild - so die zentrale Aussage der Sinus-Studie. Im Mittelpunkt der Studie standen folgende Ergebnisse: 14 Prozent der Wähler (fünf Millionen Deutsche) sagten: »Wir sollten wieder einen Führer haben.« 16 Prozent sagten: »Parteien und Gewerkschaften schaden dem Allgemeinwohl.« 18 Prozent sagten: »Unter Hitler hatte es Deutschland eigentlich besser.« Auch wenn die Untersuchung umstritten war und die Bundesregierung zunächst versuchte, sie unter Verschluss zu halten, so zeigte sie doch schon frühzeitig, dass in Deutschland ein rechtsextremes Wählerpotential von etwa zehn Prozent vorhanden war. Gegenmaßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus standen bei der Bundesregierung aber nicht mehr auf der Tagesordnung. Vielmehr stritt sich das Kabinett noch kurz 56 vor dem Regierungswechsel über den Familiennachzug. Damals konnte sich Bundesarbeitsminister Heinz Westphal (SPD) mit dem Vorschlag, das Nachzugsalter von 16 auf sechs Jahre herabzusetzen, nicht durchsetzen. Darüber war es im Kabinett und im Vorfeld der Entscheidung zu heftigen Kontroversen mit den FDP-Ministern gekommen. Am 14. Juli 1982 beschloss die SPD/FDP-Bundesregierung noch Maßnahmen zur »Förderung der Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer«. Wegen des Regierungswechsels verzögerte sich aber die Umsetzung und die angekündigte Novellierung des Ausländergesetzes. Kurz vor der Übernahme der Kanzlerschaft hatte Helmut Kohl (CDU) gesagt: »Die Zahl der türkischen Mitbürger muss vermindert werden.« Die Tatsache, dass das Ausländerthema vor dem Machtwechsel zwei Jahre lang von der CDU/ CSU thematisiert und zur Destabilisierung des politischen Gegners eingesetzt wurde, hat dazu beigetragen, dass die damalige Bundesregierung, vor allem die SPD, ins Wanken geriet. Das belegen Meinungsumfragen, wonach das »Ausländerthema« 1983 von einer Mehrheit als »besonders wichtig« eingestuft wurde. Nach dem Regierungswechsel stellten die Demoskopen einen deutlichen Abfall in der Besorgtheit fest. Der Union traute man offensichtlich eher eine »Lösung der Ausländerfrage«, eine »härtere Gangart in der Ausländerpolitik« zu. Für viele Wähler schien das »Ausländerproblem« mit dem Regierungswechsel und den Maßnahmen, die angekündigt wurden, vorerst gelöst zu sein. Bereits in den Koalitionsvereinbarungen der neuen CDU/ CSU/FDP-Regierung nahm die Ausländerpolitik einen breiten Raum ein. In seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 nannte Bundeskanzler Kohl die Ausländerpolitik sogar als einen der vier Schwerpunkte seines »Dringlichkeits-Programms«, gleichberechtigt mit Wirtschafts- und Außenpolitik, ein einmaliger Vorgang in der deutschen Nachkriegspolitik. Die neue Bundesregierung setzte - woran sich 57 18 Jahre später bei der »Süssmuth-Kommission« niemand mehr recht erinnerte - eine Kommission »Ausländerpolitik« ein, die sich am 16. November 1982 konstituierte. Der Kommission gehörten unter anderem Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden an. Im Zusammenhang mit der Arbeit der Kommission und nach der Veröffentlichung ihres Berichtes kam es wiederum zum Streit über den Familiennachzug. Diesmal war es der neue Bundesminister Friedrich Zimmermann (CSU), der sich mit der Forderung, das Nachzugsalter auf sechs Jahre zu senken, nicht durchsetzen konnte, was wiederum am Widerstand der FDP lag. Auch die katholische Kirche meinte, die Herabsetzung des Nachzugsalters sei »weder christlich noch sozial«. Wenige Tage vor den Bundestagswahlen legte die Kommission am 24.Februar 1983 ihren 220 Seiten umfassenden Bericht vor. Ahnlich wie im »Süssmuth-Bericht des Jahres 2001« wurden zahlreiche Maßnahmen - teilweise kontrovers - diskutiert und Lösungsvorschläge aufgezeigt. Insgesamt lässt der Bericht die Tendenz zur Verschärfung der Ausländerpolitik erkennen, beispielsweise beim Ehegatten- und Familiennachzug oder bei der Ausweisung. So stieß denn die Veröffentlichung bei der Ausländerlobby auf breite Kritik, vor allem auch der vor der Bundestagswahl künstlich erzeugte Zeitdruck für die Arbeit der Kommission. Ein Vorschlag der Kommission war die »Sperrung des Zuzugs in Regionen mit hohem Ausländeranteil«. Es war nur dem Minderheitenvotum von Bremen, Hessen und der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen zu verdanken, dass eine solche Regelung nicht wieder als ausländerpolitische Möglichkeit geschaffen wurde. Im Kommissionsbericht wurde nicht einmal erwähnt, dass es eine solche Regelung schon einmal gegeben hatte. Diese »Regionalsteuerung für überlastete Siedlungsgebiete« hatte absolut nichts gebracht und wurde aufgrund der Kritik der Wirtschaft, die über Arbeitskräftemangel klagte, sang- und klanglos wieder aufgehoben. 58 Das bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung schrieb in einem Bericht »Ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien« im Jahre 1983, dass, obwohl die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sein könne, »unbestreitbar de facto eine Einwanderung stattgefunden« habe und »in gewissem Umfang über den Familiennachzug nach wie vor« stattfinde. Ein Großteil der ausländischen Familien werde auf längere Sicht in der Bundesrepublik bleiben. Dies bedeute auch, dass »wir lange Zeit mit regional zum Teil sehr bedeutsamen nationalen, kulturellen und religiösen Minderheiten zu leben haben werden«. Der Handlungsspielraum für »Zurückführung« von Ausländern wurde damals von Bayern skeptisch beurteilt. Auch bei den von der Bundesregierung beschlossenen Rückkehrmaßnahmen könne »ein tiefgreifender Abbau der Ausländerzahlen« nicht erwartet werden. Im Hinblick auf die Diskussion, das Nachzugsalter auf sechs Jahre zu senken, wies Bayern darauf hin, dass das verbleibende Kindernachzugspotential im wichtigsten Herkunftsland - der Türkei - »erstaunlich gering sei«. Verstärkte Integrationsanstrengungen vor allem für die Kinder und Jugendlichen wurden angemahnt. In verschiedenen Punkten versuchte der Bericht aus Bayern Vorurteile gegenüber Ausländer zu widerlegen. So stimme es nicht, dass Ausländer krimineller als Deutsche seien oder dass sie das soziale System ausnutzen würden. Der Behauptung »Ausländer nehmen den Deutschen Arbeitsplätze weg« hält Bayern entgegen, dass ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien zu einem bedeutsamen Wirtschafts- und Konsumfaktor in unserer Gesellschaft geworden sind. Allein durch den Konsum würden unserer Volkswirtschaft jährlich 20 Milliarden Mark zufließen. Das Lohnsteueraufkommen liege bei rund vier Milliarden Mark. Bayern unterstreicht, dass dabei allerdings nicht der »Versuch einer sicherlich bedenklichen Kosten-Nutzen-Analyse gemacht werden soll«. In den Koalitionsverhandlungen mit der FDP schlug die 59 CDU/CSU »eine Politik zur Verringerung der Zahl in der Bundesrepublik lebender Ausländer von heute 4,6 Millionen auf 2 bis 3 Millionen im Jahr 1990« vor. Erklärtes Ziel des Bundeskanzlers war es denn auch, die Ausländerzahlen entscheidend zu verringern, insbesondere die der Türken. Die Realität sieht jedoch anders aus. In der Regierungszeit Kohls von 1982 bis 1998 nahm die Zahl der Ausländer von 4,6 Millionen auf 7,3 Millionen zu. Das entspricht einer Steigerung von 63 Prozent in 16 Jahren. Ausländern, von denen eine Entscheidung über Verbleib oder Rückkehr verlangt wurde, erleichterten das jahrelange Hin und Her sowie die »Verringerungspläne« sicherlich nicht die Lebensplanung und die Bereitschaft, sich in Deutschland zu integrieren. Die Ausländerpolitik war nach wie vor weder klar und vorausschauend noch berechenbar, obwohl die neue Bundesregierung gerade dies nach dem Machtwechsel 1982 versprochen hatte. Weniger der Regierungswechsel oder parteipolitisch bestimmte Positionen haben allerdings wesentlich zur Veränderung der Ausländerpolitik seit 1981 beigetragen als vielmehr die Reaktion der Politik auf wirtschaftliche Probleme und Massenarbeitslosigkeit, auf Meinungsumfragen, auf den sozialen Konfliktstoff, der aus der Ausländerbeschäftigung entstanden war und der die Legitimationsbasis in der Wählerschaft zu gefährden drohte. Dies erklärt auch die Allparteienkoalition in den Jahren 1981/82 für eine restriktive Ausländerpolitik. Alles in allem rächten sich schon bald die Fehler einer unzureichenden Integrationspolitik. Trotz zahlloser Ankündigungen und Versprechungen zur Lösung des »Ausländerproblems« stiegen die Zahlen immer weiter an, und Deutschland verzeichnete die weltweit höchsten Einwanderungszahlen - vor klassischen Einwanderungsländern wie USA und Kanada. Das Stimmungsbild in der Bevölkerung musste sich angesichts dieser Widersprüche geradezu verschlechtern. Nach zahlreichen Ankündigungen beschloss die Bundes- 60 regierung am 22. Juni 1983 einen »Gesetzentwurf zur befristeten Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern«, wobei sie Vorschläge der früheren Koalition aufgriff. Obwohl die Bundesregierung diese Rückkehrmaßnahmen geradezu als Erfolgsschlager darstellte, fällt eine kritische Bewertung anders aus. Das Rückkehrförderungsgesetz war eher eine Spar- und Sanierungsmaßnahme für die Rentenversicherung auf Kosten der ausländischen Arbeitnehmer. Der Spareffekt wurde auf drei bis vier Milliarden Mark veranschlagt. Von der Rückkehrhilfe für arbeitslose Ausländer erhoffte sich die Bundesregierung Einsparungen beim Arbeitslosen-und Kurzarbeitergeld in Höhe von rund 90 Millionen Mark und 240 Millionen Mark beim Kindergeld. In Wirklichkeit war die Rückkehrförderung also eher eine symbolische Maßnahme - gerade in Hinblick auf eine beunruhigte deutsche Bevölkerung, der konsequente Maßnahmen zum Abbau der Ausländerzahlen vorgeführt werden sollten. Nicht nur bei der Rückkehrforderung dieser Jahre - zum Beispiel auch bei der Einschränkung des Familiennachzugs -spielt Symbolpolitik eine wichtige Rolle. Viele ausländerpolitische Maßnahmen der Vergangenheit, die oft mit einer großen Öffentlichkeitsarbeit verbunden waren, lassen sich so erklären. Die psychologische Wirkung des Gesetzes und der Ausländerpolitik der letzten Jahre darf allerdings nicht unterschätzt werden. Sie verstärkte bei den Ausländern den Eindruck, sie seien überflüssig, die ganze Politik sei auf Rückkehr ausgerichtet. Andererseits konnte in der deutschen Bevölkerung der Eindruck entstehen, es würden große Summen (Steuergelder) für die Rückkehrer ausgegeben, die in Wirklichkeit aber nicht einmal den Arbeitgeberanteil aus der Rentenversicherung ausgezahlt bekamen. Schon aufgrund der komplizierten Bestimmungen, die teilweise selbst in den Medien schwer darzustellen waren, blieb bei vielen nach dem Auslaufen des Gesetzes der Eindruck haften, mit den 300000 Heimkehrern sei durch das Gesetz eine Massenabwanderung 61 1 und damit die Lösung des »Ausländerproblems« eingeleitet worden. In Wirklichkeit war Ausländerpolitik über viele Jahre hinweg nichts anderes als Ankündigungspolitik. So wurde ein neues Ausländergesetz seit 1980 versprochen. Aber erst im Frühjahr 1988 gelangte ein 200 Seiten starker Entwurf zum Ausländergesetz aus dem Bundesinnenministerium an die Öffentlichkeit, der aber von der FDP, den Oppositionsparteien, Verbänden und auch CDU-Sozialausschüssen auf breiter Front wegen seiner restriktiven Vorstellungen kritisiert wurde. Das Bundesinnenministerium spielte die Bedeutung des Papiers herunter und wies darauf hin, dass es sich dabei noch nicht einmal um einen Referentenentwurf handeln würde. Der umstrittene »Zimmermann-Entwurf« wurde deshalb schnell wieder zurückgezogen. Erst dem neuen Bundesinnenminister, Wolfgang Schäuble (CDU), gelang das Kunststück, einen auch in der Bonner Koalition konsensfähigen Entwurf für ein neues Ausländerrecht vorzubereiten. Die Koalitionsparteien legten zunächst Eckwerte zur Ausländerpolitik und zum neuen Ausländergesetz fest, die auf ein positives Echo stießen. Nach jahrelangen Streitigkeiten und Diskussionen schien nun endlich ein Kompromiss über die Reform des Ausländerrechts erreicht worden zu sein. Eine geplante Kabinettsentscheidung über das neue Ausländergesetz wurde jedoch verschoben, weil Bayerns Innenminister Stoiber (CSU) Bedenken gegen Bestimmungen angemeldet hatte, die ihm als zu liberal und weitgehend erschienen. Kritik am Schäuble-Entwurf kam auch schon bald aus den Reihen von Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden. Trotz rund 200 Änderungen im Detail blieb diese Kritik aus den Reihen der Ausländerlobby bestehen. Das als eilbedürftig eingebrachte Gesetz konnte schließlich am 26. April 1990 gegen die Stimmen der Opposition den Bundestag in zweiter und dritter Lesung passieren. Am 11. Mai billigte der Bundes- 62 rat mit den Stimmen der unionsregierten Länder die Novelle, so dass das neue Ausländerrecht Anfang 1991 in Kraft treten konnte. Anträge von SPD-geführten Ländern auf Anrufung des Vermittlungsausschusses wurden im Bundesrat abgelehnt. Parallelen zu dem in den Jahren 2001/2 beim Zuwanderungsgesetz von Bundesinnenminister Otto Schily vorgelegten Eiltempo sowie zur Abstimmung in Bundestag und am 22. März 2002 im Bundesrat sind deutlich zu erkennen, wobei sich die Rollen von Opposition und Regierung umgekehrt und die ausländerpolitischen Fronten verschoben hatten. Die Politisierung der Ausländerpolitik, die in den 70er Jahren begonnen hatte, setzte sich bis heute fort. So musste 1983 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) seine Parteikollegin und Bundesbeauftragte für Ausländerfragen Liselotte Funcke gegen Angriffe aus der CDU in Schutz nehmen, sie würde nicht die Ausländerpolitik der Bundesregierung vertreten. Die Auseinandersetzung spitzte sich zu, weil Funcke in einem Interview gesagt haben soll, Bundesinnenminister Zimmermann liefere mit seiner Haltung zu Ausländerfragen »täglich den Rechtsradikalen Futter«. Dies wurde von der Bundesbeauftragten zwar dementiert, ein Sprecher des Bundesinnenministeriums legte der Ausländerbeauftragten aber trotzdem den Rücktritt nahe. Und obwohl sich die Bundesregierung nach langem Hin und Her darauf geeinigt hatte, das Nachzugsalter für ausländische Kinder nicht auf sechs Jahre zu senken, brachte vor allem die CSU das Thema immer wieder auf die Agenda. Wie in den Jahren 2001/2 wurden auch schon damals Kompromissvorschläge in die parteipolitisch bestimmte Debatte geworfen. Der damalige Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Theo Weigel, schlug vor, das Nachzugsalter »auf sechs bis acht Jahre« zu senken. Für eine Acht-Jahresgrenze sprach sich CDU-Generalsekretär Heiner Geißler aus. Das Thema Nachzugsalter sorgte auch für Konfliktstoff mit den Bundesländern. So entbrannte bereits 1984 ein hefti- 63 ger Streit zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung von Hessen, die das Nachzugsalter für ausländische Kinder wieder von sechzehn auf achtzehn Jahre anhob. Dabei lagen längst aus Baden-Württemberg und Bayern Erkenntnisse darüber vor, dass das Nachzugspotential für Ausländerkinder eigentlich erschöpft war. Die niedrigen Zahlen beispielsweise auch aus Niedersachen zeigen, dass es sich bei der jahrelangen Diskussion über eine weitere Herabsetzung des Nachzugsalters für Ausländerkinder eigentlich nur um Schaugefechte im Hinblick auf die Wähler gehandelt haben kann. Trotzdem äußerte der Generalsekretär des Hessischen CDU-Landesverbandes und spätere Bundesinnenminister, Manfred Kanther, die Befürchtung, Hessen werde »wie ein Schwamm einwanderungswillige Familienangehörige von Ausländern ansaugen«, nachdem die rot-grüne Landesregierung die Familienzusammenführung erleichtert hatte. Bei der Landtagswahl in Hessen im Frühjahr 1987 spielte die Ausländerpolitik eine wichtige Rolle und trug mit zum Wahlsieg von Walter Wallmann (CDU) bei, der schon als Frankfurter Oberbürgermeister erfolgreich die Ausländerpolitik von SPD und Grünen bekämpft hatte und auch deshalb 1985 als Stadtoberhaupt wiedergewählt worden war. Bei den Kommunalwahlen 1984/85 hatte die Frankfurter CDU in mehreren Tageszeitungen Großanzeigen zur ausländerpolitischen Auseinandersetzung zwischen der Main-Metropole und dem Land Hessen geschaltet. Die Uberschrift lautete: »Frankfurts Ausländerproblem liegt in Ihrer Hand. Festigkeit mit Wallmann oder Grün/Rote Ideologie!« Die CDU wies daraufhin, dass in Frankfurt mehr ausländische Mitbürger als anderswo in Hessen leben: »Wir haben deshalb nicht nur höhere Sozialausgaben und mehr Probleme, sondern auch eine größere Verantwortung. Deshalb will Walter Wallmann nicht die Grün-Rote Ausländerpolitik der Landesregierung mitmachen. Er hält an seinem Kurs der Menschlichkeit und Vernunft fest.« Die ausländerpolitische Kampagne von Roland 64 Koch (CDU) fünfzehn Jahre später gegen die doppelte Staatsbürgerschaft hat also durchaus Tradition in Hessen. Es lassen sich zahlreiche Beispiele für die Politisierung der Ausländerpolitik finden, bei denen es weniger um die Sache als um die eigene, parteipolitisch motivierte Profilierung geht. Zu einer solchen ausländerpolitischen Kontroverse führte beispielsweise 1985 der Türkeibesuch von Bundeskanzler Kohl, bei dem - so hieß es damals - keine Einigung über die Frage der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer erreicht werden konnte. Der Berliner Innensenator Lummer (CDU) zeigte sich deshalb vom Ergebnis der Reise enttäuscht, was der Bundeskanzler wiederum zurückwies. Auch hier dürfte es sich um Scheingefechte im Hinblick auf die Wählerschaft gehandelt haben. Bundesaußenminister Genscher hatte nämlich bereits 1982 bei vertraulichen Gesprächen in der Türkei Einvernehmen darüber erzielt, dass die Freizügigkeitsregelung der Türken aufgeschoben wurde. Im Jahr 2001, dem Jahr der Gesetzentwürfe zur Einwanderung und Integration, war es längst in Vergessenheit geraten, dass die Grünen bereits 1984 im Bundestag einen »Entwurf eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländern (Niederlassungsgesetz)« vorgelegt hatten. Mit diesem Gesetz sollte der Rechtsstatus von Einwanderern so ausgestaltet werden, dass sie möglichst umfassend die gleichen Rechte und Pflichten wie deutsche Staatsangehörige hätten. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen und spätere SPD-Bundesinnenminister Otto Schily forderte bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs, dass den Ausländern von 1990 an das allgemeine und passive Wahlrecht zuerkannt werden sollte. Der Entwurf sah außerdem ein Nachzugsrecht für Kinder und Enkel bis 21 Jahren vor. Bei einer Anhörung zu dem Gesetzentwurf lobte der Vertreter des Deutschen Caritasverbandes die Tatsache, dass die Grünen als erste endlich anhand eines konkreten Gesetzentwurfes die seit langem überfällige parlamentarische Diskus- 65 sion zum Ausländerrecht eingeleitet hätten. Es sei nur zu wünschen, dass dem auch andere Fraktionen des Deutschen Bundestages folgten. Angesichts der vielen Vorschläge für weitere restriktive Maßnahmen darf in der Tat nicht übersehen werden, dass es immer wieder auch Vorstöße in diese liberalere Richtung gegeben hat. So setzten sich mit deutlichen Parallelen 1988 fast zeitgleich SPD, FDP und CDA (Christ-lich-Demokratische-Arbeitnehmerschaft) für ein zukunftsweisendes Ausländergesetz ein. Die CDA, die Sozialausschüsse der CDU, eröffneten damit die Diskussion über eine Neuorientierung der Ausländerpolitik innerhalb der Union. Schon in wenigen Jahren werde ein Mangel an jungen Arbeitnehmern und Beitragszahlern in den Sozialversicherungssystemen entstehen, so die Sozialausschüsse. Die Thesen der CDA führten zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der innenpolitischen Arbeitsgruppe der CDU/CSU. Die CDU-Sozialausschüsse handelten sich auch Ärger in der eigenen Partei ein, als sie aufzeigten, wie im Ausländerbereich seit Jahren mit Zahlen Politik gemacht wurde. Sie stellten die Frage, ob die Zahl der Asylbewerber wirklich so »bedrohlich« sei, wie immer behauptet werde. Die Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft kritisierte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) mit der Schlagzeile »Den Radikalismus herbei gerechnet« und machte den Minister für das Aufkommen der rechtsradikalen Republikaner verantwortlich. Die Sozialausschüsse warfen dem Minister vor, mit aufgeblasenen Zahlen die Bevölkerung geschockt und verunsichert zu haben. Dort, wo hingegen tatsächlich Missbrauch bestehe, werde nicht gehandelt. Bei der angeblichen »Asylantenflut« wähle Zimmermann oft beliebige Zeiträume als Vergleich: einmal den Vormonat, dann den Vorjahresmonat, das Quartal oder die Situation vor zehn Jahren. Mit sturer Unbelehrbarkeit verwechsle er die Zahl der Flüchtlinge, die tatsächlich kämen, mit derjenigen, die Asyl beantragen. Die Behauptung des Ministers, von den rund 66 ioo ooo Asylbewerbern des letzten Jahres hätten mehr als 90 Prozent das Asylrecht missbraucht, sei nicht zu halten. Darunter seien zunächst einmal 40 000 enge Familienangehörige, die selbst überhaupt keinen Asylantrag gestellt hätten. 