Clemens Ruthner (Antwerpen/Edmonton) Traumreich. Die fantastische Allegorie der Habsburger Monarchie in Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1908/09) Noch Kubin: [...] Im Anhören seiner vielen Geschichten kann man vergessen, was er wert ist. (Franz Kafka: Tagebuch [nach dem 30.09.19VI])1 1. Hohn auf die Menschheit: Un-Orte der Jahrhundertwende Am 18. September 1909 schreibt der erst postum als Autor bekannt gewordene Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954) an seinen gleichaltrigen Brieffreund Alfred Kubin - in einem Ton, der schon ein wenig an den »Übertreibungs-künstler«2 Thomas Bernhard denken lässt: Ich bin sehr froh wieder in einem Culturort weilen zu können und begreife nicht Was meine arme Tante noch an Budapest festhält. Es ist wirklich die gräßlichste Carricatur einer Stadt die sich denken lässt, die Bevölkerung ein Hohn auf die Menschheit. Da soll mir noch einer auf Italien schimpfen! Es lebe AfricaP Im Umgang mit Ungarn ist Kubin freilich auch nicht viel höflicher. Wenige Tage später antwortet er im lakonischen Stil eines Reisenden, der es den Ortsnamen überlässt, das Exotische zu evozieren - nur Budapest bekommt ein Attribut: »Lieber Fritz, Wien, das ungarische Riesenbuff Pest, die ganze Donaufahrt, liegt nun schon hinter uns. Morgen Sarajevo 2 Tage, hernach Mostar, Ragusa, Spala-to, Triest und wieder heim«.4 Dieses Budaptst-bashing zweier österreichischer Ferienreisender wäre nicht nur geeignet, um asymmetrische Herrschaftslogiken des >Eigenen< und des iFremdeni im kulturellen Gedächtnis Österreich-Ungarns zu illustrieren; angesichts des zivilisatorischen Schlachtrufs »Africa!« ließe sich unschwer einer des-illusionierend-ipostkolonialeni Sicht5 auf das angeblich imultikulturellei k.u.k. 1 KAFKA, Franz: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Nach der Krit Ausg. hg. v. Hans-Gerd KOCH. Bd. 9: Tagebücher i (1909-1912) in der Fassung der Handschrift. Frankfurt/M.: Fischer 1994 (FTB 12449), p.39. 2 Ct. SCHMIDT-DENGLER, Wendelin: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien: Sonderzahl 1986, 21989: ct. auch GÖRNER, Rüdiger: Wahnsinn Österreich, hast du Methode? Zur Kunst der Übertreibung in einem Kleinstaat. In: Die Presse [Wien] v. 21.3.1992, Spectrum, p.l-ll. J HERZMANOVSKY-ORLANDO, Fritz von: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Hg. v. Walter METHLAGL u. Wendelin SCHMIDT-DENGLER. Bd. VII: Der Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903-1952. Hg. v. Michael KLEIN. Salzburg; Residenz 1983, p.22. 4 Ibid., p.3l (Brief Kubins vom 28. September 1909). Ragusa und Spalato sind die damals gebräuchlichen italienischen Namen für die dalmatinischen Küstenstädte Dubrovnik und Split. 5 Cf. RUTHNER, Clemens: »K.u.k. (post-)colonial«? Prolegomena zu einer neuen Sichtweise Österreich-Ungarns in den Kulturwissenschaften. In: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf [2001]: DERS.: 180 Clemens Ruthner Staatsgebilde das Wort reden. Dass die ungarische Metropole hier imagologisch zum Gegenteil eines »Culturort[s]«, zur »Caricatur einer Stadt« und zum Schau-Platz sexueller Ausschweifung (»Riesenbuff«) wird, ist aber auch insofern pikant, als der erfolgreiche Zeichner und Buchillustrator Kubin (1877-1959), ein zeitgenössischer Meister der grotesken Grafik, im genannten Jahr 1909 selbst schon - und zwar literarisch - einen solchen Un-Ort (uxoitoa) fingiert hatte, auf den wohl ähnliche Invektiven zutreffen würden. Es handelt sich um den fantastischen Roman Die andere Seite, einen der eher in Vergessenheit geratenen Schlüsseltexte der deutschsprachigen Fin de siecle-Literatur. Geschildert wird hier in Form eines fiktiven Reiseberichts die freiwillige Emigration des Protagonisten in ein fiktives »Traumreich« in Zentralasien, das in der Erbfolge der literarischen wie auch der angewandten Utopie steht - fand doch in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft etwa das Schweizer Monte-Ven-ta-Projekt3 statt. Kubins Roman ist von paradigmatischem Wert innerhalb einer internationalen Welle von utopischen beziehungsweise dystopischen Texten zur Jahrhundertwende; Michael Koseier etwa hat ihn, wie folgt, klassifiziert: Das Interesse, das die Decadence-Literatur an der (sterbenden) Stadt zeigt, orientiert sich [...] am Einzelwesen und zielt meist darauf, »Korrespondenzen zwischen einer Stadtlandschaft und einem Individuum« [Zit. Hans Hinterhäuser] herzustellen. Alfred Kubins Roman Die andere Seite, dessen Zugehörigkeit zur Decadence-Literatur außer Frage steht, scheint diese Feststellung auf ebenso frappierende wie einzigartige Weise zu widerlegen, gelangt hier doch nichts Geringeres als ein dekadentes Gemeinwesen zur Darstellung.7 Das »Traumreich« Kubins wird im Text als heterogenes Staatskonstrukt imagi-niert, gleichsam als bricolage seines geheimnisvollen Gründers Claus Patera. Dieser Groß-Sammler8 mit eigentümlichen Vorlieben kauft in Europa düstere alte Gebäude ohne ersichtlichen Wert - meist Schauplätze von Bluttaten - auf, um sie abzureißen und im Traumreich wieder aufzubauen; auch die Einwanderer Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbiider in der k.u.k. Monarchie - eine Projektskizze. In: ZEYRINGER, Klaus / CSAKY, Moritz (Hg): Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder. Innsbruck, München: Studien-Verlag 2002 (Paradigma Zentraleuropa 4), p.30-53.; DERS.: iK.u.k. Kolonialismus! als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner3.pdf [2003]. 5 Cf BRUNN, Clemens: Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin. Oldenburg: Igel 2000 (Reihe Literatur- und Medienwissenschaft 75), p. 190. - Die Kommune am Monte Veritá bei Ascona war zwischen 1900 und 1940 eine beliebte Versuchsstation alternativer Lebensformen, frequentiert von Anarchisten wie Erich Mühsam und Gustav Landauer, später von Vegetariern, Expressionisten und Dadaisten, die eine neue, nicht-kapitalistische Gesellschaft als 'Zurück zur Natun projektierten. Cf. www.csf-mv.ethz.ch/official/mv/history.htm 7 KOSELER, Michael: Die sterbende Stadt. Décadence und Apokalypse in Alfred Kubins Roman »Die andere Seiter. In: LACHINGER, Johann / PINTAR, Regina (Hg.): Magische Nachtgesichte. Alfred Kubin und die phantastische Literatur seiner Zeit. Linz, Salzburg: Stifter-Institut, Residenz 1995 (Kubin-Projekt 3), p.45-55, hier p.47. HINTERHÄUSER, Hans: Fin de Siede. Gestalten und Mythen. München: Fink 1977, p.l 75. 3 Cf. KUBIN, Alfred: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. München: Eilermann 1975 (edition span-genberg), p.l8f., 167. Alle künftigen Seitengaben aus dieser Buchausgabe erfolgen im Lauftext zwischen Klammern. Die fantastische k.u.k. Allegorie in Alfred Kubins Die andere Seite 181 sind augenfällig nacn den Gesichtspunkten einer zeitgenössischen Pathologie selektiert worden: Sie [= die Bevölkerung] rekrutierte sich aus in sich abgeschlossenen Typen. Die besseren darunter waren Menschen von übertrieben feiner Empfindlichkeit. Noch nicht überhandnehmende fixe Ideen, wie Sammelwut, Lesefieber, Spielteufel, Hyperreli-giosität und all die tausend Formen, welche die feinere Neurasthenie ausmachen, waren für den Traumstaat wie geschaffen. Bei den Frauen zeigte sich die Hysterie als häufigste Erscheinung. Die Massen waren ebenfalls nach dem Gesichtspunkt des Abnormen oder einseitig Entwickelten ausgewählt [...]. Unter Umständen befähigte sogar schon an jns Auge fallendes Körpermerkmal, ins Traumland berufen zu werden. Daher die vielen Zentnerkröpfe, Traubennasen, Riesenhöcker, (p.52, 55) Wie noch zu zeigen sein wird, ist auch Kubins Text selbst nach einem ähnlichen Prinzip aus den unterschiedlichsten Versatzstücken zusammengesetzt; wie bei einem Vexierbild wird mal die eine, mal die andere Facette dieses literarischen Synkretismus für den aufmerksamen Leser sichtbar. Beim zeitgenössjschen Publikum wurde Kubins Buch schnell bekannt. Es sollte der einzige Roman des bildenden Künstlers bleiben: Vom Autor selbst illustriert, erschien er 190g; mehrere Neuauflagen und eine überarbeitete Neuausgabe (1952) folgten berejts zu Lebzeiten Kubins, und der Text ist heute immer noch in Taschenbuchform - wenn auch unillustriert - erhältlich. Dass seine literarische Wirkungsmächtigkejt, die so unterschiedliche Autoren wie Franz Kafka, Ernst Jünger und Helmut Kasack bis hin zu Christoph Ransmayr erfasst hat,9 nicht allgemein bekannt ist, hängt wohl mit der mangelnden Anerkennung dieses Textes durch die Germanistik zusammen, die ihn mit anderen im Giftschrank der deutschsprachigen Jahrhundertwende-Fantastik abgelegt und damit vielfach abgetan hat. Gerade das Fantastische10 an diesem Text ist jedoch für das Generalthema des vorliegenden Sammelbandes von Interesse - bedient sich doch das kulturelle Gedächtnis bei seiner kollektiven Konstruktion symbolischer Räume, Zeiten und Figuren schon bei real existierenden Reichen des Imaginären, Fantasmatischen. Warum sollte dies also bei einem individuell fingierten Trournreich anders sein - zumal hier außerdem ein Ich-Erzähler mit einem geradezu ethnografischen Blick vorgeht und (wie noch zu zeigen sein wird) den Leser fortwährend zum außerfiktionalen Vergleich mit Zentraleuropa einlädt? Ist der fantasmierte Bezugspunkt dieses erträumten Empires das zeitgenössische »Kakanien« und das 9 Cf. GEYER, Andreas: Traumverwandte. Kubins Begegnung mit Kafka. In: LACHINGER ft PINTAR 1995, p.67-85; DERS.: »Angriffe des Wunderbaren auf die Welt der Tatsachen«. Annäherungen an das Phantastische im Werk von Ernst Jünger. In: LE BLANC, Thomas / TWRSNICK, Bettina (Hg.): Traumreich und Nachtseite 2. Die deutschsprachige phantastik zwischen Decadence und Faschismus. Wetzlar: Phantastische Bibliothek 2001 (Schriftenreihe und Materialien 21), p.36-54; POLT-HEINZL, Evelyne: Von Alfred Kubins Perle zu Ransmayrs Tomi. Über ein kulturhistorisches Verwandtschaftsverhältnis. In: FREUND, Winfried / LACHINGER, Johann / RUTH^r-p^ Clemens (Hg.): »Der Demiurg ist ein Zwitter.« Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik. München: Fink 1999, p.275-291. m Zu diesem Begriff cf. jm Folgenden. 182 Clemens Ruthner Die fantastische k.u.k. Allegorie In Alfred Kubins Die andere Seite 183 Imaginäre somit ein Doppeltes, das das kollektiv Imaginierte, die Bilderwelten des Vielvölkerstaats, fantastisch re-imaginiert? Nicht zuletzt deshalb ist der analytische Blick auf die Konstruktion dieses fiktiven Gedächtnis-Raums kulturwissenschaftlich reizvoll. Außerdem war Kubins Text die Initialzündung für eine ganze Serie von deutschsprachigen Romanen, die unmittelbar vor und nach dem Zusammenbruch der Habsburger- und Hohenzollern-Monarchien von fantastischen Welten und deren Untergängen erzählten - wobei sie häufig Österreich-Ungarn, jenes Reich der unbegrenzten Unmöglichkeiten, meinten und damit gleichzeitig einen gewissen apokalyptischen bon ton der Zeit bedienten. Exemplarisch für viele seien folgende Romantitel genannt: • Das grüne Gesicht (1916) und Walpurgisnacht (1917) von Gustav Meyrink (1868-1932), der sich nach seinem Bankrott als Bankier in Prag zum esoterisch angehauchten Bestsellerautor entwickelte;11 • Eleagabal Kuperus (1910) sowie Gespenster im Sumpf und Umsturz im Jenseits, beide 1920 erschienen, doch zum Teil schon früher verfasst, Romane des völkisch gestimmten Deutsch-Böhmen und späteren hohen NS-Literatur-funktionärs Karl Hans Strobl (1877-1946)i12 • Eva Morsini - die Frau, die war (1923), ein Roman des jüdischen Wiener Autors Otto Soyka (1881-1955),13 den wir heute nur noch als anekdotischen Intimfeind von Leo Perutz14 (1884-1957) erinnern, dem Autor, der später selbst mit den apokalyptischen Romanen Der Meister des Jüngsten Tac/es (1924) und St. Petri-Schnee (1932) hervorgetreten ist. Aus Platzgründen - und auf Grund seines paradigmatischen Wertes - muss sich die folgende Analyse allerdings auf Kubins Roman Die andere Seite konzentrieren; zu hoffen bleibt eine angelegentliche Ergänzung des hier Vorgebrachten. 11 Cf. CERSOWSKY, Peter: Phantastische Literatur im 1. Viertel des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der ischwar-zen Romantik: inbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka. München: Fink 1983, 21994; MEISTER, Jan Christoph: Hypostasierung - die Logik des mythischen Denkens im Werk Gustav Meyrinks nach 1907. Frankfurt/M. et gl,: Lang 1987: SMIT, Frans: Gustav Meyrink. Auf der Suche nach dem Übersinnlichen. Aus dem Niederländischen von Konrad Dietzfelbinger. München, Wien: Langen-Müller 1988; RUTHNER, Clemens: Unheimliche Wiederkehr. Interpretationen zu den gespenstischen Romanfiguren bei Ewers, Meyrink, Soyka, Spunda und Strobl. Meitingen: Corian 1993 (Studien zur phantastischen Literatur 10), p.168ff. 12 Cf. WACKWITZ, Günter: Karl Hans Strobl (1877-1946). Sein Leben und sein phantastisch orientiertes Frühwerk. Halle-Wittenberg: Univ., Diss. [maschj 1981; RUTHNER 1993, p.64-98. 13 Cf. RUTHNER 1993, p.146-185; DERS.: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispie! der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen, Basel: Francke 2004, p.217ff. 14 Cf. MÖLLER, Hans-Harald: Leo Perutz. München: Beck 1992 (BR 625; Autorenbücher); DERS. /SCHERNUS, Wilhelm: Leo Perutz. Eine Bibliographie. Frankfurt/M. et al.: Lang 1991 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 15); SIEBAUER, Ulrike: Leo Perutz - »Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich«. Eine Biographie. Gerlingen: Bleicher 2000. 2. Andere Seiten aufziehen: Kubins Vater-Text und seine Vieldeutigkeit Kubins literarischer Text Die andere Seite verdankt sich zunächst einmal (biografisch) einer tiefen Existenzkrise seines Autors, weiters dessen Doppeltalent und dadurch einer gleichsam großflächig einwirkenden Intertextualität beziehungsweise Intermedialität: Ursprünglich hätte Kubin Meyrinks Go/em-Roman illustrieren sollen. Die beiden hatten sich 1905 am Semmering getroffen; Meyrink schickte dann in den folgenden Jahren seine fertig gewordenen Kapitel an Kubin, der zu zeichnen begann. Als Meyrink jedoch in einen writer's block geriet, stockte auch Kubins künstlerischer Assistenzeinsatz. Er verwendete die elf fertigen Illustrationen schließlich für seinen eigenen Roman, den er im Herbst 1908 unter dem Eindruck des Todes seines Vaters begonnen hatte - zu einer Zeit, als er sich unfähig fühlte zu zeichnen und deshalb ins Medium der Literatur auswich: Ich war nicht im Stande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen. [...] Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so dass bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman »Die andere Seite« geschrieben war. In den nächsten vier Wochen versah ich ihn mit Illustrationen. Nachher war ich allerdings erschöpft und machte mir bange Gedanken über dieses Wagnis. Im Sommer 1909 erschien das Buch aber dann doch bei Georg Müller und hat mir viel Anerkennung gebracht.15 Meyrink vollendete seinen Roman erst 1915, also etliche Jahre später, und es sind Stimmen laut geworden, die behaupten, Kubin hätte nichts anderes getan, als das ursprüngliche Romanprojekt seines Bekannten zu verwirklichen16 - über das wir freilich zu wenig wissen, um vergleichen zu können. Bleiben wir also bei Kubins Text. Die Geschichte der Anderen Seite wird von ihrem Protagonisten, einem namenlosen Zeichner zu Beginn des 20. Jahrhunderts, retrospektiv in Ich-Form erzählt. Der eher mediokre, in seinen Dreißigern stehende Held, der bis hin zur kränkelnden Ehefrau viele Charakteristika mit seinem Autor gemein hat, wird zu Beginn des Romans an seinem Wohnort München von einem rätselhaften Mann aufgesucht. Dieser gibt sich als Sendbote eines ehemaligen Schulkollegen des Zeichners zu erkennen - es ist jener Claus Patera, der es nach einem abenteuerlichen Leben in Asien zu grenzenlosem Reichtum gebracht hat, mit dessen Hilfe er dann das altmodische »Traumreich« gründet, einen Zufluchtsort für inzwi- KUBIN, Alfred: Dämonen und Nachtgesichte. Eine Autobiographie. München: Piper 1959, p.40. Kubin ist ein Autor, der zur Selbststilisierung neigt; GEYER 1995, p.98, hat gezeigt, dass das Romanprojekt schon vor dem Sommer 1908 in Angriff genommen worden sein dürfte. Mündliche Mitteilung von Andreas Geyer, München. Cf. auch HEWIG, Anneliese: Phantastische Wirklichkeit. Interpretationsstudie zu Alfred Kubins Roman »Die andere Seite«. München: Fink 1967 (Zur Erkenntnis der Dichtung 5), p.13, 22, 135; CERSOWKSY 1983, p.68. 184 Clemens Ruthner 185 sehen 65.000 Moderne-Verweigerer aus Europa. Durch seinen Abgesandten lädt Patera nun auch den Zeichner und dessen Frau ein, ins Traumreich zu ziehen, und hinterlegt als Zeichen seines guten Willens einen Scheck über 100.000 Reichsmark. Der Zeichner und seine Gattin leisten bald der Einladung Folge und treffen nach einer strapaziösen zehntägigen Bahn- und Seereise, die sie über Budapest, Constanza, Russland und Samarkand führt, in Perle, der Hauptstadt des Traumreiches, ein. Der Roman beschreibt nun in weiterer Folge den Alltag in Perle, über dem sich ein »ewig trübefr]« Himmel (p.49) wölbt. Immer mehr tritt auch zu Tage, dass das Traumreich von seinem Herrscher Patera gottgleich mit hypnotischen, wenn nicht magischen Kräften gelenkt wird. Dennoch strahlt es eher den schäbigen Charme eines Second-Hand-Mitteleuropas aus als das Charisma eines irdischen Paradieses; denn in dieser rückwärts gewandten Utopie sind nur alte, abgewohnte Gebäude und ausgefallene Menschen sowie Mode und Gerätschaften aus der Zeit vor den 1860er Jahren zugelassen (cf. p.18 passim). Nach einer Serie von persönlichen Missgeschicken, die im Tod seiner Frau gipfeln, wird der Zeichner schließlich zum Chronisten und Überlebenden des Untergangs dieses geheimnisvollen Kunststaates, der maßgeblich von einem neuen Zuzügling aus Amerika bewerkstelligt wird. Dieser zweite Millionär, ein »Pökelfleischkönig« (p.172) mit dem sprechenden Namen Herkules Bell, gründet in Perle den politischen Verein »Lucifer« und treibt die Traumstädter in den offenen Aufruhr gegen ihren unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Alleinherrscher Patera. Am Schluss des Textes steht der Zusammenbruch dieser künstlichen Gesellschaft, der narrativ als naturhaftes Weltende, aber auch als Bürgerkrieg und apokalyptisches Bacchanal inszeniert ist und ebenso unerklärlich wie die Herrschaft Pateras vonstatten geht: Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavem. In diesem, in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, [...] sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stießen die schwächeren Weiber in die Aasflut, wo sie von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der große Platz glich einer gigantischen Kloake, in der man mit letzter Kraft einander würgte [...]. (p.251) Später heißt es nur noch: »Ein weites, weites Trümmerfeld; Schutthaufen, Morast, Ziegelbrocken - der gigantische Müllhaufen einer Stadt.« (p.271) Unter der Deckschicht dieses »einfach«17 geschriebenen fantastischen Romans steckt indes Einiges an Bedeutung. Schon Kubins langjähriger Brieffreund Fritz von Herzmanovsky-Orlando schreibt am 2. Juni 1910 an den Autor: »ich gratuliere dir Meister... es ist geradezu Räthselhaft was für Untiefen das Buch 17 In einem Brief schreibt Kubin: »- meine Schreibweise ist einfach -, wenngleich ich ein guter Erzähler vielleicht bin. -«(HERZMANOVSKY-ORLAN DO/KUBIN 1983, p.21). besitzt: je öfter ich es lese desto unerhörteres bietet es mir: wie eine Zwiebel mit immer neuen Schalen nur daß es immer mehr zu als abnimmt.«18 Kubins Schwager Oscar A. H. Schmitz wiederum meint in seinem 1923 erschienenen Schlüssel zur Anderen Seite, er habe »unter den zahlreichen ehrlichen Bewunderern, zu denen unsere besten Köpfe zählen, keinen getroffen, den das Buch nicht beunruhigt oder irregeführt hätte, weil er den Sinn nicht finden konnte«.!9 1995 schließlich kann der bayrische Doktorand Andreas Geyer fast schon befriedigt feststellen: »Wenn die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten ein Indikator für den Rang eines literarischen Werkes ist, kommt Kubins Roman Die andere Seite eine ganz besondere Bedeutung zu«.20 Die Polysemie des Textes rührt aus mehreren Quellen. Zum einen ist die verrätselnde Erzählstrategie eines halb gelüfteten Mysteriums (das heißt die Betonung des »hermeneutischen Codes« im Sinne der Narrationstheorien von Roland Barthes21) genrespezifisch für die fantastische Literatur. Diese inszeniert - generell gesprochen - mit den Mitteln einer mehr oder weniger realistischen Poetologie einen epistemologischen Konflikt über die Verträglichkeit ihrer erzählten Ereignisse (etwa Geistererscheinungen) mit gängigen Weltmodellen: »die gemeinsame Unschlüssigkeit des Lesers und der handelnden Personen, die darüber zu befinden haben, ob das, was sie wahrgenommen haben, der >Realität< entspricht, wie sie sich der herrschenden Auffassung darstellt.«22 Auf die Andere Seite umgelegt, zieht dies vor allem die Frage nach sich, ob der seine Glaubwürdigkeit beteuernde Ich-Erzähler die Geschehnisse rund um das »Traumreich« auf der fingierten Wirklichkeitsebene des Textes tatsächlich erlebt oder nur geträumt23 hat; oder aber, ob der Text nicht als Ganzes etwas Anderes bedeutet, also eine Art von Staatsa//egor/e24 darstellt. Fragen dieser Art werden dem Leser vom Erzähler förmlich aufgedrängt, noch bevor dieser das Traumreich zu schildern beginnt: Es waren sehr merkwürdige Verhältnisse, die sich mir Tag um Tag entschleierten. Gänzlich enthüllt haben sich mir die letzten Zusammenhänge aber niemals; ich kann nur alles so hinschreiben, wie ich es selbst erlebt und aus den Mitteilungen der anderen Traumleute entnommen habe. Meine Meinungen über diese Zustände ,8 Ibid., p.50. 19 SCHMITZ, Oscar A.H.: Brevier für Einsame. Fingerzeige zu neuem Leben. München: G. Müller 1923 p 98 2" GEYER 1995, p.92. 21 Cf. BARTHES, Roland: Das semiologische Abenteuer. Aus d. Frz. v. Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (es 1441), p.295. 22 T0D0R0V, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus d. Frz. v. Karin Kersten et al. München: Hanser 1972; Frankfurt/M.: Fischer 1992 (FTB 10958), p.40. Zur Diskussion der Todorovschen Thesen cf. RUTHNER 2004, p.88ff.; weiters LACHMANN, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 (stw 1578). 23 Der Text enthält Indizien, die nahe legen, die Erzählung vom Traumreich als entgleiste(n) Traum(arbeit) anzusehen: immerhin findet sich der Ich-Erzähler im Epilog in einer »Heilanstalt« wieder: »mein Traumvermögen war augenscheinlich erkrankt; die Träume wollten meinen Geist überwuchern« (p.276). 2d Trotz Todorovs Dogma einer poetologischen Unvereinbarkeit von Fantastik und Allegorie (T0D0R0V 1972/ 94, p.32f., 55ff.) gilt inzwischen Allegorisierung als Wesensmerkma! der deutschsprachigen fantastischen Romane des frühen 20. Jahrhunderts, (cf. CERSOWKSY 1983, p.66f.). 1 86 Clemens Ruthner finden sich in dem Buche eingestreut, vielleicht weiß einer oder der andere Leser bessere Erklärungen, (p.49) Diese Erzählstrategie der bedeutungsvollen Verrätselung - im Verbund mit der »einfachen« Narration - verhängt einen Interpretationszwang über den Leser, ähnlich wie auch bei Kafka, dessen Strafkolonie (1919) und Sc/i/oß-Roman (1922ff.) dem Text Kubins zumindest stofflich nahe stehen25 (auch wenn sich Kafkas Erzählinstanzen im Allgemeinen über mögliche »Erklärungen« ausschweigen). Zusätzlich zeigt sich Die andere Seite bei näherem Hinsehen durchsetzt mit ' Intertexualität, mit zahlreichen Anspielungen und Bezugnahmen auf andere Werke der Literatur, Philosophie und bildenden Kunst: Kubin war ein Vielleser, der bereitwillig über seinen persönlichen Kanon Auskunft gab, und ein - wenn auch autodidaktischer - poeta doctus, mit einer großen Bibliothek, die in seinem Haus in Zwickledt (Oberösterreich) erhalten geblieben ist. Wir können auf diese Weise seine Lektüre anhand der Buchbestände und ihren zahlreichen Randbemerkungen erschließen. Durch Text und Kontext haben sich so in der bisherigen Kubin-Forschung folgende Zugangsweisen aufgetan - wobei es die Warnung von Clemens Brunn zu beachten gilt, dass sich eine Interpretation der Anderen Seite »wie ein Puzzlespiel« gestalte, »bei dem immer einige Teile fehlen und andere schlichtweg nicht passen wollen«26: 1. Der Text lässt sich zunächst ganz einfach als exotistischer Abenteuerroman mit fantastischen Zügen lesen, wie er dem Zeitgeist um 1900 geläufig war (mit Autoren wie Jules Verne, Karl May, Joseph Conrad, Henry Rider Hag-gard). 2. Wie bereits angedeutet, besteht ein weiterer Genrebezug zur Tradition der literarischen Utopie beziehungsweise Dystopie.27 3. Im Spiel mit Vaterfiguren - nicht umsonst steckt ja im Namen Claus Patera nicht nur ein realer Schulkoliege Kubins, sondern auch das griechische Wort für Vater - lässt sich psychoanalytisch die Verarbeitung eines biografischen Vatertraumas erkennen, das in manchen Zügen (einmal mehr) an Kafka erinnert28 25 Cf. HEWIG 1967, p.127; JABLOKOWKSA, Joanna: Die Apokalyptik um die Jahrhundertwende. Alfred Kubins iDie andere Seite». In: Die Rampe [Linz] 2/1989. p.7-24, hier p.16; NEUHÄUSER, Renate: Aspekte des Politischen bei Kubin und Kafka. Eine Deutung der Romane »Die andere Seite» und »Das Schloßt. Wiirzburg: Königshausen Et Neumann 1998 (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 234). 26 BRUNN 2000, p.264. 27 Cf. etwa BERNERS, Jürgen: Der Untergang des Traumreiches. Utopie, Phantastik und Traum in Alfred Kubins Roman »Die andere Seitei. Wetzlar: Phantastische Bibliothek 1998 (Schriftenreihe und Materialien 27), p.lOff. 28 Cf. BERRY, Nicole: »L'autre cötec Une lecture psychoanalytigue de Kubin. in: Austriaca [Rouen] 27 (1988), p.127-141; MÜLLER-THALHEIM, Wolfgang K.: Erotik und Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine psycho-pathologische Studie. München: Nymphenburger 1970, p.38ff.; NEUHÄUSER 1998, p.42ff; GEYER 1995, p.92f.; SCHMITZ 1923, p.126. Dazu gibt es auch eine Aussage Kubins, der die hausgemachte Philosophie Die fantastische k.u.k. Allegorie in Alfred Kubins Oje andere Seite 1 87 4. Weniger therapeutisch und biografisch bemühte Literaturpsychologen haben im Roman Kubins eine narrative Parallelaktion zum zeitgenössischen Diskurs der Psychoanalyse gesehen: Die Fahrt ins Traumreich entspreche deren »Expedition« ins »innere Afrika«29 des Unbewussten; die Reise des Zeichners ließe sich dann, wie etwa Philip Rhein schreibt, als literarische Umsetzung des Einschlafens, Träumens und Erwachens fassen, beziehungsweise als Literarisierung der so genannten »Traumarbeit«.30 5. Dennoch ist Perle ebenso gut eine von vielen toten Städten der Jahrhundertwende, steht also in einem literarischen Traditionszusammenhang, der wiederholt mit dem Etikett der Décadence versehen worden ist.31 Der mit einer bizarren Sammelwut begabte Staatsgründer Patera wäre so gesehen eine Art globalisierter Geistesverwandter von Des Esseintes, dem Antihelden von Joris-Kari Huysmans aus dessen Dekadenz-Brevier Á rebours (1884).32 6. Gleichzeitig nimmt der Text auch das alte literarische Motiv des »Hadesgangs« wieder auf;33 beziehungsweise gibt es so etwas wie 7. eine initiatorische Handlungsstruktur im Roman (vor allem in Zusammenhang mit dessen philosophisch kosmologischer Botschaft (dazu weiter unten).34 seiner jungen Jahre, wie foigr. zusammenfasst: «Ich stellte mir aisc vor. t;aß ein an sich außerzeitlicnes, ewig seiendes Prinzip - ich nannte es »den Vatc< - aus cne' unergründlichen Ursache heraus das Selbstbewußtsein, - »den Sohn». - mit der zu ihm unscheiubar gehörigen We:t schul. Hier war natürlich ich selbst »der Sohn», der sich selbst, solange es dem eigentlichen, riesenhaften, ihn ja spiegelreflexartig frei schaffenden Vater genehm ist, narrt, peinigt und hetzt. Es kann also ein derartiger Sohn jeden Augenblick mit seiner Welt verschwinden und in die Überexistenz des Vaters aufgehoben werden. Es gibt immer nur einen Sohn, und von dessen erkennendem Standpunkt aus konnte man vergleichsweise allegorisch [!] sagen, daß dieser ganze äffende und qualvolle Weltpro/eß geschieht, damit an dieser Verwirrtheit der Vater erst seine allmächtige Klarheit und Endlosigkeit merkt - mißt.« (ZI:, n. PETRICCNI, Hellmuth: »Die andere Seüd oder das Paraoies des Untergangs. In: OERS.: Das Reicn des Untergangs. Bemerkungen über ein mythologisches Thema. Hamburg: Hoffmar.il Et Campe 1958, p.96-125, hier p.104; cf auch den Alternativentwurf der Kucir'scnen Philosopheme in KUBIN. Alfred: A„s meiner Werkstatt. Gesammelte Prosa. Hg. v. U.'ricn Riemerschmidt. München: Nympnenburger 1976, p.35f.) 29 Cf. LÜTKEHAUS, Ludger (Hg.): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt/M.: Fischer 1988 (FTB 6582). 30 RHEIN, Phillip H.: The Verbal and Visual Art of A. Kubin. Riverside. Calif.: Ariadne 1989. p.29ff.: cf. auch HEWIG 1967, p.27 passim; GEYER 1995. p.KMff. Kubin schrieb am 22. Dezember 1914 zur ersten psychoanalytischen Interpretation des Romans (in der Wiener Zeitschrift Imuqo): »»Sonst bin ich wie gesagt aer Ansicht Goß Freuo's Entaeckung fabelhaft ist aber doch :m materiellen stecken bleibt, stecken bleiben muß, weil aile rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr ais Bausteine liefern kann.« (HERZMANOVSKY-0RLAND0/KUBIN 1983, p.98, cf p.90) Und in der Anderen Seite selbst findet sich der ironisch-kokette Satz: »Wer c:ne ErKlärur.g sucht, halte sich an die Werxe unserer so geistvollen See;enforscher.« (p.7) 31 Cf. WILLE, Werner: Studien zur Dekadenz in Romanen um die Jahrhundertwende. Greifswald: Adler 1930, FISCHER, Jens Malte: Deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus. In: Phaicon 3 (1978). p.93-13; GEYER 1995, p.94; K0SELER 1995. 32 Kubin erwähnt den Namen Huysmans am 7. Oktober 1911 in einem Brief an Herzmanovsky (cf. HERZMA-NOVSKY-ORIANDO/KUBIN 1983, p.70). 33 Cf. HEWIG 1967, o,182ff.; SCHMITZ 1923. p.74. * Cf. CERSOWSKY 1983. p.66ff; SCHUMACHER. Hans: »De andere Set* (19091 von Altred Kubin. In; FREUND, Winfried / OERS (Hg.): Spiegel im dunklen Wort. Analysen i-jt Prosa des -'ruhen 2!) Jahrhunderts. F»anKturt/ Vi. et a:.: Lang 1982 (EHSS, Reihe 1: Deutsche Sorace und Literatur 513), p.9-34 hier p.10; BERG, Stefan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Janrhun-derts. Stuttgart: Metzler 1991. p.235-54; Cf. auch das Weg-Modell, das Wünsch für den fantastischen Roman des frühen 20. Jhs. entwickelt hat (WÜNSCH, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition Denkgeschichtlicher Kontext Strukturen. München: Fink 1991, p.227ff.) Clemens Ruthner Die fantastische k.u.k. Allegorie in Alfred Kubins Die andere Seite 189 10 . Ebenso wurde Die andere Seite von vielen Interpreten als »politische Allegorie« aufgefasst und die Begabung ihres Autors in Hinblick auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mitunter ins Prophetische verlängert.35 Hier kam unter anderem der Rezension von Ernst Jünger, die Kubin eine »Seismographen-Funktion«36 bescheinigt, eine Vorreiterrolle zu: »Kubin erkennt am Untergang der bürgerlichen Welt, an dem wir tätig und leidend teilnehmen, die Zeichen der organischen Zerstörung, die feiner und gründlicher wirkt als die technisch-politischen Fakten, die auf der Oberfläche angreifen.«37 . Wesentlicher als dubiose Zuschreibungen des »Visionären« erscheint heute die ebenso von Jünger angesprochene Moderne-Kritik des Textes, die in der Figur des Amerikaners Herkules Bell fokussiert wird. Diese verkörpert die Dialektik einer industrialisierten Aufklärung, indem sie Demokratie und Modernisierung, aber auch Entwurzelung und Zerstörung gleichsam ins Traumreich importiert.38 Ihr gegenüber versteht sich freilich ein in Patera verkörperter europäischer Konservatismus (beziehungsweise Traditionalismus) mit irrationalistischen Wurzeln als kein brauchbares Gegenmodell, sondern als dem Untergang preisgegebener Anachronismus. Der Text desavouiert beide Positionen gleichermaßen: Am Schluss des Romans verkrallen sich die zwei Machthaber Perles in einem veritablen Titanenkampf »zu einer unförmigen Masse« (p.263), ja zu einem Doppelwesen, um sich nachher aufzulösen: in den »Schädel Pateras«, der »zerstob«, und in den »über alle Möglichkeiten großen Phallus« Beils, der in den unterirdischen Gängen des Traumreichs verschwindet (p.263f.). Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt, auf den die Forschung wiederholt hingewiesen hat39 ist die Kunstgeschichte: Auf diese Weise lässt sich die Mo-tivik des Weltuntergangs als Orgie von Sex, Gewalt und Naturkatastrophen auch als intermedialer Reflex von Kubins Brueghel-und Bosch-Rezeption verstehen; in der Anderen Seite finden sich Echos von deren Todsünden-Tab-leaus und speziell von Pieter Brueghels radikaler Apokalyptik im Gemälde De Triomfvan de Dood (um 1562). Wie Cersowsky, Brunn und andere gezeigt haben,40 ist der Roman vor allem aber als quasi-didaktische Allegorisierung der synkretistischen Kunst- und Lebensphilosophie Kubins zu lesen, die sich Arthur Schopenhauer, Julius Bahnsen, Salomon Friedländer, Otto Weininger, asiatischen Religionen und anderen Quellen verdankt: Grob verkürzt, sieht der Autor die Welt als Kämpf- st Cf. CERSOWKSY 1983, p.66ff.; GEYER 1995, p.93 passim.; BRUNN 2001, p.1S1 passim. 36 GEYER 1995, p.93. 37 JÜNGER, Ernst: Die Staubdämonen [1929]. In: DERS.: Alfred Kubin. Eine Begegnung. Frankfurt, Berlin, Wien: Propyläen 21975, p.109-117, hier p.117. Cf. auch BREDT, Ernst Willy: Alfred Kubin. München: Hugo Schmidt 1922, p.74. 38 Cf. etwa BRUNN 2000, p.232: CERSOWKSY 1983, p.76 passim. 39 Cf. PETRICONI 1958, p.115ff.; HEWIG 1967, p.l93ff.; UPPUNER, Heinz: Alfred Kubins Roman »Die andere Seite.. Bern: Francke 1977, p.25ff. «0 Cf. BRUNN 2000, p.248ff., 264; HEWIG 1967, p.24ff: UPPUNER 1977, p.8; CERSOWKSY 1983, p.78ff. pas- platz zweier Kräfte - Einbildungskraft und Nichts beziehungsweise Leben und Tod - als deren Personifikationen sich Patera und Bell verstehen lassen, bevor sie in ihrem finalen Kampf zu einem Doppelwesen verschmelzen. In diesem Sinne wäre auch die Quintessenz zu verstehen, die der Ich-Erzähler im Epilog zieht, nachdem er dem Untergang Perles entronnen und in der »Heilanstalt« (p.276) wiederhergestellt worden ist - es sind dies zugleich die letzten Sätze des Romans: Als ich mich dann wieder ins Leben wagte, entdeckte ich, daß mein Gott nur eine Halbherrschaft hatte. Im Größten wie im Geringsten teilte er mit einem Widersacher, der Leben wollte. Die abstoßenden und anziehenden Kräfte, die Pole der Erde [...], die Wechsel der Jahreszeiten, Tag und Nacht, schwarz und weiß - das sind Kämpfe. [/] Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt-»zwischen Kloaken und Latrinen«41. Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen. [/] Der Demiurg ist ein Zwitter, (p.277, cf. auch p. 147f) 12. Dieser Gebrauchsphilosophie der Ambivalenz des modernen Menschen und seiner GötterentsprichtalsDarstellungsmodusin Literatur und Kunstdie Groteske, deren Skandal im Wesentlichen in dem von Kubin beschriebenen Arrangement des ästhetisch Heterogenen zu sehen ist. Auf diese Weise lassen sich viele Elemente dieses dekadenten Schöpfungsromans auch als Meta-Aussa-gen über das künstlerische Schaffen42 oder als verschlüsselte Künstler-Autobiografie (mit den Allmachtsfantasien eines Geniekults der Frühmoderne)43 lesen, wobei dann auch Kubin selbst mit Patera in Deckung zu bringen wäre. Wie die Groteske als Verfahren im Text selbst erhabene Situationen ins Lächerlich-Triviale kippen kann, möge das im Folgenden zitierte Motiv des »Großen Uhrbanns« illustrieren, dem alle Einwohner/innen Perles zwanghaft folgen. Beschrieben wird hier in einem Brief des fiktiven Zeichners an einen gewissen »Fritz« (hinter dem man unschwer Herzmanovsky-Orlando vermuten darf), der mächtige graue Uhrturm auf dem Hauptplatz von Perle: Er übt nämlich auf sämtliche Bewohner eine mysteriöse, unglaubliche Anziehungskraft aus. Zu bestimmten Stunden wird dieses alte Gemäuer schwarmweise von Männern und Frauen umringt. (...) Die Leute stampfen nervös den Boden und blicken immer wieder auf die langen, rostigen Zeiger da oben. Fragt [sie] man sie, was da vorgehe, so erhält man zerstreute, ausweichende Antworten. [...] Kurz entschlossen riskierte ich's auch einmal, wurde jedoch grob enttäuscht. Weißt du, was da drinnen war? Auch Deine Erwartungen werden sinken. Man kommt in eine kleine, winklige, leere Zelle, zum Teil mit rätselhaften Zeichnungen, wohl Symbolen bedeckt. (...) Über die Steinwand strömt Wasser, ununterbrochen strömt es. Ich 41 Kubin meint damit wohl die anatomische Lage der menschlichen Geschlechtsorgane im Ausscheidungstrakt. 42 Schroeder bezeichnet Die andere Seite als »new insight into the creative process« bzw. als .allegory of artistic discovery. (SCHROEDER, Richard Arthur: Alfred Kubins's Die andere Seite. A Study in the Cross-Fertilization of Literature and the Graphic Arts. Indiana Univ.: Diss [masch 1 1970 o 142)- « Cf. GEYER 1995, p.52 passim. 190 Clemens Ruthner Die fantastische k.u.k. Aileqorie in Alfred Kubins Die andere Seite 191 tat, wie der Mann, der nach mir eintrat, bückte die Wand starr an und sagte laut und deutlich: >Hier stehe ich vor Dir!< Dann geht man wieder hinaus. Mein Gesicht muß ziemlich verdutzt ausgesehen haben. Die Frauen haben ihre eigene Seite mit eigenem Eingang, was wie in der ganzen Welt durch kleine Aufschriften kenntlich gemacht ist. (p.74, 77) Dies erinnert an das zuvor zitierte Diktum Kubins, wonach Liebe zwischen Latrinen und Kloaken liege, ein Gedanke, der hier gleichsam wörtlich genommen wird: Der Uhrbann, dem alle Einwohner/innen Perles wie Marionetten folgen, führt nämlich an einen Ort, der viel eher ein Örtchen ist, wo Wasser von der Wand rinnt - ein Pissoir? In dieser grotesken Verschränkung des Mysteriums mit banalen bis obszönen Körperäußerungen tritt Kubin auch das ästhetische Erbe E.T.A. Hoffmanns44 an. Der unheilschwangere Grundton des Textes kennt durchaus humoristische Züge, so inadäquat diese auch wirken wollen, und man tut dem künstlerischen Gesamtwerk Kubins sicher Gewalt an, wenn man sie ignorieren möchte. Der Autor selbst schreibt dazu in einem autobiografischen Text: »Die andere Seite« steht im Wendepunkt einer seelischen Entwicklung und deutet das versteckt und offen an vielen Stellen an. Ich gewann während ihrer Verfassung die Erkenntnis, daß nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen Augenblicken des Daseins höchste Werte liegen, sondern daß das Peinliche, Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält.45 3. Reklamation beim Reisebüro: Zur >postkolonialen< Lesart der Anderen Seite Für den Protagonisten wie für den Leser der Anderen Seite ist die Abreise ins »Traumreich« eine Fahrt ins Ungewisse. Welche Geheimnisse in den (karneva-lisierenden46) Grotesken Kubins liegen, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass auch die Stadt Perle47 - ebenso wie der ganze Text! - nach dem nämlichen Konstruktionsprinzip einer bricolage des Heterogenen zusammengesetzt ist. Die zitierte Konfrontation von Bethaus und Abort dürfte freilich noch durch andere Zuschreibungen motiviert sein, die in einer Interpretation des »Uhrbanns« durch Herzmanovsky-Orlando in Form nationaler Kodierungen durchklingen: Wir Deutsche legen dem Pissoir viel mehr Wichtigkeit bei als Freud ahnt. [/] Der Ka-tholicismus und das Haus Habsb-Lothr sind Feinde eines feinentwickelten Closett-wesens (Gegensatz zu England!) - Dafür haben sie die »weihevolleren« Aborte die 44 Hinsichtlich Kubins Affinität zu E.T.A. Hoffmann cf. HERZMANOVSKY-ORLANDO/KUBIN 1983, p.70. Cf weiters CERSOWKSY 1983, p.74; HEWIG 1967, p.18, 89, 129f.; LIPPUNER 1977, p.35; JABLOKOWKSA 1989, p-17; RHEIN 1989, p.44. 45 KUBIN 1959, p.40. 46 Cf. BACHTiN, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus d. Russ. v. Alexander Kämpfe. Frankfurt/M., Berlin et al.: Ullstein 1985 (Ullstein-Buch/Materialien 35218). 47 Cf. Zukova, Marija: Entsicherter Raum. iDie andere Seifet von A. Kubin. In: Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg 5 (2001/02), p.78-86. alle Zusammenhänge mit der Hölle haben. [/] Tausend Kindermärchen entspringen dem grundlosen Abort unseres Landes und verfinstern dauernd den Geist des Volkes - Hades als Erzieher. Mit einem Fuß wurzelt unsre Kirche im Abort, während sie mit dem anderen in den Himmel ragt.48 Dieser Brief Herzmanovskys an Kubin ist mit dem 22.12.1914 datiert und steht nicht zufällig im Kontext nationaler Erregung und entsprechender Feindbilder, von dem auch die anderen Briefe aus dieser Zeit zeugen, wie die folgende Blütenlese andeuten soll. Während Kubin zwischen der Abfassung des Romans und dem Kriegsausbruch relativ zurückhaltend bis (selbst)ironisch49 bleibt, versteigt sich Herzmanovsky mehr und mehr in einen grotesken Rassismus, wo sich Orientalismus und zentraleuropäische Xenophobien in manieristischen Tableaus fast nahtlos ergänzen: [1.4.14, Oberägypten] Die Lagerköchin ist eine Böhmin die eine Mischung von Tropenkoller und Säuferwahnsinn hat, ihr entsetzliches Gepowidale verscheucht die Schatten der Wüste. Auch der Curarzt war etwas gräßliches [...] - solche Dinge müssen einem gerade hier passieren. Lauter Cechen! Dabei gibt's hier meist Sachsen die eine gräßliche Angst vor Schlangen, Skorpionen und Glaubensverfolgungen haben [,..]50 [18.10.14] wir verfolgen ein furchtbar ernstes Ziel, die andre Bande, die sich aus dem Auswurf der Nationen zusammenwürfelt, arbeitet planlos. Besonders Rußland schwimmt im Dreck spazieren. [,..] nach dem Krieg wird die Serbisierung Südösterreichs sofort wieder liebevoll von Staats wegen gefördert werden. [...] Daß man »feinere« »faire« Regungen haben soll, ist einfach ein hirnverbrannter Blödsinn. Dadurch kommt der Deutsche eben nie auf einen grünen Zweig. Die uns umwohnenden Affenvölker wollen getreten und angespuckt werden, - dann funetionieren sie liebenswürdig.51 Was nun im Folgenden vorgeschlagen werden soll, ist eine von vielen Lesarten der Anderen Seite Kubins, die wie gesagt immer nur defizitär - oder komplementär - sein können. Was zu unternehmen wäre, ist ein »kakanisches« post-colonial (re-)reading des Textes in dem Sinne, wie es bereits in mehreren eher theoretischen Aufsätzen52 skizziert wurde - eine Lesart, die sich auf die Darstellung beziehungsweise den Niederschlag von Herrschaft in diesem Text bezieht, ebenso wie sie die hier vorgetragenen ethnisch kodierten Imagines analysieren 48 HERZMANOVSKY-ORLANDO/KUBIN 1983, p. 100. 49 Schon in der Anderen Seite wird eine Reisebekanntschaft des Protagonisten wie folgt erzählt: »Kreuzung zwischen Armenier und Ostpreuße taxierte ich. [...] Meinem Rasseinstinkt zollte ich im geheimen ein Lorbeerblatt, dem Mischling reichte ich das Etui mit dem Bild« (p.34f.). Im Vordergrund steht hier also die groteske Kombination des Kuriosen und Heterogenen, die selbstironisch kommentiert wird. So werden auch negative Slawen-Stereotypen zum ironischen Spielball des Ich-Erzählers, der sich selbst als Hybrid und nicht etwa als >rassisch Überlegenen darstellt: »Ja Rußland! Das war noch ein Land nach meinem Geschmack: groß, üppig, unkultiviert [!], aber doch mit dem Komfort herausrückend, sobald nur Geld klimpert. [...] Ich ließ den Zaren leben und freute mich der paar Tropfen Slavenblutes, die auch in mir kreisen.« (p.30.) 50 HERZMANOVSKY-ORLANDO/KUBIN 1983, p.76. 51 Ibid., p.83f. 52 Cf. Anm. S. 192 Clemens Ruthner ---- möchte: Die fantastische Utopie (oder Dystopie), wie sie hier vorliegt, bietet ja dem Autor eine hervorragende Möglichkeit, Bilder des Eigenen im (reiseliterarischen) Gewände des Fremden zu präsentieren, insbesondere wenn es sich um ein Traumreich in den Tiefen Zentralasiens handelt, das aus kulturellen Versatzstücken Zentraleuropas zusammengekauft und damit quasi recycelt ist. »Im großen und ganzen war es hier ähnlich wie in Mitteleuropa und doch wiederum sehr verschieden«, ruft der Ich-Erzähler einmal aus (p.49). An das zeitgenössische Zentraleuropa gemahnen auch die Bevölkerungszusammensetzung und die farbenprächtige Rolle, die das kleine Militär im Traumreich spielt. Rätselhaft erscheint nur auf den ersten Blick das von Patera verhängte Gebot, im Traumstaat, der gleichsam als Proto-DDR durch eine »Umfassungsmauer von der Außenwelt abgegrenzt« (p.9) ist,53 nur gebrauchte Häuser, Kleider und Gerätschaften zu verwenden, wobei die »sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die äußerste Grenze bilden« (p.18). Bei näherem Hinsehen indes wird deutlich, dass damit auf eine symbolische Zeitgrenze im kulturellen Gedächtnis Zentraleuropas angespielt wird: Gemeint ist hier wohl das Eckdatum 1866/67 (und insgeheim auch 1848), also die imagination eines intakten biedermeierlichen beziehungsweise neoabsolutistischen Österreichs, das noch nicht seine entscheidenden außenpolitischen Niederlagen erlitten hat. Der Text bietet dafür feine Indizien, so etwa, wenn der Zeichner und seine Frau bei der Ankunft in ihrem Gasthof in Perle zwei Gemälde vorfinden: »Über dem Ledersofa hing ein großes Bild Maximilians, des Kaisers von Mexiko, über den Betten hing Benedek, der Unglückliche von Königgrätz.« (p.47) Aus der Sicht, dass es sich hier um eine k.u.k. Staatsallegorie beziehungsweise -satire handelt, die nicht zufällig auf das Biedermeier als Befindlichkeit fokussiert, wird auch der von Patera oktroyierte »Widerwillen gegen alles Fortschrittliche« (p.9) deutlich. In der Darstellung der administrativen Einrichtungen Perles - des so genannten Archivs und des Palastes - treten Elemente der österreichischen Verwaltungssatire54 (»die reinste Komödienobrigkeit«, p.67) in den Vordergrund, ebenso wie in der Darstellung der Volksökonomie: Alles war nur Schein, lächerlicher Schein. Oie ganze Geldwirtschaft war »symbolisch'. [...] Der Wechsel von [...] Armut und Reichtum war ein viel rascherer als in der übrigen Welt. [...] Hier waren Einbildungen einfach Realitäten« (p.G2f). Die wahre Regierung lag woanders, (p.67) Als der Zeichner versucht, zum Schattenpotentaten Patera durchzudringen, wird er durch einen veritablen Parcours von Behördenschikanen davon abgehalten; =3 Cf. p.244. 246 54 Cf. MEYER, Martin: Ernst Jünger. München: C. Hanser 1990, p.l36: »Die Amtsstellen [in Perle] sollten, nach dem Vorbild der kaiserlich-österreichischen Bürokratie, alle Eingaben oder Beschwerden dilatorisch behandeln. Die Einwohner müssen sich mit Kulten und Gebrauchen abfinden, deren Bedeutung diffus ist.« Cf. weiters LACHINGER, Johann: Trauma und Traumstadt. Überlegungen zu Kubins topographischen Projektionen im Roman >Die andere Seitei. In: FREUND ft DE RS. f* RUTHNER 1999, p.121-130, hier v.a. p.l 29. Die fantastische k.u.k. Allegorie in Alfred Kubins Die andereSeite 193 alle Klischees des österreichischen Bürokratismus werden hier wiederholt, bis hin zum Büroschlaf. Von dieser sehr kakanischen Form der Verwaltungssatire werden literarhistorisch zwei Wege weiterführen: in die noch humoristischere Amtsgroteske, wie sie etwa Gustav Meyrinks Golem-Roman kennzeichnet und später Herzmanovsky-Orlando; andererseits in die Herrschaftsparanoia eines Franz Kafka, dessen Schloß-Roman möglicherweise ja auch dem Vorläufer Kubin einiges verdankt. Abseits dieser grotesken k.u.k. Staatssatire ist das Faktum nicht ohne Be-ang, dass das »Traumreich« so etwas wie ein imaginiertes Kolonialreich ist. Es wurde zu Zeiten erdacht, als die letzte große Expansionsbewegung des europäischen Imperialismus in Afrika und Asien stattgefunden hatte und als Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1908 - dem Entstehungsjahr des Romans - formell annektiert worden war. Ebenso stellt der Rornan eine Art von literarischer Parallelaktion zum Zionismus dar, der seinem Prinzip nach ähnlich funktioniert: Ein fremdes Territorium wird symbolisch besetzt und später kolonisiert von einer Gruppe von Ursprungsuchern und Europa-Flüchtlingen; in der Diktion der Anderen Seite hieße dies »eine Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen« (p.9), wobei doch einzuräumen ist, dass die Einwohner des Traumreichs die Emigration in ein Gelobtes Land - wegen ihrer tatsächlichen oder symbolischen Marginalisierung - eher nicht freiwillig antreten; sie werden auf Grund körperlicher oder psychischer Anomalien vom Oberdecadent Patera einberufen oder vielmehr: gesammelt. Hier endet also auch schon der Parallelismus zu Theodor Herzls Ideen. Dennoch ist der Text auch von einem zeitgenössischen Orientalismus durchzogener beschriebene Traumstaat liegt nicht nur in Zentralasien, sondern es gibt dort auch noch jene rätselhaft blauäugigen »Ureinwohner«, die in einer Vorstadt von Perle wie in einer »ethnographischen Musterausstellung« (p.143) leben, mit besonderer Weisheit begabt scheinen,55 aber dennoch verachtet sind. Hier findet einmal mehr der Exotismus der europäischen Jahrhundertwende in Motiven von Zivilisationsferne und »Ursprungsnähe« seinen literarischen Ausfluss, verbrämt mit buddhistischen Versatzstücken;56 nicht zufällig sind die »Blauäugigen« auch unter denjenigen, die den Kollaps des altmodischen Traumreichs unter dem Schock einer als »amerikanisch« imaginierten Moderne überleben werden57. In Hinblick auf eine innere ethnische Differenzierung der Habsburger Monarchie mag hier nicht uninteressant sein, dass in der symbolischen Ordnung des Romantextes jenes imaginierte »Asien« schon bald nach der Abreise beginnt: »Ab Budapest machte sich bereits ein leichter asiatischer Einschlag bemerkbar. Wodurch? Im Interesse dieses Buches will ich Ungarn nicht beleidigen.« (p.29) Worauf aber gründet diese Zurückhaltung Kubins? 55 Cf. p.16 u. 143ff. 56 Cf. p.144ff., 252. 57 Cf. p.255ff. 194 Clemens Ruthner Die fantastische k.u.k. Allegorie in Alfred Kubins Die andere Seite 195 Eine plausible These wäre, dass es beim Traumreich um nichts weniger als um die groteske Apotheose, aber auch um die Untergangsfantasien des alten österreichisch-ungarischen Staates geht. Gezeigt wird, wie eine altmodische, liebevoll kritisch evozierte zentraleuropäische Ordnung unter dem Einfluss einer Demokratie westlichen Zuschnitts und vor allem des amerikanischen Kapitalismus zusammenbricht. (In seiner Staatsphilosophie stünde Kubin damit den während des Ersten Weltkriegs entstandenen Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann erstaunlich nahe.) Zur Ansiedelung des Traumreiches im chinesischen Teil Zentralasiens gibt es neben der Möglichkeit, auf diese Weise exotistische Diskurse zu inszenieren beziehungsweise zu bedienen, möglicherweise noch einen anderen Grund. Jahre später, 1932 nämlich, schreibt Kubin verschmitzt vom Zauber des alten Österreich, »dem wahren China Europas«.58 Ebenso werden in den Machtkonstellationen, die Kubins Roman beschreibt, bereits die Gegnerschaften der Habsburger Monarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs und ihre partikularen Interessen hervorgekehrt: Der Amerikaner schrieb, daß er sich an die Engländer wende, als die erklärten Feinde jeder entwürdigenden Sklaverei, und von ihnen schnellste und durchgreifendste Hilfe erwarte. [...] Rußland erhielt als Grenzreich das Mandat zum Eingreifen; die gewöhnlichen Eifersüchteleien schwiegen, die Parlamente wurden vorläufig nicht verständigt. [...] Der Zar hoffte nebenbei, daß ihm eine steuerkräftige Provinz zufallen würde; lag doch das sagenhafte Land dicht an der russischen Grenze. (p.172f.) Viele dieser Korrespondenzen mit der Situation Österreich-Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg sind schon Hans Robert Spielmann und anderen Interpreten aufgefallen: Kubin gestaltet durch die Erschaffung einer phantastischen Fiktionsrealität, deren Versatzstücke auf die österreichische Wirklichkeit verweisen, indem er dieses Phantasieprodukt als Ergebnis der Imaginationskraft des erlebenden Ichs dadurch relativiert, daß er das Ich als seiner Geschichtlichkeit verhaftetes entlarvt [...], nicht nur eine authentische Darstellung österreichischer Verhältnisse in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo der Ruf nach einer Ordnungsmacht angesichts der ökonomischen und politischen Entwicklung längst ein Anachronismus geworden ist, der den >Herrn< in der Tat zur »Mystifikation! werden läßt, sondern er sieht auch das unvermeidliche Ende des Habsburgerreiches voraus, wenn er Herkules Bell und die europäischen Nachbarn als kapitalhungrige Totengräber zum Angriff blasen läßt.59 Michael Koseier indes hat dieser Sichtweise vehement widersprochen: Der Text biete »selbst wenig Anhaltspunkte für eine solche Sicht. Wenn man das Traum- as KUBIN, Alfred: Zigeunerkarten. Zirkus des Lebens (1932). Zit. n. HEWIG 1967, p.20. 59 SPIELMANN, Hans Robert: Geschichtsdarstellung in der franzisko-josephinischen Epik (F. von Saar: Schloß Kostenitz - A. Kubin: Die andere Seite - J. Roth: Radetzkymarsch). In: Österreich in Geschichte und Literatur [Wien] 24.4 (1980), p.238-256, hier p.247; cf. auch BROCKHAUS, Christoph: Alfred Kubin nach 1909. Versuch einer künstlerischen Charakterisierung. In: HOBERG, Annegret (Hg.): Alfred Kubin 1877-1959. München: Ed. Spangenberg 1990, p.136 passim. reich als - wenn auch modifiziertes - Abbild oder Konzentrat des alten Europas respektive >Kakaniensi« verstünde, übersehe »man wesentliche Unterschiede« und ignoriere »die spezifische Eigenart des Kubinschen Phantasielandes«.60 Dieser Sichtweise wiederum hat erst jüngst wieder Wendelin Schmidt-Dengler opponiert, wenn er schreibt: »Es scheint viel eher angebracht, Elemente, die zu der synthetischen Stadt Perle geführt haben, doch gerade in den Städten der untergehenden Habsburger-Monarchie zu vermuten.«61 Mit Recht - denn die Reihe der Belege für eine solche Interpretation ließe sich noch weiter fortsetzen. Einer ipostkolonialenc Lesart erschließt sich Kubins Roman als österreichische Reise in das »Herz der Finsternis« kakanischer Fantasmen des Eigenen und des Fremden. Interessant ist etwa die ethnische Hierarchisierung, die unterschwellig im »Traumreich« stattfindet: So gibt es vor allem in der' Hauptstadt Perle nahezu alle Nationalitäten, jedoch werden im so genannten »französischen Viertel«, jenem Slum des Elends und des Verbrechens, vor allem »Romanen, Slawen und Juden« (p.51f.) deterritorialisiert. Und weiter heißt es dekuvrierend: »Zum weitaus größten Teil waren die Träumer ehemals [!] Deutsche [!]. Mit ihrer Sprache kam man in der Stadt wie bei den Bauern durch. Andere Nationalitäten kamen dagegen nicht auf.« (p.56) Diese ethnische Gliederung in der narrativen Konstruktion des Traumreichs nimmt in einem Fall manifest rassistische Züge an - bei der Nennung der Überlebenden des Untergangs. Neben Bell, dem Ich-Erzähler und der russischen Prinzessin von X. kommen auch sechs Juden davon, die in einer nachgerade kolonialzoologischen Bildlichkeit antisemitisch desavouiert werden: Im nahen Urwalde jagten herumstreifende Soldaten ein Rudel halbnackter Geschöpfe auf, die auf Bäumen saßen und heftig sprachen und gestikulierten. Es stellte sich heraus, daß es ebenfalls Traumstädter waren, 6 Israeliten, Besitzer von Gewürzkrämereien. Ich hörte später, daß sie sich auffallend schnell erholt haben und in den großen Städten des europäischen Nordens und Westens zu großem Reichtum gekommen sind, (p.273) Hier mag aufschlussreich sein, dass Herzmanovsky-Orlando, der später mit seinem eigenen Romanfragment Im Maskenspiel der Genien (entstanden 1926-1929, 1958 postum erschienen) nochmals auf zentrale Motive der Anderen Seite anspielen wird,62 in seinen Briefen an Kubin immer wieder versucht, das Traumreich und seine Hauptstadt an realen Reiseerfahrungen zu messen und gleichsam zu »aktualisieren«. Deutlich wird hiereinmal mehr, wie der esoterisch versierte Herzmanovsky auch völkertypologischen bis rassistischen Diskursen anhing, im zitierten Brief vom 15. Juli 1913 beschreibt er die Adriainsel Brioni, 60 KOSELER 1995, p.54: cf. auch LIPPUNER 1977, p.20f. 81 SCHMIDT-DENGLER, Wendelin: Kakanische Traumreiche. Alfred kubins >Die andere Seiter und Fritz von Herzmanovsky-Orlandos iDas Maskenspiel der Geniem. In: Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg 5 (2001/02), p.44-56, hier p.54. Neben Prag wurde u.a. auch Salzburg als mögliche Vorlage für Perle nominiert, cf. CERSOWSKY 1983/94, p.92ff, LACHINGER 1999 und ZUKOVA 2001/02. 62 Cf. SCHMIDT-DENGLER 2001/02, insbes. p.47ff. 196 Clemens Ruthner 197 auf der sich Jahrzehnte später Jozip Broz Tito seine Präsidentenvilla einrichten sollte: Dabei gibt's überall uraltes Gemäuer, gotische Kirchenruinen in tiefdunklen Lorbeerhainen, Cisternen unter Palmen in felsigen Schluchten, kunstreichste Mosaikböden mitten in der Wildnis - kurz: Ein Märcheneiland im besten Sinne des abgedroschenen Wortes. Daneben der große Luxus, prachtvolle Toiletten und fashionables Leben, Torpedoboote in Nixentümpeln und Dreadnought vor römischen Ruinen... sehr Traumstadt, voll perversem Geflüster, Märchenraunen, protzigem Gejüdel und den Kropftönen der Niese. Traummeister, das wäre was für dich!63 :;:V;;| Ob in der ethnischen Konstruktion als Vielvölkerstaat mit Deutsch als Hegemo-nialsprache, ob in der paternalistischen Herrschaft, der karikaturalen Bürokratie oder in den Feinden des Traumreiches - wir erkennen überall deutliche Spuren Kakaniens wieder, jedoch ohne viel habsburgischen Mythos. Es ist vielmehr ein schäbiges Reich des Überkommenen, ein »Reich des Untergangs«, wie es schon Helmut Petriconi nannte, zum Abgesang liebevoll, aber grotesk re-arrangiert. Nicht umsonst wird sich Kubin in einem Brief an Ernst Jünger vom 9. Apri! 1938 - kurz nach dem so genannten »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland also! - als »faktisch so eine Art Totengräber des alten K.K. Österreichs« bezeichnen. In einem weiteren Brief vom 3. Juli 1939 weist Kubin aber einen NS-Artike! über seine Person zurück, der denselben Wortlaut verwendet. In diesem Schreiben ist auch fast im Stil Proustscher Gedächtniskunst vom »Duft jener unvergänglichen Epoche« die Rede64 - und es ist eben jener »eigentümliche Duft« (p.119), der Kakanien dreißig Jahre zuvor zum »Traumreich« gemacht hatte, dem Ort, der den entflohenen Nervösen der Jahrhundertwende »schauerliche Abgründe für geschärfte Sinne« (p.89) bot: Immer wieder war es die undefinierbare Substanz, man roch und fühlte sie schließlich mit dem ganzen Körper. Bei Tage wollte niemand etwas gesehen haben, die Stadt war wie gewöhnlich tot, leer, träge, (p.90) Auf einmal überkam es mich, als wäre dieser geschwärzte Saal das alte, längst abgerissene Stadttheater in Salzburg, (p.93) Kubins Traumreich wird so zu einem theatralisch alternativen Gedächtnisraum des anachronistischen Vater-Lands Österreich-Ungarn - unter anderem. »Die Zeit heute ist mir fremd, doch vertraut das Gewesene - oder des Traums Gespinst«,65 formuliert der Künstler am 18. Mai 1941 in einem Brief an den Sammler Ernst Krukenberg. Als Traumgespinst ist Die andere Seite aber, wie zu zeigen war, immer mehr als die Summe ihrer einseitigen Interpretationen. Und der Text wird wohl noch etliche Generationen von Lesern einladen, es den Immigranten des Traumreichs gleich zu tun und in seine mehrfach kodierte, versumpfte Welt die jeweils eigene Fokussierung des kulturellen Gedächtnisses als Basis einzubringen; das ist auch letztlich, was es heißt, zu interpretieren (Der Leser ähnelt darin angesichts des finalen Untergangs des Traumreichs auch dem Lyriker Simonides aus der cicero-nischen Legende, der aufgrund der Ordnungsleistung seines Gedächtnisses posf festum, nach dem Einsturz des Gebäudes, in dem ein Gastmahl stattfand, die Toten zu identifizieren vermag.66) Kubins Text freilich zieht jede angebrachte Interpretation, die ebenso Lokalisierung, Verortung, bedeutet, gleichsam in den Malstrom seiner fantastischen Unentschiedenheit, um sie ebenso zu bestätigen wie zu unterminieren - so wie jene vergeblichen Stadterweiterungsversuche in Perle, die aber auch etwas zurücklassen, das aussieht wie das Mausoleum eines historischen Herrschers: Im Norden das Gebirge, im Osten der Fluß, im Westen der Sumpf, hätte sich die Stadt nur noch nach Süden ausdehnen können. Dort, neben dem Friedhof, waren allerdings noch große, unbebaute Flächen: die Tomassevicfelder,67 nach ihrem verstorbenen Besitzer genannt. Aber alle Bauversuche erwiesen sich als trügerische Spekulationen. Nicht einmal unter Dach, wurden die Bauten Ruinen. Unter ihnen fiel ein verlassener Ziegelofen auf, der sich wie das Riesengrab irgendeines [...] Großkönigs ausnahm, (p.52) 63 HERZM AN OVSKY-ORLAN DO/KU BIN 1983, p.73. Hansi Niese war eine damals sehr populäre Wiener Volksschauspielerin. 64 Alle Briefzitate nach BRUNN 2000, p.154. Kubin hat im Übrigen wiederholt von der Erinnerungsfunktion seiner Zeichnungen gesprochen; eine Kleinigkeit, wie etwa ein bestimmter Geruch, reiche bei ihm schon zum Bildimpuls aus, der in ein künstlerisches iNotatt münde. Cf. HOBERG, Annegret: Das Selbstverständnis des späten Kubin. In: ASSMANN, Peter (Hg.): Alfred Kubin (1877-1959). Mit einem Werkverzeichnis [...] Linz, Salzburg: OÖ. Landesgalerie u. Residenz 1995, pp.9-36, hier p.22. 65 Hervorhebungen wie im Orig. (Bayerische Staatsbibliothek München). Zit. n. ASSMANN 1995, p.81. Cf. CICERO: De oratore, II, 86. Cf. auch LACHMANN, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextuaiität in der russischen Moderne. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1990, p.20ff. Auch der serbische Name fomaševič ist offenkundig ikakanischi konnotiert, zumal er vor allem in den damals zur Habsburger Monarchie gehörigen Regionen Vojvodina und Dalmatien vorkommt. Der Verfasser dankt Dragan Velikič (Belgrad) für diese Auskunft.