20 Prozent der Asylverfahren würden sich durch Einstellung erledigen, weil der Antragsteller zurückgekehrt oder in ein anderes Land weitergewandert sei. Von den verbleibenden rund 70 Prozent der Antragsteller, deren Antrag abgelehnt worden sei, hätten in den letzten Jahren immer mehr als zwei Drittel nicht abgeschoben werden können, weil sie Flüchtlinge im Sinne der von der Bundesrepublik unterzeichneten Genfer Flüchtlingskonvention waren. Die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung, die erst in den letzten Jahren ins Bewusstsein von Politik und Medien rückten, hatte Wolf gang Schäuble 1988 noch als Kanzleramtschef in einem Aufsatz unter der Uberschrift »Alter und weniger« behandelt. Schäuble sagte »einen empfindlichen Mangel an Nachwuchs - und später an Arbeitskräften in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft« voraus. Er forderte Gegenmaßnahmen in der Familienpolitik, stellte aber fest: »Langfristig werden wir nicht umhin können, die Schrumpfung der deutschen Bevölkerung zumindest teilweise durch einen verstärkten Zuzug von Ausländern auszugleichen. Das wird schon der Arbeitsmarkt erzwingen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird wachsen und damit auch die kulturellen und sozialen Probleme... Die Integrationspolitik sollte danach ausgerichtet werden.« Schäuble weiter: »Stärkerer Zuzug ausländischer Arbeitnehmer verspricht Erleichterung für die Soziallasten der Deutschen in der Bundesrepublik. Allerdings werden Qualifikationsunterschiede und Sprachbarrieren dem Ausländerzuzug Grenzen setzen.« Das Ausländergesetz von 1990, das Schäuble dann als Bundesinnenminister auf den Weg brachte, erwies sich zwar als Verbesserung, blieb aber bei der Fiktion, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Vorausschauend im Hinblick auf die 67 Bevölkerungsentwicklung war es keineswegs. Die verwirrende Vielfalt von gesetzlichen Einzelbestimmungen, die selbst Fachleute nicht mehr durchschauten, wurde nicht beseitigt. Der Anwerbestopp wurde gesetzlich festgeschrieben. Auf der anderen Seite schuf das Gesetz über Paragraph 10 die Möglichkeit, Ausländer für bestimmte Wirtschaftsbereiche vorübergehend zu beschäftigen. Dazu wurde die »Verordnung der Ausnahmeregelungen für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an neueinreisende ausländische Arbeitnehmer (Anwerbestoppausnahme-Verordnung)« erlassen. Davon wurde in der Folge vor allem beim befristeten Aufenthalt von ausländischen Arbeitskräften umfangreich Gebrauch gemacht, auch wenn die Bestimmung in der Öffentlichkeit kaum bekannt wurde. Das neue Ausländergesetz schuf klare Gesetzansprüche, was zu einer Verbesserung führte. Bei der Aufenthaltsberechtigung brachte es für nichtdeutsche Jugendliche, die ja schon längst nur noch »Pass-Ausländer« waren, Verschlechterungen, denn eine Einbürgerung war jetzt leichter zu haben als eine Aufenthaltsberechtigung. Insgesamt ist seit dem Machwechsel in Bonn 1982 eindeutig eine Kompetenzverlagerung in der Ausländerpolitik vom Bundesarbeits- zum Bundesinnenministerium festzustellen. Das lag vor allem daran, dass ordnungspolitische Maßnahmen im Brennpunkt standen. Das Amt der Ausländerbeauftragten geriet dagegen immer mehr in den Hintergrund, auch wenn die Amtsinhaberinnen immer wieder ihre Stimmen gegen eine restriktive Ausländerpolitik erhoben. Die Machtlosigkeit des Amtes führte schließlich dazu, dass Liselotte Funcke (FDP) am 15. Juli 1991 zurücktrat. In einem Brief an den Bundeskanzler schrieb die engagierte Ausländerbeauftragte: »Die ausländische Arbeitnehmerbevölkerung sieht sich einer wachsenden Abwehr in der deutschen Bevölkerung und sogar tätlichen Angriffen ausgesetzt, ohne dass von politischer Seite ihre Anwesenheit begründet und ihre erwiesenen Leistungen gewertet werden. Ermutigungen zur Integration sind kaum 68 erkennbar, ebensowenig wirksame Maßnahmen und ausreichender Schutz gegen fremdenfeindliche Jugendbanden. Die deutsche Bevölkerung ist zunehmend verunsichert angesichts einer ständigen ungeregelten Zuwanderung, für deren Bewältigung sie kein politisches Konzept erkennen kann. Die sich daraus ergebenden Ängste schlagen sich - wie aus meinem Briefeingang hervorgeht - nicht selten in mehr oder weniger heftigen Beschuldigungen gegen die Ausländer nieder und belasten damit die Stimmung auf beiden Seiten. Die Gefahr einer Eskalation ist nicht von der Hand zu weisen.« Es sei »zu befürchten, dass die zunehmende Beunruhigung in der deutschen und die Enttäuschungen in der ausländischen Bevölkerung zu Entwicklungen führen, die immer schwerer beherrschbar werden. Die wachsende Fremdenfeindlichkeit in den fünf neuen Bundesländern ist ein Alarmsignal.« Der spektakuläre Rücktritt blieb aber ohne Folgen in der Ausländerpolitik, obwohl sich die Probleme weiter verschärften. In der Tat hatte eine Untersuchung im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums bereits 1990-ähnlich wie die »Sinus-Studie« zehn Jahre zuvor-alarmierende Daten zu diesem Thema geliefert. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Türken diejenigen Ausländer waren, die am meisten von den früheren DDR-Bürgern abgelehnt wurden und das, obwohl die neuen Bundesbürger bisher praktisch keinen persönlichen Kontakt mit Türken gehabt hatten. Die Untersuchung vermutet, dass westdeutsche Stereotype rasch von der Bevölkerung der ehemaligen DDR übernommen wurden. Dabei sei nicht auszuschließen, dass auch die Massenmedien zu diesem negativen Bild beigetragen hätten. Die festgestellte Ausländerfeindlichkeit stand im Gegensatz zu dem recht geringen Ausländeranteil an der Bevölkerung. In der damaligen DDR lebten etwa 190 000 Ausländer, was einem Bevölkerungsanteil von rund einem Prozent entsprach. Die bereits frühzeitig festgestellte nicht unerhebliche Ausländerfeindlichkeit in den neuen Bundesländern führte allerdings - ähnlich wie 1980 - 69 nicht umgehend zu Aufklärungsmaßnahmen, Aktionen in den Medien, in der Erwachsenenbildung oder in den Schulen. Trotz steigender Ausländerfeindlichkeit war in den 8oer Jahren auf der anderen Seite fast so etwas wie ein Boom der Türkenfreundlichkeit zu verzeichnen, was sich in zahlreichen Politikerreisen in die Türkei ausdrückte. Bundespräsident Richard von Weizsäcker machte sich auf in das Land der türkischen Gastarbeiter und sagte bei seinem Staatsbesuch: »Es geht für diejenigen Türken, die bei uns leben und bleiben wollen, ganz gewiss nicht um Assimilierung. Vielmehr ist die Aufgabe, miteinander leben zu lernen, und zwar in der Weise, dass jeder seine Eigenart bewahrt und einbringt. Das wird uns gegenseitig in einem Maße bereichern, wie wir es vorher nicht gekannt haben. Ich denke nur etwa an die überwältigende Gastfreundschaft, die wir Deutschen von den Türken erfahren. Nicht nur hier in der Türkei, sondern meine Erinnerung an die Gastfreundschaft, die ich bei Türken etwa in Berlin immer wieder erfahren habe, nicht nur in ihren Wohnungen, sondern auch an Wochenenden, wenn sie im Tiergarten oder in anderen Parkanlagen miteinander ihre Freizeit begingen. Diese Gastfreundschaft ist etwas, was für uns Deutsche ein großes Erlebnis ist und was zu der gegenseitigen Bereicherung gehört, von der ich gesprochen habe.« Baden-Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth bereiste mit einer Wirtschaftsdelegation die Türkei und war von Land und Leuten begeistert. Regierungssprecher und Staatssekretär Matthias Kleinert nach der Reise: »Wir sind mit einem Türkeibild zurückgekommen, das nicht identisch ist mit dem, mit dem wir hingefahren sind. Das möchte ich ganz klar sagen, und ich kann nur jedem empfehlen einen Besuch in der Türkei zu machen, um zu sehen, dass wir gute Freunde in der Welt haben.« »Denkzettel« gegen Türkenfeindlichkeit schrieben in jenen Jahren nicht nur Politiker, sondern zum Beispiel auch der Schriftsteller Bernt Engelmann in seinem Buch »Du 7° Deutsch«. Er erinnerte daran, dass Deutschland eigentlich schon immer ein Einwanderungsland gewesen ist und selbst Goethe Türken in seiner Ahnenkette vorweist: »Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg beispielsweise war ein menschenleeres Land. Die Bevölkerung war dezimiert, die Grundherren, die Feudalherren schickten Herolde aus in ganz Europa, um Bauern anzuwerben und Handwerker. Die Aufnahme der Hugenotten hundert Jahre später brachte uns einen ungeheuren Reichtum an Dingen, die wir vorher nicht kannten, einen kulturellen Reichtum, auch wirtschaftlich. Und wenn Sie mal denken an die Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach, wie viel Millionen Menschen, und nicht nur Deutsche, sind in die Bundesrepublik eingeströmt, und sind hier sesshaft geworden, haben sich assimiliert, sind längst Deutsche. Und es gibt da ein Goethe-Wort aus dem Westöstlichen Divan, das ich ganz gerne zitiere in solchem Zusammenhang, wobei angemerkt sei, dass Goethe selber türkische Vorfahren hatte. Dieses Zitat lautet: >Das Land, das seine Fremden nicht beschützt, geht bald unter.<« 4.5. Asyl- und Aussiedlerpolitik im Brennpunkt Die fünfte Phase der Ausländerpolitik: 1990 bis 1998 Eine fünfte Phase in der Ausländerpolitik begann 1990 und dauerte bis 1998, das Jahr, in dem nach dem Regierungswechsel zu Rot/Grün eine erneute Wende in der Ausländerpolitik erfolgte. In den 90er Jahren stand zunächst die Asylpolitik im Vordergrund, die »Gastarbeiter« gerieten in Vergessenheit, die Aussiedler kamen als neue Einwanderungsgruppe hinzu. 1990 und in den folgenden Jahren wiederholte sich die Diskussion um die Zuwanderung nach Deutschland, wenn auch mit veränderten Rollen. Waren es vor zehn Jahren die Türken, die im Fadenkreuz einer Begrenzungspolitik standen, 71 konzentrierte sich die Debatte nun auf die Asylbewerber, deren Zahl 1992 mit rund 440000 ihren Höhepunkt erreichte. Die politische Auseinandersetzung und die Schlagzeilen in den Medien sind fast austauschbar. Man braucht nur »Türken« durch »Asylbewerber« zu ersetzen. In beiden Fällen drohte das »volle Boot Deutschland« durch die angeblich zu hohen Zahlen zu kentern. Wiederum gelang es der CDU/CSU, das »Ausländerthema« zu besetzen und damit zeitweise die Basis der Sozialdemokraten zu unterminieren. Schließlich stimmte die SPD -wieder mit dem Rücken zur Wand - der Grundgesetzänderung im sogenannten Asylkompromiss zu. Das »Superwahl-jahr 1994« und die Befürchtung, die Legitimationsbasis in der Bevölkerung zu verlieren, spielten dabei wieder einmal eine entscheidende Rolle. Vergessen war die Zeit, als 1948 der Parlamentarische Rat unter dem Vorsitz des SPD-Politikers Carlo Schmid über Asyl in Deutschland diskutierte und das Grundrecht »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« im Artikel 16 im Grundgesetz verankert wurde. Schmid sagte damals: »Ob man das Asylrecht, wenn man es wirksam machen will, auf bestimmte Gruppen beschränken kann, weiß ich nicht. Die Asylrechtgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben. Das ist die andere Seite davon, und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes. Wenn man eine Einschränkung vornimmt, etwa so: Asylrecht ja, aber nur soweit uns der Mann politisch nahe steht oder sympathisch ist, so nimmt das zuviel weg.« Hermann von Mangoldt - CDU - war sich mit seinem SPD-Kollegen vollkommen darin einig, dass eine Einschränkung des Asylrechts praktisch mit seiner Abschaffung gleichzusetzen wäre. Er führte aus: »Ich brauche hier nur darauf hinzuweisen, wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Vorausset- 72 zungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.« Carlo Schmid schloss sich dieser Meinung an und ergänzte: »Dann beginnt das Spiel: Man schickt den Mann zurück oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es wieder weiter.« Das deutsche Asylrecht wurde auf der Basis einer ausführlichen Debatte zu einer Zeit eingeführt, als Deutschland mit einem massiven Flüchtlingsstrom konfrontiert war und ein Zentrum des Weltflüchtlingsproblems darstellte. Das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung zu verankern war also keine kurzfristige, quasi unüberlegte Entscheidung, wie später -gerade bei der Debatte über die Grundgesetzänderung Anfang der 90er Jahre - behauptet wurde. Bereits im Juni 1992 hatte die FDP ihre bisherige ablehnende Haltung gegen eine Asylrechtsänderung aufgegeben. Am 23. August schwenkte die SPD-Führung auf dem Bonner Petersberg ebenfalls um. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach in dem sich abzeichnenden Asylkompromiss sogar von einem »Staatsnotstand«, falls es zu keiner Grundgesetzänderung kommen sollte. Es gab sogar Stimmen, die meinten, die SPD brauche gar nicht mehr zu den Wahlen antreten, falls sie nicht zustimmen sollte. Zuvor hatte CDU-Generalsekretär Volker Rühe alle Parteigliederungen aufgefordert, die Kosten für Asylbewerber - »SPD-Asylanten« genannt - in Hotels und anderen Unterkünften zu ermitteln, um die Asyldebatte zuzuspitzen. Am 6. Dezember einigten sich Regierungskoalition und SPD schließlich auf den sogenannten »Asylkompromiss«. Die Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung war damit gesichert.. Vergeblich hatten SPD-Abgeordnete um die stellvertretende Parteivorsitzende Herta Däubler-Gmelin versucht, die Grundgesetzänderung zu verhindern. Eine Abschaffung des Asylgrundrechts hatte sie im Vorfeld der Entscheidung ihrer Partei als »Kniefall vor den 73 Rechtsextremisten« bezeichnet. Im Nachhinein räumte sie ein, dass die SPD »unter dem Druck der Straße« ihre Meinung geändert habe. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang auch an die wahlkampfbedingte Anweisung des Bremer SPD-Bürgermeisters Wedemeier, künftig keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, durch die die Endrunde um die Auseinandersetzung um den Abbau des Asylrechts eingeleitet worden war. In Bremen musste die SPD im Übrigen daraufhin eine vernichtende Wahlniederlage einstecken. Die Rechtsradikalen erhielten besonders viele Stimmen. Bereits vor der Änderung des Grundgesetzes war das Asylrecht im Laufe der Zeit immer mehr ausgehöhlt worden. Der Widerspruch zwischen Theorie - Deutschland mit dem liberalsten Asylrecht der Welt - und der Praxis einer immer restriktiveren Asylpolitik wurde größer und größer. Über 30 Änderungen des Asylverfahrensgesetzes waren bereits über die Bühne gegangen. Auch durch Gerichtsentscheidungen waren Kriterien zur Ausgrenzung von rassisch, religiös oder politisch Verfolgten aus dem Asylrecht eingeführt worden. Ganze Gruppen politisch Verfolgter erhielten bereits kein Asylrecht mehr, weil ihre Flucht über das Territorium eines Drittlandes geführt hatte. Die Frage machte schon die Runde: Was passiert mit Gorbatschow, wenn er nach einem Militärputsch aus Moskau fliehen muss und in Polen - einem sicheren Drittland - zwischenlandet? Dürfte ihm in Deutschland Asyl gewährt werden? Schwere Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel Folter, führten nicht mehr zum Recht auf Asyl, auch wenn sie wegen politischer Betätigung erfolgten. Der Betroffene musste nachweisen, dass durch Folter die politische Gesinnung getroffen werden sollte. Religiöse Verfolgung führte nur dann zum Asyl, wenn der Staat die Austreibung oder »physische Vernichtung« in der religiösen Gruppe betrieb. Seit über 20 Jahren wird über Verfahrensbeschleunigungen in der Asylpolitik diskutiert. Der Präsident des Bundes- 74 Verwaltungsgerichts kritisierte in diesem Zusammenhang noch vor der Änderung des Grundgesetzes, dass die Versendung von Akten oft Monate in Anspruch nahm. Im Streit um ein neues Asylverfahrensgesetz trat der Präsident des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Norbert von Nieding, zurück, weil er das Gesetz ablehnte. Sein Nachfolger bemängelte, dass das Amt wegen Personalmangels nicht in der Lage sei, Asylverfahren innerhalb der angestrebten sechs Wochen abzuschließen. Nur die Hälfte der neuen Stellen könne besetzt werden, denn der Arbeitsmarkt sei leergefegt. Rechtsanwälte wie der baden-württembergische CDU-Landtagsabgeordnete Karl Lang beschwerten sich bereits damals darüber, dass die Fristen beispielsweise für Widersprüche so stark verkürzt worden seien, dass man sie seiner Meinung nach gar nicht einhalten könne. Nach jahrelangen Diskussionen und Asyländerungen stimmte der Bundestag schließlich der Änderung des Grundgesetzes zu. Die Novellierung des Asylverfahrensrechts, die am I.Juli 1993 in Kraft trat, brachte eine gravierende Änderung des Grundrechts auf Asyl mit sich. In Art. 16a, Abs. 1 Grundgesetz heißt es weiterhin: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Abs. 2 schränkt jedoch den Schutzbereich des Grundgesetzes vor allem durch drei Punkte ein: 1. Sichere Drittstaaten: Asylbewerber, die aus sogenannten sicheren Drittstaaten einreisen, in denen die Genfer Flüchtlingskonvention sowie die Europäische Menschenrechtskonvention gelten, erhalten kein Asyl mehr. Alle Nachbarstaaten Deutschlands sind sichere Drittstaaten, so dass Deutschland von einem Gürtel solcher Staaten umgeben ist. 2. Sichere Herkunftsstaaten: ein Asylantrag gilt als »offensichtlich unbegründet«, wenn der Antragsteller aus einem sogenannten »sicheren Herkunftsstaat« kommt, in dem keine politische Verfolgung vorliegt. Welches Land als sicher gilt, bestimmt der Gesetzgeber auf der Grundlage von Lageberichten des Auswärtigen Amtes. 75 3- Flughafenregelung: Diese Regelung gilt für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern sowie für Asylbewerber ohne Ausweise, die über einen Flughafen einreisen und bei der Grenzbehörde um Asyl bitten. Das Asylverfahren wird im Transitbereich des Flughafens beschleunigt vorgenommen. In Deutschland ist es also nicht mehr möglich, auf dem Landweg einzureisen, um einen Asylantrag zu stellen, da die Einreise auf dem Landweg entweder über einen sicheren Drittstaat oder aus einem sicheren Herkunftsstaat erfolgt. Uberspitzt ausgedrückt: Asylbewerber müssen mit einem Fallschirm über Deutschland abspringen, um einen Asylantrag stellen zu können, oder illegal einreisen und vor allem ihren Fluchtweg verschleiern. Das deutsche Asylrecht orientiert sich sozusagen nicht mehr an der Schutzbedürftigkeit des Asylbewerbers, sondern am Fluchtweg und am gewählten Transportmittel. Es ist neu in Deutschland, dass man Gesetze verletzen muss, um ein Grundrecht, das nach wie vor in der Verfassung steht, beanspruchen zu können. Doch trotz aller Kritik, die im Laufe der Jahre immer wieder vorgetragen wurde, bestätigte das Bundesverfassungsgericht die neue Asylpolitik. Die Zahl der Asylbewerber sank von 440 000 im Jahre 1992 auf jeweils 120000 in den Jahren 1994 und 1995. Dazu hatte nicht nur die psychologische und praktische Auswirkung der Grundgesetzänderung, sondern vor allem die früheren Beschleunigungsmaßnahmen im Asylverfahren beigetragen, die sich jetzt erst auswirkten. Die Zahl der Anträge ging vor allem auch deshalb so stark zurück, weil das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sein Personal drastisch aufstockte. So wurden in einem Jahr 140 Prozent mehr Entscheidungen gefällt als im Jahr zuvor, und der Berg von fast einer halben Million unerledigter Anträge war plötzlich sehr schnell abgebaut. Im Rahmen des sogenannten »Asylkompromisses« vom Juli 1993 wurde im Ausländergesetz ein besonderer Rechts- 76 Status für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylverfahrens festgelegt. Ausländer aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen sollen danach in Deutschland einen vorübergehenden Schutz bekommen. Eine einvernehmliche Verständigung zwischen Bund und Ländern, insbesondere über die Finanzierung dieser Maßnahme, konnte jedoch nicht erreicht werden, so dass bei den Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina der neue Status keine Anwendung fand. Nur Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Kosovo, die im April und Mai 1999 aus Mazedonien evakuiert wurden, erhielten diesen Status. Nachdem es in Deutschland an der Asylfront ruhiger geworden war, rückte die Mehrzahl der ausländischen Einwohner und die angekündigte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wieder etwas mehr ins Bewusstsein. Bei den Koalitionsverhandlungen der Regierungsparteien im November 1994 bestand Uneinigkeit darüber, was die weitere Gestaltung der Ausländerpolitik anging. Als Kompromiss wurde eine sogenannte »Schnupperstaatszugehörigkeit« vorgeschlagen, die ausländischen Jugendlichen eine Kinderstaatszugehörigkeit verschaffen sollte, die in der Praxis aber kaum Verbesserungen gebracht hätte. Wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten in der Bonner Regierungskoalition geriet die Reform des Einbürgerungs- und Staatsbürgerschaftsrechts wieder ins Stocken. Die SPD löste 1996 einen anhaltenden Streit über die Aussiedlerpolitik aus. SPD-Chef Oskar Lafontaine sprach sich für die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts aus, um eine -wie er sagte - Bevorzugung von Aussiedlern gegenüber seit Generationen in Deutschland lebenden Ausländern zu verhindern. Im Landtagswahlkampf 1996 in Baden-Württemberg wiederholte sich gewissermaßen die Einwanderungsdebatte, die früher um Türken und Asylbewerber geführt wurde. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, so argumentierten diesmal die Sozialdemokraten, sei es unverantwortlich, über 77 20o ooo Aussiedler ins Land hereinzulassen. Diese Argumentation brachte der SPD jedoch keine Wählerstimmen. Im Gegenteil, sie erreichte ein denkbar schlechtes Ergebnis. Die Aussiedlerpolitik markiert aber auch einen deutlichen Widerspruch in der Politik der CDU/FDP-Bundesregierung: Seit 195)3 wurde der Zuzug durch eine klare Quote von 200000 eindeutig gesteuert und der Begriff »Spätaussiedler« statt Aussiedler festgeschrieben. Eine Einwanderungs- und Integrationspolitik, von der Regierung Kohl und vor allem vom damaligen Innenminister Kanther immer strikt abgelehnt, bestand damit bereits beim Zuzug von Spätaussiedlern. Viel zu spät hatte die Bundesregierung aber auf das »Aussiedlerproblem« reagiert. Dabei forderte Baden-Württembergs Innenminister Dietmar Schlee (CDU) bereits 1988, eine Aussiedlerstadt einzurichten, um auf das Problem der Unterbringung hinzuweisen. Immerhin kamen damals schon rund 200000 Aussiedler aus der Sowjetunion sowie aus Süd- und Südosteuropa in die Bundesrepublik. Politiker nahmen sie mit offenen Armen auf. Der Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium Horst Waffenschmidt (CDU), bezeichnete die Kinder der Aussiedler 1989 als »Goldschatz«. Er sagte: »Man darf jetzt nicht nur sehen, was diese Aussiedler uns in der Eingliederungsphase kosten, sondern man muss auch einmal sehen, dass sie auf Dauer ein großer Gewinn für uns sind. Sie sind Wirtschaftsbürger und erbringen etwas für unser wirtschaftliches Leben. Aber dazu kommt natürlich ein viel größerer Gewinn noch: sie sind ein großer kultureller Beitrag. Sie bringen ihre Tradition, ihren Glauben mit. Das macht sich schon positiv bemerkbar in manchen Städten und Dörfern. Und, was ich ganz wichtig finde, sie sind Menschen, die große Familien haben, viele Kinder mitbringen. Allein die Kinder sind schon ein Schatz für unser Zusammenleben. Also weit über das materielle hinaus sind sie ein Gewinn für uns.« Dahingegen warnte Stuttgarts Oberbürgermeister Man- 78 fred Rommel (CDU) frühzeitig davor, in so starkem Umfang in Osteuropa Aussiedler anzuwerben. Rommel wörtlich: »Wir stehen vor einer gewaltigen Aufgabe in der Unterbringung und Eingliederung der Aussiedler. Diese Aufgabe kann man nicht dadurch erfüllen, dass gelegentlich die schwarzrot-goldene Fahne gehisst wird, sondern nur dadurch, dass man ein finanziertes Einwanderungs- oder Eingliederungsprogramm aufstellt und Schritt für Schritt verwirklicht.« Schon bald entstanden in der Tat immer mehr Probleme aus der Zuwanderung von Aussiedlern, deren Zahl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion emporschnellte und im Jahr 1990 mit rund 400000 Personen ihren Höhepunkt erreichte. Wachsendes Konfliktpotential im Zusammenleben zwischen Einheimischen, Aussiedlern und Ausländern förderte eine Untersuchung im Auftrag des Sozialministeriums von Nordrhein-Westfalen 1992 zutage. In Ballungszentren hätten Nachbarschaften weitgehend ihre integrative Funktion verloren. Die Deutschen fühlten sich häufig verdrängt und befürchteten einen Verlust an Wohn- und Lebensqualität, so Ergebnisse der Studie. Allen Gruppen ist nach dieser Untersuchung ein Gefühl der Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht, das die Einstellung untereinander wesentlich prägt, gemein. Ein latentes Konfliktpotential sei vorhanden. Alle drei Gruppen suchten nach Sündenböcken, um die Probleme im Alltag zu erklären. Ausländer sehen nach diesen Ergebnissen vor allem in Aussiedlern und Asylbewerbern die Probleme. Ein junger Türke sagt über Aussiedler: »Sie haben einen deutschen Pass, halten sich für deutsch, obwohl sie nicht Deutsch sprechen können. Ich bin hier geboren und die schreien schon: >Ausländer raus<.« Aussiedler kommen nach dieser Erhebung mit einem idealisierten Bild des »Heimatlandes« nach Deutschland. Eine Aussiedlerin sagt über Ausländer: »Es sind zu viele. Die ganze Welt lebt ja in Deutschland. Wir vermeiden Kontakte mit ihnen. Das, was man so hört, reicht uns schon.« Sozialminister Heinemann fühlte sich bei 79 der Lektüre der Studie an Verhältnisse in amerikanischen Großstädten erinnert. Ohne ein rechtzeitiges Reagieren von Politik und Gesellschaft könnten sich seiner Meinung nach in absehbarer Zeit ähnliche Verhältnisse wie dort verfestigen. Eine wachsende Abneigung gegen Aussiedler offenbarte eine weitere Umfrage in Nordrhein-Westfalen im August 1992: Nur noch ein Drittel stimmte jetzt der Aussage zu: »Die Aussiedler sind Deutsche, man darf sie nicht wie Ausländer behandeln.« Vier Jahre zuvor hatten sich noch zwei Drittel dieser Meinung angeschlossen. Viele »Gastarbeiterfamilien«, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, empfanden die Aussiedlerpolitik als sehr merkwürdig. Die Kinder der Aussiedler waren »Goldstücke«, ihre eigenen Kinder dagegen, wie es ihnen oft von Politikern vorgehalten wurde, eine Belastung für die Gesellschaft. Die deutschstämmigen Einwanderer dominierten jahrelang die Zuwanderungsstatistik und übertrafen in manchen Jahren sogar die Zahl der Asylbewerber. Im Gegensatz zu anderen Einwanderern führte die Bundesregierung bei Aussiedlern ein Eingliederungsangebot ein, mit sozialpolitischen Maßnahmen, einem Anspruch auf Einbürgerung und Eingliederungsbeihilfen wie zum Beispiel kostenlosen Sprachkursen. Auch wenn diese Integrationshilfen, insbesondere die Deutschkurse, später zurückgefahren wurden, waren sie mustergültig und hätten auch schon seit Jahrzehnten für andere Einwanderergruppen eingerichtet werden sollen. Die Bemühungen der Bundesregierung, Fluchtursachen vor Ort zu beseitigen - in diesem Fall durch Hilfsprogramme vor allem die kulturelle und sprachliche Identität in Aussiedlungsgebieten besonders in Kasachstan zu erhalten -, stellen auch heute noch einen Ansatzpunkt für andere Herkunftsländer von Flüchtlingen dar. Die Aussiedlerpolitik blieb lange Zeit geradezu ein Tabuthema. Auch liegen, abgesehen vor allem von den Studien von Babara Dietz vom Osteuropa-Institut in München, wenig 80 Untersuchungen und Daten zur Lage der Aussiedlerfamilien vor. Dabei sind seit 1950 über vier Millionen Aussiedler nach Deutschland zugewandert. Aussiedler sind die größte Einwanderungsgruppe in Deutschland im letzten Jahrzehnt, denn was die soziale Lage und die Integrationsprobleme wie Sprachschwierigkeiten angeht, sind sie durchaus mit anderen Einwanderergruppen vergleichbar. Russland ist somit das Hauptherkunftsland der Einwanderer in Deutschland seit 1990. Alles in allem sind seit 1990 rund 730000 Aussiedler im Kindes- und Jugendalter nach Deutschland eingereist. Die Altersstruktur der Aussiedler ist deutlich jünger als die der deutschen und der ausländischen Bevölkerung in Deutschland. In der deutschen Bevölkerung waren 1999 nur rund 21 Prozent jünger als 20 Jahre. In der ausländischen Wohnbevölkerung waren es 26 Prozent. Bei den im Jahre 1999 zugereisten Aussiedlern aber rund 3 5 Prozent. Obwohl jugendliche Aussiedler meistens kurz nach der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, sind sie in vielen Bereichen, etwa den Sprachkenntnissen, mit den ausländischen Jugendlichen zu vergleichen. Doch werden bei ihnen Integrationsprobleme kaum zur Kenntnis genommen. Nur gelegentlich geraten Aussiedler im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Sucht in die Schlagzeilen. In Baden-Württemberg waren 20 Prozent der Drogentoten im. Jahr 2000 Spätaussiedler. Wie Sozialberater immer wieder berichten, ist Alkoholismus bei diesen Jugendlichen ein weit verbreitetes Problem. Das Aussiedleraufnahmegesetz aus dem Jahr 1990 legt fest, dass deutsche Aussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion den Nachweis ihrer deutschen Abstammung, der auf dem Grundgesetzartikel 116 beruht, vom Herkunftsland aus führen müssen. Dies ermöglichte indirekt die Kontingentierung bei der Aufnahme von Aussiedlern. Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 1. Januar 1993 schreibt vor, dass alle Ausreisewilligen aus den Staaten Osteuropas 81 mit Ausnahme der Deutschen aus der Ex-Sowjetunion individuell glaubhaft machen müssen, dass sie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit benachteiligt wurden. Diese neue Regelung - bisher ging die Bundesregierung generell von einem Vertreibungsdruck aus - führte dazu, dass fast keine Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien und Polen als Aussiedler anerkannt wurden. Seit Anfang der 90er Jahre kamen deshalb praktisch alle Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Sommer 1996 wurde die Prüfung der deutschen Sprachkenntnisse der Ausreisewilligen im Herkunftsland eingeführt, durch die sie seitdem ihre deutsche Volkszugehörigkeit nachweisen müssen. Zwischen 1996 und 2000 wurden über 180000 Ausreisewillige zu Sprachtests vorgeladen, von denen über 45 Prozent den Test nicht bestanden. Die Sprachtests zum Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit wurden somit zu einem weiteren Steuerungsinstrument und führten zu einem starken Rückgang der Zuwanderungszahlen. Im Jahr 2001 kamen 98 484 Spätaussiedler nach Deutschland. Damit wurde die seit 1998 festgelegte Obergrenze von 100 000 pro Jahr nahezu ausgeschöpft. Wiederum übertraf die Zahl der Spätaussiedler die der Asylbewerber: Im Jahr 2001 wurden 88 287 Asylanträge neu gestellt. Aussiedlerfamilien sind in größerem Umfang auf Sozialhilfe angewiesen. Im Jahr 199 5 bezogen 15 Prozent der Aussiedlerhaushalte Sozialhilfe. Bei den einheimischen Haushalten waren es nur drei Prozent. Von den jugendlichen Aussiedlern bezogen über zehn Prozent »Stütze«, aber nur 1,1 Prozent aller einheimischen Jugendlichen. Die Defizite im schulischen Bereich, in der Berufsausbildung und auf dem Arbeitsmarkt ähneln denen der jugendlichen Ausländer in Deutschland. Junge Aussiedler tendieren dazu, soziale Beziehungen nur in der eigenen Einwanderergruppe aufzubauen. Uber die Hälfte von ihnen hat überwiegend Freunde unter Aussiedlern, was auch daran liegt, dass viele in Ubergangswohnheimen und Sozialwohnungen mit anderen Aussied- 82 lern zusammenleben. Viele jugendliche Aussiedler klagen über Diskriminierungen in Deutschland, was wiederum zur Abkapselung führen kann. Die Probleme der jungen Aussiedler wiegen umso schwerer, als sie im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen über eine höhere Bildung beziehungsweise Ausbildung sowie über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Die Tatsache, dass es sich bei dieser Einwanderergruppe um potentielle Wähler handelt, ist sicherlich eine wichtige Erklärung dafür, dass das »Aussiedlerproblem« von der Bundesregierung über Jahre hinweg geradezu ausgeklammert wurde, beispielsweise was die Frage nach der »Einwanderung in die Sozialsysteme« angeht. Dabei war im Jahr 1998 mindestens jeder vierte erwerbsfähige Spätaussiedler arbeitslos. Die Beschäftigungssituation insgesamt hat sich bei der Einwanderergruppe in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Auch ein mustergültiges Integrationspaket, das für die Aussiedler von Anfang an geschnürt wurde, hat die Probleme nur teilweise verringern können, zumal die Zahl der ohne Sprachtest kommenden Familienangehörigen in den letzten Jahren immer größer wurde. Inzwischen besteht diese größte Zuwanderungsgruppe zu 25 Prozent aus Personen, die einen Sprachtest abgelegt haben, und 75 Prozent Familienangehörigen, die ohne Sprachtest nach Deutschland kommen dürfen. Die neue Bundesregierung sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass sie trotz der eingeführten Quote rund 480 000 unbearbeitete Anträge von der alten Bundesregierung übernehmen musste. Die neue Bundesregierung senkte die Zuzugsquote für Spätaussiedler auf 100000 pro Jahr und versuchte mit einem neuen Konzept die Integrationsprobleme besser in den Griff zu bekommen. Spätaussiedler wurden nun - so der neue Aussiedlerbeauftragte Jochen Welt (SPD) - als Teilgegenstand der gesamten Migrationsund Integrationspolitik begriffen. Was das Thema »deutsche Sprachkenntnisse« und Nachzugsalter angeht, so wurde auf jeden Fall lange Zeit mit zweierlei Maß gemessen. Bei den 83 ausländischen Familien werden Sprachkenntnisse als unabdingbare Voraussetzung für die Integration erwartet, und seit vielen Jahren wird heftig über eine Senkung des Nachzugsalters debattiert. Beim Zuzug von Aussiedlern scheint dies -insbesondere für die Unionsparteien - offenbar keine Rolle zu spielen. Die Familienangehörigen, nicht nur die Ehepartner und minderjährige Kinder, sondern auch erwachsene Kinder, deren Ehepartner und Kinder können ohne Sprachtest nach Deutschland einreisen und bekommen oft direkt danach die deutsche Staatsangehörigkeit. In der Bevölkerung und in manchen Zeitungsberichten werden Spätaussiedler längst als »Russen« bezeichnet, obwohl sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Ablehnung und Gewalt richtet sich seit Beginn der 90er Jahre aber in erster Linie gegen »Ausländer«. Mit Beginn der 90er Jahre breitete sich sogar so etwas wie eine Pogromstimmung mit gewalttätigen Ausschreitungen aus, und zwar nicht nur in Hoyerswerda, Mölln oder in Solingen, wo am 29. Mai 1993 fünf Türken, drei Kinder und zwei Erwachsene verbrannten, nachdem ihnen das Haus über dem Kopf angezündet worden war. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen stellte in seinem Jahresbericht 1993 fest: »Mit dem Brandanschlag von Solingen ließ sich das Ausmaß von latenter Fremdenfeindlichkeit und alltäglichem Rechtsextremismus nicht länger relativieren. Seit Solingen ist klar geworden, dass es jederzeit und an jedem Ort zu derartigen Ausbrüchen kommen kann. Die Auswirkungen für die Betroffenen, für das friedliche Zusammenleben in Deutschland und in der internationalen Völkergemeinschaft sind unabsehbar.« In Rostock-Lichtenhagen stürmten Jugendliche im August 1992 nach mehrtägigen Straßenschlachten und Krawallen mit einer überforderten Polizei ein Asylbewerberheim. Die Bilder von der Beifall klatschenden Menge gingen um die Welt. Wie durch ein Wunder kamen die Vietnamesen, der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock und ein Kamera- 84 team des ZDF, die sich im Heim aufhielten, nicht ums Leben. Es ist eigentlich ein Justizskandal, dass ein Prozess gegen die mutmaßlichen Täter erst neun Jahre später, im November 2001, eröffnet wurde und das Verfahren gegen einen Beschuldigten wegen Verjährung eingestellt werden musste. Vor allem die jubelnde Menge, die tagelang vor dem Wohnheim Beifall klatschte, dürfte sich so im Nachhinein noch eher bestätigt fühlen. Bundesweit wurden allein im Jahre 1991 nach Angaben des Bundesinnenministeriums 2351 ausländerfeindlich motivierte Gewalttaten begangen. Nach einer Befragung aus dem Jahr 1993 bezeichneten fast die Hälfte der Ausländer aus den ehemaligen Anwerbestaaten »das ausländerfeindliche Klima« in Deutschland als »ihr größtes Problem«; von den'Türken fühlten sich sogar 65 Prozent »in Deutschland bedroht«. Vor allem der Anschlag von Solingen löste außer Entsetzen auch gesellschaftliche und politische Gegenbewegungen aus, wobei unverständlich bleibt, dass Bundeskanzler Kohl nicht an der Trauerfeier für die Mordopfer teilnahm. Hunderttausende nahmen an Demonstrationen und Lichterketten teil, um gegen die Gewalt gegen Ausländer und das zunehmend ausländerfeindliche Klima in Deutschland zu demonstrieren. Der Anschlag von Solingen hatte aber auch eine Fanalwirkung. In ganz Deutschland lösten die feigen Morde eine Welle von fremdenfeindlichen Straftaten aus. Die Wirtschaftsverbände machten darauf aufmerksam, dass das Image Deutschlands im Ausland leide und dem Wirtschaftsstandort Deutschland geschadet würde. Einige Zeit später warnte sogar das US-Außenministerium amerikanische Touristen vor Reisen nach Ostdeutschland, nachdem bereits Reiseführer solche Warnungen verbreitet hatten. Wissenschaftler weigerten sich, an Universitäten in den neuen Bundesländern zu gehen, weil sie Angst vor Gewalttaten hatten. Schuld an dieser Klimaverschlechterung war vor allem die jahrelange unsachliche Auseinandersetzung um die Asylpolitik. Aber selbst 85 dieser traurige Tatbestand war nicht neu: Bereits 1980/81 stieg im Kontext der Asyldebatte die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland in einem bis dahin noch nicht dagewesenen Ausmaß. 17 Menschen kamen bereits 1980 bei Anschlägen neonazistischer Gruppierungen ums Leben. In einem Ausländerwohnheim in Hamburg starben zwei vietnamesische Flüchtlinge, nachdem Rechtsradikale Molotowcocktails in das Haus geworfen hatten. Beim Bombenattentat eines Rechtsextremisten auf dem Münchner Oktoberfest starben im September 13 Menschen, zweihundert wurden verletzt. Auf der anderen Seite zeigen Meinungsumfragen, dass die Bereitschaft für eine Integrationspolitik immer noch vorhanden war. So befürworteten 1993 61 Prozent der befragten Bundesbürger die doppelte Staatsangehörigkeit für Ausländer, die länger als fünf Jahre in Deutschland leben. Nach einer anderen Umfrage sprachen sich sogar mehr als 70 Prozent aller Wahlberechtigten für die doppelte Staatsangehörigkeit für länger in Deutschland lebende Türken aus. Was Ausländerfeindlichkeit und Gewalt gegen Fremde angeht, so musste die Bundesregierung einräumen, dass bei 80 Prozent der 1993 und 1994 verübten fremdenfeindlichen Brandanschlägen eine Aufklärung nicht möglich war. In den neuen Bundesländern nahm die Gewaltbereitschaft rechtsradikaler Jugendlicher weiter zu. Im Oktober 1996 verzeichneten die Behörden eine Welle von Angriffen jugendlicher Rechtsradikaler gegen Ausländer. Ein italienischer Bauarbeiter, zwei Franzosen und zwei britische Studenten wurden schwer verletzt. Ein syrischer Gemüseverkäufer wurde in Leipzig in seinem Geschäft erstochen. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen empfahl der Bundesregierung eine stärkere Kontrolle der deutschen Polizeibehörden, um polizeiliche Ubergriffe bei Festnahmen von Ausländern, die eindeutig rassistischen Hintergrund hätten, zu verhindern. Der UN-Berichterstatter über Fremdenfeindlichkeit forderte in seinem Bericht, dass Deutschland ein Antirassis- 86 musgesetz gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit verabschieden und die Lebensbedingungen für Asylbewerber verbessern solle. Fast überfallartig führte Bundesinnenminister Kanther zur Jahreswende 1996/97 eine Visumspflicht für Ausländerkinder ein. Danach benötigten Kinder unter 16 Jahren aus der Türkei, aus Jugoslawien, Marokko und Tunesien zur Einreise in die Bundesrepublik ein Visum, was bei der Bundesausländerbeauftragten Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), aber auch innerhalb der CDU auf Kritik stieß. Völlig unnötig wurden 800 000 Kinder und ihre Eltern durch diese Eilverordnung verunsichert und viel integrationspolitisches Porzellan zerschlagen. Auch bei dieser Maßnahme hat offensichtlich ein Wahltermin - diesmal die Kommunalwahl in Hessen - eine Rolle gespielt. Nach einem sogenannten »Gästeerlass« des Bundesinnenministers von Ende 1996 erhalten Gäste aus Visumspflichtigen Staaten erst dann ein Visum, wenn ihre Gastgeber in Deutschland den Ausländerbehörden Mietvertrag, Versicherungsvertrag und Einkommensbescheide vorlegen. Zwar gelten diese Angaben als »freiwillig«, jedoch besteht bei einer Verweigerung kein Anspruch auf Erteilung des Visums für den Gast. Ende der 90er Jahre rückte die Begrenzung der Ausländerbeschäftigung erneut ins Bewusstsein der Politik. Der sozialpolitische Arbeitskreis der Unionsfraktion sprach sich für einschneidende Maßnahmen aus, um neu einreisenden Ausländern aus Nicht-EU-Staaten und Aussiedlern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu versperren. Seit dem 15. Mai 1996 bekamen neu einreisende Asylbewerber keine Arbeitserlaubnis mehr. Als Begründung nannte das Bundesarbeitsministerium unter anderem die hohe Zahl der Arbeitslosen. Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) machte ausländische Arbeitnehmer mit verantwortlich für die hohe Arbeitslosenquote in Deutschland. Er bezeichnete es als »grotesk«, dass Millionen Deutsche arbeitslos seien, während viele Aus- 87 länder hier Arbeit hätten. Außerdem verlangte er eine Zuwanderungsbegrenzung, weil sich die starke Zuwanderung von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Aussiedlern negativ auf den Arbeitsmarkt auswirke. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) forderte im Juli 1997 die rasche Abschiebung ausländischer Straftäter. Wer das Gastrecht missbrauche, sagte Schröder, »für den gibt es nur eins: Raus, und zwar schnell«. »Beim organisierten Autodiebstahl sind Polen nun einmal besonders aktiv, das Geschäft der Prostitution wird dominiert von der Russen-Mafia, Drogenkriminelle kommen besonders häufig aus Südosteuropa und Schwarzafrika«, meinte Schröder, ganz ohne Scheu vor dem Vorwurf des Populismus. Bundeskanzler Helmut Kohl begründete sein Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft im Oktober 1997 beim Deutschlandtag der Jungen Union zum ersten Mal öffentlich mit der Zahl der hier lebenden Türken. Wenn, wie von Opposition und FDP gefordert, doppelte Staatsangehörigkeiten eingeführt würden, müsse man davon ausgehen, dass statt drei Millionen Türken künftig vier bis sechs Millionen Türken in Deutschland leben könnten. Die Türkei sei zwar »ein alter Freund der Bundesrepublik«. Man müsse aber bedenken, dass die Türken aus einer anderen Hochkultur kämen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hielt dem Kanzler daraufhin »Panikmache und unnötiges Schüren von Vorurteilen« vor. Auch die FDP kritisierte Kohl. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen und Sohn türkischer Eltern, Mahmut Türker, meinte, Kohl habe mit seiner Bemerkung erneut gezeigt, welche Perspektive die in Deutschland lebenden Türken und ihre Kinder als respektierte Mitglieder der Gesellschaft haben: keine. Helmut Kohl soll sich - so berichteten es jedenfalls die türkischen Zeitungen - bei der Hochzeit seines Sohnes mit einer Türkin in Istanbul vier Jahre später für seine Äußerungen entschuldigt haben. In seiner Rede vor der 88 Hochzeitsgesellschaft habe er Abbitte für Vorurteile geleistet, die er in der Vergangenheit gegen Türken gehegt habe. Wenige Tage nach den umstritten Äußerungen Kohls über Türken scheiterten die Koalitionsgespräche zwischen CDU/ CSU und FDP über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Die Ankündigung einiger FDP-Abgeordneter, bei einer erneuten Abstimmung im Bundestag über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts nicht mehr gegen ihre persönliche Überzeugung zu stimmen und den Reformantrag des Bundesrats zu unterstützen, sorgte daraufhin für Aufsehen. Der Fortbestand der Koalition schien damit gefährdet, nachdem auch CSU-Bundestagsabgeordnete mit dem Aus der Koalition gedroht hatten, falls sich FDP-Abgeordnete nicht an die gemeinsame Linie halten würden. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts scheiterte schließlich endgültig für die laufende Legislaturperiode, obwohl es eigentlich eine parteiübergreifende Mehrheit für eine Modernisierung der Staatsbürgerschaft gegeben hatte. Die Koalition wurde damit insofern wortbrüchig, als sie im Koalitionsvertrag eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts versprochen hatte. Nur drei FDP-Abgeordnete enthielten sich im Bundestag der Stimme. Nach dem Bundesratsantrag sollte der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für in Deutschland geborene Ausländerkinder erleichtert werden. Die Abstimmung stand wiederum unter starker Beobachtung, weil einige CDU- und viele FDP-Abgeordnete eine Reform unterstützten. Da einige Wochen vorher jedoch Abgeordnete der FDP beim sogenannten »Großen Lauschangriff« mit der SPD gestimmt und der Koalition eine Niederlage beigebracht hatten, wurde die Abstimmung über das Staatsangehörigkeitsrecht wiederum auf die Frage nach dem Fortbestand der Koalition zugespitzt. Letztendlich ging es wieder einmal nicht mehr um die Sache - erleichterte Einbürgerung -, sondern um eine dieser Form noch nicht dagewesene Instrumentalisierung der Ausländerpolitik für den 89 Machterhalt. In der Sache waren sich - wie später auch beim Einwanderungsgesetz im Jahre 2001 - eigentlich alle im Prinzip einig. So begründete der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen, der eigentlich die Reform befürwortete, seine Ablehnung mit dem Argument, die SPD instrumentalisiere »ein konfliktträchtiges Thema für Wahlkampf -zwecke«. Obwohl die Bundesregierung nicht müde wurde, vor hohen Zuwanderungszahlen zu warnen, vollzog sich nach der deutschen Vereinigung ein stiller Wandel hin zu einer neuen Ära der »Gastarbeiterpolitik«. Trotz Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise boomte die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Mit rund 2,2 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten erreichte sie im September 1993 fast wieder den Höchststand in der Nachkriegsgeschichte aus den Jahren 1972/73. Die Beschäftigung von ausländischen Saison-, Gastarbeit- und Werkvertragsarbeitnehmern nach der Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung signalisierte einen Rückfall in das tot geglaubte Rotationsprinzip. So wurden in den 90er Jahren jeweils etwa eine Million Arbeitserlaubnisse pro Jahr für Ausländer erteilt, in manchen Jahren sogar über 1,2 Millionen. Die meisten davon waren allgemeine Arbeitserlaubnisse, die nur ausgestellt werden, wenn für den Arbeitsplatz kein deutscher oder gleichgestellter Arbeitnehmer, vor allem aus der EU, zur Verfügung steht. Zwar sind in diesen Zahlen auch Wiedererteilungen und vor allem auch kurzfristige Beschäftigungen enthalten, trotzdem machen die Zahlen die Dimension der Ausländerbeschäftigung in den 90er Jahren deutlich. Der Anwerbestopp von 1973 wurde durch die Ausnahmeverordnung von 1990 so stark ausgehöhlt, dass er in der Praxis nur noch wenig Bedeutung hatte. Eigentlich wurde der Anwerbestopp also schon unter der Regierung Kohl aufgehoben. Anwerbung und hohe Zuwanderung fand weiterhin statt, auch ohne ein Einwanderungsgesetz. 90 Vermeintlich auch im Hinblick auf Wahltermine kündigte der Münchner CSU-Vorsitzende Peter Gauweiler einen Volksentscheid an, um die Bayerische Verfassung um den Satz »Bayern ist kein Einwanderungsland« zu ergänzen. Gauweiler sagte, man müsse »die Substanz des Landes verteidigen« und warnte vor »Berliner Verhältnissen«, wo in Schulklassen 80 Prozent der Kinder Ausländer seien. Die Landes-CSU lehnte den Vorschlag von Gauweiler mit dem Hinweis ab, dass der Bund für das Ausländer- und Asylrecht zuständig sei. Die CSU-Landesgruppe im Bundestag verabschiedete im Januar 1998 ein Positionspapier, das sich für Maßnahmen gegen eine »unerwünschte Zuwanderung« von Ausländern nach Deutschland aussprach. Dabei schlossen die Bundestagsabgeordneten der CSU eine weitere Änderung des Grundgesetzes nicht aus. Im März machte Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber Schlagzeilen, als er ankündigte, dass Bayern im Bundesrat gegen den Amsterdamer Vertrag stimmen würde. Er befürchtete, dass Deutschland die Einwanderung von Nicht-EU-Ausländern nicht mehr kontrollieren könne. Er forderte von Bundeskanzler Kohl eine »völkerrechtliche Klarstellung«, dass die Entscheidungskompetenz bei der Zuwanderung auch weiterhin in Deutschland bleibe und nicht nach Brüssel abgegeben werde. Erst nachdem Kohl in einem Brief an den EU-Ratspräsidenten diese Position klarstellte, stimmte Stoiber und damit der Bundesrat letztendlich einstimmig dem Amsterdamer Vertrag zu. Im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs führte die Ausländerpolitik im Mai 1998 zu einer Kontroverse innerhalb der Unionsparteien. Auf einem kleinen Parteitag hatte sich die CSU dafür ausgesprochen, dass der Ausländerzuzug begrenzt und eine härtere Abschiebepraxis eingeführt werden solle. Nach Meinung der CSU sollte dies in dem gemeinsamen Wahlprogramm von CDU und CSU unter dem Motto »Deutschland und Bayern sind kein Einwanderungsland« 9i verankert werden. Das blieb innerhalb der Union nicht unwidersprochen. Heiner Geißler, der stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende, warnte davor, die Ausländerpolitik zum Wahlkampfthema zu machen. Dahingegen zeigte Bundesinnenminister Kanther Verständnis für die Forderung der CSU. Im gemeinsamen Wahlprogramm plädierte die Union schließlich gegen einen weiteren Zuzug von Ausländern, weil dieser unter anderem den inneren Frieden des Landes gefährde. Im Bundestagswahlkampf 1998 gelang es der Union, vor allem der CSU, dieses Mal nicht, das Ausländerthema zum Machterhalt einzusetzen, obwohl die Partei in Bayern beispielsweise vor einer »Islamischen Republik Deutschland« warnte und obwohl SPD und vor allem Bündnis 90/ Die Grünen durchaus Angriffsflächen boten. Alles in allem wurde das Reizthema »Ausländer« von den Sozialdemokraten im Wahlkampf neutral behandelt. Kanzlerkandidat Schröder wiederholte seine polemischen Ausführungen zur Ausländerkriminalität nicht. Wahlanalysen ergaben, dass auf der Skala der Probleme, die gelöst werden sollten, »Arbeitslosigkeit« ganz weit oben auf der Liste stand. 88 Prozent der Befragten hielten dieses Problem für am wichtigsten. Weit abgeschlagen kam das Ausländerthema an vierter Stelle. Nur elf Prozent hielten »Zu viele Ausländer« für das wichtigste Thema. Nach einer anderen Wahluntersuchung folgte, wenn auch wieder mit enormem Abstand, nach »Arbeitslosigkeit« die »Asyl- und Ausländerpolitik« als zweitwichtigstes Thema. Wahlentscheidend war aber diesmal jedenfalls nicht die Ausländerproblematik, sondern die Tatsache, dass die Mehrzahl der Wähler mit dem amtierenden Bundeskanzler unzufrieden war. 92 4-6. Bekenntnis zum Einwanderungsland? Die sechste Phase der Ausländerpolitik: 1998 bis 22. März 2002 In der sechsten Phase der Ausländerpolitik sollte sich Grundsätzliches in der Ausländerpolitik ändern. So jedenfalls kündigte es die 1998 gewählte Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Koalitionsvertrag an. Die Grünen konnten sich allerdings mit ihrer Forderung nach einem Einwanderungsgesetz zunächst nicht durchsetzen. Herta Däubler-Gmelin (SPD), die neue Justizministerin, erklärte, Zuwanderung könne »in der derzeitigen Situation von niemandem ernsthaft gefordert werden«. In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 wird festgestellt, dass ein »unumkehrbarer Zuwanderungsprozess« stattgefunden hat. Der Begriff »Einwanderungsland« wurde jedoch wieder einmal tunlichst vermieden. Im Zentrum der Integrationspolitik sollte die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts stehen. Die doppelte Staatsbürgerschaft sollte dabei grundsätzlich hingenommen werden. Ein Antidiskriminierungsgesetz war ebenfalls vorgesehen. Die Koalitionsvereinbarung stellte sich zunächst weniger dramatisch dar, als von manchen befürchtet oder erwartet. Es war der Abschied vom Staatsangehörigkeitsrecht, das im Kern noch aus Kaiser Wilhelms Zeiten aus dem Jahre 1913 stammte. Einbürgerungserleichterungen hatte es schon in der Vergangenheit gegeben. Auch die alte Bundesregierung wollte weitere Schritte in diese Richtung unternehmen. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen, weil darüber die CDU/CSU-FDP-Koalition zu zerbrechen drohte. Auf jeden Fall setzte die Koalitionsvereinbarung ein deutliches Signal in Richtung Integration: Einbürgerung unter Inkaufnahme von Doppelstaatsangehörigkeit, die es in Wirklichkeit in Deutschland aber schon längst gab. Man schätzt die Zahl der Doppelstaatler bereits auf zwei Millio- 93 nen. Es sind vor allem Kinder aus binationalen Ehen und Spätaussiedler, die meistens zwei Staatsangehörigkeiten besitzen. Rund vier Millionen Ausländer lebten acht Jahre und länger in Deutschland. Sie erfüllten also die zeitliche Voraussetzung für die geplanten Einbürgerungsbestimmungen. Bisher waren die Anträge auf Einbürgerung so gering, weil die alte Staatsangehörigkeit aufgegeben werden musste. Genau das sollte jetzt geändert und dem europäischen Standard angeglichen werden. In Europa lagen Schweden und die Niederlande für den Zeitraum von 1985 bis 1995 an der Spitze, was die Einbürgerungsquoten angeht. Von 1 000 Ausländern, die sich 1985 in Schweden aufhielten, sind innerhalb von zehn Jahren fast 600 eingebürgert worden. Dagegen wurden in Deutschland im gleichen Zeitraum von 1 000 Ausländern nur 50 eingebürgert. In der Bundesrepublik wurden vor den neuen Staatsangehörigkeitsbestimmungen in einem Jahrzehnt gerade einmal so viele Ausländer eingebürgert wie in Frankreich in einem einzigen Jahr. Die Zahl der Ausländer hätte sich also bei der Verwirklichung der ursprünglichen Pläne der Bundesregierung in den nächsten Jahren unter Umständen halbieren können. Ein bis zwei Millionen Wählerstimmen von neuen Deutschen ausländischer Herkunft hätten bei den nächsten Bundestagswahlen im Jahre 2002 unter Umständen zusammenkommen können. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) warf denn auch SPD und Grünen vor, sich Wählerstimmen eingebürgerter Ausländer sichern zu wollen. Der stellvertretende CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Rupert Scholz bezeichnete die Möglichkeit einer doppelten Staatsangehörigkeit als verfassungswidrig und sogar als massive Begünstigung von Ausländern gegenüber Deutschen. Ein solches radikales Reformvorhaben greife »an die Grundlagen der Identität des deutschen Staatsvolkes«. FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle appellierte dagegen an die Union, 94 sich einer Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht länger zu verschließen. Das Jahr 1999 stand auf Bundesebene ganz im Zeichen von Integrationspolitik - fast wie vor 20 Jahren in der dritten Phase der Ausländerpolitik. Die mit dem Regierungswechsel verbundenen Hoffnungen auf eine gezielte Einwanderungspolitik wurden jedoch vorerst enttäuscht. Die überaus deutliche Ablehnung weiterer Zuwanderung durch Bundesinnenminister Schily (SPD) stieß auf Kritik, besonders seine Äußerung, die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung sei bereits überschritten. Ein Einwanderungsgesetz lehnte der neue Bundesinnenminister ebenfalls ab und stellte sich damit in Widerspruch zu den Ankündigungen der neuen Regierung für eine moderne Ausländerpolitik. Auf Kritik stießen auch Äußerungen von Schily, wonach das Asylrecht überprüft werden müsse, weil nur drei Prozent der jährlich ins Land kommenden Flüchtlinge asylwürdig seien. Bei den restlichen handle es sich um »Wirtschaftsflüchtlinge«. Schily hatte allem Anschein nach in der Bundesregierung den Part übernommen, konservative Wähler anzusprechen. Dass er damit Rechtspopulisten - wie der Schill-Partei in Hamburg, die ihn zitierte - Munition lieferte, spielte dabei offenbar keine Rolle. Die Bundesregierung rückte schließlich von ihren Plänen ab, bei den geplanten Einbürgerungserleichterungen generell doppelte Staatsangehörigkeiten in Kauf zu nehmen. Die Unterschriftenkampagne der CDU/CSU gegen den sogenannten »Doppelpass« und der unter anderem damit erzielte Wahlerfolg der Union in Hessen am 7. Februar 1999 hatten maßgeblich zu diesem Rückzieher geführt. Die Unterschriftenaktion »Ja zur Integration - Nein zur Doppelten Staatsbürgerschaft«, die am 27. Januar 1999 bundesweit gestartet wurde, kann vermutlich als eine der erfolgreichsten ausländerpolitischen Aktionen gegen eine Bundes- und Landesregierung bezeichnet werden. Laut Wahltagsbefragung von In- 95 fratest war für jeden zweiten CDU-Wähler und für über 60 Prozent derjenigen, die von einer anderen Partei zur CDU wechselten, das Thema doppelte Staatsbürgerschaft ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung. Ein Plebiszit über die Ausländerpolitik war die Landtagswahl aber deswegen noch lange nicht, worauf der Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer hinweist, eher ein Denkzettel für die Bundesregierung. Christa Thoben, CDU-Präsidiumsmitglied und frühere Staatssekretärin im Bonner Bauministerium, hatte die Unterschriftenkampagne im Vorfeld kritisiert: »Ich habe für solche Stammtischpolitik bei dem sensiblen Thema Ausländerintegration kein Verständnis. Das bekommt der CDU schlecht.« Die Idee der Unterschriftenaktion sollte die Union nach der Wahlniederlage und dem Machtverlust politisch wieder in die Offensive bringen. Edmund Stoiber hatte 1999 die Union auf diesen Kurs gebracht. Wolf gang Schäuble - so die Auffassung von Christa Thoben - wollte durch die Übernahme der Idee aus Bayern offensichtlich eine Spaltung der Union verhindern. Die Parteispitze hatte Bundesvorstand und Präsidium vor vollendete Tatsachen gestellt, kritisierte auch Peter Müller (CDU) im Januar 1999: »Das ist ein unerträglicher Vorgang, den ich nicht akzeptiere.« Müller gewann im gleichen Jahr mit absoluter Mehrheit die Landtagswahlen im Saarland ohne eine Unterschriftenaktion, auch wenn einzelne Ortsverbände Unterschriften gesammelt hatten. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker beurteilte im Nachhinein die Kampagne seiner Partei sehr kritisch: »Letzten Endes aber verkam der Streit zur reinen populistischen, vorsätzlich hoch emotionalisierten Oberfläche, erfolgreich auf Straßen und in Wahlkabinen, jedoch ohne ernsthafte Auseinandersetzung in der Sache. Da war kein demokratischer Charme im Spiel.« Der Erfolg gab den Unionsstrategen auf jeden Fall Recht. Nach dem Sieg bei der Landtagswahl in Hessen holte die 96 Union auch bei den Meinungsumfragen insgesamt auf. Zugleich stieg der Anteil derjenigen Bundesbürger, die eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft ablehnten, von 63 auf 68 Prozent. Allerdings fand die Unterschriftenaktion der Union nach wie vor keine Mehrheit in der Bevölkerung. Nach der Wahl begrüßten sie ausdrücklich nur 45 Prozent der Befragten. 49 Prozent hielten sie nicht für gut. Die Auswirkung der Kampagne auf das Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten muss alles andere als positiv bewertet werden. Wieder einmal mussten sich Ausländer unerwünscht fühlen. Wie man aus den Gesprächen an den Unterschriftentischen entnehmen konnten, wussten die wenigsten, unter was sie da ihren Namen setzten. Immer wieder war zu hören: »Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?« Die SPD reagierte viel zu defensiv auf die CDU-Kampagne, ohne das Thema positiv darzustellen und beispielsweise deutlich zu machen, dass der »Doppelpass« nur ein Teil des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts war und dass es nicht darum ging, den Ausländern den deutschen Pass zum Nulltarif gleichsam aufzudrängen. Die Sozialdemokraten ließen sich von der Union wieder einmal an die Wand drängen, wie schon in der alten SPD/FDP-Bundesregierung 1980/82 und bei der Asylfrage 1990/92. Dabei wäre nach Meinungsumfragen durchaus eine Bereitschaft in der Bevölkerung da gewesen, die neuen Pläne zu akzeptieren, falls diese in der Öffentlichkeit entsprechend dargestellt worden wären. So hatten die Grünen bereits 1993, woran sie sich bei der Hessenwahl offensichtlich selbst nicht mehr erinnerten, eine Million Unterschriften für die doppelte Staatsangehörigkeit gesammelt und der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth übergeben. Selbst die Bild-Zeitung hatte nach der Veröffentlichung der Pläne der Bundesregierung in Türkisch und in Deutsch mit der Überschrift aufgemacht: »Herzlich Willkommen neue Landsleute!« Die Anzeigen, die erst we- 97 nige Tage vor der Hessenwahl mit Prominenten wie Thomas Gottschalk erschienen und für die Doppelstaatsangehörigkeit warben, kamen viel zu spät und wirkten eher kontraproduktiv. CSU-Chef Stoiber hatte in diesem Zusammenhang davor gewarnt, dass im Rahmen der geplanten Gesetzesreform mehrere 100 ooo Familienangehörige nach Deutschland ziehen würden. Außerdem sah er ein »massives Gewaltpotential« voraus. Stoiber sprach sogar davon, dass die neuen Gesetze Risiken mit sich bringen würden, die denen aus der RAF-Zeit mit ihren Terroranschlägen vergleichbar seien. Die schließlich verabschiedeten erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für »Ausländerkinder«, die am i. Januar 2000 in Kraft traten, stellen auf jeden Fall einen gewissen Wendepunkt in der Ausländerpolitik dar. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung damit vom Abstammungsprinzip (ius sanguinis - »Recht des Blutes«) ab, wonach die Staatsangehörigkeit von den Eltern abgeleitet wurde. Kern der Reform ist die Einbürgerung durch das Geburtsrecht (ius soli - »Recht des Bodens, Landes«), wonach die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort bzw. -land abgeleitet wird. Das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 1913 wurde damit zu Grabe getragen und ein grundlegender Perspektivenwechsel zumindest ansatzweise eingeleitet. In der 1999 veröffentlichten Broschüre der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht wird denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik - eigentlich in der deutschen Geschichte überhaupt - regierungsamtlich festgestellt: »Deutschland ist schon längst zum Einwanderungsland geworden.« In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern erwerben nach dieser Neuerung unter bestimmten Umständen mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie müssen sich aber zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verkürzung der Einbürgerungsfrist für die seit langem in Deutschland le- 98 benden Ausländer von 15 auf acht Jahre. Dieser Anspruch hängt von ausreichenden Kenntnissen der deutschen Sprache und einem Bekenntnis zum Grundgesetz ab. Politiker von CDU/CSU kündigten an, sie würden das Gesetz bei veränderten Mehrheitsverhältnissen ändern, weil es nicht dem Willen der Mehrheit in der Bevölkerung entspreche, was die fünf Millionen Unterschriften gegen den »Doppelpass« belegen würden. Die neue Bundesregierung von SPD und Grünen hatte in ihrem Koalitionsvertrag vom 20. Oktober 1998 geschrieben: »Zur Förderung der Integration sollen auch die hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzen, das Wahlrecht in Kreisen und Gemeinden erhalten.« Die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz brachten im Januar 1999 einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat ein, der sich für ein Kommunalwahlrecht für alle Ausländer mit dauerhaftem Bleiberecht einsetzte. Der Gesetzentwurf wurde jedoch auf Eis gelegt. Auch die Bundesregierung dachte - so die Auskunft des Bundespresseamtes -nicht an eine neue Initiative. Für die Einführung eines allgemeinen kommunalen Ausländerwahlrechts wäre eine Grundgesetzänderung mit einer Zweidrittelmehrheit notwendig, die nicht in Sicht sei. Durch den Maastrichter Vertrag haben inzwischen EU-Bürger die Möglichkeit, nicht nur an den Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern auch an Kommunalwahlen teilzunehmen, was zu einem Zwei-Klassen-System unter den Ausländern führt: Ein Viertel darf wählen, drei Viertel nicht. Offenbar hatte die Bundesregierung auch unter dem Druck der Union und den Erfahrungen der verlorenen Hessen-Wahl ihre Pläne für ein allgemeines Ausländer-Kommunalwahlrecht zu den Akten gelegt. Zudem saß der Bundesregierung noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Nacken, das das Kommunalwahlrecht für Ausländer für verfassungswidrig erklärt hatte. Am 99 Schluss des Urteils findet sich im Übrigen ein Satz, der im Nachhinein, nachdem ein kommunales Wahlrecht für EU-Ausländer praktiziert wurde, umso problematischer erscheint: »Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, können demokratische Legitimation nicht vermitteln.« Nach Auffassung des Juristen und Leitartiklers der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl gehört dieser Satz »zu den bedenklichsten, die in Karlsruhe je geschrieben wurde«. Das Urteil war seiner Meinung nach »eine Einladung für Demagogen«. In der Tat wurde durch dieses Urteil gerade in den Großstädten ein erheblicher Prozentsatz der Einwohner von jeglicher politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Die CDU/CSU hatte ihre Klage gegen das Kommunalwahlrecht für Ausländer seinerzeit in Hamburg im Übrigen eine Woche vor den Europawahlen eingereicht. 1999 verstärkte die Bundesregierung ihre Aktionen gegen Fremdenfeindlichkeit und rief ein bundesweites »Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt« ins Leben, das von Kirchen, Bürgerinitiativen und zahlreichen weiteren Institutionen getragen wurde. Damit reagierte sie auch auf den letzten Verfassungsschutzbericht, der einen deutlichen Zuwachs bei den Anhängern rechtsextremer Gruppierungen zutage gefördert hat. Das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend legte ein Sonderprogramm »Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« auf. Zahlreiche Initiativen schlossen sich diesem Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit an, wie zum Beispiel »Schule und Stadt gegen Gewalt«, »Sport macht Freunde« oder ein Projekt der Jugendarbeit unter dem Motto »Rechtsaußen nein danke!«. Meinungsumfragen belegten immer wieder, dass ein hoher Prozentsatz der Bundesbürger keineswegs ausländerfeindlich eingestellt ist. So sprachen sich 1998 rund 64 Prozent der Bundesbürger gegen die Behauptung aus, dass Ausländer den Deutschen Arbeitsplätze wegnehmen wür- 100 den. Ein ebenso großer Anteil der Befragten war der Meinung, dass Ausländer unsere Kultur bereichern. Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages in mehr als 70 Ländern ergab, dass Ausländer, die in Deutschland arbeiten oder studieren wollten, zunehmend Fragen nach ihrer Sicherheit in Deutschland stellten, vor allem wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe als Ausländer leicht zu identifizieren waren. Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsidentjohannes Rau wurde die Initiative »Gesicht zeigen« ins Leben gerufen, die Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit fördern sollte. Vor dem Rassismus-Ausschuss der UNO in Genf äußerte sich die Bundesregierung selbstkritisch zur Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Fast 16000 rechtsextreme, fremdenfeindliche oder antisemitische Straftaten musste sie in Deutschland im Jahre 2000 feststellen, was wiederum einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr, diesmal um 58 Prozent, bedeutete. Ein Markstein der Ausländerpolitik war der 23.Februar des Jahres 2000, als Bundeskanzler Schröder auf der Technologiemesse CeBit in Hannover verkündete, über eine sogenannte Green Card-Regelung ausländische Computerspezialisten ins Land zu holen und damit den Forderungen der Wirtschaft Rechnung zu tragen. Schröder sagte: »Wir sind dazu bereit, jene Card zu geben, die in Amerika >Green< heißt. Bei uns wird sie halt >Red-green< heißen.« In der Folge setzte ein regelrechter Wettlauf um eine Einwanderungspolitik ein. Bayern und Hessen versuchten sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und führten eine sogenannte »Blue Card« ein, die die Anwerbung ausländischer Informatikfachleute vereinfachen sollte, in der Praxis aber auch nur einen PR-Effekt hatte, denn die Anwerbung erfolgte praktisch über die bundesweite Regelung. Eine Statistik, wie viele Spezialisten mit der »Blue Card« gekommen sind, kann jedenfalls weder Bayern noch Hessen vorweisen. Der Pressesprecher der Bundesanstalt für Arbeit, Roland 101 Schütz, wurde sogar noch deutlicher: »Das Bundesarbeitsministerium hat die Blue Card nicht anerkannt, daher hat sie keine rechtliche Grundlage.« Am 31. Juli 2000 erhielt der indonesische Computerspezialist Havianto Wijaya die erste Green Card. Bundesarbeitsminister Walter Riester und der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, überreichten dem 2 5-jährigen Diplominformatiker zwar kein Geschenk. Parallelen zu der Euphorie, die 1964 verbreitet wurde, als der millionste »Gastarbeiter« ein Moped geschenkt bekam, sind aber durchaus zu erkennen. Die Rechnung des CDU-Spitzenkandidaten bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, dem politischen Gegner erneut mit einer ausländerpolitischen Kampagne, diesmal mit dem Slogan »Kinder statt Inder«, das Wasser abzugraben, scheiterte kläglich. Rüttgers machte sich mit der Aktion insofern unglaubwürdig, als er unter der Regierung Kohl als Zukunftsminister firmierte und damit für Versäumnisse wie den Mangel an Computerspezialisten mitverantwortlich gemacht werden konnte. Damit war auch der Versuch gescheitert, dem Bundeskanzler den Wettbewerbsvorteil, den er sich in der Einwanderungspolitik mit seiner Green Card-Initiative erworben hatte, streitig zu machen. Vor allem war es der Bundesregierung gelungen, mit der Green Card der Debatte um Zuwanderung einen positiven Grundtenor zu verleihen und damit der Opposition mit ihren restriktiven Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ausländer waren nun plötzlich kein Problem mehr, sondern eine Bereicherung und dienten dem Wohle des Wirtschaftsstandorts Deutschland; das Bild des »Gastarbeiters bei der Müllabfuhr« wich dem des »Experten in der Computerfirma«. Die Green Card war ohnehin eine symbolische Maßnahme, diesmal allerdings im positiven Sinne einer zukunftsorientierten, modernen Einwanderungspolitik des Bundeskanzlers. Die Regelung wäre auch ohne großes Getöse im Rahmen der Anwerbestoppausnahmeverordnung möglich 102 gewesen. Politisch gesehen hatte sie jedoch eine ungeheure Signalwirkung, obwohl schon der Name falsch war. In den USA garantiert eine Green Card einen Dauerauf enthalt und ist wirklich grün. In Deutschland dagegen ist sie nichts anderes als eine graue Bescheinigung der Behörden für einen befristeten Aufenthalt. Die Bundesregierung - jetzt ausländerpolitisch eindeutig in der Offensive - setzte eine unabhängige Kommission »Zuwanderung« unter dem Vorsitz der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) ein. Die Besetzung der Leitung der Kommission mit einer prominenten CDU-Politikerin, mit Vertretern gesellschaftlich relevanter Gruppen, Fachleuten und Vertretern aller Parteien war ein geschickter Schachzug des Bundesinnenministers. Die CDU konterte eilends mit einer eigenen »Zuwanderungs-Kommission« unter Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, die das Wettrennen um ein Zuwanderungskonzept gewann und ihren Bericht zuerst vorlegte. Die CSU, die sich als einzige Partei an die Nichteinwande-rungslegende klammerte, zog ebenfalls mit einer eigenen Kommission nach. Im Endspurt um ein Einwanderungsgesetz triumphierten die Grünen und nahmen für sich in Anspruch, die Bundesregierung auf dem Weg zur Einwanderungspolitik entscheidend vorangebracht zu haben, und forderten gar - wenn auch ohne Erfolg - eine Rückkehr zur Asylpolitik vor der Grundgesetzänderung von 1993. Die SPD legte als letzte Partei erst wenige Tage vor der Veröffentlichung des Süssmuth-Berichts ihre Konzeption vor, nachdem in aller Stille fast ein Jahr lang eine eigene Kommission unter Vorsitz des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Ludwig Stiegler, getagt hatte, ohne dass dies in der Öffentlichkeit groß bekannt wurde. Die CDU bekam mit ihrem teilweisen Beharren auf den alten Positionen den Druck und die Kritik der Wirtschaft zu spüren, die weitergehende Einwanderungsregelungen nicht nur für Computerfachleute 103 forcierte und auf den Arbeitskräftemangel hinwies. Die FDP hatte bereits 1997 einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Im Juni 2000 veröffentlichte sie Grundzüge eines Zuwanderungs- und Integrationskonzeptes. Im Wettbewerb um die modernste Einwanderungspolitik legte sie nochmals mit einem aktuellen Papier nach. Auch die PDS veröffentlichte eine Einwanderungskonzeption. Im Prinzip waren sich zum ersten Mal im Grunde alle Parteien darüber einig, die Zuwanderung gebündelt durch ein Gesetz zu regeln und für die Zukunft zu gestalten. Die Erkenntnis schien sich parteiübergreifend durchgesetzt zu haben, dass Deutschland aufgrund der Bevölkerungsentwicklung auf Einwanderung angewiesen ist. Die oppositionelle Union versuchte trotzdem, die Bundesregierung mit Forderungen nach weiteren - in der Realität aber kaum noch möglichen - Einschränkungen vor allem in der Asylpolitik unter Druck zu setzen. Die CSU sprach sich für die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl aus, was nur von Teilen der CDU getragen wurde. Schließlich verzichtete die CSU auf diese Forderung. In diesem Zusammenhang wies der Staatsrechtler Helmut Rittstieg darauf hin, dass ohnehin »bei der Aufnahme von Flüchtlingen kaum noch Spielraum nach unten« besteht. Er stellte fest, dass »die vorgeschlagene Umwandlung des Grundrechts auf politisches Asyl in Art. 16a GG in eine institutionelle Garantie... praktisch ohne Bedeutung« sei. »Der Art. 16a könnte ersatzlos aus dem Grundgesetz gestrichen werden, ohne dass die Flüchtlingsaufnahme dadurch reduziert würde, weil Deutschland schon jetzt bis an die Grenze seiner internationalen Verpflichtungen gegangen ist und sie teilweise unterschreitet.« In den Thesen zur Zuwanderungspolitik, beschlossen vom Parteivorstand der CSU am 23. April 2001 in Bayreuth, wurde festgehalten: »Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland und kann es aufgrund seiner historischen, geografischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch 104 nicht werden.« Dieser Satz findet sich wortwörtlich im gemeinsamen Positionspapier von CDU und CSU zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung vom 10. Mai wieder. Peter Müller hatte dagegen gesagt, wer behaupte, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, könnte auch sagen »Die Erde ist ein Scheibe.« Diesen grundsätzlichen Kursund Perspektivenwechsel hatte die Union nun allem Anschein nach unter dem Druck der CSU nicht weiter mitgemacht. Bei der Vorstellung des gemeinsamen Zuwanderungspapiers bewerteten die CDU-Vorsitzende Merkel und der CSU-Vorsitzende Stoiber ihr Konzept als Beweis ihres persönlichen Einvernehmens und der guten Zusammenarbeit der beiden Parteien. Die CDU-Vorsitzende sagte, das Positionspapier zeige, dass die Union fähig zur Erneuerung und für die Bundestagswahl 2002 gerüstet sei. »Und sie ist in der Lage, heiße Eisen anzupacken«, fügte sie hinzu. Nach der Wahlniederlage und der Parteispendenaffäre wollte die Union mit ihrem Zuwanderungskonzept zeigen, dass sie insgesamt zur Modernisierung fähig sei. Ein Beweis dafür, welchen hohen Stellenwert das Thema »Zuwanderung« wieder einmal im Konkurrenzkampf der Parteien eingenommen hatte. Auf der anderen Seite näherten sich die Parteien in der Zuwanderungsdebatte an. Die Generalsekretäre von CDU und SPD, Meyer und Müntefering, sprachen sich dafür aus, in der Einwanderungsdiskussion »an einem Strang zu ziehen«. Die SPD betonte, sie wolle die Zuwanderung nur gemeinsam mit der Union regeln. Ohne deren Zustimmung - so SPD-Generalsekretär Franz Müntefering am 24. Juni 2001 - werde es vor der Bundestagswahl 2002 keine Regelung geben. »Entweder es gibt eine gemeinsame Lösung oder es gibt keine«, sagte Müntefering bei der Jahrestagung des Netzwerks junger SPD-Bundestagsabgeordneter in Potsdam. Die Ankündigung des Berliner CDU-Fraktionschefs 105 Friedrich Merz, die Ausländerpolitik in den Landtagswahlkämpfen und bei der Bundestagswahl 2002 zum Thema zu machen, führte im Oktober 2000 innerhalb der Union zu Kontroversen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg distanzierte sich die CDU des Südwestens von diesen Plänen. Günther Oettinger, CDU-Fraktionschef im Landtag, hielt der Bundespartei entgegen: »Wir müssen das Thema Einwanderung in großer Sachlichkeit und guter Streitkultur behandeln und besser nicht mit Kampagnen und Plakataktionen angehen.« Die Tatsache, dass die CDU in Baden-Württemberg ihr ausländisches Pulver diesmal trocken hielt und das Thema im Wahlkampf praktisch keine Rolle spielte, trug dazu bei, dass die rechtsradikalen Republikaner aus dem Landtag flogen. Mit der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« der Bundesregierung unter Vorsitz von Rita Süssmuth (CDU) am 4. Juli 2001 und mit dem am 3. August von Bundesinnenminister Schily vorgelegten »Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern« schien die Legende vom »Nichteinwanderungsland« endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen. So macht die »Süssmuth-Kommission« deutlich, dass Bevölkerungsrückgang und Alterung gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, den Arbeitsmarkt, die Staatsverschuldung, die sozialen Sicherungssysteme, die Innovationsfähigkeit sowie die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft haben. Die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung wird nach dem Bericht in Deutschland zu tiefgreifenden Veränderungen der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes führen. Mit dem Rückgang des Anteils junger Menschen - so der Bericht weiter - wird möglicherweise das gesamte gesellschaftliche Leben an Dynamik verlieren. Schließlich sei auch nicht auszuschließen, dass bei Zu- 106 Wanderern, um die international geworben wird, das Interesse abnimmt, in eine alternde Gesellschaft mit hohen Soziallasten einzuwandern. Nach dem Bericht der Süssmuth-Kommission soll die Bevölkerung mit dieser Situation vertraut gemacht werden. Die Kommission empfiehlt, qualifizierte Zuwanderer künftig über ein Punktesystem auszuwählen, das die langfristige Integrationsfähigkeit in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft berücksichtigt. Die Obergrenze soll im ersten Jahr bei 20000 Bewerbern zuzüglich Familienangehörigen liegen. Das Verfahren soll anschließend anhand der Erfahrungen optimiert werden, »bevor die Entwicklung des Arbeitsmarktes eine verstärkte Zuwanderung unabdingbar machen wird«. Zur Überbrückung akuter Engpässe auf dem Arbeitsmarkt soll im Rahmen eines Kontingents von 20000 Personen im ersten Jahr eine auf bis zu fünf Jahre befristete Zuwanderung von Arbeitskräften ermöglicht werden. Voraussetzung sind ein Arbeitsplatzangebot und ein tatsächlicher Mangel an Arbeitskräften. Die Kommission empfiehlt außerdem, jungen Zuwanderern eine Ausbildung in Deutschland im dualen Ausbildungssystem zu ermöglichen. Zunächst soll ein jährliches Kontingent von 10000 Personen den begrenzten Umfang während der Erprobung sicherstellen. Die Kommission schreibt: »Das Programm wird an Bedeutung gewinnen, wenn in wenigen Jahren die Ausbildungsjahrgänge schrumpfen.« Die Kommission empfiehlt schließlich, die Bemühungen zu verstärken, junge Ausländer für ein Studium in Deutschland zu gewinnen. Alles in allem also ein erster, vorsichtiger Ansatz, um den Bevölkerungsrückgang abzufedern. Die Einrichtung eines »Bundesamtes für Zuwanderung und Integration« (BZI) wird ebenfalls empfohlen. Maßnahmen zur Beschleunigung der Asylverfahren stehen ebenso im Katalog der Süssmuth-Kommission. Das Problem der Illegalen wird nur am Rande gestreift. So sollen Schulen und Lehrer nicht verpflichtet werden, den Behörden ausländische Schü- 107 ler zu melden, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Personen und Organisationen, die sich aus humanitären Gründen um Illegale kümmern, sollen nicht bestraft werden. Schließlich empfiehlt die Kommission die Schaffung eines Zuwanderungs- und Integrationsgesetzes des Bundes. Ein wichtiger Verdienst des Süssmuth-Berichts ist es, eine umfassende Bestandsaufnahme in fast allen Bereichen der Zuwanderung geliefert zu haben. Fast sämtliche Bereiche -von den Spätaussiedlern, den früheren »Gastarbeiterfamilien« bis hin zu Bürgerkriegsflüchtlingen oder jüdischen Zu-wanderern aus der ehemaligen Sowjetunion - werden behandelt, und es werden Empfehlungen zur Problemlösung abgegeben. Der Bericht kritisiert unter anderem, dass das Recht im Ausländerbereich unübersichtlich geworden und nur noch für Experten verständlich sei. Eine Reform sei dringend notwendig. Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der Kommission, die zu heftigen Diskussionen bei den Beratungen führte, ist es umso erstaunlicher, dass überhaupt in so kurzer Zeit ein umfassender Bericht zustande kam. Der »Süssmuth-Bericht« stellt eine solide Entscheidungsgrundlage für die Politik dar, die über den (Wahl-)Tag hinausblickt. Ein wesentlicher Faktor für die Umsetzbarkeit einer neuen Zuwanderungspolitik und die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit besteht nach Auffassung der Kommission darin, dass Zuwanderung von der Bevölkerung akzeptiert wird. Die politische Elite soll - so der Bericht - in der Öffentlichkeit deutlich machen, dass Deutschland Zuwanderung aus demographischen, volkswirtschaftlichen und kulturellen Gründen braucht. Eine breit angelegte Informationskampagne mit dem Hinweis auf die Eigeninteressen Deutschlands könnten dazu beitragen, die Akzeptanz von Zuwanderung zu erhöhen. Außerdem sollte nach Auffassung der Kommission der Jugendaustausch mit den Herkunftsländern der Migranten verstärkt und eine Einbürgerungskultur geschaffen werden. 108 Der »Süssmuth-Bericht« mahnt vor allem eine neue Sichtweise, einen »Paradigmenwechsel« beim Thema »Zuwanderung« an, den Bundespräsident Johannes Rau in seiner »Berliner Rede« unter dem Motto »Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben« sinngemäß bereits ein Jahr zuvor eingefordert hatte. Der Bericht stieß in der Öffentlichkeit und in den Medien auf breite Zustimmung. Der Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars in Deutschland beispielsweise nannte ihn »richtungsweisend und praxisnah«. Der Rat für Migration, ein unabhängiger Zusammenschluss von Wissenschaftlern, sprach von einem revolutionären Durchbruch zur Realität. Die Kritik der CDU/ CSU blieb allerdings nicht aus. Der Vorsitzende der CDU-Zuwanderungskommission Peter Müller malte Horrorzahlen an die Wand und rechnete mit bis zu 900 000 Zuwande-rern pro Jahr, falls die Pläne der Süssmuth-Kommission umgesetzt werden sollten. Auch als Bundesinnenminister Schily seine Eckpunkte für ein Zuwanderungskonzept vorstellte, erntete er Lob, selbst von Zeitungen, die ihn bisher kritisiert hatten. Kernstück seines Entwurfs war eine umfassende Reform des Ausländerrechts. Die Zahl der Aufenthaltstitel sollte auf eine befristete Aufenthalts- und eine unbefristete Niederlassungserlaubnis reduziert, die Duldung abgeschafft werden. Ein neues Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sollte wichtige Aufgaben übernehmen und die Arbeitsmigration über neue Arten der Zuwanderung organisiert werden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sollte sich künftig, unter Einbeziehung der Kommunen, an den regionalen Erfordernissen und den Integrationskapazitäten orientieren. Ausländischen Studienabsolventen sollte ebenfalls ein Bleibe- und Arbeitsrecht eingeräumt werden. Kinder ausländischer Bürger sollten im Familienverbund bis zu einem Alter von 18 Jahren nachziehen dürfen, außerhalb des Familienverbundes bis zwölf Jahren. Diese Herabsetzung der Altersgrenze war bereits ein Zugeständnis 109 an die Opposition, auf deren Zustimmung Schily im Bundesrat angewiesen war. Ansonsten hatte der Bundesinnenminister viele Empfehlungen der »Müller-« und vor allem der »Süssmuth-Kommission« aufgegriffen. In der Asylpolitik, bei der Ausreisepflicht oder den Sozialleistungen hatte er einige Verschärfungen, offensichtlich ebenfalls in Hinblick auf konservative Wählerstimmen, eingebaut. Bei den Asylbewerbern sollte vor der Erteilung eines Daueraufenthalts nach drei Jahren geprüft werden, ob sich die Verhältnisse im Herkunftsland geändert haben. Auch die Überschrift »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung« war ein Entgegenkommen an die Union und an die Wählerschaft im Hinblick auf die Bundestagswahlen 2002. Als der Referentenentwurf eines Zuwanderungskonzeptes dann an die Öffentlichkeit kam und ihn alle in der Sommerpause des Jahres 2001 gelesen hatten, drehte sich der Wind, und es hagelte Proteste, beispielsweise in einer gemeinsamen Stellungnahme von amnesty international, Arbeiterwohlfahrt, Deutschem Caritasverband, Deutschem Paritätischen Wohlfahrtsverband, Neuer Richtervereinigung, Pro Asyl (bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge), Raphaelswerk und Diakonischem Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Von einer Rückkehr zu einem integrationsfeindlichen »Gastarbeiter-Rotationsmodell« war da die Rede. Außerdem werde die Asylpolitik weiter verschärft. Schließlich wurde das »Schily-Konzept« auch von Wirtschaftsverbänden kritisiert. In dem umfassenden Werk von fast 300 Seiten hatte der Bundesinnenminister zwar Möglichkeiten vorgesehen, über ein Auswahlverfahren Zuwanderer nach einem Punktesystem aufzunehmen. Auf eine solche neue Möglichkeit wollte die Bundesregierung aber erst in zehn Jahren zurückgreifen, was den Wirtschaftsverbänden zu spät schien. Auch in der Bundesregierung selbst erntete der Gesetzesentwurf Kritik. In vertraulichen Stellungnahmen lehnte das Auswärtige Amt beispielsweise Teile des Entwurfs ab, mit denen der Innenminister die Abschiebung beschleunigen wollte. Es vertrage sich nicht mit dem Image eines weltoffenen Landes, wenn, wie beabsichtigt, die deutschen Botschaften künftig Fingerabdrücke und Photos verlangen müssten. Justizministerin Herta Däubler-Gmelin übte in einer 8o-seitigen Stellungnahme grundsätzliche Kritik am Entwurf. Die Auswirkungen der neuen Vorschriften zur Aufenthaltserlaubnis seien »fraglich« und führten zur »erhöhten Rechtsunsicherheit«. Die schlechtere soziale Absicherung von Asylbewerbern sei »verfassungsrechtlich problematisch«. Aus anderen Ministerien war ebenfalls Kritik zu hören. Die Ressorts seien überhaupt nicht am Entscheidungs-prozess beteiligt, hieß es. Schily mache, was er wolle, weil er unentbehrlich für den Bundeskanzler sei. Alles laufe nur noch zwischen Bundesinnenminister und Bundeskanzleramt ab, verlautete aus den Ministerien. Kritik entzündete sich auch daran, dass beim Nachzugsalter für Ausländerkinder ein Zweiklassen-System eingeführt wurde. Die neuen »De-Luxe-Gastarbeiter« sollten ihre Kinder bis zur Volljährigkeit nachkommen lassen können, die anderen dagegen nicht. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass etwa 250000 Personen, die eine sogenannte Duldung genossen, in die Illegalität gedrängt würden. Das Problem der rund eine Million Illegalen bleibe ganz unberücksichtigt. Es wurde darauf hingewiesen, dass Frankreich, Italien und Spanien mehrfach sogenannte Legalisierungskampagnen durchgeführt haben. In Spanien hatten sich zu dem Zeitpunkt, als der Schily-Entwurf veröffentlicht wurde, aufgrund einer solchen Kampagne eine halbe Million Illegale gemeldet. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium des Inneren, Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD), verteidigte am 11. Oktober 2001 bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stif-tung in Berlin den Entwurf und machte deutlich, dass es keinen Rückfall in eine Rotationspolitik geben werde. Sie kündigte - wie die SPD - ein »Jahrzehnt der Integration« an. in Unter der massiven Kritik und nach Verhandlungen mit den Grünen, die sogar mit dem Bruch der Koalition gedroht hatten, änderte der Bundesinnenminister schließlich zum Erstaunen vieler Beobachter seinen Entwurf. So sollte es jetzt doch einen Abschiebeschutz auch bei nichtstaatlicher Verfolgung geben. Außerdem sollten Flüchtlinge nicht abgeschoben werden, die in ihren Heimatländern wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, beispielsweise Frauen aus Afghanistan. Das Höchstalter für den Nachzug ausländischer Kinder sollte nicht auf zwölf, sondern nur auf 14 Jahre gesenkt werden. In der Union flammte unterdessen der Streit über die Position zum Zuwanderungsgesetz erneut auf. Die CSU kritisierte die Kompromissbereitschaft der CDU. »Der Streit um die Einwanderungspolitik gerät für die Union immer mehr zur Zerreißprobe«, meldeten die Nachrichtenagenturen. Der Streit eskalierte, als CSU-Generalsekretär Thomas Goppel sagte, es sei nicht die Zeit, Gemeinsamkeiten mit der Regierung zu feiern: »Wir leben nicht in einer Welt, in der sich die Opposition an kleinen Erfolgen freuen darf, die die Regierung ihr gönnerhaft zugesteht.« Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller sagte, er habe »den Eindruck, als ob die CSU eine stimmungsorientierte Partei« sei, »die ihre Position danach bestimmt, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist, und nicht danach, was notwendig ist«. Die Union geriet auch ins Schussfeld der Wirtschaft. Der Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, zeigte sich »entsetzt und sogar angewidert« von der Verknüpfung der Themen Zuwanderung und Terrorismus in konservativen Kreisen. Die nötige Zuwanderung nach Deutschland mit Blick auf den internationalen Terrorismus in Frage zu stellen sei völlig unbegründet. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in Berlin appellierte an die CDU/CSU, ihre Position beim Thema nichtstaatliche Verfolgung zu überdenken. Es 112 gehe nicht um eine Erweiterung der Asylgründe, sondern um die Anpassung an internationales Recht. Opfer nichtstaatlicher Verfolgung seien kein Sicherheitsrisiko. Bekanntlich suchten gerade diese Flüchtlinge Schutz vor Verfolgung durch extremistische Gewalttäter und Fanatiker. Insofern ist nach Auffassung der UN-Flüchtlingshilfe eine Verknüpfung dieser Kernfrage des Flüchtlingsschutzes mit Sicherheitsbedenken verfehlt. Offensichtlich war es der CSU gelungen, sich in der Zuwanderungsdebatte weiter gegenüber der CDU durchzusetzen. Die sich im Laufe des Jahres 2001 abzeichnende Allparteienkoalition in der Zuwanderungspolitik wurde im Herbst des Jahres gebrochen, wobei die sich abzeichnende Kanzlerkandidatur von Edmund Stoiber sicher eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte. Die Union ging in der Zuwanderungspolitik jedenfalls auf Konfrontationskurs gegenüber der Bundesregierung. In einem Schreiben an alle CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten nannte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach Gründe für die Ablehnung. Der Entwurf brächte keine Zuwanderungsbegrenzung. Außerdem sei die Ausweitung der Fluchtgründe auf »nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung abzulehnen«. Die Abgeordneten wurden gebeten, in ihren Wahlkreisen für diese Position zu werben. In einem in der Ausländerpolitik bisher einmaligen Vorgang distanzierte sich der CDU-Abgeordnete Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister a.D. und Mitglied in der Zuwanderungskommission seiner Partei, in einem Brief vom 4. Dezember 2001 an Bosbach von den Positionen der Fraktionsspitze. Der Entwurf von Bundesinnenminister Schily enthalte sehr wohl entscheidende Neuerungen. Der pauschalen Aussage: »die vor allem in unsere Sozialsysteme erfolgte Zuwanderung wird nicht begrenzt, sondern ausgeweitet«, könne er - Schwarz-Schilling - nicht zustimmen. Schließlich habe die sogenannte Gastarbeiterge- 113 neration einen enormen Beitrag geleistet, um eben dieses Sozialsystem zu ermöglichen. Vom Fehlen einer Zuwanderungsbegrenzung im Allgemeinen zu sprechen sei unangebracht. Schwarz-Schilling erinnerte an den CDU-Beschluss zur Zuwanderung vom 7. Juni 2001, der vom christlichen Verständnis für alle Menschen ausgehe. Eine Ausweitung von Asylgründen enthalte der Entwurf von Schily nicht. So werde die bloße Diskriminierung von Frauen im Herkunftsland nicht dazu führen, dass das sogenannte »kleine Asyl« greift. Die Anerkennung der nichtstaatlich bzw. geschlechtsspezifisch Verfolgten habe keine zunehmende Zahl von Asylsuchenden zur Folge. Ein Beispiel dafür sei Kanada, das weltweit eine Vorreiterrolle bei der Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe spielt. Von über 30000 Asylsuchenden in einem Jahr hätten sich nur 95 darauf berufen. Mit großer Detailkenntnis griff Schwarz-Schilling die Hintergrundinformationen der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen auf und widerlegte die Argumentation seiner Fraktion. Schwarz-Schilling, der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Bundestag, wehrt sich in seinem Brief auch gegen das »Ausspielen von >Arbeitslosen< und >Zuwande-rern<«. Ohne Zuwanderung wären Einkommen und Wohlstand in Deutschland niedriger und eher mehr Deutsche arbeitslos, schrieb Schwarz-Schilling. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler setzte sich ebenfalls von der Parteilinie in der Zuwanderungsdebatte ab. Wer das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema macht, gehöre in die Psychiatrie, hatte Geißler mehrfach betont. Die Vorstellungen der CSU kennzeichnete er als Angst vor der Schill-Partei, die in Hamburg mit populistischen Parolen an die Macht gekommen war. Anfang Dezember verschärfte die Veröffentlichung eines weltweiten Leistungstests von Schulen in Industrieländern 114 die ausländerpolitische Debatte. Nach dieser Untersuchung schnitten deutsche Schüler sehr schlecht ab. Die 15-jährigen aus der Bundesrepublik belegten nur Platz 25 von den 32 Teilnehmerländern, die von PISA (Programme for International Student Assessment) im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) untersucht wurden. Besonders schlechte Noten erhielten ausländische Schüler in Deutschland. In Schweden, Osterreich und Kanada dagegen erreichten Ausländerkinder trotz fast identischer Problemlage bessere Ergebnisse. Bereits vor Veröffentlichung der PISA-Studie waren die Probleme hinreichend bekannt: Jeder fünfte ausländische Schulabgänger verlässt die Schule ohne Abschluss. Dieser Anteil ist doppelt so hoch wie bei den deutschen Schulabgängern. Rund 41 Prozent aller ausländischen Jugendlichen beenden ihre Schullaufbahn mit dem Hauptschulabschluss. Bei den deutschen Jugendlichen sind es 25 Prozent. Jeder vierte deutsche Schulabsolvent hat das Abitur - bei den ausländischen Schülern sind es nur knapp elf Prozent. Ein Drittel der ausländischen jungen Erwachsenen hat keinen Beruf erlernt. So waren die Ergebnisse der PISA-Studie wenig spektakulär, was das schlechte Abschneiden ausländischer Schüler in der Bundesrepublik angeht. Experten, aber auch Berichte auf Bundes- und Länderebene, hatten seit den 70er Jahren immer wieder auf die besonderen Probleme von Ausländerkindern an deutschen Schulen hingewiesen. Statistiker errechneten Anfang der 70er Jahre, dass die Hauptschule zur »Ausländerschule« werde. So ist die Zahl der Schüler in der Bundesrepublik von 1973 bis 1983 insgesamt um rund sechs Prozent zurückgegangen. Die Zahl der ausländischen Schüler dagegen ist angestiegen - und zwar um rund 95 Prozent! Seit langem fordern Experten wie die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning verstärkte Integrationsmaßnahmen für die Nachkommen der »Gastarbeiter« und machen deutlich, 115 dass sich die Fehler der Vergangenheit rächten. So erwähnt der 1970 vorgelegte Strukturplan des Deutschen Bildungsrates die ausländischen Schüler nicht einmal, obwohl sich schon damals etwa drei Millionen ausländische Arbeitskräfte mit ihren Familienangehörigen in Deutschland aufhielten. Es ist seit langem bekannt, dass 40 bis 50 Prozent der nichtdeutschen Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren weder in die Schule gehen noch eine Berufsausbildung absolvieren. Diese schätzungsweise 200000 bis 300000 Mädchen und Jungen tauchen in keiner Statistik auf. Fachleute rätseln schon seit längerem, wo diese Jugendlichen ohne berufliche und soziale Chancen in Deutschland eigentlich bleiben. Bereits 1979 befasste sich ein Fachkongress in Stuttgart im Rahmen des »Internationalen Jahrs des Kindes« mit den Schwierigkeiten ausländischer Kinder in Deutschland. Die doppelte Benachteiligung - Herkunft aus der Arbeiterschicht und Migrationshintergrund - führen offenbar seit Jahren zu den schlechten Ergebnissen, die die PISA-Studie eigentlich nur bestätigt. Die PISA-Studie belegt, dass es dem deutschen Schulsystem allem Anschein nach nicht gelingt, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche entsprechend zu fördern. Schon vor Veröffentlichung der Studie war klar, dass sich die Entwicklung zu höheren Bildungsabschlüssen seit 1990 nicht mehr fortsetzt. Die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher ist rückläufig. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin beurteilte in einer Untersuchung vor PISA die Zukunft der Töchter, Söhne und Enkel der »Gastarbeiter« eher pessimistisch. Danach dürften junge Ausländer bis zum Jahr 2010 im Bildungsverhalten sowie beim Schul- und Ausbildungserfolg das Niveau junger Deutscher im Durchschnitt nicht erreichen. Die Prognose geht davon aus, dass in dieser Dekade noch zu viele ausländische Schüler allgemeinbildende Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen bzw. berufliche Schulen und Lehren ohne Abschluss beenden. 116 Experten weisen schon seit langem auf die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern hin, was den Schulerfolg ausländischer Kinder angeht. So liegt der Anteil der weiterführenden Abschlüsse bei den ausländischen Schulabgängern in Nordrhein-Westfalen bei fast 50 Prozent, in Bayern dagegen bei nicht ganz 21 Prozent. Die Tatsache, dass die Ausländerpolitik von Bund und Ländern lange Zeit auf Integration bzw. Rückkehr ausgerichtet war, hat mit zur Schulmisere der Söhne und Töchter der einstigen »Gastarbeiter« beigetragen. Baden-Württemberg und Bayern versuchten in den 70er Jahren sogar, die Schule als Teil der Rückkehrpolitik einzusetzen. So stellte Baden-Württembergs Landesregierung fest, »Erfahrungen hätten gezeigt, dass alle Maßnahmen, die verstärkt auf eine Eingliederung der ausländischen Kinder und Jugendlichen in die deutschen Regelschulen abzielen, die Entfremdung dieser Kinder von ihrem heimatlichen Kulturkreis zur Folge haben. Durch die Unterrichtung ausländischer Kinder in muttersprachlichen Grundschulklassen hingegen kann die Rückkehrbereitschaft gefördert oder doch mindestens die Rückkehrwilligkeit offengehalten werden.« Bereits 1973/74 führte die bayerische Landesregierung sogenannte »Nationalklassen« ein. Dieses »bayerische Modell« führte 1979 zu einem heftigen Streit zwischen dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Jürgen Schmude (SPD) und dem bayerischen Kultusminister Hans Maier (CSU). Bayern sprach sich gegen das Prinzip des gemeinsamen Unterrichts von deutschen und ausländischen Schülern aus. Kernpunkt der Kritik am »bayerischen Modell« war, dass es die Ghettobildung fördere und die Chancen auf eine qualifizierte Berufsausbildung mindere. Die katholische Kirche sprach im Hinblick auf die Lage der Ausländerkinder zwischen zwei Welten von einer »Generation ohne Hoffnung«. In einer Zwischenbilanz zur Ausländerpolitik stellte das Bundesarbeitsministerium bereits 1976 117 fest, dass in der Bundesrepublik ein »neues Subproletariat« entstünde, falls nichts dagegen unternommen werde, dass zwei Drittel aller Ausländerkinder keinen Hauptschulabschluss erhielten und damit von jeder beruflichen Qualifikation ausgeschlossen seien. Was sich hier anbahne, sei »sozialer Zündstoff mit Zeitzünder«. Deshalb müsse die deutsche Bevölkerung wissen, »dass sie auf Dauer nicht in sozialem Frieden leben kann, wenn die soziale und berufliche Integration der Ausländer nicht gelingt. Es ist nicht nur eine humanitäre Frage, ob unser Land den insgesamt rund eine Million ausländischen Kindern und Jugendlichen gute Entwicklungschancen bietet, sondern eine Frage der sozialen Stabilität unseres Landes... Alles, was an dieser jungen Ausländergeneration versäumt wird, muss eines Tages auf die deutsche Bevölkerung zurückschlagen.« Bereits 1974 warnte der Deutsche Städtetag: »Die Zukunft der Ausländerkinder ist gefährdet, da diese unter sozial häufig nicht mehr vertretbaren Bedingungen aufwachsen... Es droht die Gefahr, dass sich eine kulturell isolierte, räumlich abgesonderte und sozial deklassierte Unterschicht ausbildet, die in ein Leben äußerer und innerer Ghettoisierung hineintreibt.« Im Zusammenhang mit der PISA-Studie wurde also eine Misere beklagt, die schon sehr frühzeitig auch von den Bundesländern erkannt wurde, ohne dass, gerade im schulischen Bereich, gegengesteuert worden wäre. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie kündigte Bayern an, Sprachlernklassen für ausländische Kinder einzurichten, um die Deutschkenntnisse zu verbessern. Als Reaktion auf die Studie forderte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, in Anlehnung an die Förderprogramme für Arbeiterkinder der 70er Jahre, die spezielle Förderung von Einwandererkindern. Der Opposition diente die Studie als Munition für den Vorwahlkampf. Bayerns Ministerpräsident Stoiber warf der SPD eine verfehlte Bildungspolitik vor. Hessens Ministerpräsident Ro- 118 land Koch meinte, eine verstärkte Zuwanderung würde die Unterrichtsbedingungen an vielen deutschen Schulen verschärfen. Da sich durch das geplante Gesetz die Zahl schlecht Deutsch sprechender Ausländerkinder wesentlich erhöhen würde, würden sich auch die Voraussetzungen für einen integrierten Unterricht verschlechtern. Besondere Schwierigkeiten berge das vorgesehene hohe Nachzugsalter. »Das ist sozialer Sprengstoff«, so Koch, fast wörtlich wie das Bundesarbeitsministerium in seiner Prognose von 1976. Am 3.Dezember stellte Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin einen Gesetzentwurf gegen Diskriminierung vor, wie ihn die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatten. Im Vorwahlkampfgetöse um das Einwanderungsgesetz ging dieser 67-seitige Diskussionsentwurf in der Öffentlichkeit praktisch unter. Nach dem Entwurf soll sich künftig jeder wirkungsvoll wehren können, der sich beispielsweise beim Abschluss eines Mietvertrags oder dem Besuch einer Gaststätte diskriminiert fühlt. Wird zum Beispiel ein Farbiger nicht in eine Diskothek eingelassen, andere Gäste vor und nach im aber doch, so muss nicht mehr er beweisen, dass der Türsteher so entschieden hat, um ihn zu diskriminieren. Es reicht vielmehr, diesen Sachverhalt und die damit naheliegende Benachteiligung glaubhaft zu machen. Die Beweispflicht, dass keine Diskriminierung vorgelegen hat, liegt dann beim Betreiber bzw. bei dessen Mitarbeitern. Sie müssen darlegen, welche sachlichen Gründe für die Entscheidung gesprochen haben. Das »Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht« betrifft im Übrigen nicht nur Ausländer, sondern unter anderem auch Behinderte. Bevor der Bundestag am 13.Dezember 2001 zum ersten Mal über das geplante Zuwanderungsgesetz debattierte, spitzte sich die Diskussion um den »Schily-Entwurf« weiter zu. Wiederholt drohte die Union damit, das Thema in den Bundestagswahlkampf 2002 zu stellen, obwohl der Kampf 119 um die Zuwanderung eigentlich schon auf vollen Touren lief. Einen Tag vor der ersten Lesung im Bundestag regte der Bundesinnenminister einen Volksentscheid über die Vorlage an; die Grünen forderte er auf, keine eigenen Verhandlungen mit der CDU zu führen, wie es wenige Tage zuvor der Fall gewesen war. Die Auseinandersetzung wurde vor allem auch um das Nachzugsalter der Ausländerkinder geführt, so, als ob hunderttausende Kinder auf gepackten Koffern säßen und nach Deutschland kommen wollten. Eine Nachfrage bei der Bundesanstalt für Arbeit, für wie viele Kinder überhaupt noch Kindergeld in die Türkei und in das frühere Jugoslawien gezahlt werde, brachte ein erstaunliches Ergebnis: genau 12405 Kinder hatten ihren Wohnsitz in diesen beiden Ländern und kamen deshalb für einen Nachzug in Betracht. Die Türken in Deutschland erhalten nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit Kindergeld für rund 700 000 Kinder. Darunter befinden sich 7358 Kinder, die in der Türkei leben. Die Zahlen sprechen für sich. Der Anteil der im Heimatland lebenden türkischen Kinder ist nach Aussage der Bundesanstalt mit 1,039 Prozent kaum nennenswert. Den politisch Handelnden dürften diese Zahlen eigentlich nicht unbekannt sein. Das Hin- und Herschieben der Altersgrenze dürfte deshalb auch Spielmaterial für die Verhandlungen des Bundesinnenministers mit den Grünen bzw. den Oppositionsparteien gewesen sein. Von pädagogischen Gesichtspunkten hatte sich die ganze Diskussion vollständig abgelöst. Selbst im Bundesinnenministerium erinnerte man sich offensichtlich nicht mehr daran, dass die alte Bundesregierung bereits vor über zehn Jahren festgestellt hatte, dass sich die Zahl der in Frage kommenden Kinder so stark verringert hatte, dass keine Veranlassung für eine weitere Herabsetzung des Nachzugsalters bestand. Das Bundesinnenministerium lehnte deshalb in einer offiziellen Dokumentation zur Ausländerpolitik nach 1997 eine solche Maßnahme ab. Auch die Tatsache, dass außer Deutschland nur noch Österreich in Eu- 120 ropa eine Altersgrenze von 16 Jahren für den Nachzug hat, spielte in der Debatte kaum eine Rolle. Vor der Bundestagsdebatte widersprach der CDU-Bundestagsabgeordnete Christian Schwarz-Schilling der Darstellung von Fraktionschef Friedrich Merz, wonach die Fraktion den rot-grünen Gesetzentwurf in »keinem Punkt« für zustimmungsfähig halte. Was den Schutz von Flüchtlingen vor nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung angeht, verwies Schwarz-Schilling auf den Beschluss der CDU-Zuwanderungskommission. Darin fordere die CDU, diesen Flüchtlingen kein Asylrecht, aber ein Daueraufenthaltsrecht inklusive Arbeitserlaubnis und des Rechts auf Freizügigkeit zuzugestehen. Daran erinnerte auch das UN-Flüchtlingskommissariat und rief dazu auf, das Thema nichtstaatliche Verfolgung sachgemäß zu behandeln: Wer die nichtstaatliche Verfolgung anerkenne, erweitere nicht das Asylrecht. Nicht begründet sei die Aussage, dieser Schritt führe zu einer Ausweitung asylerheblicher Verfolgungsgründe. Denn es gehe nicht, wie behauptet, um Armutsflüchtlinge oder Opfer von Naturkatastrophen. Die Schutzsuchenden müssten weiterhin individuell darlegen, dass sie in ihrem Heimatland aus religiösen, politischen oder ethnischen Gründen verfolgt würden. Wer die nichtstaatliche Verfolgung anerkenne, setze sich deshalb vor allem für die Opfer von oppositionellen Fanatikern und extremistischen Gewalttätern in ihren Heimatländern ein. Diese Auffassung sei schon längst internationaler Standard. So würden fast alle EU-Mitgliedstaaten den Konventionsschutz für die Opfer nichtstaatlicher Verfolgung anerkennen. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass dies zu einer Erhöhung der Asylbewerberzahlen beigetragen habe. In der Tat hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 2000 zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben, bei denen es sich um nichtstaatliche Verfolgung in Afghanistan handelte. Vom höchsten deutschen Gericht wurde beanstandet, dass zu hohe Anforderungen an die Festlegung 121 von staatlicher Verfolgung gestellt wurden. Nach der Definition des Grundgesetzes bekamen Flüchtlinge aus Afghanistan kein Asyl, weil sie von den Taliban verfolgt wurden und nicht direkt vom Staat Afghanistan. Die Intervention der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan im Jahr 2001 hat jedoch deutlich gemacht, dass durchaus Verfolgungsgründe bestanden, auch wenn es sich um nichtstaatliche Verfolgung gehandelt hat. Die Bundesregierung beeilte sich, den Gesetzentwurf noch vor der Bundestagswahl durchzubringen. Am 7. November 2001 vom Kabinett verabschiedet und unmittelbar dem Bundesrat zugeleitet, wurde der Entwurf als Fraktionsentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag eingebracht. Durch diese Paralleleinbringung konnten die Beratungen im Bundestag beginnen, noch bevor die Stellungnahme des Bundesrates vorlag. Noch nie zuvor war ein Gesetzeswerk von einer solchen Tragweite in einem solchen Eiltempo auf den Weg gebracht worden, auch wenn es deutliche Parallelen zum Verfahren von Schäuble und seinem Ausländergesetz von 1990 gibt. In der Bundestagsdebatte am 13. Dezember prallten die bekannten Positionen von Bundesinnenminister Schily und der Opposition von CDU/CSU aufeinander. Bei der 1. Lesung des Gesetzes »Zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung« warf Schily der Union vor, Zuwanderung und Arbeitslosigkeit gegeneinander auszuspielen. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach befürchtete, dass das Gesetz die Gesellschaft grundlegend verändern würde. Den Begriff »Einwanderer« vermied Erwin Marschewski von der CDU tunlichst: »Es ist uns nämlich nur zu gut bekannt, dass aus Gastarbeitern, die helfen sollten, vorübergehende Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, Millionen Daueranwesende... geworden sind.« Ein Beleg dafür, dass sich offensichtlich Teile der Union an die Lebenslüge vom »Nichteinwanderungsland« klammerten. Für die FDP bezeichnete deren innenpolitischer Sprecher 122 Max Stadler das Gesetz als »geeignete Diskussionsgrundlage« und forderte ein Inkrafttreten bereits zum i. Juli 2002. Nach knapp zweistündiger Diskussion verwies das Parlament den Entwurf zur weiteren Beratung an die Ausschüsse. Das Interesse des Parlaments an diesem Thema, das monatelang die Gemüter bewegt hatte, war übrigens ziemlich gering. Nur wenige Reihen der Abgeordnetenbänke waren bei dieser ersten Debatte um ein Zuwanderungsgesetz in der deutschen Nachkriegsgeschichte besetzt. Vor der Sitzung des Bundesrats kündigte Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) an, die Zuwanderung werde ein zentrales Thema im Bundestagswahlkampf 2002. In Verbindung mit der Zuwanderungsdebatte sah Teufel auch die innere und äußere Sicherheit, die nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September einen völlig neuen Stellenwert bekommen habe. Eine große Volkspartei, die die Wahl gewinnen wolle, müsse die Fragen der Bürger zu diesen Themen beantworten. Dies zeigten seiner Meinung nach auch die Beispiele der Landtagswahlen von 1992, bei denen in der Folge der Asyldebatte die rechtsextremistischen Republikaner mit fast elf Prozent in das Stuttgarter Parlament eingezogen waren, oder die jüngste Bürgerschaftswahl in Hamburg. Kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember 2001, diskutierte der Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz. Die Stellungnahme der Länderkammer enthielt 107 Anderungsvorschläge. Die SPD-regierten Länder verfügten nur über 31 der insgesamt 69 Stimmen im Bundesrat. 35 Stimmen waren jedoch für eine Mehrheit erforderlich. Besonders wichtig für das Abstimmungsverhalten war das Land Brandenburg, das von einer SPD/CDU-Koalition regiert wurde und über die fehlenden vier Stimmen im Bundesrat verfügte. Die Bundesregierung bekam nicht nur die erwartete Kritik der Unionsländer zu hören, sondern auch Bedenken der SPD-geführten Länder. Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe 123 (SPD) legte Änderungswünsche vor, die eine Zustimmung ermöglichen sollten und sich teilweise mit den Vorschlägen der Union deckten. Danach sollte das Nachzugsalter für Kinder von 14 auf zwölf Jahre gesenkt werden. Offensichtlich schon ganz auf Wahlkampf eingestellt, meinte Peter Müller, der Vorsitzende der Zuwanderungskommission seiner Partei, in den vergangenen 30 Jahren habe es vornehmlich Zuwanderung in die Sozialsysteme gegeben. Schily wies den Vorwurf zurück, er wolle mehr Zuwanderung. »Das ist schlichter Unsinn«, sagte der Minister. Vielmehr gehe es darum, so Schily auf der Argumentationslinie der CDU, die Qualität der Einwanderung zu verändern. Dabei sollte die Zuwanderung mehr an den nationalen, wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet und der »Zuzug in die Sozialsysteme« verringert werden. In der Tat war seit einigen Monaten aus dem Wettlauf um ein Gesetz für eine moderne Zuwanderungs- und Integrationspolitik ein Wettrennen um die Begrenzung der Zuwanderung geworden - ähnlich wie 1981, als sich der Wind plötzlich von der Integrations- zur Begrenzungspolitik drehte. Erwin Teufel überraschte mit dem Vorschlag, das Nachzugsalter noch weiter zu senken. Der Ministerpräsident wörtlich: »Im Sinne besserer Integrationschancen für die Kinder muss das Nachzugsalter grundsätzlich auf sechs, besser noch auf drei Jahre, abgesenkt werden. Dann können Ausländerkinder drei Jahre lang den Kindergarten besuchen.« Teufel ging mit dieser Forderung weiter als die Union, die zehn Jahre verlangte. Außerdem setzte er sich damit von seinem Koalitionspartner in Stuttgart, der FDP, ab, die seinen Vorschlag umgehend als indiskutabel ablehnte. Der Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident des Landes sowie FDP-Landesvorsitzende Walter Döring bezeichnete die Forderung Teufels als »unnötige Provokation«. Er sei »darüber mehr als überrascht und mehr als nur verärgert«. »Es geht um Wahlkampf«, hielt Döring dem Ministerpräsidenten entgegen. Auch der FDP- 124 Justizminister und Ausländerbeauftragte des Landes, Ulrich Göll, kritisierte das Vorpreschen von Teufel. Die Unionspolitiker, die im Bundesrat eine weitere Herabsetzung des Nachzugsalters forderten, befanden sich allerdings im Widerspruch zur Wertekommission ihrer Partei, die wenige Tage zuvor, am 11. D ezember 2001, unter dem Motto »Die Neue Aktualität des Christlichen Menschenbildes« ein 47-seitiges Papier vorgelegt hatte. Darin wird ein Nachzugsalter bis zur Volljährigkeit gefordert: »Um die Integrationsbereitschaft ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen positiv zu stärken und die integrationsfördernden Leistungen optimal zu erschließen, die in Ehe und Familie erbracht werden, kann der Nachzug von Ehepartnern und Kindern nicht willkürlich beschränkt werden. Migrantenfamilien gelingt die Integration in der Regel am besten, wenn die Familien nicht zerrissen werden. Daher sollte gemeinsame Einreise oder zeitnaher Nachzug der Kinder bis zur Volljährigkeit aktiv gefördert werden.« Im Bundesrat kam es erwartungsgemäß zu keiner Einigung. Zustimmung fand dagegen das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz (»Sicherheitspaket II«). Das Gesetz weitet die Kompetenzen des Bundesgrenzschutzes und des Verfassungsschutzes aus. So soll der Grenzschutz uneingeschränkt Ausweise kontrollieren können. Außerdem wird sein Einsatzgebiet im Grenzbereich von bisher 30 auf 50 Kilometer ausgedehnt. Darüber hinaus werden die Gründe für die Ausweisung von Ausländern erweitert. Schließlich werden Ausländern, die ein Visum für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland beantragen, künftig Fingerabdrücke abgenommen. Fälschungssichere Ausweise für Asylbewerber und Geduldete sind vorgesehen. Fingerabdrücke, Lichtbilder und Sprachanalysen von Asylbewerbern können in Zukunft bis zu zehn Jahre gespeichert werden. Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz bekommen Zugriff auf Daten aus Asylverfahren. Datenschützer, Menschenrechts- und Flücht- I2S lingsorganisationen sowie FDP und PDS kritisierten das Gesetz als unangemessen starken Eingriff in die Rechte und Freiheiten von Bürgern und wiesen darauf hin, dass Nichtdeutsche von dem Sicherheitspaket besonders stark betroffen seien. Danach sollen Ausländer ausgewiesen werden, wenn »Tatsachen belegen«, dass sie einer terroristischen Vereinigung angehören. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) kritisierte dabei erneut, dass Ausländer nicht bereits bei einem Verdacht auf terroristische Aktivitäten abgeschoben werden können. Im Januar 2002 ging die Zuwanderungsdebatte in eine neue Runde. In einem gemeinsamen Brief appellierten DGB-Chef Dieter Schulte und Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt an Bundeskanzler Schröder, das Zuwanderungsgesetz nachzubessern. In dieser außergewöhnlichen Koalition verlangten sie ein flexibles Auswahlverfahren nach einem Punktesystem. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig-Georg Braun, kritisierte die Haltung der Union in der Zuwanderungsdebatte. Ähnlich äußerte sich der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski. Auch wenn die Zahl der Arbeitslosen auf über vier Millionen ansteigen werde, sei »das Thema Fachkräftemangel nicht vom Tisch«. Rita Süssmuth appellierte an den Kanzlerkandidaten der Union Edmund Stoiber, das von der Bundesregierung vorgelegte Zuwanderungsgesetz nicht zu blockieren. »Das Zuwanderungsgesetz ist notwendig«, sagte Süssmuth. »Ich kann nur hoffen, dass sich unser Kandidat dieser großen Verantwortung bewusst ist.« Am 16. Januar 2002 fand eine Anhörung des Bundestagsinnenausschusses in Berlin statt. Im Vorfeld dieser öffentlichen Anhörung zum Zuwanderungsgesetz hatte es Irritationen gegeben, weil sich Unionsvertreter zunächst dem Vorschlag der Koalition widersetzten, die Kirchen und Tarifpartner als neutrale Experten einzuladen, die nicht auf das 126 übliche Kontingent der von den Fraktionen benannten Fachleute angerechnet werden sollten. Der Deutsche Städtetag bezeichnete es als »Skandal«, dass die kommunalen Spitzenverbände bei der Anhörung nicht eingeladen worden seien. Bei der Anhörung selbst warnten Experten vor einer Aufrechnung von Arbeitslosen und Zugewanderten. Das Zuwanderungsgesetz fand insgesamt eine breite Unterstützung bei den Vertreten von Wirtschaft, Wissenschaft, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, auch wenn Kritik laut wurde an der geplanten Flüchtlingspolitik und an der Tatsache, dass auf das Problem der Illegalen im Regierungsentwurf nicht eingegangen wird. Der Jurist Michael Hund ging in seiner Stellungnahme ausführlich auf die »illegale Zuwanderung und das Gesundheitssystem« ein: »Es kann nicht richtig sein, dass jeder Schwerkranke, beispielsweise jeder Dialysepatient und jeder AIDS-Kranke, dem es irgendwie - und sei es noch so illegal mit gefälschten Dokumenten, mit Hilfe von Schleusern oder auf dem Wege vorweggenommenen Nachzugs der Großfamilie - gelingt, deutsches Territorium zu betreten, faktisch einen dauerhaften Abschiebungsschutz genießt und künftig sogar ein legales Daueraufenthaltsrecht erhält, wenn im Heimatstaat - und wahrscheinlich in den meisten Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas - keine adäquate Versorgung zu erhalten ist.« Der Experte schlug statt der Erteilung eines Aufenthaltsrechts in Deutschland eine »Kostenübernahme für lebenserhaltende Therapien« vor. Solche Warnungen vor der »Einwanderung in die Sozialsysteme«, die irgendwelche Einzelfälle verallgemeinern und Horrorszenarien an die Wand malen, dürften nicht gerade zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Ergebnislos endete ein Gespräch, zu dem der Bundesinnenminister alle Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der PDS am 24. Januar eingeladen hatte, um für einen Kompromiss in der Zuwanderungspolitik zu werben. Ein zweites Gespräch der Fraktionen am 29. Januar 2002 brachte wieder 127 keine Annäherung. Der Zeitplan geriet weiter durcheinander. Die PDS warf Sand ins Getriebe und wies darauf hin, dass sie ja in den Regierungen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern beteiligt sei und im Bundesrat ein Wörtchen mitzureden habe. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Cornelie Sonntag-Wolgast, wies bei den Hohenheimer Tagen zum Ausländerrecht 2002 auf den eigentlichen Grund für die Eile der Bundesregierung hin: das gesellschaftliche Klima. Es müsse ein gesellschaftlich tragfähiger Kompromiss gefunden werden, der der Bevölkerung vermittelt werden könne. Nach ihren Worten geriet der Grundkonsens, dass Zuwanderung im Interesse Deutschlands liege, in der öffentlichen Wahrnehmung angesichts vier Millionen Arbeitsloser ins Wanken. Auch die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon sowie die Tatsache, dass die Terrorakte auch in Deutschland vorbereitet wurden, hätten die grundsätzlich positive Stimmung zu Gunsten einer geregelten Einwanderung beeinträchtigt. Den Gegner des Gesetzes hätte dies neues Futter für ihre Bedenken geliefert. Eine Äußerung von SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler im Bundestag brachte noch mehr Zündstoff in das einwanderungspolitische Drama, das im Winter 2001/2 aufgeführt wurde. Im Streit um das NPD-Verbotsverfahren hatte Stiegler gesagt, die Vorgängerparteien von CDU und FDP hätten eine »historische Schuld« am Aufstieg von Hitler. Die Vorsitzenden von CDU und FDP, Angela Merkel und Guido Westerwelle, forderten Bundeskanzler und SPD-Chef Gerhard Schröder in einem gemeinsamen Brief auf, sich von Stiegler, der die Zuwanderungskommission seiner Partei geleitet hatte, zu distanzieren. Aber weder dies geschah, noch entschuldigte sich Stiegler, so dass die Union, die einen 16-Punkte-Katalog mit Änderungswünschen vorgelegt hatte, ihre Teilnahme an den weiteren Konsensgesprächen absagte. Die PDS verschärfte die Lage, indem sie ankündigte, im Bun- 128 desrat über ihre Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin die Gesetzesvorlage zu blockieren. Die Medien läuteten bereits das Totenglöcklein für das Zuwanderungsgesetz ein. Am 23724. Februar 2002, einem Wochenende, wanderte die rot-grüne Koalition weiter auf die CDU zu. Am Sonntagabend sprach Bundeskanzler Schröder auch mit Ministern der PDS über die Möglichkeit eines Konsenses. Für Montagabend berief die Bundesregierung überraschend eine Pressekonferenz ein. SPD und Grüne hatten sich in fünf Punkten auf die Union zu bewegt. In § 1 wurde festgelegt: »Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen.« Beim Kindernach-zug wurde, um die Union umzustimmen, die Altersgrenze erneut verschoben: von 14 auf zwölf Jahre. Neu eingefügt wurde ein Ermessensspielraum. Um Bedenken der Opposition, aber auch der Wirtschaft und der Gewerkschaften zu zerstreuen, änderte die Koalition ihren Entwurf auch bei der Arbeitsmigration. Vor der Anstellung ausländischer Arbeitnehmer sollen künftig »nachhaltige Auswirkungen« auf den gesamten Arbeitsmarkt geprüft werden. Die rein regionale Ausrichtung wurde dagegen gestrichen. Die Bundesanstalt für Arbeit kann nach der Neufassung »der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis... zustimmen, wenn sich durch die Beschäftigung des Ausländers nachteilige Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt nicht ergeben«. Auf Wunsch einiger Bundesländer wurde eine Härtefallregelung mit entsprechenden Kommissionen eingeführt. Danach kann auf Ersuchen einer Landesregierung abweichend von sonstigen Regelungen ein Aufenthaltstitel erteilt oder verlängert werden, »wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet rechtfertigen«. Die umstrittene nichtstaatliche und geschlechtsspezifische 129 Verfolgung sollte an internationales Recht geknüpft werden, so dass klargestellt war, dass keine neuen Asylgründe geschaffen wurden. Verschiedene Änderungen in dem 62-seitigen überarbeiteten Papier beheben »Redaktionsversehen«, wie es im Text heißt, und belegen, wie sehr das Reformwerk mit heißer Nadel gestrickt worden war. An anderen Stellen heißt es, »diese Änderung dient der Korrektur eines Verweisungsfehlers«, oder »die Änderung dient der "Wahrung der Rechtsförmlichkeit«. Man merkt dem Text förmlich an, dass ihn die Beamten im Bundesinnenministerium nachts und am Wochenende zusammengeschrieben hatten. Einige Punkte blieben offenbar so unklar, dass sich die Juristen aus dem Ministerium mit den Fachleuten aus den anderen Ressorts darüber stritten, wie das eine oder andere nun zu interpretieren und in der Praxis anzuwenden sei. Bei der eilends anberaumten Pressekonferenz sagte die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Müller: »Es ist uns nicht leichtgefallen, uns hier noch einmal zu bewegen, aber wir wollen im Interesse der Sache auf einige Vorschläge des Bundesrats eingehen, und zwar deshalb, weil es uns Grünen wirklich ein Anliegen ist, noch in dieser Legislaturperiode ein Einwanderungsgesetz zu verabschieden. Wir wollen verhindern, dass das Zuwanderungsgesetz etwa einem wahltaktischen Kalkül von Stoiber zum Opfer fällt.« Für die SPD resümierte Stiegler: »Es waren wirklich harte Tage seit Donnerstag, lange Nächte, schwierige und hitzige Diskussionen.« Die Änderungsvorschläge wurden offensichtlich gerade auch im Hinblick auf die Rolle Brandenburgs vorgenommen, das diese Forderungen im Bundestag aufgestellt hatte. Bundesinnenminister Schily flog nach der Einigung der Koalition direkt nach Österreich, wo Stolpe gerade Urlaub machte. Der stellvertretende Ministerpräsident Brandenburgs, Jörg Schönbohm (CDU), der seit einiger Zeit als Schlüsselfigur bei 130 der Zustimmung im Bundesrat gehandelt wurde, warnte die Bundesregierung dagegen vor einem »CDU-Spaltungsgesetz«. Die CDU/CSU fühlte sich insgesamt überrumpelt. Das Kompromissangebot sei zehn Minuten vor Mitternacht in Form einer 58-seitigen E-mail gekommen, zürnte der parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Hans-Peter Repnik, und brandmarkte das Vorgehen als parlamentarischen »Husarenritt«. Ein Ende des monatelangen Tauziehens um einen parteiübergreifenden Kompromiss in der Zuwanderungspolitik war immer noch nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Union bezeichnete die neuen Vorschläge als »Mogelpackung« und lehnte das Paket ab. Der Berliner Erzbischof, Georg Kardinal Sterzinsky, nannte daraufhin das Verhalten und Vorgehen der Union eine »Schande«. Zuvor hatten auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Manfred Kock, alle Parteien dazu aufgerufen, das Gesetz rasch zu verabschieden. Sie warnten davor, »das Thema in den Wahlkampf zu zerren und es zu einer Sache der Stammtischschwätzer zu machen«. Am 27. Februar, zwei Tage vor der Abstimmung im Bundestag, beschloss der Innenausschuss des Bundestages gegen die Stimmen von CDU/CSU und der PDS und bei Enthaltung der FDP das von der rot-grünen Koalition vorgelegte Gesetz. Gegen den Widerstand der Opposition hielt die Bundesregierung an ihrem Zeitplan fest und lehnte Anträge, die Beratung aufzuschieben, ab. Der Termin für die am 1. März geplante zweite und dritte Lesung des Zuwanderungsgesetzes drohte trotzdem zu platzen. Laut Geschäftsordnung des Bundestages müssen den Abgeordneten die Unterlagen zwei Tage vorher vorliegen. Spätestens um 24.00 Uhr in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hätten sie deshalb verteilt sein müssen. Die letzten Parlamentarier erhielten ihr 160 Seiten starkes Exemplar J31 aber erst um 0.41 Uhr. Die Opposition verzichtete aber darauf, die Zuwanderungsdebatte wegen dieser Fristverletzung zu verschieben. Die Regierungsparteien hatten sich schon auf eine Samstagsitzung eingestellt. Bei einer heftig geführten Bundestagsdebatte gab Bundesinnenminister Schily seinen Schmusekurs gegenüber der Union endgültig auf und beschimpfte die Unionsfraktion, die sich auf einem »schlammigen Holzweg« befinde. Schily zitierte ausführlich aus dem Zuwanderungskonzept des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, das sich in seinem Entwurf niedergeschlagen habe. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Wolfgang Bosbach, konterte, indem er Schily Zitate vorhielt, wo dieser sagt, dass die »Grenze der Belastbarkeit« überschritten sei. Fraktionschef Friedrich Merz betonte: »Rot-Grün geht es nicht um die Begrenzung von Zuwanderung, sondern um einen Paradigmenwechsel. Sie wollen eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft. Wir nicht.« Medienwirksam war der Auftritt von Bundeskanzler Schröder: Als die Abgeordneten schon zur namentlichen Abstimmung schreiten wollten, trat er überraschend ans Rednerpult. Die Bundestagspräsidentin musste ihm erst Gehör verschaffen. Der Kanzler, ganz staatsmännisch und überparteilich, äußerte die »herzliche Bitte«, über die Inhalte weiter zu diskutieren, aber nicht einen Zustand zu schaffen, bei dem der Bundesrat als ein Ort missbraucht werde, an dem ein »Zweikampf zwischen dem Kandidaten und dem Bundeskanzler« ausgetragen wird. Schließlich billigte der Bundestag am i.März die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition. Die FDP enthielt sich, »wohlwollend«, wie ihr Innenexperte Max Stadler sagte, was ihr den Vorwurf einbrachte, sie würde in der Zuwanderungspolitik einen »Eiertanz« aufführen. Vier ehemalige Bundesminister aus der Opposition unterstützten das Gesetz. Auch mehrere PDS-Abgeordnete wichen von der Fraktionslinie ab und enthielten sich. Trotzdem stand der Bundesregierung eine außer- 132 gewöhnliche Ablehnungsfront aus CDU/CSU und PDS gegenüber. Bei den drei Abweichlern der CDU handelte es sich um die früheren Minister Rita Süssmuth, Heiner Geißler und Christian Schwarz-Schilling, die einträchtig auf den hinteren Rängen im Plenarsaal zusammensaßen. Von der FDP stimmte der frühere Wirtschaftsminister Helmut Haussmann für den Entwurf der Regierung. Die CDU-Parlamentarier, die für das Gesetz stimmten, gaben zu ihrem Abstimmungsverhalten eine schriftliche Erklärung ab: »Die Frage, welches Schicksal Kinder und Erwachsene erleiden, wenn sie als Flüchtlinge in Deutschland Schutz suchen, ist für uns ethisch von genau so großer Bedeutung wie etwa die Frage des Embryonenschutzes.« Die Abgeordneten betonten, sie könnten nicht akzeptieren, dass in der drittgrößten Industrie- und Handelsnation der Welt die überfällige Reform des Ausländer- und Zuwanderungsrechts wegen einiger weniger Meinungsverschiedenheiten scheitern solle. Deutschland brauche Zuwanderung auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Schwarz-Schilling verwies in einem Zeitungsinterview darauf, dass die CDU auf dem Kleinen Parteitag 2001 ein Zuwanderungspapier beschlossen habe: »Viele Dinge, die da drin stehen, werden heute von der Union abgelehnt. Das halte ich für einen Fehler.« Darauf angesprochen, dass die Union immer wieder auf die 70 Prozent der Bevölkerung verweisen würde, die ein Einwanderungsgesetz angeblich ablehnten, sagte das Mitglied in der Zuwanderungskommission seiner Partei: »Wenn man das als Argument benutzt, dann wären wir wahrscheinlich nie in die Nato eingetreten, dann hätten wir nie auf dem Balkan interveniert. Dann hätte es viele Entscheidungen, die die großen Kanzler Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt getroffen haben, nicht gegeben, weil die Mehrheit damals dagegen war. Im Nachhinein hat man dann gesehen, dass die Entscheidungen doch richtig waren.« Am Tag der Bundestagsabstimmung veröffentlichte Infra-test eine Meinungsumfrage, wonach sich die Mehrheit der 133 Bevölkerung für einen Kompromiss in der Zuwanderungsdebatte aussprach. 50 Prozent antworteten auf die Frage »Soll die Union auf den Zuwanderungsvorschlag der Bundesregierung eingehen?« mit Ja. Nur 31 Prozent lehnten dies ab. Selbst im Lager der Unionsanhänger war die Meinung gespalten: 43 Prozent lehnten den rot-grünen Vorschlag ab, 37 Prozent waren entgegen dem Kurs der Parteiführung für eine Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Am Tag der Entscheidung erklärte Kanzlerkandidat Edmund Stoiber in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: »Deutschland ist auch jetzt kein Einwanderungsland. Wir haben Zuwanderung, vor allem aus humanitären Gründen, aber wir sind kein klassisches Einwanderungsland.« Stoiber lehnte eine Aufhebung des Anwerbestopps ebenso ab wie das im Entwurf der rot-grünen Regierung vorgesehene' Auswahlverfahren für die Einstellung ausländischer Arbeitnehmer nach einem Punktesystem. CDU und CSU hatten aber in einem gemeinsamen Positionspapier am 10. Mai 2001 genau ein solches Verfahren vorgeschlagen. Darin heißt es: »Die Auswahl der auf die Quoten anzurechnenden Personen erfolgt auf der Basis eines Punktesystems, das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnissen, Berufserfahrung, garantiertem Beschäftigungsangebot, bisheriger Berufstätigkeit in Deutschland, Integrationsfähigkeit und -Bereitschaft sowie persönlicher Eignung differenziert.« Auch im Beschluss des Bundesausschusses der CDU Deutschlands vom 7. Juni 2001 in Berlin steht: »Im Bereich der ArBeitsmi-gration soll auf der Basis eines Punktsystems üBer die Gewährung von DaueraufenthaltsBefugnissen entschieden werden.« Im Gegensatz zu StoiBer sagte am gleichen Tage der Saar-Regierungschef und Leiter der Zuwanderungskommission der CDU, Peter Müller, in einem TV-Interview: »Natürlich Brauchen wir Zuwanderung, das lässt sich üBerhaupt nicht Bestreiten. Und natürlich ist Deutschland faktisch ein Einwanderungsland, auch das lässt sich nicht Bestreiten.« J34 Zustimmung fand das Gesetz nach der Abstimmung bei den Kirchen, Gewerkschaften, der Wirtschaft und dem UN-Flüchtlingskommissariat, das das Gesetz als »Meilenstein für den verbesserten Schutz von Flüchtlingsfrauen« bezeichnete. Die Entscheidung des Bundestages, das Nachzugsalter auf zwölf Jahre zu senken, wurde dagegen kritisiert. Nach Auffassung des Kinderschutzbundes verstößt dieser Punkt gegen das Völkerrecht. Eine Senkung des Nachzugsalters sei nicht mit der von der früheren Bundesregierung (allerdings unter Vorbehalt) unterzeichneten UN-Konvention zum Schutz der Kinderrechte vereinbar. Der Deutsche Frauenrat, der als Bundesvereinigung Frauenverbände mit rund elf Millionen Mitgliedern vertritt, kritisierte, dass die Einschränkung des Nachzugsalters die Familien entmündige, und verlangte, dass alle Kinder bis zur Volljährigkeit mit 18 Jahren zu ihren Familien ziehen dürfen. Wenige Tage nach der Entscheidung im Bundestag berichteten Zeitungen, dass die Unionsführung massiven Druck auf den CDU-Innenminister von Brandenburg Jörg Schönbohm ausgeübt habe, um ein Ja Brandenburgs im Bundesrat zu verhindern. Stoiber habe sogar seinen Rücktritt von der Kanzlerkandidatur angedeutet, falls Brandenburg das Gesetz der rot-grünen Bundesregierung billige. Diese Behauptungen wurden von Schönbohm und der Unionsführung energisch dementiert. Die Chancen für eine Zustimmung im Bundesrat sanken unterdessen immer weiter. Überraschenderweise verständigten sich die Ländervertreter der FDP am 4. März in Berlin darauf, in den vier von ihnen mitregierten Ländern eine Enthaltung zu erwirken. Danach hätte die Bundesregierung auf die fest eingeplanten Stimmen der sozialliberalen Koalition in Rheinland-Pfalz verzichten müssen. Offensichtlich wollten die Liberalen ihre eigenständige Rolle bei einem so wichtigen Thema hervorheben und die Bühne nicht länger den großen Parteien überlassen und ihre »Wächter- und Brückenfunk- 135 tion« im bevorstehenden Bundesratsverfahren wahrnehmen, wie es der stellvertretende Bundesvorsitzende Rainer Brü-derle ausdrückte. So erklärte die Sprecherin des rheinlandpfälzischen FDP-Justizministers Herbert Mertin, wenn man ein Zuwanderungsgesetz wolle, »könne man nicht weiter dem Showdown zwischen Bundeskanzler Schröder und Unionskanzlerkandidat Stoiber zusehen«. Die FDP zeigte sich verärgert darüber, dass der Kanzler zwar mit der PDS, nicht aber mit den Liberalen gesprochen hatte. Aber auch die PDS meldete sich beim Pokerspiel um das Einwanderungsgesetz wieder zu Wort und mahnte Verbesserungen im Flüchtlingsschutz an. Vorschläge von FDP und Union, den Vermittlungsausschuss anzurufen, lehnte die Regierungskoalition ab. Hektik brach am 6. März in Potsdam aus, als Innenminister Schönbohm kurzfristig eine Pressekonferenz zum Reizthema Zuwanderung ansetzte. Der Ex-General sagte: »Ich habe für mich eine Entscheidung getroffen, die ist glasklar.« Er könne sich nicht vorstellen, dass Stolpe im Bundesrat gegen seinen Koalitionspartner stimmen werde. Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) konterte sofort mit einer Pressekonferenz, auf der er klarmachte, dass das letzte Wort über das Votum des Landes im Bundesrat bei ihm liege. Er gehe nicht davon aus, dass sein Stellvertreter, Innenminister Schönbohm, »mutwillig« die Koalition verlasse. Im Streit mit der Union um die Zuwanderung drehte der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) ebenfalls am 6. März den Spieß um. Er kritisierte, dass die Union Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion »ungesteuert ins Land lässt«. Sie stellten die stärkste Gruppe der Zuwanderer dar, mit der es die größten Integrationsprobleme gebe. Niedersachsen hatte dazu einen Antrag im Bundesrat eingebracht, wonach Spätaussiedler wie Aussiedlungswillige aus anderen osteuropäischen Ländern einen individuellen Verfolgungsdruck nachweisen sollen. Danach könnte - so 136 Niedersachsen - die Zahl der Spätaussiedler auf zehn Prozent der bisherigen Zahl, also von rund 100 ooo auf 10 ooo pro Jahr verringert werden. Gabriel sprach von einer »echten Nagelprobe« für die Union. Hier könne sie zeigen, ob sie es mit der Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung ernst meinte. Damit war auch das Aussiedlerthema wieder in den Schlagabtausch der Parteien geraten. Die SPD konnte in diesem Fall auf eine Mehrheit in der Bevölkerung bauen: 63 Prozent der Deutschen wollten - so eine Umfrage vom März 2002 - den Zuzug von Spätaussiedlern aus der Ex-Sowjetunion künftig einschränken. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) teilte vor der Bundesratsabstimmung mit, er schließe eine Unterschriftenkampagne gegen das rot-grüne Zuwanderungsgesetz nicht aus, falls es den Bundesrat passieren sollte. Bayerns Innenminister Beckstein sagte, er wolle das Zuwanderungsgesetz aufsplitten und nur den Integrationsteil vor der Bundestagswahl verabschieden. Aus Sachsen verlautete hingegen gerüchteweise, der scheidende Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) wolle dem Gesetz zur Mehrheit verhelfen. Im Gebälk der rot-schwarzen Regierung in Brandenburg knirschte es immer lauter. Aus CDU-Kreisen war zu hören, Schönbohm wolle zur entscheidenden Abstimmung im Bundesrat sein Rücktrittsgesuch mitnehmen. Dies wolle er Stolpe für den Fall überreichen, dass dieser gegen den Willen der CDU für das Zuwanderungsgesetz der Bundesregierung stimmen sollte. Im Poker um das Zuwanderungsgesetz rückte die Union am Wochenende vom 16.hj. März 2002 insofern von ihrem strikten Nein ab, als sie ihre Bereitschaft für ein Verfahren im Vermittlungsausschuss des Bundestages signalisierte. Dieses Verhandlungsangebot wies Bundeskanzler Schröder zurück. Nach Zeitungsberichten bot die Bundesregierung den Ländern Finanzhilfen an, um das umstrittene Zuwanderungsgesetz im Bundesrat durchzubringen. Brandenburgs Minister- 137 Präsident Stolpe mahnte, eine so wichtige Frage dürfte nicht wie auf einem »Bazar« ausgetragen werden. Rheinland-Pfalz gab zu verstehen, es werde dem Gesetz zustimmen, falls kein Vermittlungsverfahren zustande kommen sollte. Die Regierungen unter PDS-Beteiligung signalisierten ebenfalls Zustimmung. Nun kam also alles auf Brandenburg an. Die Union erinnerte sich mit Schrecken an die letzte Sitzung des Bundesrates in Bonn, als einzelne von der CDU mitregierte Länder gegen das klare Votum der CDU-Führung für die Steuerreform der rot-grünen Koalition stimmten. In der Nacht vor der alles entscheidenden Abstimmung verhandelten die Parteien noch einmal - natürlich getrennt voneinander - über ihr Vorgehen im Bundesrat und schlossen die Reihen. Stoiber und Schröder scharten ihre Bataillone um sich. Freitag, 22. März 2002. Vor 50 Jahren hatten die Bauernverbände - zunächst vergeblich - versucht, die ersten italienischen »Gastarbeiter« ins Land zu holen. Heute nun sollte ein Schlussstrich unter die Anwerbegeschichte in Deutschland gezogen werden. Live vom Fernsehen übertragen, tauschen die Ländervertreter in einer fast fünfstündigen Debatte nochmals ihre Positionen aus. Die Stunde der Wahrheit nahte, als der amtierende Bundesratspräsident, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), nach der Stimme Brandenburgs fragte. Sozialminister Alwin Ziel antwortet mit Ja. Schönbohm ruft Nein. Wowereit fragt nun den Ministerpräsidenten Stolpe, wie das Land abstimmt. Dieser wiederholt das Ja. Als Wowereit dies als Zustimmung zählt, bricht ein - wie sich später nach Angaben von Peter Müller (CDU) herausstellt, inszenierter - Sturm bei der Union los. Die CDU/CSU wirft dem Präsidenten »Verfassungsbruch« vor und spricht anschließend sogar von einer »Verfassungskrise«. Nach Tumulten und einer Unterbrechungspause verlassen die Vertreter der unionsregierten Länder aus Protest den Saal. Wie sich wenige Tage später herausstellte, kannten diese die Auffassung des Bundesratspräsidenten bereits seit 138 dem letzten Abend vor der Abstimmung: Da die Stimme eines Landes nur einheitlich abgegeben werden kann, würde Wowereit Brandenburgs »Jein« aufgrund der Repräsentantenfunktion des Ministerpräsidenten als Zustimmung werten. Das Zuwanderungsgesetz hatte eine Mehrheit gefunden. Die SPD-dominierten Länder hatten dafür gestimmt, die unionsregierten dagegen. Die SPD/FDP-Koalition in Rheinland-Pfalz und die rot-grünen Koalitionen aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin votierten dafür. Bremen, Hamburg und Hessen enthielten sich der Stimme. Für ein Vermittlungsverfahren gab es keine Mehrheit. Weder für den Antrag des Saarlandes zur grundlegenden Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes noch für den Antrag von Rheinland-Pfalz zur Änderung in einigen Punkten. Deutschland ist nun ein Einwanderungsland mit einem Einwanderungsgesetz, das aber - im Wahljahr - unter dem Vorwurf des »Verfassungsbruchs« zustande gekommen ist. Es hätte kaum schlimmer kommen können, denn wer soll nun den Scherbenhaufen zusammenkehren? Letztendlich kann nur das Bundesverfassungsgericht klären, ob die Entscheidung juristisch korrekt war. Der schwarze Peter wurde dem Bundespräsidenten zugeschoben, den die Union mit der Drohung einer Verfassungsklage gegen seine Unterschrift unter Druck zu setzen versuchte. Die Ministerpräsidenten der unionsregierten Bundesländer schrieben an Rau und forderten ihn auf, das Gesetz nicht zu unterschreiben. Mit der umstrittenen Abstimmung im Bundesrat hatte die Politisierung der Ausländerpolitik, die oft genug zur parteipolitischen Profilierung missbraucht wurde, ihren Höhepunkt erreicht. Der langjährige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sagte, das Thema dürfe nicht radikalisiert werden. Geißler wörtlich: »Es wäre eine Katastrophe auch für ein Land, das mit einem überzogenen Nationalismus in seiner Geschichte genügend Unheil angerichtet hat, welches die 139 Menschen um uns herum zwar verziehen, aber nicht vergessen haben.« Der Erzbischof von Köln, Kardinal Joachim Meisner, beklagte nach der umstrittenen Bundesratszustimmung einen Verfall politischer Werte. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller warf dem Unionskanzlerkandidaten Stoiber einen Rückfall in die Endzeit der Weimarer Republik vor. Die Zuwanderungspolitik war so stark in den Brennpunkt der deutschen Innenpolitik gerückt wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte.