Edit Kiräly (Budapest) Der Kongo fließt durch Ungarn1 Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donau< Das Vorfinden von Grenzen ... ist stets nur ein Wiederfinden ... Markus Bauer, Thomas Rahn »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.« Mit dieser Definition wurde die Grenze in Simmeis Soziologie (1908) aus dem Kreis der naturgegebenen räumlichen Phänomene in den Bereich des Sozialen verwiesen, und in der Folge etablierte sich die Grenze als selbstständiges Untersuchungsobjekt der Sozialwissenschaften.2 Während jedoch Simmel Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Grenze noch als Umrahmung definierte, welche dem Staat ähnlich wie der Rahmen dem Kunstwerk Universalität und Kunstcharakter verleiht,3 wurde die Grenze in den letzten Jahrzehnten immer mehr als ein Ort verstanden, der nicht nur trennt, sondern auch verbindet, der nicht nur abschottet, sondern auch unterwandert wird, als ein Ort, wo ein intensiver Austausch von kommerziellen, kulturellen und ideologischen Gütern stattfindet.4 Grenzkulturen funktionieren auf zwei einander überlappenden und voneinander untrennbaren Ebenen: Kultur verbindet Menschen und Institutionen der Grenzgebiete mit Menschen und Institutionen in ihrem eigenen Staat und zugleich mit Menschen und Institutionen, die sich auf der anderen Seite der Grenze befinden. Während noch in den 1920er Jahren die Grenze als räumlicher Ausdruck der politischen Macht verstanden wird, rücken sozialgeschichtliche und kul- 1 Für die Idee des Titels danke ich Prof. Hans Medick. 2 SIMMEL, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. RAMMSTEDT, Otthein (Hg.). Frankfurt a.M.:Suhrkamp, 1992, p. 697. 3 »Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenschließen.« SIMMEL 1992, p. 694. 4 In neueren Forschungen zur Grenze wird die in älteren Untersuchungen vorgegebene zentrierende Perspektive in Frage gestellt. In Sahlins' Boundaries etwa wird die lokale Gesellschaft an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und aus diesem Blickwinkel auch der Vorgang der neuzeitlichen Staats- und Nationenbildung untersucht. Für Sahlins ist die Grenzbildung ein Jahrhunderte langer Prozess, in dem die lokalen Gesellschaften eine bedeutende Rolle spielen. Damit wird das herrschende Verständnis des Vorgangs moderner Staats- und Nationenbildung hinterfragt, wonach der Ausgangspunkt dieser Entwicklung das politische Zentrum ist. Cf SAHLINS, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley: University of California Press 1989: MÖTSCH, Christoph: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805). Göttingen: Vanden-hoeck & Ruprecht 2001 {Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 164). 50 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonau< 51 turanthropologische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte jene Rolle in den Vordergrund, die Grenzgebiete in der Konstruktion und Gestaltung von Staat und Nation spielen.5 Wichtig wurde dieser Gegenstand auch für neuere Theorien der Moderne und Postmoderne, die gerade jene essenzielle Homologie zwischen Territorium, Kultur, Nation, Staat und Identität in Frage stellen, die das Konzept des Nationalstaates voraussetzt. Dieser Fragmentarisierung der Kultur trägt das Begriffspaar Raum (space) und Ort (place) Rechnung, das die Grundlage zu differenzierteren räumlichen Konzeptualisierungen in der kulturellen Anthropologie bietet. Raum wird dabei als eine konzeptuelle Karte betrachtet, die das soziale Leben ordnet und strukturiert. Er ist die allgemeine Vorstellung der Menschen davon, wo sich Dinge in physikalischer und kultureller Relation zueinander befinden sollten. In diesem Sinne ist Raum eine Konzeptualisierung jener imaginierten physischen Relationen, welche Kultur mit Bedeutung versehen. Ort hingegen bezeichnet jenen sozio-ökonomisch bestimmten Raum, wo Menschen leben.6 Durch die Ausdehnung des Grenzbegriffes auf Topografien und Konstellationen verschiedener Att zeigt sich sein universeller Charakter. Dennoch gibt es kaum Versuche, die Grenze als kulturwissenschaftliches Thema zu erfassen. Zu diesen wenigen gehört die Aufsatzsammlung von Markus Bauer und Thomas Rahn von 1997, in welcher der modernen Tendenz, die Grenze zu einer Linie zu verdichten bzw. zu minimieren, die Notwendigkeit entgegengesetzt wird, diese Linie durch eine Art Imaginations- oder Erlebniszone kenntlich zu machen: »Um wirksam werden zu können, muß die Linie besetzt werden: im Raum durch Zeichenensembles, Rituale, Bilder und Bauten, im Kopf durch verschiedene Einbildungen und Verhaltenslehren.«7 1 Überblick über den Aufsatz Gerade in diesem Sinne sollte auch die Bedeutung von literarischen Texten untersucht werden zu einer Zeit, als die Literatur noch ein Leitmedium war: Wie konstruieren sie Abgrenzungen? Welche Rolle spielt hierbei die Inszenierung von Grenzen und Grenzkonfiikten? Trotz einer Reihe von Sammelbänden zum Thema Grenze,8 die, dem neu geweckten Interesse an Grenzen nach dem Fall der Berliner Mauer entwachsen, 5 SAHLINS 1989, MÖTSCH 2001. 6 G U PTA, Akhil/FERGUSON, James: Beyond >Culture<. Space, Identity, and the Politics of Difference. In: Cultural Anthropology 7, H. 7 (1992), pp. 6-23; KEITH, Michael/PILE, Steve (Hg.): Place and Politics in Identity. London: Routledge 1993; HASTRUP, Kirsten/OLWIG, Karen Fog:lntroduction.ln: DIES. (Hg.): Siting Cuiture.The Shifting Anthropological Object. London: Routiedge 1997. 7 BAUER, Markus/RAHN, Thomas (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin: Akademie Verlag, 1997, p. 8. 8 FABER, Richard/N AU M ANN, Barbara (Hg.): Literatur der Grenze-Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995; LAMPING, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. seit Mitte der neunziger Jahre erschienen sind, gibt es in der Literaturwissenschaft kaum Versuche, die Grenze als ästhetischen bzw. literarischen Gegenstand zu definieren. Die meisten Studien begnügen sich mit der einfachen thematischen Feststellung: Grenzliteratur sei Literatur über Grenzen.9 Interessant wird die literarische Fragestellung freilich erst dort, wo der literarische Text nicht nur referenziell, sondern selbst als Praxis analysiert wird: Wie vielfältig trägt die Literatur zur Konstruktion von Grenzen bei, gerade auch dort, wo Grenzen fragwürdig geworden oder gar nicht erst vorhanden sind?10 Im Folgenden untersuche ich, wie literarische Texte in einer multiethnischen Region zur Konstruktion von Grenzen und zur symbolischen Besetzung der Landschaft beitragen. Am Beispiel von literarischen Texten Adam Müller-Gut-tenbrunns (abS.62) und Ferenc Herczegs (abS.88) versuche ich zu ermitteln, wie in verschiedenen Literaturen dieser Region das Landschaftselement Donau in unterschiedliche Diskurse eingefügt worden ist und zur »Naturalisierung« ethnischer Abgrenzungen beiträgt. Es sollen also hauptsächlich die Werke zweier deutschstämmiger Autoren aus dem Banat untersucht werden, deren literarischer Rang und schriftstellerischer Weg sich zwar sehr unterschiedlich gestaltete (einer wurde ungarischer Politiker und angesehener Autor, der andere populärer deutscher Schriftsteller), die sich aber durch die räumliche Nähe ihrer Herkunft, durch die zeitliche Nähe ihrer Werke und durch ihre nationalistische Argumentationsweise für einen Vergleich .anbieten. Dabei wird gezeigt, wie nicht nur ethnische Kategorien, sondern auch Klasse und Geschlecht verhandelt werden. Die Donau wird dabei mal als Verbindung oder als Grenze imaginiert und ideologisch-symbolisch mit dem Rhein, dem Kongo und dem Amazonas verglichen. Hierbei sind nicht allein die Texte, nicht nur ihre gegenseitige Wahrnehmung, sondern auch jene Strategien von Bedeutung, mit deren Hilfe sich beide im Feld ihrer jeweiligen nationalen Literatur positioniert« haben. Abgerundet wird die Darstellung durch die Rezeption dieser Donauentwürfe durch den jüngeren, ebenfalls schwäbischem Schriftsteller Käroly Molter. 9 Cf. LAMPING 2001 e.a. 0 Die diskursive Konstruktion der Sprachgrenze in der österreichischen Literatur ist ein beredtes Beispiel dafür Cf. SONNLEITNER, Johann: Deutscher Wald und Böhmisches Dorf. Die böhmisch-mä-rischen Landschaften im Nationalitätenkonflikt. In: KASZYNSKI, Stefan/PIONTEK, Stawomir (Hrsg.): Die Habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens Warschau 1994. Warschau: Wydawnictwo Naukowe Uniw. im. Ada-ma Mickiewicza, 1995; JUDSON, Pieter M.: Frontier Germans. The Invention of the Sprachgrenze. In: INGRAM, Susan/REISENLEITNER, Markus/SZABÖ-KNOTIK, Cornelia (Hg.): Identität, Kultur, Raum: Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentrai-europa. Wien:Turia und Kant 2001; MICHLER, Werner: Die Wacht an der Donau. Aspekte österreichischer Literatur im Prozeß der Nationalisierung. In: KLANSKA, Maria/LIPNISKI, Krzysztof/JASTAL, Katarzyna/PALEJ, Agnieszka (Hrsg.) Grenzgänge und Grenzgänger in der österreichischen Literatur. Beiträge des 15. Österreichisch-Polnischen Germanistentreffens Krakow 2002. Krakow: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagieilohskiego 2004, pp. 87-98. 52 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonaiu 53 2 Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie11 Die Gleichung zwischen Territorium, Kultur, Nation, Staat und Identität wird besonders problematisch im Fall von Staaten, deren Grenzen sich nicht mit denen eines nationalen Projekts decken, d. h. wo mehrere Ethnien in einem Staat leben oder eine ethnische Gruppe in mehreren Staaten lebt, besonders wenn die Herrschenden zu einer anderen ethnischen Gruppe gehören als die Beherrschten. Eben dieser komplexe Fall lag in der österreichisch-ungarischen Monarchie vor. In diesem Kontext ist daher nicht nur das »nationale Erwachen« verschiedener Ethnien der Monarchie ohne eigene Staatlichkeit zu sehen, sondern auch die Nationalisierung der Deutschen in der Habsburger Monarchie. Die Irritation des deutschösterreichischen Nationalgefühls tritt in Bezug auf die territoriale Abgrenzung offen zu Tage; auf der einen Seite hatten es die Deutschösterreicher mit »falschem, auf der anderen hingegen mit »fehlendem Grenzen zu tun. Die symbolische Errichtung und Begehung wie auch die symbolische Transzen-dierung von Grenzen sind in diesem Rahmen daher von besonderer Relevanz. Neben sozialen Medien, wie Schulvereinen, studentischen Verbänden u.a.m., entsteht ab den 1880er Jahren auch eine literarische Massenproduktion mit deutschnationaler, später auch völkischnationaler Widmung, die in Lyrikanthologien, Zeitschriften und nach der Jahrhundertwende immer mehr auch in Veriagsprogrammen zu Buche schlägt.12 Als Terrain intensivierter »Schutzarbeit« boten sich besonders die gemischtsprachigen Peripherien der Monarchie an. Eine Identifizierung mit der imaginären Gemeinschaft der Deutschösterreicher forderte hier die Abgrenzung gegenüber anderen Ethnien und sorgte für wiederkehrende Konflikte. 2.1 Deutsche in Ungarn und im Banat Aus ähnlichen Gründen, nur unter anderen Bedingungen, erfuhren die Deutschen in Ungarn deutschnationale, später völkische Förderung. Denn hier unterstanden sie der Suprematie und den Magyarisierungssbestrebungen des ungarischen Staates. Obwohl sie die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes bildeten, entwickelten sie im Vergleich zu anderen Nationalitäten erst relativ spät ein (deutsches) nationales Bewusstsein. Als Grund für diese späte Nationalisierung wird einerseits die »geographische Streulage« ihrer Wohnorte und ihre uneinheitliche Sozialstruktur,13 andererseits ein relativ früh einsetzender und gerade 11 Zu der Beziehung Grenze und Modernisierung des Staates cf. HEINDE, Waltraud/SAURER, Edith (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867. Wien; Köln; Weimar: Böhlau Verlag 2000. Cf. M1CHLER 2004, p. 88. 13 GOTTAS, Friedrich: Die Deutschen in Ungarn. In: URBANITSCH, Peter/WANDRUSZKA, Adam (Hg.): Die Österreichisch-Ungarische Monarchie (1848-1918), Bd. 3. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1980, pp. 340-410, hier p. 340. die bürgerlichen Schichten erfassender Assimilationsprozess angegeben.14 Eine nationale Intelligenzija, wie sie die rumänische, serbische, slovakische Ethnie aufzeigen konnte, hatten die ungarländischen Deutschen kaum. Die Ziele der sich hier erst nach der Jahrhundertwende formierenden deutschen nationalen Bewegung wurden daher stark von Deutschen und Österreichern mitbestimmt, und vom Koordinationszentrum Wien aus.15 Institutionell ist hier in den 1880er Jahren vor allem der Schul verein, in den 1890er Jahren und besonders nach der Jahrhundertwende der in Berlin gegründete Alldeutsche Verband zu erwähnen, wobei besonders der letztere der deutschnationalen Bewegung in Ungarn finan-' zielle Hilfe leistete.16 Dem Banat kommt in dieser Konstellation eine Sonderstellung zu, weil hier die deutsche Bevölkerung relativ dicht war. Die Zahl der Deutschen im Banat betrug 1880 bis 1900 346.842-410.359, d. h. 26-27% der Gesarntbevölkerung des Königreichs Ungarn. Sie waren mehrheitlich Bauern, die in relativ geschlossenen Siedlungsgebieten lebten. Aus diesem Grund wurde das Banat am Ende des 19. Jahrhunderts der Zielpunkt geballter Anstrengungen, eine deutsche Nationalitätenbewegung ins Leben zu rufen. Die Politisierung der Banater Schwaben begann zuerst in Form von Vereinsbildungen, zunächst noch ohne politische Zielsetzungen. Als eine Vorstufe zur Entfaltung einer nationalpolitischen Bewegung wurde anfangs eine wirtschaftliche Organisation (Südungarischer Bauernverein 1891, später: Deutscher Bauernbund 1913) sowie die Gründung lokaler und regionaler Zeitungen (Ungarisch-Weißkirchner Volksblatt, Neue WerschetzerZeitung, Großki-kindaer Zeitung, Deutsches Tagblatt für Ungarn) angestrebt. Ende 1906 kommt es schließlich zur Gründung der Ungarländischen Deutschen Volkspartei. Wichtigste politische Themen dieser Partei waren das Schulgesetz, das den Ma-gyarisierungsbestrebungen des Staates diente und die Bildung in der eigenen Muttersprache mehrheitlich unmöglich machte (vgl. als Schlussstein einer längeren Entwicklung: Lex Apponyi 1907),17 und der Plan einer Wahlrechtsreform. Politische Organisation wie identitätsbildende Praktiken der Banater bzw. der Ungarndeutschen entfalten sich daher immer schon in der Relation von Zentren und Peripherien, im Aufeinanderwirken und in den Spiegelungen regionaler 14 PUKÁNSZKY, Béla: Német polgárság magyar földön, Niederhauser Emil bevezetötanulmanyaval [Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden mit einer Einleitung von Emil Niederhauser]. Budapest: Lucidus Könykiado [1940] 2000. 15 GOTTAS 1980, 340 ff. 16 Bei der Frage, ob diese Bewegung nicht überhaupt ferngesteuert war, stellt Günter Schödl fest, dass der Alldeutsche Verband in der politischen Organisation der Ungarndeutschen zwar eine wichtige Rolle gespielt hat, jedoch ohne lokale Kräfte kaum hätte erfolgreich werden können. Cf. SCHÖDL, Günter: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890-1914. Zur Geschichte des deutschen »extremen Nationalismus«. Frankfurt/Main: Peter Lang 1978 (= Erlanger historische Studien 3). i; Cf. PUTTKAMER, Joachim v.: Nationale Peripherien. Strukturen und Deutungsmuster im ungarischen Schulwesen 1867-1914. In: HÁRS, Endre/MÜLLER-FUNK, Wolfgang/REBER, Ursula/RUTHNER, Clemens: Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen; Basel: A. Francké 2006, pp. 97-110. 54 Edit Kiräly Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donaut und - zumindest ungarischer und deutscher - nationaler Öffentlichkeiten. Das Zusammenwirken und die Konkurrenz dieser verschiedenen Anliegen bilden das Thema der hier folgenden Darstellung. 2.2 Assimilation und Abgrenzung Die Assimilation großer Teile der deutschen Bevölkerung im Ungarn des 19. Jahrhunderts ist ein anhaltender Prozess, der in Folge des Ausgleichs von 1867 weiter vorangetrieben wird. Ein wichtiger Kontext ist diesbezüglich die Entwicklung des ungarischen Staates. Die erhöhte Geschwindigkeit kultureller und technischer Veränderung, die Entstehung einer größeren und stärker zentralisieren Verwaltung bzw. Bürokratie und parallel dazu die Nationalisierung großer Bereiche des sozialen Lebens (Schulgesetze, Amts- und Protokollsprache etc.) beeinflussten die Lebensweisen der ungarndeutschen Bevölkerung und ihre ethnische Abgrenzung erheblich. Dabei scheinen zwei gegenläufige und zeitlich verschobene Prozesse von Relevanz zu sein: einerseits die Assimilationsfreudigkeit großer Teile des ungarndeutschen Bürgertums,18 die vor allem die Eliten erfasste; andrerseits setzte um die Jahrhundertwende eine Gegenbewegung ein, die darauf abzielte, die deutsche Minderheit als nationale Minderheit politisch zu organisieren und ihr zugleich eine eigene wirtschaftliche Organisation und Struktur zu verschaffen. Sowohl der Assimilationsprozess der deutschen Bürger als auch die Gegenbewegung lässt sich als ein Zusammenspiel der lokalen Gesellschaften (Eliten) und der nationalen Zentren (Eliten) beschreiben. 2.3 Ethnische Verhältnisse im Banat I Als eines der ethnisch am meisten durchmischten Gebiete der Monarchie ist das Banat der Jahrhundertwende denkbar ungeeignet, als Teil eines einheitlichen nationalen Raumes zu figurieren. Die Sonderstellung des Gebietes erklärt sich aus seiner Grenzlage am südöstlichen Rand des Königreichs Ungarn. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es hauptsächlich von Deutschen, Serben, Rumänen und Ungarn bewohnt, doch keine einzige Ethnie konnte eine eindeutige Mehrheit für sich beanspruchen. Die ethnischen Verhältnisse hatten sich im 18. Jahrhundert herausgebildet, nachdem es von den Osmanen zurückerobert worden war. Die zum Großteil versumpften Gebiete wurden mehrheitlich durch deutsche, in geringerer Zahl durch spanische, französische und italienische Siedler wieder landwirtschaftlich nutzbar gemacht. Es wurde damals auch die Banater Militärgrenze (das »Konfin« aus lat. »confinium militare«) eingerichtet, die mit Serben und Rumänen besiedelt wurde. Sie erstreckte sich von der Theißmündung j • Cf. PUKÄNSZKY 2000. längs der unteren Donau bis Orsova/Orsova und bildete eine so genannte »nasse Grenze«19. Ursprünglich gegen die Vorstöße des osmanischen Reiches errichtet, wurde zwei Jahre nach dem (österreichisch-ungarischen Ausgleich« 1867 ihre Auflösung und Einverleibung in das Königreich Ungarn beschlossen.20 Damit beginnt auch hier die Magyarisierungspolitik in Verwaltung und Schulwesen, die zuerst unter den Serben und Rumänen, um die Jahrhundertwende aber auch unter den Deutschen auf Widerstand stieß. 3 Müller-Guttenbrunn, der literarische Nationalisierer des >Banater Raumsi Nach dem Ausgleich und vor allem ab den 1880er Jahren kommt in Ungarn der symbolischen Inbesitznahme des Raumes große Bedeutung zu. Seien es die Eliminierung von Denkmälern, die zu Ehren der Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1848 von den Kaiserlichen errichtet, worden waren (wie etwa das Henzi-Denkmal in Budapest) oder die Kampagnen gegen deutsche Theater in Budapest und in Temeschburg oder Temeschwar/Temesvär/Timisoarä/Temesvar oder die Ungarisierung von Ortsnamen - alles zielt darauf ab, den öffentlichen Raum symbolisch und praktisch in Besitz zu nehmen. Selbst die Ungarisierung des Familiennamens war häufig mit dem symbolischen Eintritt in die größere Öffentlichkeit verbunden - als wäre es eine Art Initiation, wie im Falle Ferenc Herczegs, der die Hauptperson des übernächsten Abschnitts ist.21 In Analogie dazu stehen auch die Versuche, den Raum diskursiv zu besetzen, was u.a. durch die Literatur geleistet wird. Damit sind aber auch jene Anliegen formuliert, die in der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etablierenden banaterdeutschen Heimatliteratur eine allgemeine und kanonfähige Form erlangen. Das ländliche Leben mit seinem Alltag und seinen Festen, die Geschichte der Schwabenzüge, die Schulerfahrungen der Bauern- und Handwerkersöhne und vor allem und immer wieder: das Entstehen des Deutschtums aus den vielen in sich geschlossenen Dörfern sowie die symbolischen und sozialen Eingriffe des ungarischen Staates in dieses dörfliche Leben - das sind die thematischen Blöcke dieser Literatur, die auch ,g WOLF, Josef: Die Banater Militärgrenze, ihre Auflösung und Einverleibung in das Königreich Ungarn. Inauguraldissertation, eingereicht zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen Fakultät der Leopold Franzens-Universität zu Innsbruck 1947, p. 7. -° Cf. Die k. k. Militärgrenze. Beiträge zu ihrer Geschichte. Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1973 (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums [Militärwissenschaftliches Institut] in Wien). ?1 Ein berühmtes Beispiel hierfür ist jener Jänos Haberhauer, der, als er 1897 zum Bürgermeister von Budapest gewählt wurde, aus Dankbarkeit seinen Namen auf Haimos änderte. Cf. PUKÄNSZKY p. 83. Franz Herzog entscheidet sich bei der Herausgabe seines ersten Romans auf Anraten eines Schriftstellerkollegen, den ungarischen Namen Herczeg auf den Buchdecke! setzen zu lassen. Der Name Herczeg Ferenc wird aber erst bei seinem Amtsantritt als Abgeordneter im ungarischen Parlament offiziell, als die Parlamentskanzlei den Namen des Werschetzer Abgeordneten ohne seine Befragung ungarisiert Cf. HERCZEG, Ferenc: Emlekezesei. A värhegy. A götikus häz [Lebenserinnerungen. Der Burgberg. Das gotische Haus]. Budapest: Szepirodalmi Könyvkiadö 1985, pp. 225 f. 56 Edit Kiräiy die literarische Tätigkeit des in Wien ansässigen Schriftstellers, Publizisten und »suspendierten Theaterdirektors« Adam Müller-Guttenbrunn bestimmen. Seine Heimat- und historischen Romane, Erzählungen, Feuilletonsammlungen und eine Anthologie22 fungieren als Gründungstexte einer literarischen Tradition. Im Unterschied zur lokalen und regionalen Presse entsteht Adam Müller-Gut-tenbrunns banaterdeutsche Literatur jedoch nicht im Rahmen regionaler Öffentlichkeit, sondern in einer der großen Werkstätten des deutschen Büchmarkts. Dieser Umstand dürfte auf das komplexe räumliche und institutionelle Umfeld hinweisen, welches die Nationalisierung des Banater Raumes impliziert. Denn die Bedeutung von symbolischen Räumen und Grenzen für die nationale Identitätsbildung wird nur in konkreten lokalen Zusammenhängen analysierbar. Neben der Frage nach den diskursiven Strategien der Heimatliteratur ist es sinnvoll, auch einen sozialgeschichtlichen Fokus auf ihre literarischen Institutionen zu legen: Welche politischen Konstellationen, literarischen Institutionen bzw. Verlagsprogramme brachten die massenweise Zirkulation der Heimatkunst hervor? Welche gesellschaftspolitischen Problemlagen reflektierten ihre antimodernen Positionen? Welche räumlichen Muster bot die banaterdeutsche Heimatliteratur an? Wie wird darin die Banater Landschaft zum Träger (deutsch-)nationaler Bedeutungen? 3.1 Historische und literaturhistorische Bewertungen von Adam Müller-Guttenbrunns literarischem Schaffen Für die historische wie literaturhistorische Bewertung von Adam Müller-Gutten-brunns literarischem Schaffen ist seine Tätigkeit als banaterdeutscher Schriftsteller ausschlaggebend. Während ihm in Darstellungen über das österreichische literarische Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts23 meistens die Rolle des Episodisten zukommt, wird seine schriftstellerische, journalistische und politisch-praktische Tätigkeit meist über sein späteres Werk als Teil (wenn nicht überhaupt als Anfang) der banaterdeutschen Literatur zu einem Lebenswerk stilisiert.24 Doch eine genauere Überprüfung der Fakten lässt eine solche, in der 22 Romane: Götzendämmerung (1907), Die Glocken der Heimat (1912), Meister Jakob und seine Kinder (1918), Der große Schwabenzug (1913), Barmherziger Kaiser! (1916), Joseph der Deutsche (1917). Erzählungen:Der kleine Schwab (1909). Feuilletonsammlung:Deutsche Sorgen in Ungarn (1918) u.a. Anthologie: Schwaben im Osten. Ein deutsches Dichterbuch aus Ungarn (1911). 23 Etwa in Zusammenhang mit der Anthologie Trost- und Trutzbüchlein der Deutschen in Österreich oder mit seiner üteraturpolitischen Kampfschrift Die Leetüre des Volkes im Kontext der Substitutionsdebatten cf. MICHLER 2004, pp. 87-98; KNÖFLER, Markus: Die Schmach dieser bauernfeldpreisgekrönten Zeit. Literaturpreise, in: AMANN, Klaus/LENGAUER, Hubert/WAGNER, Karl: Literarisches Leben in Österreich 1848-1890. Wien: Böhlau Verlag 2000 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 1), pp. 250-318, p. 269. 24 Cf. MILLEKER, Felix: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben und sein Dichten. Grossbetschkerek Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donaui 57 Sekundärliteratur z.T. noch immer gängige Identifizierung von Banater Heimatschriftstellern und Banat keineswegs zu. Im Folgenden werden drei literatursoziologische Aspekte von Müller-Gutten-brunns Schaffen genauer betrachtet, die bisher in der Literatur zu seiner Person nur punktuell Beachtung gefunden haben und nie in einen systematischen Zusammenhang gestellt worden sind. Es geht hierbei erstens um den Umstand, dass er seine banaterdeutsche Heimatliteratur von Wien aus schrieb; zweitens darum, dass er dies auf Nachfrage oder zumindest im Kontext österreichischer und deutscher Verlagspläne tat, und drittens um das Publikum seiner Heimatromane, das vor dem Ersten Weltkrieg größtenteils aus Deutschen bzw. Deutsch-Österreichern und nur in geringem Maße aus Banaterdeutschen bestand. Neben einer längeren Tradition von iiteraturhistorischen Darstellungen, die Müller-Guttenbrunn seinen eigenen Selbstdarstellungen entsprechend als den »Erzschwaben« oder auch als den banater »Rosegger« oder einfach als banaterdeutschen Heimatschriftsteller verstehen, ist erst in jüngster Zeit eine Lektüre gegen den Strich, eine entmythisierende Darstellung des Lebenslaufs wie des Lebenswerkes von Dieter Kessler versucht worden. Seine notwendigerweise kurze Darstellung ist die erste, die keine Vereinheitlichung von Müller-Guttenbrunns Gesamtlaufbahn anstrebt.25 Stattdessen arbeitet er genau jene Widersprüche in Müller-Guttenbrunns Tätigkeit heraus, die sich mit den oben angeführten Etiketten schwer in Einklang bringen lassen, so etwa, dass Müller-Guttenbrunn in Wien lebt und arbeitet oder dass seine Werke an österreichischen Vorbildern geschult sind. Selbst die Bewertung relativ geringfügiger biografischer Fakten scheint von der Gesamtbewertung des Lebenswerkes abzuhängen. Während in den meisten Kurzdarstellungen von Müller-Guttenbrunns Lebensweg als Grund für dessen Schulabbruch in Temesehwar/Timisoarä (der Selbstdarstellungen des Autors folgend) die Einführung der ungarischen Unterrichtssprache angegeben wird,26 behauptet Kessler, leider ohne seine Quellen anzuführen, dass Adam Müller ein schlechter Schüler war, der selbst in seinen Lieblingsfächern Deutsch und Religion nur ein Genügend bekam.27 (Pleitz) [Veliki BeCkerek] 1921; HOLLINGER, Rudolf: Adam Müller-Guttenbrunn, der Erwecker des Donaudeutschtums. Vortrag. Temeschburg [Timisoarä] 1942; ROGL, Ludwig: Der Anteil Adam Müller-Guttenbrunns am völkischen Erwachen des Donauschwabentums. Brünn [Brno] 1943 (Südosteuropäische Arbeiten 33); WERESCH, Hans: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben, Denken und Schaffen. 2 Bde. Freiburg i.Br. im Selbstverlag des Verfassers 1975. 25 Cf. KESSLER, Dieter: Die Deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banates und des Buchenlandes von der Revoiution bis zum Ende des ersten Weltkrieges (1848-1918). Wien: Böhlau 1997. 26 »Der begabte Knabe wurde vollends in eine Außenseiterrolle gedrängt, als er nach der Umstellung auf die magyarische Unterrichtssprache die dritte Klasse des Temesvarer Piaristengymnasiums nicht bestand [...].« SENZ, Ingomar: Die nationale Bewegung der ungariändischen Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Alldeutschtum und ungarischer Innenpolitik. München: R. Oldenbourg 1977 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 30), p. 139. I 27 »Müller ist ein ungewöhnlich fauler Schüler, der es selbst in seinen beiden besten Fächern, Deutsch und Religion, nur zu einem >genügend< bringt.« KESSLER 1997, p. 449. 58 Edit Kiräiy Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donaui 59 Eine kritische Analyse der Rezeption von Müiler-Guttenbrunns Werken ist schon von mehreren Seiten versucht worden, um die Legende von Müller-Guttenbrunn als »Volkserwecker« der Schwaben zu hinterfragen. Vor allem in Zusammenhang mit Müiler-Guttenbrunns erstem »Banater« Kulturbild, der Götzendämmerung, ist von Eva V. Windisch und Günther Schödl bemerkt worden, dass jene »in Südungarn [...] zunächst keinerlei Beachtung fand und erst eine Verteilungsaktion des ADV [Alldeutschen Verbandes], der damit lange zögerte, das Interesse belebte. [...] Die hohen Umsatzziffern der Müilerschen Werke [müssen daher] zum großen Teil auf die starke Nachfrage in deutschnationalen Kreisen a u ße rhalb Ungarns« zurückgehen.28 3.2 Das literarische Feld und seine Akteure: Müller-Guttenbrunn und seine Verlage Im Folgenden möchte ich Bourdieus Feldbegriff auf die Institution der Literatur anwenden, wobei Felder, als »Mikrokosmen gesellschaftlicher Praxisformen«, durch die ungleichmäßige Distribution von Fertigkeiten und Machtressourcen strukturiert sind. Die »aufeinander bezogene[n] soziale[n] Positionen«29 des literarischen Feldes bedeuten etwa die Möglichkeit der Veröffentlichung und Zirkulation von Texten einerseits und die sich in Kunstwerken und ästhetischen Stellungnahmen manifestierenden Diskurspositionen andererseits. Müiler-Guttenbrunns Heimatromane sind von Anfang an das Produkt eines Zusammenspiels zwischen Verlag(en) und Autor. Das erste Buch über das Banat und die Lage der Deutschen in Ungarn, Götzendämmerung, schrieb Müller-Guttenbrunn im Auftrag des Akademischen Verlags in Wien. Dr. Jakob Hollitscher, der Leiter des Verlages, forderte Müller-Guttenbrunn am 1. April 1907 auf, einen Roman zu schreiben, der das ungarische Problem behandeln sollte.30 Doch der Akademische Verlag spielte nur eine vorübergehende Rolle in der Gestaltung von Müiler-Guttenbrunns Karriere als Heimatautor, denn der Verlag ging trotz des 23 SCHÖDL 1978, p. 146, cf. WINDISCH, V. Eva: Egy szäzad eleji kulcsregeny es politikai hättere. ferencz Ferdinand es Adam Müller-Guttenbrunn [Ein Schlüsselroman der Jahrhundertwende und sein politischer Hintergrund. Franz Ferdinand und Adam Müller-Guttenbrunn]. In: Fiiolögiai Közlöny 3-4 (1966), pp. 446-462, p. 460 ff. 29 SCHWINGEL, Markus: Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, H.2 (1997), pp. 119-151, hier p. 119. 30 »Den Anstoß dazu gab der Leiter des Akademischen Verlags in Wien, Dr. Jakob Hollitscher«, der Müller Guttenbrunn am 1. Aprii 1907 aufforderte, »einen Roman zu schreiben, der das ungarische Problem behandeln sollte.« WERESCH 1975. Bd. 2. p. 17. Welcher Natur Dr. Hollitschers Erwartungen gewesen sein mussten, darüber geben Müiler-Guttenbrunns Tagebücher Auskunft: »Reise am 12. Mai für einige Tage nach Ungarn, um unangenehme Eindrücke für meinen Roman zu sammeln.« Tagebuch ohne Datum zw. dem 24.4. und dem 18.5.1907, cf. MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Der Roman meines Lebens. Aus dem Nachlaß zusammengestellt von seinem Sohne. Leipzig: L. Staack-mann Verlag 1927, p. 267. j Erfolgs der Götzendämmerung Pleite.31 Wer aus Müiler-Guttenbrunns einzelnen Romanen und Kulturbildern die Banaterdeutsche Literatur machte,32 war der Verlag Alfred Staackmann in Leipzig. Dieser Verlag, dem von Karl Wagner neben einem forcierten Deutschnationalismus auch »vehementer Antimodernismus mit häufig antisemitischer Schattierung«33 bescheinigt wird, war für »die massenhafte Verbreitung völkisch-nationaler Literatur aus Österreich«34 verantwortlich. Denn, so Karl Wagner: Institutionell gesehen repräsentiert der Staackmann-Verlag die Gegenposition zu S. Fischer, der die von den österreichischen iStaackmännern< bekämpfte Literatur der Wiener Moderne verlegte.35 g Der forcierte Deutschnationalismus präsentierte sich im Verlagsprofil allerdings als eine Vielfalt der »Stämme und Landschaften«, die in den Leitbildern Peter Rosegger (für den österreichischen Süden) und Friedrich Spielhagen (für den deutschen Norden) ihre Parnasslinie erhielt. Doch der >Vielfalt der Stämme und Landschaften eignete eine weitgehende ideologische Konvergenz. Der programmatische Antimodernismus des Verlags, der u.a. in der grundsätzlichen Ablehnung von Autorinnen und sozialen Thematiken seinen Ausdruck fand, paarte sich jedoch mit den »fortgeschrittensten ökonomischen Organisationsformen«, I Werbe- und Verkaufmethoden.36 Die Staackmann-Linie kommt Müller-Guttenbrunn durchaus entgegen. Der geborene Banaterdeutsche, der seit frühester Jugend in Wien und zeitweise in Linz lebt, hat sich in den 1880er und 1890er Jahren in Wien durch seine kulturpolitischen Streitschriften und Theaterkritiken, die eine Vorliebe für das Bodenständige und Klassische bekunden, einen Namen gemacht. In der »scharfen politischen Konkurrenz«, die sich um die Lektüre und Unterhaltung der Unterschichten herausbildet, stimmt er für volkstümliche Autoren und vertraute »auf eine Kontrafaktur der Kolportageliteratur in Form und Distribution«37. Seine diesbezügliche Position macht ihn geeignet, die Führung von zwei Theatern in Folge zu übernehmen, die das Feld zwischen Burgtheater und gewöhnlicher I 31 Dieter Kessler interpretiert die Beziehung zwischen Autor und Verlag über ein eindeutig pekuniäres Modell: »Die ständigen Krisen Ungarns [...] sorgen für großes publizistisches Echo in der Welt. Insofern ist es für einen in Geldnöten steckenden Verlag naheliegend, ein Werk über die ungarische Krise in Auftrag zu geben und sich dazu eines in Geldnöten lebenden Autors zu versichern, der schnell zu schreiben vermag und dessen journalistische Fähigkeiten beachtlich sind [...].« KESSLER 1997, p. 454. 32 Müller-Guttenbrunn schrieb am 29.6.1909 in sein Tagebuch, nachdem er die Erzählung »Der kleine Schwab« an Staackmann geschickt hat: »Staackmann hat mich neuerlich eingeladen auf Intervention Roseggers. Wenn er Verständnis hat und die >Götzendämmerung< auch übernimmt, haben die Banater Schwaben plötzlich eine Literatur. Denn darauf läuft es hinaus, das ist der Sinn und Zweck meiner Bücher, diese Schwaben in die Literatur einzuführen.« MÜLLER-GUTTENBRUNN 1927, p. 274. 33 WAGNER, Karl: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen: Max Niemeyer 1991, p. 302. I 34 Cf. WAGNER 1991, p. 297. 35 Cf. ibid., p. 307. 36 Ibid., p.306. 1 37 Cf. MICHLER, p. 124f. 60 Edit Kiräly Unterhaltung abdecken sollen. Als Direktor zuerst des Raimund-, später des Kaiser-Jubiläumstheaters versucht er das Programm eines deutschen Volkstheaters zu verwirklichen, ausländische oder jüdische Autoren sind dabei verpönt. In der Zuspitzung des Kulturkampfes im Wien der Jahrhundertwende sorgt seine exponierte Stelle an der Spitze eines Theaters38 mit antisemitischem Ruf für seine Zuordnung zum antisemitischen Lager und auch für zeitweiligen Boykott seitens der liberalen Presse. Damit rundet sich vorerst eine Laufbahn ab, die im polarisierenden Klima der Wiener Jahrhundertwende für viele deutschnational Gesinnte als charakteristisch gelten kann. Als er an der Spitze des Kaiser-Jubiläumstheaters abgelöst wird und in Geldnot gerät, erlebt er zwischen 1903 und 1908 den Tiefpunkt seiner Laufbahn. In dieser existenziellen Krise entdeckt er für sich das Banat als literarisches Revier und zugleich auch den Kanonisiertingseffekt der banaterdeutschen Heimatliteratur. 3.3 Literarische Darstellungen des ländlichen Lebens: Das Genre Aus der Tradition der Dorfgeschichte hervorgegangen, machte sich die Heimatliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Dorf und dessen Umgebung zum Thema, die in scharfem Kontrast zu den städtischen Verhältnissen als ein überschaubares Sozialmodell vorgestellt wurden.39 Die Darstellung des bäuerlichen Lebens lässt sich dabei kaum von ideologischen Positionen trennen; selbst Autoren, die dem Bauernstand entstammten, waren in ihren Schilderungen des ländlichen Lebens durchaus literarischen und ethnografischen Vorbildern verpflichtet.40 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich dabei mehrere Perspektiven unterscheiden, aus denen die bäuerliche Lebenswelt betrachtet wurde. Diese reichen von der liberalen Auffassung, nach der das Leben der Bauern als Veränderbares und als zu Veränderndes galt, bis zur Sichtweise, welche die »Sitte des Volkes« als eine politische Macht verstand und sie zu einem ständisch-patriarchalischen Gesellschaftsmodell ausdehnen wollte, mit dem Ziel, dem Zersetzungsprozess des Fortschritts Einhalt zu gebieten.41 Eine Verschiebung vom einen zum anderen Standpunkt lässt sich nicht nur in der gesamten Heimatliteratur, sondern auch innerhalb der jeweiligen CEuvres beobachten. Tendenziell bildet die Provinzliteratur der Jahrhundertwende mit ihren konser- 38 Es gab in seinem Vertrag tatsächlich den Punkt der »Judenfreiheit«. Müller-Guttenbrunn bezeichnete sich nach dem Misserfolg seines Theaters voller Selbstmitleid als den »Don Quijote des Antisemitismus«. MÜLLER-GUTTENBRUNN 1 927, p. 273. 39 Cf. ROSSBACHER, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Klett 1975 (Literaturwissenschaft - Gesellschaftswissenschaft 13). 4° Cf. WAGNER 1991. 41 Cf. ibid., p. 104. Literarische Grenzinszenierungen am Beispie! der iDonau< 61 vativen ästhetischen wie sozialen Idealen einen Gegenentwurf zur literarischen Moderne. In Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromanen bzw. -erzählungen,42 denen sein erstes, den politischen Verhältnissen in Ungarn im Jahre 1907 gewidmetes Buch Götzendämmerung nur sehr bedingt zuzurechnen ist, werden viele Muster dieser Literatur nachgebildet: die Nähe von Kultur- bzw. Sittenbildern und romanhafter Darstellung etwa oder Oralität als Stil, indem die »Signale mündlichen Erzählens in der Schrift [als] Vertrautheitsgesten« fungieren und eine »Gemeinsamkeit zwischen Erzähler und seinen Zuhörern« simulieren,43 oder die in Topografien wieder erkennbaren Ordnungsmuster des ländlichen Lebens. Auch bei ihm dienen landschaftliche Grenzen dazu, bäuerliche Lebensformen von anderen, fremden Einflüssen zu trennen. Doch im Gegensatz zu Roseggers Darstellungen sind die Gefährdungen, die in seinen Romanen durch die Aufhebung oder das Durchlässig-Werden dieser Grenzen entstehen, nicht sozialer oder ökonomischer, sondern identitätspolitischer Natur. Die Auflösung herkömmlicher bäuerlicher Lebens- und Produktionsformen wird hier nicht reflektiert, Müller-Guttenbrunn stellt das Leben der schwäbischen Bauern und Handwerker durchwegs als Erfolgsmodell dar. In den banaterdeutschen Heimatromanen Müller-Guttenbrunns spielen bäuerliche Figuren zwar eine wichtige Rolle, doch entwickelt sich die Handlung meistens aus ihrer Berührung mit gebildeten Leuten (meistens Vertreter der Dorfintelligenz, Lehrer, Pfarrer, oder auch Ingenieure), manchmal auch aus dem Konflikt zwischen Bauern und Handwerkern - so etwa in Meister Jakob und seine Kinder. Dieser Roman, der sich am intensivsten mit bäuerlichen Lebensformen und Konflikten beschäftigt und Müller-Guttenbrunns Herkunftsgeschichte erzählt, zeichnet ein erschreckendes Bild von diesem Milieu. Doch diese kritische Darstellung bleibt die Ausnahme. In den meisten Romanen wird der Bauer zum Kronzeugen in einem ideologischen Kampf um die Bodenständigkeit. Die Hinweise auf den strengen Traditionalismus des Bauernstandes, auf seine Zuständigkeit und auf seine immer gleichen Beschäftigungen dienen als Kontrapunkt zu den als Maskerade und Verkleidung versinnbildlichten Lebensformen der städtischen Assimilation und des damit verbundenen Identitätsverlusts. Die Vertreter der Intelligenz sind meistens für die Aufrechterhaltung der ethnischen Tradition zuständig. 42 Damit sind vor allem Der Kleine Schwab. Abenteuer eines Knaben, Die docken der Heimat und Meister Jakob und seine Kinder gemeint. « WAGNER 1991, p. 221. 62 Edit Kiraly Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonaii! 3.4 Der politische Wert banaterdeutscher Kulturbilder und Heimatromane: die Leserinnen Die Leser von Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen lassen sich weit weniger genau ermitteln als die Ziele und Verkaufsmethoden ihres Verlages. Die Rezeption ist lediglich im Falle der Götzendämmerung eingehender untersucht worden, was mit deren politischer Bedeutung zu erklären ist. Denn genau an dieses Buch war das Bild von Müller-Guttenbrunn als »Volkserwecker« in erster Linie gekoppelt - eine Verbindung, die hauptsächlich in den hohen Auflagen (fünf in einem Jahr)44 und in der dem Buch zuteil gewordenen »hohen« Aufmerksamkeit45 begründet lag. Inwiefern jedoch das Buch gerade von Banater-deutschen gelesen wurde, lässt sich kaum eruieren. Der Historiker Ingomar Senz, der in seinem Buch über Die nationale Bewegung der ungarländischen Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg dem Kapitel über Adam Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung den Titel »Literarische Aufrüttelung« gegeben hat, räumt darin selbst ein, dass die Schlussfolgerung auf die große politische Wirksamkeit des Buches nur indirekt, aus seiner Fähigkeit oder noch mehr: aus den Annahmen über seine Fähigkeit aufzurütteln, gezogen werden kann. Günther Schödl hingegen bezeichnet diese Annahmen schlichtweg als »propagandistisch«46 und hebt hervor, dass der Roman gerade in Südungarn zunächst keinerlei Beachtung fand »und erst eine Verteilungsaktion des ADV [Alldeutschen Verbandes], der damit lange zögerte, das Interesse belebte. Die hohen Umsatzziffern der Müllerschen Werke gehen offenbar zum großen Teil auf die starke Nachfrage in deutschnationalen Kreisen außerhalb Ungarns zurück.«47 Ein ähnliches, aber noch differentierteres Bild zeichnet die ungarische Forscherin Eva V. Windisch,48 die in ihrem Aufsatz über Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung die Meinung vertritt, dass sich vor dem Ersten Weltkrieg kein breiteres ungarndeutsches Publikum für diese und andere Werke Müller-Guttenbrunns herausgebildet hatte und diese lediglich in Deutschland und Österreich ein bedeutendes Lesepublikum anzogen.49 »Jene Romane des Verfasser, die - ffH 44 Bei den Auflagen zwei bis fünf handelt es sich »mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um reine Titelauflagen«. Cf. KESSLER 1997, p. 455. 45 Die ungarische Regierung richtete eine Note an die österreichische in Angelegenheit des Buches. Andererseits wurde schnell bekannt, dass dem Thronfolger Franz Ferdinand das Buch »riesig gefallen« habe. Cf. MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Tagebucheintragungen vom 6.12.1907. In: DERS.: Roman meines Lebens, p. 269. Um seine Verbreitung zu Beeinträchtigen, wurde dem Buch in Ungarn das Postdebit entzogen. Cf. SENZ 1977, p. 153. « SCHÖDL 1978, p. 146. 47 Ibid. 4« Cf. WINDISCH 1966. 49 »Ein breiteres Publikum bildet sich aber nicht heraus; die ungarländischen Deutschen stehen meistens noch nicht auf der Stufe des Nationalitätenbewusstseins, wo sie auf diese Romane Anspruch erheben könnten. Sein wahres Lesepublikum findet Müiler-Guttenbrunn in Deutschland: Jene, die ihn vom nationalistischen Standpunkt würdigen, halten später für das wichtigste Ergebnis seiner Arbeit, dass er verhältnismässig weite Kreise in Deutschland mit der Existenz des ungarländischen Deutschtums bekannt gemacht hat.« (Cf. ROGL 1943, pp. 61 f. Übersetzt von E.K.) »Szeiesebb magyarorszägi olvasöközönseg azonban nem alakul ki; a magyarorszägi nemetek ältaläban nem ällnak meg a nem- die Geschichte der Banater Deutschen im 18.-19. Jahrhundert behandein, haben schließlich nach 1918 den Weg zu bestimmten - relativ breiten - Kreisen der um diese Zeit schon in Rumänien und Deutschland lebenden Deutschen gefunden«, schreibt Windisch.50 Für eine genauere Einschätzung von Müller-Guttenbrunns ungarischer Rezeption vor dem ersten Weltkrieg sollte man beachten, dass auf die Götzendämmerung fast ausschließlich Budapester Zeitungen reagierten51 und dass das Buch in der Banater Presse gänzlich unbeachtet blieb. Zudem gingen die ungarischen Reaktionen kaum auf das Werk, geschweige denn auf dessen politische Argumente ein. Eva V. Windisch erklärt dies mit der Unreife und mit der mangelnden Klarsicht der ungarischen politischen Öffentlichkeit, die dementsprechend auch nicht dazu fähig war, »die sich für sie aus dem Roman ergebenden Konsequenzen von den böswilligen und verleumderischen Details zu trennen und diese für sich zu nutzen«.52 Bezeichnend für das Desinteresse ist auch Ferencz Herczegs Artikel in Az Ujsag (siehe S. 77 ff.). Herczeg nimmt den Titel Götzendämmerung lediglich als Vorwand, um anlässlich des skandalösen Moltke-Harden-Prozesses53 in Berlin den Niedergang preußischer Tugenden zu beklagen und in einem Seitenhieb Müller-Guttenbrunn, dessen Werk er für blutleer und arrogant hält, zu einem »namenlosen Routinier der Schreibfeder« zu erklären.54 Bemerkenswerterweise trägt auch eine Mitteilung Müller-Guttenbrunns über seine Autorschaft an den in Temeschwar/Timisoarä herausgegebenen Deutsch-Ungarischen Volksfreund im Februar 1908 eben dieser Hierarchie der Öffentlichkeiten Rechung: iGötzendämmerungi ist ein Buch, das nicht geeignet ist, in das Volk selbst zu dringen. Es wendet sich ausschließlich an die Intelligenz. Und es ist vornehmlich für Europa geschrieben, es wendet sich an ein Weltpublikum. Die Leitartikel, die in Berlin über Götzendämmerung geschrieben wurden, sind mir daher wichtiger, als die in zetiségi öntudatnak azon a fokán, hogy igényt tartanának ezekre a regényekre. Müller-Guttenbrunn igazi olvasókozonségét Németországban taíálja meg: német nacionalista méltatói utóbb munkás-sága legjelentosebb eredményének azt tekintik, hogy ö ismertette meg közeiebbrö! Németország viszonylag széles rétegeit a magyarorszägi németség létezésével, problemäival.« WINDISCH 1966, p. 460. 50 A szerzönek »azok a regényei azonban, ameiyek a bánsági németek XVIII-XIX. századi torténetével foglalkoztak, 1918 után végul is megtaláltákaz utat a most már a jugoszláv és román államban éló németek egyes - elég széles - reteigeihez;« (Übersetzt von E. K.). Ibid. p. 462. 51 Der Historiker Ingomar Senz und der Literaturwissenschaftler Dieter Kessler schreiben von einem groß angelegten Presseecho, das sich nach meinen Nachforschungen kaum belegen lässt. Cf. SENZ 1977, KESSLER 1997. 52 »[...] a magyar politikai kozvélemény ekkor nem volt sem eléggé érett, sem eléggé tisztánlátó ah-hoz, hogy a regénybol számára adódó politikai tanulságokat a rosszindulatú vagy rágalmazó részle-tektöl különvalassza és hasznositsa.« (Übersetzt von E.K.) Cf. WINDISCH 1966, p. 460. 53 Am 23. Oktober 1907 begann vordem Schöffengericht Berlin Mitte das Gerichtsverfahren Molkte gegen Harden, in dem der Armeeoffizier Gustav von Moltke, der von dem Publizisten Maximilian Harden der Homosexualität beschuldigt worden war, diesen wegen übler Nachrede anklagte. Im Verlauf des Prozesses hat die geschiedene Ehefrau Moltkes ihren Mann stark belastet. 5" »az írótoll névtelen routinier-ja [...]« (Übersetzt von E. K.). Az Ujsag 1.12.1907, p.l ff. 64 Edit Kiräiy Literarische Grenzinszenierungen am Seispiel der iDonaU' Pest oder Temesvar. Aber ich bin stets erfreut aus der Heimat zu hören, dass einige Schovinisten grün und gelb geworden sind bei der Lesung des Buches.55 Was Müller-Guttenbrunns ungarndeutsches Publikum betrifft, gab es gewiss begeisterte Leser, und es gab auch die Verteilungsaktionen des Alldeutschen Verbands, die im »deutschnationalen Sozialmilieu«56 des Banats für Leser sorgten, doch deren wirkliches Ausmaß lässt sich selbst aus der indirekten Evidenz kaum ermitteln.57 Von einer »literarische[n] Aufrüttelung«58 der Deutschen im Banat lässt sich daher nur bedingt reden. 4 Grenzen und Abgrenzungen in Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromanen Die Grenzlage des Banats spielt in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen eine Schlüsselrolle. Dieser Topos ist zuvörderst mit dem historischen Ursprung der Banater-deutschen verbunden, die nach der Rückeroberung des Territoriums von den Türken zum ersten Mal im Zeitraum 1720-1740 unter General Mercy in großer Zahl als Siedler ins Land kamen. In Kombination mit dem ähnlich zentralen Topos vom Pioniergeist und von der Arbeitswut der deutschen Siedler konstituiert er den Gründungsmythos des Deutschtums im Banat. Die daraus erwachsende Gefährdung als Lebensgrundlage ist in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen jedoch weniger militärisch (gegen die im 18. Jahrhundert noch durchaus vorkommenden Türkeneinfälle ist ja die Militärgrenze - hauptsächlich mit Hilfe der serbischen Bevölkerung - errichtet worden) als vielmehr klimatisch und ethnisch bedingt. Es gilt hierbei den Urzustand einer versumpften und einer landwirtschaftlich unfruchtbar gewordenen Landschaft zu bekämpfen und sich von den oft auch als »wild«, »halborientalisch« oder einfach nur als unberechenbar bezeichneten anderen Einwohnern dieses Gebietes abzusetzen. Es ist eben diese 55 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Zuschrift aus Wien. In: Deutsch-Ungarischer Volksfreund 28.2.1908, p.2. » Cf.SCHÖDL 1978, p. 139. 57 Die diesbezüglichen Quellen und Fakten werden meistens ohne jede Kritik zitiert, so etwa auch Steinackers Angaben über jenen Neusatzer Bürger, der wegen des Besitzes des Buches verurteilt worden war: »Die Leser und Verbreiter von Müller-Guttenbrunns Roman Götzendämmerung, der zum Ärger der chauvinistischen Presse eine Auflage nach dem anderen erlebte und unter der deutschen Bevölkerung von Hand zu Hand ging, wurden gerichtlich verfolgt, der deutschgesinnte Neusatzer Bürger Friedrich Hess zu vier Monaten Gefängnis verurteilt und eine polizeiliche Hausdurchsuchung nach dem gefährlichen Buch folgte der anderen.« STEINACKER, Edmund: Lebenserinnerungen p. 183. Immerhin macht Steinacker ein paar Seiten später ganz andere Angaben über denselben Fall: »Der wegen angeblicher Verbreitung von Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung ursprünglich zu zehn Monaten Gefängnis verurteilte, in zweiter Instanz freigesprochene volksbewusste Volksgenosse Friedrich Hess bekam vom Obersten Gerichtshof, ohne dass sein Advokat auch nur von der Verhandlung verständigt worden wäre, schließlich zwei Wochen Gefängnis zuerkannt.« (Hervorhebungen von E.K.) STEINACKER, Edmund: Lebenserinnerungen. München: Schick 1937 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München 13), p. 191. 58 U.a.Titel von Ingomar Senz'Müller-Guttenbrunn Kapitel Cf. SENZ 1977, p. 139. Opposition von Kultur und Verwahrlosung, die letztendlich die deutsche Kulturmission im Banat begründet, diese nicht nur wünschenswert, sondern geradezu notwendig erscheinen lässt. Indem der militärisch geprägte Gründungsmythos der Banaterdeutschen als Subtextfürdie alltäglichsten wirtschaftlichen Formen der Naturaneignung dient, wird aber jede Arbeit zur »Eroberung« und im räumlichen Kontext des Banats freilich auch zu einem territorialen Vorstoß, einem Zurückdrängen der anderen ethnischen Gruppen. Denn »[...] das wäre das Übelste nicht für einen Schwaben, auf Eroberung auszugehen. Und ein guter Handwerker in solch einem Dorfe wäre ein Eroberer.« So lautet der Kommentar, als ein schwäbischer Handwerker sich in einem walachischen (sprich: rumänischen) Dorf niederlässt.59 Die Gefährdung durch die Grenzlage motiviert zugleich auch die Abriege-lung gegen die Außenwelt, die in romanhaften Konstellationen in einem großen Formenreichtum der räumlichen Abgrenzungen, der geografischen Grenz- und Trennlinien sowie Wachposten ihren Ausdruck findet. 4.1 Die Donau als Landschaftsmodell einer deutschen Kulturmission Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Rolle der Donau in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen und feuilletonistischen Texten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Sein Zeitungsartikel »Donaufahrt in unsere Kulturgeschichte«, erschienen im Jahre 1916 in der Aufsatzsammlung Österreichs Beschwerdebuch, schildert eine Schifffahrt Donau abwärts, mit besonderem Augenmerk auf die niederösterreichische Landschaft und ihre katholischen Stifte und Klöster. Das kurze Schreiben führt ein altes Sujet der Donau-Reiseliteratur aus, es beschreibt eine Reise von Passau nach Wien. Doch schildert es weder Gefahren noch Mühen oder Komfort und Genüsse des Reisens, reiht nicht abwechslungsreicher Landschaftsbilder aneinander, sondern bietet eine triumphale Schau, die zerstreute Punkte der Landschaft in eine »Linie in der Zeit«60 verwandelt: In Bezug auf »unsere Kulturgeschichte« oder, wie es an anderer Stelle auch heißt, »Weltgeschichte«, ihre sichtbaren Spuren und »Etappen«61 werden die alten Stifte erklärt. Auf der Fahrt durch die Geschichte wird die Donau restlos in ein ideologisches Raster eingefügt. Grundmotiv dieser Ideologisierung ist der Kampf zwischen Wasser und Stein. Eingefangen im Bild des Kampfes wird die Donau-Landschaft zur Illustration jener vermeintlich historischen Gegensätze, die angeblich das Leben in dieser 59 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Meister Jakob und seine Kinder. Leipzig: L. Staackmann Verlag 1918, p. 337, auch: p. 229. 50 SCHAMA, Simon: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination. A. d. Engl, von Martin Pfeiffer. München: Kindler 1996, p. 13. 61 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Donaufahrt in unserer Kulturgeschichte. In: DERS.: Österreichs Beschwerdebuch. Einige Eintragungen von Adam Müller-Guttenbrunn. Konstanz am Bodensee: Reuß & Itta Verlag 1916, pp. 13-25, hier p. 21. Landschaft prägten. Seibst Zeichen ihrer Kultiviertheit weisen nur darauf hin, mit welcher Anstrengung diese Kultur der Natur »abgetrotzt«62 werden musste: »Denn diese Uferwände sind eine einzige große Festung, die bisher die Opfer, die ihre Einnahme erfordern würde, nicht wert schienen.«63 Der Kampf gegen die Natur wird hier zum Naturpendant jenes Krieges, der an den Ufern der Donau von alters her geführt wurde. Das Gebiet selbst muss und, so legt es uns Mülier-Guttenbrunns Text nahe, musste immer wieder der Barbarei abgerungen werden. Obwohl dieser Kampf um vermeintlich universale Werte wie Leben, Kultur und Ordnung ausgetragen wurde, sind diese Werte bei Müller-Guttenbrunn letztendlich immer ethnisch codiert. Das heutige Mittelafrika ist bekannter als unsre Heimat damals den germanischen Stämmen war. Sie hatten schon ein römisch-deutsches Kaisertum, und hier tuniel-ten sich noch die Heerhaufen der Hunnen, hier herrschten noch die Avaren.64 Die koloniale Anspielungsebene des Satzes legt eindeutig fest, wer Subjekt und wer Objekt des Erkennens sein kann, Wörter wie »tummeln« und »Haufen« als Attribute der Hunnen im Gegensatz zu dem Kaisertum der Germanen ergänzen diese Unterscheidung um die Opposition von Chaos und Ordnung. Der Name römisch-deutsches Kaisertum macht es vergessen, dass ein paar Jahrhunderte früher auch die Germanen noch kein Kaisertum »hatten«, und dass das Epithet I. )deutsch< oder (deutscher Natiom zur Zeit der Existenz des Heiligen Römischen Reiches selbst keineswegs üblich gewesen war, also eine retrospektive Nationalisierung durch die Diskurse des 19. Jahrhunderts und weiter darstellt. Vor diesem landschaftlichen Hintergrund agieren Männer des Wortes. Zuerst ist es ein Geistlicher, der »jeden Fremden aufspürte, sich vorstellte und ihm die Reize der Landschaft erklärte«,65 ab Krems übernimmt es der Verfasser des Artikels, sich »ungefragt«66 in das Gespräch seiner Reisegefährten einzumischen und einem »Oberlehrer aus Sachsen«67 die historischen Umstände auseinanderzusetzen, j In dem etwa zwanzig Seiten umfassenden Aufsatz wird die Donau als die Grenze zweier Welten in die Pathosformeln deutscher Geschichte aufgenommen. Die Fahrt Donau abwärts wird jedoch selbst in ihrer harmlosesten Form, { als Touristenreise, zum Nachvollzug einer historischen Mission. Hierzu dienen / j historische Parallelen: Eine Kulturgeografie, welche die Gegenüberstellung von Kultur und Barbarei noch in der römischen Zeit ansetzt, als die Donau limes des römischen Reiches war, und diese um die mittelalterliche Gegenüberstellung von Osten und Westen im Nibelungenlied ergänzt. j -f ________ ■ ■ i « Ibid. p.18. ' *» ibid. " I » Ibid. p.22. 65 Ibid. p. 14. i 66 Ibid. p. 19. » Ibid. p. 18. Weltgeschichte wird allerdings erst nachträglich am Schreibtisch entfaltet. Das Gesehene wird dort in die Zusammenhänge des Schreibens und Nach-Den-kens eingebettet und mit einem »historischen Leitgedanken«68 versehen. Dessen totalisierende Sichtweise findet in der 360-Grad-Perspektive der zeitgenössischen Panoramenbilder ihre optische Entsprechung: »Ein perspektivisches Bild aller menschlichen Kulturkämpfe rollt sich vor uns auf, wie auf einer riesigen Wandeldekoration.«69 Doch die sich schnell ablösenden Bilder, welche die landschaftliche Vielfalt zu »Wandelbilder[n]«7° verwandeln, dienen lediglich zum Einprägen des immergleichen historischen Leitgedankens. Dieser ist in Adam Mülier-Guttenbrunns Ausführungen durch Schlüsselwörter wie »Kulturarbeit«71 bzw. »Kulturwerk[.]«72 abrufbar. Alles, was hier an historischen Spuren und Denkmälern zu sehen ist, wird zum Zeugen eines deutschen Kulturkampfes gegen Chaos und Barbarei erklärt. Die von Müller-Guttenbrunn hervorgehobenen Baudenkmäler an beiden Ufern des Stromes sind Zeichen von Macht und Herrschaft, deren Alter allein schon von ihrem Bestand und ihrer Kontinuität kündet. Herrschaftsinsignien, wie etwa die Krone Karls des Großen auf dem einen Turm des Augustiner-Stiftes in Klosterneuburg und der Herzogshut von Österreich auf dem anderen, »[...] erzählen, daß dieses Stift Teil hat an der Befestigung der Macht des deutschen Kaisertums in der Ostmark«.73 Überraschen dürfte an diesem Text, wie er zwei einander widersprechende Vorstellungen der Donau unbekümmert miteinander vereint. Er stilisiert den Fiuss zum Ort eines immerwährenden Kampfes und weist ihm dadurch die Rolle einer Grenze zu. Zugleich stellt er ihn aber als ein landschaftliches Bindeglied zwischen Orten dar, die durch Deutsche bzw. Deutschösterreicher besiedelt sind, und stilisiert ihn zu einem Fluss, über den sich »Deutsches Leben« von Passau bis zur Mündung (bis zum Schwarzen Meer) >ergießt<. In der Überblendung der beiden motivischen Bedeutungen der Donau als Band und als Grenze entsteht die Idee einer »Donaulandschaft« mit ihrer vollkommen imaginären Geografie. Denn die Donau wurde erst in der südöstlichen Ecke der Monarchie zum Grenzfluss und erfüllte damit keine einzige Voraussetzung einer (deutschösterreichischen) Grenzlandschaft. Die Bedeutung dieser Vorstellung lag denn auch im symbolischen Bereich, in einer »Kartographie der Identitäten«.74 68 Ibid. p. 15. 69 Ibid. 70 Ibid. p. 16. 71 Ibid. p. 19. 72 Ibid. p. 23. 73 Ibid. p. 20. 74 DEREK, Gregory: Imaginierte Geographien, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtsforschung 3 (1995), pp. 366-425, hier p. 420. 63 Edit Kiräly 4.2 Deutsche Kulturmission Wie konnte die Donau, die Mitte des 19. Jahrhunderts noch als emblematische Landschaft des Vielvölkerstaates heraufbeschworen wurde, am Ende desselben Jahrhunderts zu einer landschaftlichen Figur nationalistischer Diskurse werden? Welche Machtverhältnisse, welche Identitätsvorstellungen und Abgrenzungsnöte wurden in Müller-Guttenbrunns Repräsentationen des Donau-Raumes eingeschrieben? Kultur gehörte neben Begriffen wie Fortschritt bzw. Evolution zum »Kernbestand« einer »selbstüberhöhten, sendungsbewussten Ideologie« der europäischen Industriegesellschaften im 19. Jahrhundert. Aus dem Fortschrittsmodell und dem Axiom der Vergleichbarkeit der verschiedenen Kulturen folgte eine für alle Völker gültige strenge Stufenabfolge der Entwicklung. In dieser wurden zumeist die Stufen der Wildheit oder Barbarei und der Zivilisiertheit unterschieden.75 Während europäische Gesellschaften sich selbst ans obere Ende dieser Leiter imaginierten, stellten sie außereuropäische Kulturen auf deren unterste Stufe. In diesem Modell wurden außereuropäische Völker für »Wilde«, »Barbaren« oder auch schlechthin für »Primitive« gehalten. Die europäische Seite entwarf hingegen ihre Geschichte »als Distanz von der Geschichtslosigkeit der >Wilden<«.76 Während das mit dem Begriff »Kultur« verbundene Selbstbewusstsein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht national ausgerichtet war, sondern im Gegenteil zumeist gesamteuropäisch verstanden wurde, wird Kultur vor dem Ersten Weltkrieg zum Inbegriff einer deutschen Mission. Auch Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromane zeigen, dass die Distinktion zwischen »kultiviert/zivilisiert« und »primitiv« im späten 19. Jahrhundert im inner-europäischen Kontext an Bedeutung gewann und in der österreichisch-ungarischen Monarchie zunehmend als Abgrenzungsstrategie gegenüber anderen Ethnien eingesetzt wurde. Die Gegenüberstellung von »Kultur-« und »Naturvölkern« diente als Legitimationsgrundlage für bestehende oder angestrebte Herrschaftspositionen und wurde systematisch für die Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen verwendet. In der Formulierung einer spezifisch deutschen Kulturmission kommt diese Dichotomie zum Tragen. 75 MORGAN, Lewis H.: Preface. In: DERS.: Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization. New York 1878:»[...] savagery preceded barbarism in all the tribes of mankind, as barbarism is known to have preceded civilisation. The history of human race is one in source, one in experience, and one in progress.« 76 KAUFMANN, Stefan/HASLINGER, Peter: Einleitung: Der Edle Wilde-Wendungen eines Topos. In: FLUDERNIK, Monika/K AUFMANN, Stefan/HASLINGER, Peter: Der Alteritätsdiskurs des edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon Verlag 2002 (Identitäten und Alteritäten 10), p. 14; CERTEAU, Michel de: Das Schreiben der Geschichte. A.d. Französischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag 1991 (Historische Studien 4). Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonau< 69 4.3 Die Wacht an der Donau Müller-Guttenbrunns Darstellung der Donau als Inbegriff einer deutschen Mission in Mitteleuropa stand freilich nicht voraussetzungslos da. Mochte auch die Donau als Verbindungselement für die dynastisch-habsburgische Tradition bestimmend sein, für die deutschnationale Lyrik nach 1870 wurde sie zum österreichischen Pendant des Rheins, an dem sämtliche Formen und Figuren einer nationalistischen Rheinlyrik (Niklas Beckers »Rheinlied« 1840, Max Schnecken-burgers »Die Wacht am Rhein« 1840, Georg Herweghs »Rheinweinlied« 1840 u.a.) und damit alle Parolen einer gefährdeten Grenzlandschaft durchdekliniert werden konnten,77 so etwa auch in der von Adam Müller-Guttenbrunn und Gustav Panikowski herausgegebenen Lyrik-Anthologie aus dem Jahre 1888, dem Trost- und Trutz-Büchlein der Deutschen in Österreich. In dieser wie in anderen Lyrik-Anthologien der 1880er Jahre wird eine nationale Semantik der deutschen und der österreichischen Landschaften formuliert. Diese werden durch die rhetorische Figur der Parallelität miteinander verbunden: »Auf, mein Deutsch-Österreich,/Rüste walkürengleich/Helm, Schild und Speer:/Wie an des Rheines Strand/Glorreich die Wache stand, - /So für dein Donauland/Schwinge die Wehr!« - schreibt etwa Felix Dahn (1834-1912) in seinem Gedicht »An Deutsch-Österreich«.78 Jener geografische Umstand, dass die Donau Deutschland und Österreich tatsächlich miteinander verband, spielte in dieser Lyrik eine weitaus bescheidenere Rolle als die Adaptierung der »Wacht am Rhein«-Sym-bolik auf die Donaulandschaft, welche die Idee des nationalen Bedrohtseins auf eindringliche und leicht verständliche Art und Weise vermitteln konnte.79 Die Serialität dieser Lyrik80 findet auch in der rapiden »Fortregionalisierung« nationaler Wachsamkeit etwa in Form einer »Wacht an der Kulpa«81 bzw. einer »Wacht an der Prut« ihren Ausdruck. Die landschaftliche Variabilität dieser pa- 77 Cf. MICHLER 2004. 78 PANIKOWSKI 1888, p. 25. 79 Zu welch festem Bestandteil der deutschnationalen Rhetorik die Parole von der »Wacht an der Donau« in den achtziger Jahren geworden ist, davon zeugt auch ein Brief von Ludwig Anzengru-ber an Ada Christen vom Sommer 1881, in dem er die auf das Preisausschreiben der »Deutschen Zeitung« eingelangten Hymnen und Nationailieder fogendermaßen charakterisiert: »[...] entweder schreibt so ein deutscher Sangesbruder paar kurze Strophen nieder, in welchen er den Deutschösterreichern den Rat gibt, »festzustehen«, alle >wie ein Mann auszuhalten«, »nicht zu wanken<, und erforderlichenfalls auch >mit Mund und Hand(, >Gut und Blut zu opfern<, und denkt, das wäre für hundert Dukaten genug geleistet, oder er hat Einsehen, begreift, dass man für solch eine Summe doch etwas verlangen kann, und dann führt er einem ganze Wälder ideutscher Eichen< ins Haus, macht Angebinde von deutschen Schwertern, Keulen, Bannern, Panieren, Oriflammen, Fahnen, arrangiert die Wacht an der Donau, die Ostmarkwächter und andere Volksbelustigungen, so dass man sich nimmer aus weiß und einem die Wahl Kopfweh macht. Wenn man nun immer solche Zeilen lesen muß, so klingt einem das noch im Ohr, endlich hört man Tag und Nacht die Donauwacht und gerät in einen Zustand, dass man ohne Bedacht auf des Nächsten Wohlbefinden patriotische Zeilen auf jedes unbeschriebene Fleckchen Papier wirft.« BETTELHEIM, Anton (Hg.): Briefe von Ludwig An-zengruber. Bd. 2. Stuttgart; Berlin: J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1902, p. 107 f. 30 Cf. MICHLER 2004. 31 OBERPFÖLL, J. in: PANIKOWSKI 1888, p.123. 70 Edit Kiräly Literarische Grenzinszenierungen am Seispiel der )Donau< 71 triotischen Klischees kommt allerdings dem Konzept einer Nation als Einheit der »Stämme und Landschaften« sehr entgegen. Das Trost- und Trutz-Büchlein war selbst nach diesem Prinzip angelegt und verzeichnete seine Autoren mit Namen und Herkunftsort. Als ein »Standardprodukt [der] Anthologienliteratur der Zeit«82 fungierte es Werner Michler zufolge als eine Art »Kanonisierungsagen-tur«. Neben einer Reihe von älteren renommierteren deutschen (und in diesem Fall auch österreichischen) Autoren zeigte es eine Gruppe jüngerer nicht kanonisierter Autoren auf, zu der auch die beiden Herausgeber gehörten.83 In Müller-Guttenbrunns nach der Jahrhundertwende entstandenen Heimatromanen und Aufsätzen wird dieses imaginär-geografische Schema mit historischen und ökonomischen Realien aufgefüllt. Dabei kommt besonders dem Banat und der Geschichte seiner Kolonisierung im 18. Jahrhundert eine große Bedeutung zu. Zudem wird auch den Fragen der Donau-Regulierung eine relativ große Beachtung geschenkt. Im Gegensatz zu den Klischees der »Wacht an der Donau«-Lyrik, werden hierbei ökonomische Diskurse bemüht, wird der Katalog deutscher Tugenden in eine koloniale Rhetorik überführt und um die universalistische historische Gegenüberstellung von Kultur und Barbarei ergänzt. 5.1 Götzendämmerung: Von Zivilisierten und von Schwarzen. Müller-Guttenbrunns literarische Donaufahrten Teil 1 Schon in der Götzendämmerung, jenem Buch, das die Reihe von Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen eröffnete, wird der Donau eine politische Idee zugeordnet. An sie ist das Konzept eines durch Arbeit zu erwerbenden Neulandes gekoppelt, das als Gegenpol und Alternative zu dem Auswanderungsziel Amerika imaginiert wird. Diese inner-europäische terra nuova sollte durch die Regulierung der Donau bzw. ihrer Nebenflüsse und durch die Trockenlegung ihrer Nebenarme nach den Plänen des Hauptprotagonisten entstehen. Obwohl der Schilderung der einschlägigen Pläne nur geringer Platz eingeräumt wird, zeigt sie gewissermaßen in nuce, welch enge Verbindung Vorstellungen von Landschaft und Herrschaft in den Banater Werken Müller-Guttenbrunns eingehen. In Götzendämmerung wird anhand der Reiseeindrücke des aus dem Ausland heimgekehrten Wasserbauingenieurs Georg Trauttmann die Lage der Deutschen in Ungarn um das Jahr 1905 geschildert. Trauttmanns Reisen führen ihn zuerst in das donauschwäbische Dorf seiner Herkunft (>Rosental< im Roman) und dessen weitere Umgebung sowie nach Budapest und in verschiedene andere Teile Ungarns. Er wird Zeuge der antideutschen und antihabsburgischen Demonstrationen in der Hauptstadt und der aggressiven Magyarisierung im Banat. Neben dem Hauptstrang der Handlung, in der Trauttmanns Erlebnisse in Rosental, 82 MICHLER 2004, p. 93. 83 Ibid. p. 93. seine Arbeit für die Beamtenregierung des Freiherrn Geza von Fejerväry84 und schließlich sein Abschied aus Ungarn geschildert werden, gibt es zwei Nebenhandlungen in der Götzendämmerung, die unmittelbar in diesem politischen Milieu verankert sind. In der Zusammenführung solch heterogener Lebenswelten, der ewiggleichen, ereignislosen Beständigkeit des Dorflebens einerseits mit der Sphäre der Politik andererseits, liegt auch das Darstellungsproblem der Götzendämmerung. Als Gattungsbezeichnung stand in den ersten Ausgaben »Kulturbild«, ein Genre, das »die >ethnografischei mit fiktionalen Passagen und narrativen Sequenzen« verbindet und »für eine ganz besonders authentische Form der Vermittlung fremder Kulturen« erachtet wurde.85 Das Land, auf das das Buch solchermaßen Bezug nahm, war Ungarn, ein Land, das nicht nur für den heimkehrenden Trauttmann fremd war, sondern nach Meinung des Erzählers »durch die schonungslose Verletzung aller natürlichen Volksüberlieferungen, durch die Züchtung einer theoretischen Nation« sich immer weiter »von Europa« entfernte und »direkt zu Hohn und Spott« herausforderte.86 Der Donau kommt in der Götzendämmerung eine wichtige, wenn auch keine zentrale Stelle zu. Georg Trauttmanns Reformvorstellungen beziehen sich auf die Trockenlegung der Donau- und Theißufer, um mehrere hunderttausend Katastraljoch Land zu gewinnen. Mit der genauen Bemessung und Kalkulierung dieser Arbeiten wird Georg Trauttmann von der Fejerväry-Regierung betraut. Er unternimmt eine Donau-Reise bis zur Mündung und vermisst Ufergegenden in Südungarn. Während die Trockenlegung in der ungarischen Hautpstadt als soziales Projekt behandelt wird, macht Trauttmann sie seinen Banater Landsleuten als Lösung ihrer Nationalitätenprobleme schmackhaft. Das Neuland an der Donau sollte eine Art Reprise der deutschen Kolonialisierung des Banats werden. Er berechnete das Werk. Es war viel Geld. Aber an Land, glaubte er, wären viele hunderttausend Katastraljoch zu gewinnen. Urweltboden von ungeahnter Fruchtbarkeit und für Millionen arbeitsamer Bauern. Man konnte sie wieder heimholen, die Ausgewanderten, die Entflohenen, und ihnen einen Anteil geben am Vaterland... Im Geiste aber sah er den einsamen Strom, dessen Ufer heute die Menschen meiden, schon umblüht von einem Kranz von Dörfern und Industriestädten, die friedlich hinter den Riesendämmen eines kunstvollen Hochwasserbettes, das er ihm geschaffen, gediehen, Dämme, die aus dem vertieften Normalbett gehoben wurden. Und auch all die Nebenflüsse der Donau sah er schiffbar gemacht, und mit ihr durch Kanäle verbunden zu einem Netz für den Weltverkehr. Endlich war der alte Danubius der Strom Europas geworden, der auf seiner Dreitausendkilometerbahn den Westen mit Im Roman: Gömöry. KAISER, Max: Strategien im literarischen Feld: Karl Emil Franzos' >Aus Halb-Asien< und deutsches Dichterbuch aus Österreich< im Kontext. Diplomarbeit Wien 2000, p. 39. [MÜLLER-GUTTEBRUNN, Adam]: Götzendämmerung. Ein Kulturbild aus dem heutigen Ungarn. Wien Leipzig: Akademischer Verlag 1908, p. 108. 72 Edit Kiräly Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonsut 73 dem Osten verband, den Rhein und die Nordsee mit dem Schwarzen Meere. Uno sein Vaterland war das Zentrum dieses Verkehres.87 Das Bild des aus »Dörfern und Industriestädten« bestehenden blühenden »Kranzes«, der um den sonst »einsamen«, von den Menschen gemiedenen Strom durch die Regulierung entstehen soll, kehrt die herkömmliche semantische Besetzung von natürlich und künstlich um. Es sind die hinter kunstvollen Dämmen befindlichen, von Menschen bewohnten Dörfer und Industriestädte, die blühen und gedeihen, während die Fruchtbarkeit des Stromlandes in Ermangelung einer Landwirtschaft lediglich als »ungeahnte« Möglichkeit verbucht wird. Die Blüte der Landschaft ist der Schilderung Müller-Guttenbrunns zufolge nicht durch ihre natürliche Fruchtbarkeit, sondern durch ihre Eingliederung in den Weltverkehr bedingt. Georg Trauttmanns Donau-Projekt ist den »makroökonomische[n] Zirkulationsvorsteilungen und ihrer äquilibristischen Logik« verpflichtet und adaptiert das Bild des Blutkreislaufes mit dem Herz als Mittelpunkt auf die Zirkulation von Waren und Gütern.88 Die Metaphorik impliziert auf der landschaftlichen Ebene einen politischen Zentralismus, für den sich das Buch übrigens auch argumentativ einsetzt.89 In der gegenwärtigen Lage des Staates erscheint folglich auch die Donaulandschaft in völlig desolatem Zustand. Die tatsächlichen Regulierungsbemühungen des ungarischen Staates, die an der unteren Donau in Form des Eisernen-Tor-Kanals und durch die Regulierungsarbeiten bei Gönyü unterhalb von Pressburg/Pozsony Früchte trugen, werden dementsprechend im »Kulturbild« völlig unterschlagen. An anderer Stelle werden die Gegensätze, welche die Donau prägen, noch radikaler gezeichnet. In einer Vorstudie zum Roman, die unter dem Titel »Donaufahrt bis Peterwardein« 1918 in der Aufsatzsammlung Deutsche Sorgen in Ungarn ein zweites Mal erschien, wird die Idee eines Todesreiches, das sich bei der nächtlichen Fahrt auf der Donau auftut, weiter ausgeführt: Die Ausfahrt aus dem beleuchteten Budapest ist einzig schön. Wie Perlenschnüre umsäumen hunderttausend Gasflammen die Ufer der Donau, sie klettern nach Ofen hinauf und steigen bis auf den Gipfel des Blocksberges empor. Und auf einmal geht es in das Dunkel hinaus, in das Nichts. Aber siehe, da steigt, wie bestellt, der Vollmond empor über der unabsehbaren Ebene. Gespenstische Inseln gleiten an uns vorüber... Wir bleiben auf Deck bis Mitternacht, das Bild ist immer dasselbe, kein Kirchturm zeigt an, dass auch hier noch Menschen wohnen.30 87 Ibid., pp. 162f. (Hervorhebungen von E.K.) 88 SCHMIDT, Harald: Umlauf der Sprache, Umlauf des Geistes. Nationalromantische Zirkulationsmodelle als integrative Kulturkonzepte. In: BÖHLER, Michael/HORCH, Hans Otto (Hg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen: Max Niemeyer 2002, pp. 45-70, hier p. 55 und 54. 89 Nicht von ungefähr wurde der Götzendämmerung von Franz Ferdinand so viel Anerkennung gezollt. 90 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Donaufahrt bis Peterwardein. In: OERS.: Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse. Wien; Warnsdorf; Leipzig: Ed. Strache 1918, p. 16-27, hier p. 22 (Hervorhebungen von E. K.). Die Donau-Landschaft außerhalb von Budapest wird hier als ein Gegenbild zu der in Georg Trauttmanns Zukunftsträumen blühenden Neuen Welt geschildert. Wie diesem die Gegenüberstellung von Kultur und Unkultur bzw. von Europa und der außereuropäischen Welt unterlegt wird, zeigt folgendes Zitat: Wie ausgeschaltet aus dem Gefüge der Kulturwelt kommt man sich vor, ein wahres Dämmerleben beginnt und man hat das Gefühl, auf einer weiten, weiten Seereise zu sein.91 Die kolonialen Assoziationsräume, die sich hierbei auftun, werden an der undurchdringlichen Dunkelheit der ungarischen Donau-Strecke sinnfällig gemacht. Ihr »freies, ungebändigtes, von keiner Stromkultur belecktes Wasser«92 wird abwechselnd dem Begriff Nichts oder der geografischen Größe Kongo zugeordnet. In der Götzendämmerung ist von der »afrikanische^] Verlassenheit« der Donau die Rede oder davon, dass die »Ströme des zentralen Afrika [.,,] nicht einsamer sein« könnten »als dieser gewaltige Fluss«.93 In der Vorstudie heißt es auch unzweideutig: »Es kann am Kongo nicht anders sein.«94 Die Schwärze der unbeleuchteten Donau-Ufer wird mit der Schwärze jenes Kontinents gleichgesetzt, der im 19. Jahrhundert als Gegenpol zum aufgeklärten Europa gedacht wurde. Der Zustand der ungarischen Donau verlangt geradezu nach Entdeckung und Nutzbarmachung. Die Donau-Regulierung wird zu einer Kuiturmission. Der Mangel an Regulierung erscheint hingegen als ein Problem mangelnder Disziplin: »Hinter Pest aber beginnt die Fahrt in das Nichts. Wie in Urweltzeiten gleitet der Strom in die Ebene hinaus und fließt im Zickzack wohin er mag.«9S Die grundsätzlichen Mängel der ungarischen Donau-Politik werden zudem durch zwei historische Parallelen verdeutlicht: durch das Beispiel des römischen und des Habsburger Reiches: »Den Römern war der Strom so, wie er noch heute ist, recht, weil er ihrem Reich eine uneinnehmbare Grenze gab. Die Ungarn haben es verabsäumt, ihn zu gewinnen [...]«.96 An anderer Stelle werden die großen Schwabenzüge des 18. Jahrhunderts heraufbeschworen und als Gegenbewegungen zur jetzigen Auswanderungswelle interpretiert: »Jetzt führten diese Schiffe noch Auswanderer die Donau hinauf, die über Wien nach Bremen und Hamburg strebten. Künftig einmal wird das anders sein. Da werden sie wieder die Donau herabkommen, so wie einst ...«,97 .I 91 Ibid., p. 26 (Hervorhebungen von E. KJ. 92 Ibid., p. 19. 93 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 161. 94 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1918, p. 25. Oder auch: »[...] es kann am Kongo nicht schöner sein.« Ibid. I P-27. 95 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 161 (Hervorhebung von E. K.). Ibid., p. 221. 97 Ibid., p. 163. 74 _Edit Kiräly_ 5.2 Der große Schwabenzug: Das Banat als Laboratorium der deutschen Einheit. Müller-Quttenbrunns literarische Donaufahrten Teil 2 Der Versuch, den Fluss und die Schifffahrtals narratives Ordnungsmuster zu verwenden, wird von Müller-Guttenbrunn am ausgiebigsten im historischen Roman Der große Schwabenzug aus dem Jahre 1913 unternommen. Dieser verbindet die Rhetorik der Donau-Mission mit den Themen der Banater Heimatliteratur, nur um das Paradoxon des Stromes, der gleichzeitig Grenze und Verbindungsglied ist, in einem historischen Setting auszumalen. Der Roman schildert die Neubesiedelung des Banats unter General Mercy im 18. Jahrhundert (in der Geschichte als »Karolinische Besiedlung« bekannt), als zwischen 1716 und 1740 die ersten Siedler aus Deutschland über Wien kom-merjd im Banat, in der Baranya/Baranja und in der Bacska/Backa/Batschka (im Roman zusammenfassend als »schwäbische Türkei« bezeichnet) ankamen. Das Banat wird hierbei als »Neuland« bezeichnet und im Vergleich zu Amerika als eine bessere, weil noch ganz leere »neue Welt« beschrieben: Jetzt schüttelte der Wirt auch diesem [dem stattlichen Eiman aus Gerhausen] die Hand. Und der hub gleich einen Diskursch mit ihm an. Was der Adlerwirt von Amerika halte, wollte er wissen. Dort säßen schon die Engländer, meinte der Wirt. Und die vergunnen keinem Schwaben einen guten Bissen. Von den Pfälzern seien viele als Bettler wieder heimgekehrt. Er wisse jetzt ein besseres Land. Und daheim könne man von Ulm auf der Donau fahren. »Hungarn?!« rief der Peter. »Das kann nur Hungarn sein.« »Der Bote weiß es schon«, sagte der Wirt lachend. »Der spioniert alles aus.« Und er setzte sich zu den Leuten und erzählte ihnen, was seine Schwester Theres wieder für einen Brief bekommen habe. Der Jakob Pleß - der aus Ulm - habe ihr geschrieben, das ganze Hungarn wäre jetzt gesäubert vom Türken, und es sei Friede. Der Eugenius habe viele Soldaten entlassen und es jedem freigestellt, sich dort drunten anzusiedeln im Banat, rings um die Festung Temeschwar. Nicht einen Kreuzer kostet das. So viel Land einer bebauen könne, so viel bekäme er. Gleich könnte der Jakob, wenn er Landwirtschaft verstünde, fünfzig Joch haben und Haus und Hof. Der Kaiser habe dem Prinzen Eugenius und seinen Feldherrn große, herrenlose Güter geschenkt zur Belohnung. Mancher hat zwanzig bis dreißig Dörfer. Aber die seien menschenleer. Man brauche überall Ackerbauern und Handwerker. Und der Jakob meint, die überzähligen Schwaben sollten halt kommen, wenn sie Kurasche haben.98 Die Parallele zwischen den von den Osmanen zurückeroberten Gebieten und dem amerikanischen Neuland impliziert ein leeres Stück Land, ohne Menschen, ohne Geschichte, das per definitionem auf seine Kolonialisierung wartet. Um dieses durch die historischen Tatsachen keineswegs belegte Bild glaubwürdig zu machen, werden ihre früheren Einwohner teils als Halbwilde, teils als Halbkriminelle dargestellt. Im Gegensatz zu diesen zur Bewirtschaftung des Landes unfähigen »Ureinwohnern« sollten die den Absichten des Generals Mercy gemäß Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonaui 7b angesiedelten neuen Kolonisten daran mitwirken, das Banat nach ideellen Gesichtspunkten fruchtbar zu machen. Entsprechend wird die Auswanderung ins Banat der amerikanischen auch deshalb vorgezogen, weil sie planmäßig verläuft und von der Obrigkeit eingeleitet und reguliert wird. Die geografische Nähe bestätigt lediglich diesen Vorzug, denn die Donau erscheint trotz aller Gefahren vertrauenswürdiger als das von vornherein »tückische« Meer. Die Donau bildet jenes geografische Band, das sehr entfernte Schauplätze des Romans miteinander verbindet. Auf diesem fahren Bauern und Handwerker von Ulm bzw. Regensburg bis nach Peterwardein/Petrovaradin/Pétervárad. In Wien, wo die Kolonisten Station machen, wird die Kolonisation geplant und organisiert. Auswanderer sind in Müller-Guttenbrunns Darstellung durch ökonomische, Sicherheits- bzw. durch religiöse Interessen motiviert, ihr Land zu verlassen. Anhand der Schicksale mehrerer Einwandererfamilien wird ein groß angelegtes Tableau der historischen Ereignisse angestrebt. Mit der Darstellung der beschwerlichen Fahrt und oft abenteuerlichen Ankunft von Wirtsleuten (Therese, die Braut des Konstabiers Pless) und Bauern (Philipp Trautmann), der Tätigkeit des Grafen Mercy sowie seines adoptierten Neffen, Graf Anton, und dessen Braut wird ein geografisch wie sozial komplexes Bild entworfen. Dabei dürfen weder die Vertreter verschiedener Glaubensbekenntnisse noch verschiedene moralische Charaktere fehlen; Verräter, die Nichtdeutsche heiraten, gibt es ebenso wie standhafte Kolonisten. Auch andere Ethnien Südungarns sind im Kulturbild vertreten, doch werden sie entweder als Halbwilde (Rumänen und Serben) oder aber als Hintertreiber des »großen Schwabenzuges« dargestellt (der ungarische Adlige Parkóczy). In geografischer Hinsicht reichen die Schauplätze des Romans von der Ulmer Gegend über Wien bis Peterwardein, Temeschburg sowie Dörfer im Banat und in der Bačka. Allein die Herkunft der Figuren ist weit verzweigt, manche kommen aus Baden oder Württemberg, andere aus der Pfalz, »aus Hessen und Franken, aus Nassau und Westfalen, aus der Rheinpfalz und aus Luxemburg, aus dem Elsaß und aus Lothringen«99. Ähnliche Listen deutscher Länder werden von Müller-Guttenbrunn mit Vorliebe aufgezählt, Vielfalt gern durch »bunte Trachten« repräsentiert und kaum durch individuelle Züge der Auswanderer gezeichnet. Doch so interessant die Schilderung von Vielfalt, so programmatisch die gleichzeitige Betonung von Einheit. Dies impliziert schon der Titel des Romans, der die darin dargestellten individuellen Schicksale unter der Einheit eines historischen Ereignisses subsumiert. Der Zug der Schwaben wird im Roman denn auch als Völkerwanderung auf eine historisch verbürgte Einheitsformel gebracht. Im Roman sind grundsätzlich zwei Ideen zur Einheitsstiftung berufen: die Idee des Landes und die Idee des Volkes. Diese beiden Ideen müssen im Laufe des Romans aufeinander abgestimmt werden. 98 Ibid., p. 14f. MÜLLER-GUTTENBRUNN: Der große Schwabenzug, Sersheim: Hartmann 1992 [1913], p. 84. 76 Edit Kiräly Das Territorium, auf das diese späte Völkerwanderung gerichtet ist, entspricht jenen durch die Türkenkriege verwüsteten und entvölkerten Gebiete im südlichen und südöstlichen damaligen Ungarn, dem Banat, der Bacska und der Ba-ranya. Zum Land wird dieses Territorium erst durch den Schwabenzug, der ihm die Vorstellung des »Gelobtefn] Land[es]« unterlegt. Der Intertext des biblischen Kanaan impliziert nicht nur den Reichtum des Gebietes, sondern vor allem seine geradezu sakrale Zugehörigkeit zum »auserwählten Volk«. Diese Vorstellung ist jedoch lediglich eine von mehreren, mit denen das als »leer« imaginierte »Neuland« des Banats aufgefüllt wird. Für Mercy etwa bedeutet das Banat »sein künftiges Paradies«100 (Kap. 18) im Sinne eines künstlich angelegten Gartens, in den erlesene Pflanzen und Betriebe der Welt verpflanzt werden: Sollten die Tausende da draußen in Frieden ackern, sollten sie säen und ernten und zu steuerkräftigen Bürgern dieser kaiserlichen Provinz erstarken, brauchten sie in diesem wilden Lande den mächtigen Schirm und Schutz eines Herrn. Aber mit dem Ackerbau war das Werk nur halb getan; die Gewerbe mussten belebt, die Industrien des Westens hierher verpflanzt werden, denn die Rohprodukte, die dieses Neuland in Fülle hergab, waren wertlos, wenn sie nicht in höhere Erzeugnisse menschlicher Betätigung verwandelt werden konnten. Zahlreiche Werkstätten und Fabriken erhoben sich im Südosten der Festung, Schlote rauchten, die Weberschifflein flogen, Mühlen klapperten und Hammer und Sägewerke klopften und schleiften, und es bildete sich schon eine eigene Stadt um all diese Betriebe, diese holländischen Ölpressen, diese Tuch- und Hutfabriken, diese Papiermühlen. [...] Die hunderttausende Maulbeerbäume aber, die Mercy aus Sizilien herbeischaffte, und die jetzt alle Landstraßen einsäumten, sie ernährten die Millionen Seidenraupen, die die erste Seidenfabrik des Landes mit ihren goldigen Kokons beschenkten. Und die Todesstrafe hatte er ansetzen müssen für die Beschädigung der Maulbeerbaumkulturen. Die Todesstrafe! Hängen ließ er jeden, der seine idealen Kreise bösartig störte. Er dürstete danach, alles Nützliche und Schöne, das er auf seinen Heerfahrten im Elsaß, in Frankreich, in Italien und Sizilien gesehen, hierher zu verpflanzen, in sein künftiges Paradies; er lockte eine Anzahl von Menschen aus aller Herren Länder in das Banat, und der Name des Kaisers, den er dafür ausspielen konnte, verdoppelte die Zauberkraft, die das Neuland ausübtet...].101 Die Heterogenität der Elemente wird durch die Einheitlichkeit ihrer Anordnung aufgewogen. Mercys Paradies wird durch die perfekte geometrische Form der »idealen Kreise«102 als die Beste aller Welten gekennzeichnet, als eine künstlich angelegte Kolonie, deren erlesene Elemente nach dem Prinzip der Nützlichkeit und Schönheit geordnet sind. Das Maß des Nützlichen und des Schönen ist dabei Mercy selbst. 100 MÜLLER-GUTTENBRUNN [1913], p. 161. 101 Ibid. 102 Ibid. Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der>Donau< 77 Für andere wiederum entsteht die Einheit der neuen Kolonie aus jenen Menschen, die hier »eine neue Heimat erwerben wollten«,103 d.h. zu einem Volk wurden: Das Entstehen des Volkes aus der Vielfalt der deutschen Siedler wird im Roman durch die Netzwerke der Kommunikation sowie durch die einfachsten Formen der Presseöffentlichkeit dargestellt und ist hauptsächlich im Wirtshaus lokalisiert. Die Verbindung zwischen Deutschland und dem durch die Türkenkriege gewonnenen Banater Neuland wird am Anfang des Romans durch einen Brief des Konstabiers Pless hergestellt, der später durch »ähnliche Soldatenbriefe«, dann aber auch durch Blätter zu einer starken und vielfältigen Verbindung ausgebaut wird. Schon »überall hörte man«, wie es am Anfang des zweiten Kapitels heißt, daß ähnliche Soldatenbriefe neuestens nach Schwaben und Württemberg und Baden gekommen waren, von wo schon seit einigen Jahren ab und zu Leute nach Hungarn auswanderten. In den Blättern von Frankfurt, Augsburg und Stuttgart war sogar davon zu lesen.104 Die Einheit des Volkes findet aber auch in der durch das Wörterbuch verkörperten Idee der einheitlichen Sprache ihren Ausdruck: Die deutschen Mundarten, -die sich daheim nie zusammenfanden, hier [in Temeschwar/Timisoarä] führten sie einen lustigen Krieg miteinander, in dieser Fremde, die ihnen alten zur Heimat werden sollte. Die Schwaben und Pfälzer waren in der Mehrheit, das hörte jeder, der Ohren hatte. Der ehemalige Hilfslehrer Leonhard Wörndle aus dem Elsaß, der jetzt richtig Schuldirektor in Temeschwar geworden war, kam fleißig zur Frau Theres bei den »Sieben Kurfürsten«, und er versäumte es nie, auch in die Bauernstube zu gehen. Das Heimweh plagte ihn sehr, und jeder Landsmann aus dem Elsaß war ihm wie ein Bruder. Und er fand ein wahres Vergnügen darin, hier den babyionischen Verständigungskrieg der heimatlichen Dialekte zu belauschen. Und er prophezeite am Herrentisch drüben, daß da eine ganz neue deutsche Mundart entstehen müsse, an der sich die Gelehrten in zweihundert Jahren die Köpfe zerbrechen würden, weil sie daheim nicht zu finden sein wird. Man werde ein Banater Wörterbuch herausgeben als deutsche Rarität, sagte er.105 Der »babylonische Verständigungskrieg der heimatlichen Dialekte«, aus dem eine »ganz neue deutsche Mundart entstehen müsse«, impliziert das Modell einer »durch die wechselseitige orale Durchdringung aller Mundarten« entstehenden Nationalsprache.106 In dieser Urszene der Nationsbildung werden die in Temeschwar/Timisoarä ankommenden Siedler, die aus verschiedenen Gegenden Deutschlands kommen, eben durch ihre Vermischung, durch den Verlust ihrer regionalen Eigenart zu Deutschen, d. h. zu Mitgliedern einer Nation. 103 ibid. m MÜLLER-GUTTENBRUNN [19131, p. 14. 105 Ibid. p.84. ,06 So charakterisiert Harald Schmidt Adam Müllers Sprachkonzept in seinen »Zwölf Reden über die Beredsamkeit«. Cf. SCHMIDT 2002, p. 66. 78 EditKiräly Die Gründung des deutschen Banats wird dadurch zum Modeil der Nationsbildung, dass sie die Zusammengehörigkeit von Volk und Land in den narrativen Zusammenhang einer historischen Initiation setzt. Diese Weihe wird aber nicht allein durch die Arbeit, sondern hauptsächlich durch den Tod erlangt. Der Roman, der mit einer Brautwerbung anfängt und die Fortpflanzung des deutschen Volkstums durch deutsche Bräute propagiert, endet mit dem Bild der Generationenabfolge einer imaginären Armee von Männern, die sich im Tode den Boden weitergeben: Neue Sendboten zogen ins Reich hinaus, neue Patente der jungen Kaiserin, die in schwerer Zeit den Thron bestiegen, wurden von allen Kanzeln verlesen, und der große Schwabenzug nach dem Osten setzte wieder ein. [...] Und die jetzt kamen, traten schon ein deutsches Erbe an. [...] Die Gefallenen haben diesen Boden geweiht für künftige Geschlechter.107 In diesem Vexierbild, das Arbeit als Kampf, die menschliche Generationenabfolge aber als das Vorrücken bzw. Verschwinden einer Armee imaginiert, wird der deutsche Kolonist, der an den Grenzen des Reichs den Boden von der Natur zurückerobert, als Mitglied einer Arbeiterarmee bestimmt. Denn zu >Heimat< wird der Boden erst durch den >Blutzoll< der Arbeiter. - wl 6 Austauschbare Grenzregionen, Vorposten des Deutschtums Wie dieses Modell und das Konzept der Grenze übereinandergeblendet werden können, zeigt eine Tagebucheintragung Müller-Guttenbrunns vom Sommer des Jahres 1894. Er beschreibt darin, wie der Schriftstellerkongress in Hamburg dem vier Jahre zuvor vom deutschen Kaiser entlassenen Reichskanzler a.D. Bismarck seine Aufwartung macht, und kombiniert den Topos von der Vielfalt der »Stämme und Landschaften« mit jenem der Grenze: Was sich nun entwickelte, das war die schönste Improvisation, die sich denken ließ. Wir zogen vor dem Fürsten vorbei, und er reichte jedem die Hand. Aber auch jetzt nannte keiner seinen Namen, sondern das Land, aus dem er stammte, oder die Stadt, aus der er gekommen war. Ein Thüringer! Ein Sachse! Ein Bayer! [...] Es herrschte zuletzt die allgemeinste Rührung, und die Frauen küssten dem Fürsten die Hand. [...] Als ich an die Reihe kam, war ich so bewegt, dass ich kaum den Mund aufbrachte. Das Gefühl, vor diesem einzigen Manne zu stehen, dieser weltgeschichtlichen Gestalt, überwältigte mich fast. »Mein Gruß, Durchlaucht, kommt von den Deutschen in Ungarn.« »Deutschungar?« fragte er überrascht und hielt meine Rechte in beiden Händen. »Schwabe aus dem Banat!« stotterte ich. »Kein verlorener Posten!« sagte er, sonst nichts. [...] Schon hielt er die Hand eines andern in der seinen, und der war aus dem Elsaß. Was er ihm sagte, verstand ich nicht.108 _____Literarisch; Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonam 79 Aus der erhöhten Perspektive dieser gesamtnationalen literarischen »Truppenschau« deutet die Engführung der Namen zweier Grenzregionen wie des Banats und des Eisass auf ihre gegenseitige Austauschbarkeit hin und enthält die Botschaft des Anspruchs auf (fremdes) Territorium. Noch pointierter formuliert diesbezüglich ein Brief von Müller-Guttenbrunn, den er im Jahre 1916 an den Bürgermeister von Tirnisoarä schickte und in dem er sich stolz als der Abkomme von Vorfahren erklärt, die »ihre von den Franzoseneinfällen an der Rheingrenze ständig bedrohten Felder und Weinberge verkauft haben, um sich, dem Rufe des Kaisers folgend, als wohlbestallte Bauern im Banat niederzulassen.«109 Grenzregionen scheinen in der privaten Mythologie Müller-Guttenbrunns ebenso austauschbar zu sein wie in der deutschnationalen Lyrik und in der Heimatliteratur. Die Nationalisierung von Räumen und Menschen verlangte nach Mustern beispielhafter Grenzkonflikte, doch ihre konkreten Gegebenheiten ließen sich in den literarischen Überhöhungen des Themas ohne weiteres unkenntlich machen. Die Donau ist lediglich eine jener imaginären Grenzlandschaften, an der sich kulturelle Oppositionen festmachen ließen. 7 Literatur als ethnische Säuberung? - Verführer und Verräter Die Pathosformeln historischer Grenzlandschaften gehen in Müller-Guttenbrunns Romanen mit anderen Abgrenzungsszenarien einher. Vor allem die alltäglichen Kontakte zu anderen Ethnien scheinen hierbei relevant zu sein. Wird die Assimilation der Deutschen schlicht und einfach unter der moralischen Kategorie des Verrats eingeordnet und als Renegatentum verworfen, erscheinen verschiedene andere Formen der zwischenethnischen Kontakte mit den Vorstellungen von Unreinheit und Unredlichkeit oder der Obszönität besetzt. Während die geografische Formel der Grenze saubere ethnische Trennungen zu ermöglichen scheint, werden in den Alltagskontakten Desiderate deutlich. Der Gegensatz von (ethnischer) Reinheit und Vermischung wird auf unterschiedlichen Ebenen festgehalten und meistens als nicht authentische Rede oder Kleidung markiert. In Meister Jakob und seine Kinder (1918) etwa wird eine Wallfahrt nach Maria Radna erzählt, wobei Susi Weidmann, die Heldin der Geschichte, und ihre Schwester Ammerich sich von den vielen Sprachen, in denen in der Kirche gebetet wird, gestört fühlen: »Der Ammerich wurde ganz schwül in diesem fremden Gelärm. Wie laut die mit ihrem Herrgott redeten! Das empfand sie unbewusst als fremd. Es störte ihre Andacht.«110 Der in dieser Szene vermittelten Inauthentizität von fremden Sprachen wird die Echtheit und Reinheit des Deutschen entgegengehalten. Ähnlich erhält die "» MÜLLER-GUTTENBRUNN [1913], p. 219. ™ MÜLLER-GUTTENBRUNN 1927, p. 196f. 109 Ibid., p. 284. 1,0 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Meister Jakob und seine Kinder. Bukarest: Kriterion Verlag 1978, p.65. 80 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der »Donaui 81 fremde, städtisch-ungarische Kleidung im Dorf subversive Züge, die »ungarische Gala« des aus der Stadt heimgekehrten Handwerkergesellen erntet nur Spott: Als Jakob sich am nächsten Sonntag für die Kirche angekleidet hatte und stolzen Schrittes ins Zimmer der Mutter trat, schrie diese auf vor Schreck. Und die Kathl nebenan, die auch schon fertig war und mit ihm gehen sollte, hub ein Gelächter an, als ob sie bersten wollte. Der Jakob stand in einem braunroten reichverschnürten ungarischen Anzug vor ihnen, in engen Hosen und einem Attila mit langen Schößen, Sporen an den Csismen, den Fokosch in der Hand. Und auf dem Kopf saß ihm ein Kaipak. Wie aus einem der verbotenen Revolutionsbilder herausgeschnitten, so wie man den Kossuth Lajos und seine Freunde abgebildet hatte, so sah er aus. [...] Ob er sich denn um des Himmels willen so auf die Gasse traue, fragte die Mutter. Warum denn nicht? So gingen in Arad alle Gesellen. Man solle nur merken, dass er fort war, erwiderte Jakob.111 Auch die aus der Fremde, mitgebrachte (gottscheeer-deutsche) Ehefrau gibt sich in ihrer städtischen Kleidung im Dorf der Lächerlichkeit preis. Als der aus der Fremde heimkehrende Johann seiner Frau Rosa so gar nicht dorfmäßig den Arm reichte und sie in die Kirche geleitete, da verspielte er seine Partie bei den Weibern des Dorfes vollends. Sie stellte ihren städtischen Modebettel zur Schau, die Krinoline und den Federhut, und sie legte sogar Handschuhe an. Das setzte ein Gerede! Die herrische Frau will ihm die Wirtschaft führen?112 Mischbeziehungen zwischen Deutschen und anderen Nationalitäten hingegen werden in Müller-Guttenbrunns Romanen als ausgesprochen obszön dargestellt. In der Götzendämmerung wird die Tatsache, dass eine junge verwitwete Schwäbin von einem ungarischen Knecht geschwängert wurde, nicht nur deshalb als Famiüenschande angesehen, weil ihre Beziehung nicht geheiligt war, sondern weil sie als Teil der ungarischen Assimilationspolitik angesehen wird. In der vorzugsweise einseitigen Beziehung zwischen Kulturen, die Müller-Guttenbrunn vorschwebt, wird aber lediglich die Assimilation in eine Richtung kritisiert, die Assimilierung an das Deutschtum hingegen als löbliche Tat anerkannt. Georg Trauttmann, der den »Fall« seiner verwitweten Schwägerin als schmachvoll empfindet, findet sich sehr wohl damit ab, dass der ungarische Knecht bald »in halb schwäbischer Tracht, und schon leidlich deutsch redend« in einem Hochzeitszug hinter seiner deutschen Frau hergeht.113 Obszönität haftet daher lediglich dem Verrat am Deutschtum an, dies aber auch dann, wenn es sich keineswegs um obszöne Begebenheiten handelt. Schon in der Götzendämmerung werden Schwaben, die mit Namen und Ansinnen zu Ungarn werden, mit den obszönsten Bezeichnungen besetzt. Als Georg Trauttmann in der Dorfversammlung seine Wahlrede hält, macht er einen "1 Ibid. p. 262. Ibid.282. "3 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 332. Ausfall gegen diese, die er pauschal als »Düngerhaufen« bezeichnet: »[...] unsere Intelligenz aber ist zum Dünger der magyarischen Kultur geworden.«114 Die dem Bild des »Düngerhaufens« unterlegte Vorstellung, derzufolge die ungarische Kultur ohne die Stärkung deutscher-lntellektueller verkümmern würde, ist der politischen Rhetorik der Zeit entnommen. Ursprünglich hätte der Roman Glocken der Heimat überhaupt dem Renegatenproblem gewidmet sein und den Titel »Verlorene Söhne« tragen sollen. Von dieser Thematik ist Müller-Guttenbrunn durch seine Erlebnisse im Sommer 1907 auf seiner Donaufahrt durch den überschwemmten Rudolfsgnad an der Donau und an der Theiß abgekommen, und es ist bei einem »wohlfeile[n] Ausfall gegen Franz Herzog«115 geblieben. Im Roman als Autor des erfolgreichen Theaterstückes Zápoiya brigadéros"6 vorgestellt, wird der gleich noch ausführlich zu behandelnde Herczeg von einem Schauspieler als »Schwabe« und »Neumadjare« beschimpft.117 Damit ist in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen ein Phänomen angesprochen, das um die Jahrhundertwende ein bevorzugtes Kampfthema in der nationalen Erweckungsbewegung der ungarländischen Deutschen war, nämlich die Assimilation des deutschen Bürgertums und jene Rolle, die es in der Herausbildung der ungarischen Honoratiorenklasse spielte. An der Figur des Renegaten hatten sich die ins Ungarntum assimilierten Deutschen abzuarbeiten; im ungarischen Kontext wurde sie immer wieder positiv umgewertet. Indem der Vorwurf des Renegatentums auf Heroen der ungarischen Geschichte adaptiert wird, deren Vorfahren keine Ungarn waren, verliert er seine spezifische moralische Bedeutung und wird zu einer ironischen figura nationaler Zusammengehörigkeit. Ferenc Herczeg (1863-1954) entwirft etwa in seinen Lebenserinnerungen als Antwort auf die Beschuldigung des Renegatentums eine äußerst prominente Ahnenreihe von Autoren. Nacionalista német lapok neha renegátnak neveztek. Hidegen hagyott. Az én csalá-dom kétszáz esztendövel ezelött jött ki Németországból, egy német fejedelem elöl menekült, olyan idöben, mikor az öshazaban a nemzeti kérdés még ismeretlen fo-galom volt. Ezt az érzést itt ismerték meg Magyarországon, alattvalókból itt lettek polgárokká. Nekem különben az a meggyözödesem, hogy a kapás ember lehet sväb vagy tót, kultúrember azonban Magyarországon csak magyar lehet. Ha ezért renegát vagyok: annyi baj legyen, Zrínyi Mikíós és Petöfi Sándor társaságában vagyok. Nationalistische Deutsche Blätter haben mich gelegentlich einen Renegaten genannt. Das ließ mich kalt. Meine Familie ist vor zweihundert Jahren aus Deutschland gekommen, floh vor einem deutschen Fürsten, zu einer Zeit, als die nationale Frage in der Urheimat noch unbekannt war. Dieses Gefühl haben sie erst in Ungarn kennen gelernt, hier sind sie von Untertanen zu Bürgern geworden. Ich meinerseits 1.4 Ibid., p. 302. 1.5 KESSLER 1997, p.459. Im Roman heißt Herczeg Franz Häberle. 1.6 In Wirklichkeit: Oeskay brigaderos. 1.7 MÜLLER-GUTTENBRUNN: Glocken der Heimat. Leipzig: Staackmann 1912, p. 168f. 82 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donau< 83 bin der Auffassung, dass ein Ackermann sehr wohl Schwabe oder Siovake, aber ein Kulturmensch in Ungarn nur ein Ungar sein kann. Wenn ich deswegen ein Renegat bin, umso besser, ich bin in der Gesellschaft von Miklós Zrinyi und Sándor Petöfi.118 Der deutschstämmige ungarische Autor der Zwischenkriegszeit Károly Molter (siehe Schluss dieses Aufsatzes) verlängert die von Herczeg heraufbeschworene Ahnenreihe noch um einiges - freilich ohne Herczegs ausgesprochene ethnische Vorurteile. Als ihn bei seiner »Möller-Guttenbrunn«-Lektüre [sie!] der Vorwurf der »Paprika-Ungarn«, »Magyaronen« und »Renegaten« begegnet, führt er den Namen anderer prominenter ungarischer Autoren wie Herczeg selbst, Tömör-kény und Gárdonyi an. Die Hinzufügung von solch internationalen Größen wie Nikolaus Lenau und Franz Liszt und deren ungarisches Bewusstsein lässt den Parnass nicht-ungarischstämmiger Ungarn besonders imposant erscheinen. Während die ironisch verwendete Figur des Renegaten bei manchen in das Ungarntum assimilierten Ungarn zur beliebten rhetorischen Form wurde, um ethnische Grenzen in einer Richtung zu verwischen, wurden ethnische Grenzen in andere Richtungen durchaus bestätigt. Sofern sie, wie Ferencz Herceg, ba-naterdeutscher Herkunft waren, spielte auch für sie die Donau die Rolle einer modellhaften Grenzlandschaft. Bei anderen, wie etwa dem aus der Batschka gebürtigen Károly Molter, wurde die Donau zum Ort allegorischer Grenzauflösung, indem sie einem geläufigen Topos der Zwischenkriegszeit entsprechend zum geografischen Bindeglied zwischen Minderheitenvölkern stilisiert wurde. 8 Ein Konservativer und Renegat par excellence: Ferenc Herczeg Ferenc Herczeg wird in der ungarischen Literaturgeschichte als Repräsentant einer Klasse und als Vertreter einer ungarischen Schriftkultur angesehen, die vor dem Ersten Weltkrieg noch wichtige liberale Werte hochgehalten hatte, diese aber im Ersten Weltkrieg und in der Zeit danach weitgehend verlor.119 Die divergierenden Bewertungen, die Herczeg zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Seiten gegeben wurden, lassen sich gerade aus dieser repräsentativen Rolle heraus erklären. Die Geister scheiden sich dabei sowohl i j "3 Übersetzt von E.K. HERCZEG 1985, p. 226. ! 19 Deswegen schreibt Béla G. Németh in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Ferenc Herczegs historischen Romanen im Jahre 1983, dass »Ferenc Herczeg [,..] die Nachwelt sowohl literarisch als auch gesellschaftsethisch wesentlich vorteilhafter beurteilen [würde], wenn seine schriftstellerische und öffentliche Tätigkeit irgendwann am Anfang der zehner und noch mehr am Anfang der zwanziger Jahre abgebrochen wäre.« (Übersetzt von E.K.) »Herczeg Ferencet péidául aiighanem kedvezöbb ítéletben részesítené az utókor irodalomkritikai s társadalometikai bírálata egyaránt, ha írói s közeie- -1 ti tevékenysége valahol a tizes, föleg pedig a húszas évek elején megakadt volna.« Cf. NÉMETH, G. Béla: A lektür magyar mestere. Herczeg Ferenczröi [Der ungarische Meister der Lektüre. Über Ferenc Herczeg]. In: HERCZEG, Ferenc:Törteneimi regények [Historische Romane]. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadö 1983, pp. 5-22, hier p. 5. :f an seiner konservativen politischen Tätigkeit als auch an seinem konservativen Literaturverständnis. Wie in den 1950er Jahren der Literaturhistoriker Jánoš Barta und in den 1980er Jahren Béla Németh G. festhielten, war Herczeg die repräsentative Rolle des konservativen, »nationalen« Autors erst nach dem Ersten Weltkrieg zuteil geworden, als er zur Galionsfigur des christlich-nationalen Kurses, der im Ungarn der Zwischenkriegszeit dominanten politischen Ideologie, geworden war. Dabei ist es kaum geklärt, wie Barta formuliert, »inwieweit dies von Herczeg eine aktive Teilnahme erforderte, inwieweit er die groß angelegte Verwendung seines Namens lediglich tolerierte«.120 Die öffentliche Rolle, die Herczeg in der Zwischenkriegszeit spielte, lag Bartas Meinung nach in seiner politischen Tätigkeit begründet, in seiner Freundschaft zu dem konservativen Politiker Ist-ván Tisza sowie in seiner aktiven Mitarbeit in der »Ungarischen Revisionsliga« (Magyar Reviziös Liga). Wie Barta formuliert:»[...] man sah in ihm weniger den Schriftsteller als den tadellosen Gentleman.«121 Für die Überdimensioniertheit dieser öffentlichen Rolle habe dann, so Barta, auch der ansonsten keineswegs unbegabte Schriftsteller »einen Preis zu entrichten gehabt«.122 Gemäß der Rolle eines repräsentativen Autor hat er Sinn und Form eines neuen Akademismus gepflegt und große historische Dramen und Romane verfasst, die dem aktuellen Kult von Széchenyi (im Drama A hid, Die Brücke), dem Rákóczi- (im Roman Pro libertate) bzw. dem Petöfi-Jubiläum [A költö és a halál, Der Dichter und der Tod) dienten und in Bartas Urteil nicht seinem eigentlichen Talent gerecht wurden. Dieses bestand eher im satirischen Ton und kam in seinen Werken aus der Jahrhundertwende {Andor és András, Andor und Andreas) und in der »liederlichen« Darstellung des Gentry-Lebens in seinen Werken aus den 1890er Jahren (A dolovat nábob lánya, Die Tochter des Nabobs von Dolová, Gyurkovics-lányok, Die Gyurkovics-Töchter) besser zum Vorschein. Als die ungarische Akademie im Jahre 1925 das erste Mal die Möglichkeit bekam, einen ungarischen Nobelpreiskandidaten für Literatur zu stellen und die Wahl der einberufenen Literaturwissenschaftler123 auf Herczeg fiel, der selbst zweiter Präsident der Akademie war,124 wurde wiederum ein historischer Roman, Az élet kapuja (Das Tor des Lebens), zum Höhepunkt des Lebenswerks gekürt. Der historische Roman Pogdnyok (Heiden) hingegen wurde zur Schuipflichtlektüre. An diesem Punkt gehen die Meinungen der Literaturhistoriker der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit am entschiedensten auseinander. Während i2° »[...] hogy ez mennyiben jelentett aktiv szerepet Herczeg részére, s mennyiben türte esetleg csak passziv módon nevének nagyarányú felhasznäläsät.« (Übersetzt von E. K.). BARTA, Jánoš: Herczeg Ferenc - mai szemmei. Aiföld 1 (1955), p. 62. !2' »[...] nem annyira az irót nézték benne, hanem a kifogástalan uriembert.« (Übersetzt von E.K.J. BARTA 1955, p. 62. 123 »[...] azärat neki is meg kellett fizetnie [...]« (Übersetzt von E.K.). Ibid. 123 Négyesy László, Császár Elemér, Horváth Jánoš, Papp Ferenc ésToína Vil mos. Cf. BARTA 1955, p. 59. 124 Der deutsche Verlag, dem das Buch Az élet kapuja zur Übersetzung vorgelegt wurde, wies es als literarisch wertlos zurück. Cf. BARTA 1 955 p. 59. 84 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispie! der ;Donaut 35 Jánoš Horváth Herczeg 1915 gerade als jenen Erzähler lobt, der das literarische Publikum durch seine »reinere, edlere und poetischere Richtung« vor den »Extremen des naturalistischen Romans« und der dekadenten Linie bewahren konnte,125 meint Barta 1955, dass »im Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen [...] Herczeg der bedeutendste Unterstützer des morschen Alten«126 war. Schon in der Begründung von Herczegs Nobelpreiskandidatur spielt das Argument des klassischen Erbes, insbesondere im Zusammenhang mit den Namen Jókai und Mikszáth als zwei unanfechtbaren Größen der nationalen Epik des 19. Jahrhunderts, eine Rolle.127 Vor allem in der Schilderung des Lebens der ungarischen Gentry, also des Kleinadels, war er deutlich ein >Erbet der beiden. Ein Erbe war Herczeg jedoch auch in einem literatursoziologisch besser fassbaren Sinne des Wortes, indem er beide Meister der zweiten Jahrhunderthälfte in manchen ihrer öffentlichen Positionen128 und zum Teil auch in der literarischen Stellung tatsächlich beerbt hat. Denn zum Rollenrepertoire jenes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beheimateten Typus des ungarischen Schriftstellers, als dessen Nachfolger und letzter bedeutender Vertreter Herczeg vielfach angesehen wurde, gehörte es fast ebenso selbstverständlich, Abgeordneter im ungarischen Parlament in den Reihen der Regierungspartei zu sein, eine groß angelegte politisch-publizistische Tätigkeit zu verfolgen und eine repräsentative Funktion an der Spitze von nationalen Schriftsteller-Vereinen wie der Kisfaludy Társaság (Kisfaludy-Gesellschaft) oder der Petöfi Társaság wahrzunehmen. Im Allgemeinen könnte man sagen, dass das literaturhistorische Interesse an Herczeg sich seit seinem Tode wesentlich verschoben hat. Aufeinanderfolgende Generationen von Literaturhistorikern haben immer mehr sein Leben und immer weniger sein Werk als der Analyse würdig erachtet. Schon in Bartas Studie gerät die Diskrepanz von Schriftstellerrolle und Talent in den Mittelpunkt der Betrachtung, und der bislang letzte ernsthafte literaturwissenschaftliche Versuch, das Phänomen Herczeg zu fassen, nämlich Némeths Herczeg-Studien, stellte gerade die literatursoziologischen und kulturhistorischen Aspekte seiner Karriere in 125 »Herczegneka magyar irodalomtörtenetben az leszegyik legnagyobb jelentösege, hogy oly idöben, mikor a naturalista regényszélsoségei számára nálunk is megnyílt az út s megvolt a hajlam; másfelol pedig pedig oly ábrázoló tehetséggel, mely élethíiségben párját ritkítja: azó kiváló elbeszélo múvé-szetével egy tisztább, nemesebb és költöibb Irány huségében tudta megtartani s megóvni a magyar olvasókozonséget. E közönsege lelkében, klasszikus irodalmunk nagy hagyományához társultan, jelentékenyen növelte Herczeg hatása azt az ellenállóképességet, melyet e közönseg az irodalmi dekadenciával szemben tanusít. Irónk egyébként éles tolal, az erkölcsi józanság frappáns ítéletével nem egyszer lépettfel nyíltan is a dekadens Írány eilen.« (Ubersetzt von E.K.Í. HORVÁTH, Jánoš: Herczeg Ferenc. In: Irodalomtorténeti Kóziemények 3-4 (1925), pp. 153-170, p. 161. 126 »[...] az új és régi harcában ö lett a roskadozó réginek legjelentösebb támogatója [...]« (Übersetzt von E.K,), BARTA, Jánoš: Herczeg Ferenc - mai szemmel. [Ferenc Herczeg - aus heutiger Sicht], Alfeld 4 (1955), pp. 59-69, hier p. 60. 127 HORVÁTH 1925, p. 154. 128 Herczeg war ab 1891 Mitglied der Petöfi-Gesellschaft und übernahm seine Leitung von Jókai nach dessen Tod, Mikszáth delegierte ihn vor seinem Tod in die Ungarische Direktion der Adria Versicherungs-Gesellschaft mit den Worten: »>Macht aus meinem Posten ein literarisches Stallum - wählt Herczeg!«< [>»Csináljatoka helyemböl irodalmi stallumot - utánam válasszátok meg HerczegeU«] Cf. HERCZEG 1985, p. 455. den Vordergrund. In der Einleitung zur Werkneuausgabe 1983 bezeichne! der Literaturhistoriker Géza B. Németh den Autor als ein prominentes Beispiel für die Mobilitätsgewinne jener Teile des ungarndeutschen Bürgertums, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders assimilationsfreudig zeigten. Denn, so Németh, neben seinem unzweifelbaren Seibstwert stelle Herczegs Lebenswerk »aus der Perspektive einer wichtigen Schicht und einer wichtigen Epoche [...] ein besonders gut verwendbares Material« dar.129 Vor dem Hintergrund dieser kulturhistorischen und literatursoziologischen Herangehensweise hebt Németh »die fast vollständige Angleichung an die Bildungsgewohnheiten und öffentlichen Tendenzen der als Idealbild angesehenen Gesellschaftsschicht« als Herczegs bezeichnendstes menschliches und schriftstellerisches Charaktermerkmal hervor.130 Die Schicht, an welche die Angleichung erfolgt, ist die ungarische Gentry. Jene aber, für deren Verständnis laut Németh Herczegs Lebenswerk besonders gut verwertbar sei, bestehe aus den in die Verwaltungs- und Kulturzentren strömenden reichen Bauern und städtischen Bürgern der Bacska und des Ba-nats.131 In der Interpretation von Herczegs Assimilationsgeschichte stützt sich Németh weitgehend auf die 1940 zum ersten Mal veröffentlichte Monografie von Béla Pukánszky, Németpolgárság magyar földön (Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden), die bis zum heutigen Tag umfassendste Darstellung der Assimilationsbestrebungen des deutschen Bürgertums in Ungarn. Diese Bestrebungen liegen Pukánszky zufolge in dem Zusammenhang zwischen Assimilation und gesellschaftlichem Erfolg begründet: Die Assimilationsbereitschaft des Bürgertums im modernen ungarischen liberalen Nationalstaat hat, stärker denn je, fast ausschließlich der Wunsch nach gesellschaftlichem Vorwärtskommen genährt und angetrieben.132 Schon 1848 habe dieses Bürgertum seine schlummernden politischen Ambitionen in der Assimilation befriedigt, doch nach dem Ausgleich habe diese Alternative noch an gesellschaftlicher Anziehungskraft dazugewonnen. Laut Pukánszky werde der Zusammenhang von >Herr und Ungan zu einer ebenso selbstverständlichen Gleichung wie in den vierziger Jahren die Verbindung Freiheit und Ungan. Ein iSchwabet zu sein bedeutete hingegen in der gesellschaftlich wenig geachteten Unterschicht zu bleiben.133 Die von Pukánszky herausgearbeiteten Gründe für die Assimilation der Deutschen in Ungarn sind freilich auch deswegen so leicht auf den Fall von Fe- 129 NÉMETH 1983, p. 21 130 »Ez a párhuzamosság a kor és az életmu minoségének együttes változása között Herczeg legjeí-lemzöbb emberi-írói karakterjegyét mutatja föl: a majdnem teljes alkaimazkodást az ideálképnek tekintett társadalmi réteg muvelodési-kozéleti mozgasahoz.« (Übersetzt von E.K.). NÉMETH, G. Béla: A lektůr magyar mestere. Herczeg Ferencrö! [Der ungarische Meister der Lektüre. Über Ferenc Herc-zegj. In: HERCZEG 1983, pp. 5-22, hier p. 5. 131 NÉMETH 1983, p. 6. 132 »A modern magyar überaus nemzetállam polgársagának beolvadási készségét eröösebben mint valaha, csaknem egyedül a társadalmiemelkedés vágya táplálja és hajtja«. PUKÁNSZKY 2000, p. 77. 133 Cf. Ibid. p. 79. Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Seispie! 87 renc Herczeg adaptierbar, weil er sein Material größtenteils aus den Biografien ähnlich prominenter Beispiele wie ihm selbst geschöpft hatte,134 8.1 Herczegs Assimilationsgeschichte Warum erzürn Ungarn wurde, schilderte Herczeg in seinen Lebenserinnerungen als einen selbstverständlichen, logischen und von langer Hand vorbereiteten Vorgang. Der Sohn des wohlhabenden und geachteten Werschetzer (Vršacer) Apothekers wurde von seinem Vater nach Szeged ins Gymnasium geschickt, um gut Ungarisch zu lernen. Seine Familie war der ungarischen Kultur seit 1848 zugetan, einem Jahr, das er öfters als prägendes, Deutsche und Ungarn zusammenschweißendes Erlebnis beschrieben hat.135 Auf die Zeit in Szeged folgten die Jahre am ungarischsprachigen Gymnasium in Weißkirchen/Fehertemplom/Beia Crkva) unweit seiner Vaterstadt im Banat. Für die Abiturienten dieses Gymnasiums war neben Berlin, Wien und München Budapest einer der möglichen Studienorte.136 Die Entscheidung des Sohns für Budapest erscheint lediglich als die Fortsetzung der Pläne und Erziehungsprinzipien der Familie. Die Entscheidung, (ungarischer) Schriftsteller zu werden, scheint hierbei der wesentlich gewagtere Schritt gewesen zu sein, den er durch die Wahl eines gesicherten Berufes, den des Politikers, hatte wettmachen müssen. Dass Herczeg sich nicht lediglich einer Nation, sondern auch einer Klasse angepasst hat, wird in fast allen neueren Analysen hervorgehoben.137 Er gehörte in Budapest in kürzester Zeit der ungarischen politischen Klasse an, verkehrte mit Politikern, Schauspielern, Theaterdirektoren und Chefredakteuren. Der Habitus der ungarischen Gentry war ihm noch von Weißkirchen her bekannt, wo er mit deren Mitgliedern verkehrt hatte. In seiner Anpassung an diese Klasse spielten offenbar Männlichkeitsrituale wie Duelle eine entscheidende Rolle. Im ungarischen Duellbuch kommt Herczeg sowohl als Duellant als auch als Sekundant 134 Fritz Valjavec modifiziert das Bild kritisch in folgende Richtung: »Seitens der ungarischen Forschung wurde immer die Ansicht vertreten, dass das deutsche Bürgertum der Städte sich freiwillig aus eigenem Antrieb dem Madjarentum angeschlossen hätte, dass das Deutschtum der städtischen Siedlungen durch den Schwung des ungarischen Nationalismus mitgerissen, zuerst politisch, gefühlsmäßig, dann auch sprachlich dem Madjarentum angeglichen worden sei. Diese stark verallgemeinernde Auffassung lässt sich ebenso wenig wie die Meinung halten, dass das deutsche Bürgertum etwa einer zwangsweisen Entvolklichung zum Opfer gefallen sei. Gegen die erste Auffassung spricht die Tatsache, dass wir nahezu in jeder Stadt Vorkriegsungarns im Laufe des 19. Jh.s völkischen Abwehr-wilien wahrnehmen können. Die zweite Anschauung wiederum wird dadurch widerlegt, dass etwa bis 1867 von der Anwendung nennenswerter Druckmittel auf das deutsche Element der Städte nicht gesprochen werden kann, während andererseits der Vorgang der Umvolkung bis zu diesem Zeitpunkt bereits im wesentlichen abgeschlossen und der weitere Verlauf vorgezeichnet war.« VALJAVEC, Fritz: Das deutsche Bürgertum und die Anfänge der deutschen Bewegung in Ungarn, in: Südostdeutsche Forschungen 3 (1968), p. 215. 133 Cf. HERCZEG 1985, p. 53; Herczeg, Ferenc: A hét sváb [Die sieben Schwaben]. In: DERS.l 983. 136 Cf. HERCZEG 1985, pp. 149-152. 137 Cf. NÉMETH, G. Béia: Az »üri közeposztaly« torténetének egy dokumentuma: Herczeg Ferenc Em-lékezései. in: HERCZEG 1985, pp. 7-32. öfters vor. In der Tat fand er die Muße zum Schreiben seines ersten Buches während einer viermonatigen Gefängnishaft, die er 1889 für den Tod eines Duellgegners138 absitzen musste. 8.2 Die deutsche Nationalitätenfrage Als einen Kontext der Assimilation hat Herczeg öfters jene ethnische Hierarchie angeführt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Banat geltend war. So schreibt er im 1933 veröffentlichten ersten Band seiner Lebenserinnerun-ge/i139: Im Südland hielt sich damals die Auffassung, dass man nur bis fünfhundert Joch Serbe oder Schwabe sein kann, darüber hinaus müsse man aber unbedingt Ungar sein, wenn man ein seinem Vermögen entsprechendes Leben führen wolle.140 Die Regel gilt aber Herczegs Meinung nach auch für alle gebildeten Menschen, denn ein Bauer mag Serbe oder Schwabe bleiben, »ein Kulturmensch [jedoch] kann in Ungarn nur Ungar sein«.141 Jánoš Barta macht in seiner Herczeg-Studie zu Recht darauf aufmerksam, dass der Begriff »Kultur« bzw. »Kulturmensch« an dieser Stelle keineswegs irgendwelche tieferen Kenntnisse der ungarischen Kultur impliziert, sondern lediglich als Distinktionsmarke der ungarischen Gentry gegenüber anderen Schichten fungiert.142 Die politischen und theoretischen Grundlagen dieser mehrfach verlautbarten Meinung wurden in einem politischen »Aufsatz« ausgearbeitet, den Herczeg 1902 in der Budapešti Hirlap unter dem Titel »A német nemzetiségi kerdes« (Die deutsche Nationalitätenfrage) in vier Teilen veröffentlichte. Das Blatt, eines der wichtigsten politischen Presseorgane der Jahrhundertwende, vertrat eine aggressiv-nationalistische Linie, sein Chefredakteur Jenö Rákosí wurde als deutschstämmiger ungarischer Patriot zu einem der vehementesten Bekämpfer der pangermanischen Gefahr. Bei seinem Blatt legte man großen Wert auf den richtigen und bodenständigen Gebrauch des Ungarischen, und er selbst ging mit seinem Purismus so weit, dass er etwa Shakespeare phonetisch als Sekszpir oder Bordeaux als Bordó schrieb, einer für nichtungarische Personennamen im Ungarischen nicht gängigen Praxis.143 138 Das Duell wurde am 31.7.1886 mit einem Honved-Offizier gefochten. Cf. CLAIR, Vilmos: Magyar Pär-bajok. Attila hun kiräly idejetöl az 1923. ev vegeig. Budapest: Singer es Wolfner 1930. Neue Ausgabe: Magyar pärbaj [Das ungarische Dueil], Budapest: Osiris 2002, pp. 299ff. 139 Im Original: A värhegy (Der Burgberg]. 140 »Akkoriban azt tartottäk a Delvideken, hogy az ember csak ötszäz holdig lehet räc vagy sväb, azon felül magyarnak kell lennie, ha a vagyonähoz meitö eletet akar elni.« HERCZEG 1985, p. 226. 141 »[...] a kapäs ember lehet sväb vagy tot, kultürember azonban Magyarorszägon csak magyar lehet.« Herczeg 1985, p. 226. 142 BARTA 1955, p. 61. 143 HERCZEG 1985, p. 236. Andere europäische Orthographien, insbesonders das am Kyrillischen orientierte lateinschriftliche Serbisch, schreiben ganz selbstverständlich Sekspir und Bordo, analog zu 88 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Betspie! der >Donaun 89 Herczeg war von 1890 bis 1894 interner Mitarbeiter von Rákosis Budapešti Hirlap, und obwohl er sich in seinen Lebenserinnerungen von Rákosis chauvinistischer Linie abgrenzt und seine Position in dessen Zeitung als die eines »die eigenen Prinzipien verleugnenden Mameluken in einer Kuruzzenfestung« beschreibt, schildert er Rákosi mit großer Bewunderung als faszinierende Persönlichkeit.144 In dem 1902 veröffentlichten Artikel über »Die deutsche Nationalitätenfrage« gibt Herczeg eine umsichtige Analyse der Lage und empfiehlt der Regierung entsprechende politische Maßnahmen. Er argumentiert wie ein genauer Kenner der Schwaben, als Sachkundiger und nicht als Betroffener. Der Aufsatz geht zunächst von der Notwendigkeit der Assimilation aus: Az egyén csakis a nemzet kozvetítéséve! vehet részt az emberiség munkájában [...]. A fajától messzire elszakadt svábság magában soha nem lehet nemzet. Legföljebb csak ugynevezett nemzetisěg. A jövöjet illetöleg két lehetóség képzelhetó el. Vagy eggyé lesz a magyarsággal és akkor beleviheti specialis faji tulajdonságait a nemzet állami és kultúrális életébe, értékesítheti nagy munkaerejét a maga és az emberiség javára, szóval nemzeti életet élhet. Vagy elzarkózik a nemzettöl, átalakul a nagy-németség platonikus gyarmatává és akkor az ellenséges földön magára hagyottan tengčídó kolónia meddö és szomorú életét éli. Das Individuum kann nur durch die Vermittlung der Nation an der Arbeit der Menschheit teilnehmen [...]. Das Schwabentum, das von seiner Art weit getrennt lebt, kann in sich selbst nie eine Nation werden. Nur eine so genannte Nationalität. Für die Zukunft kann man sich zwei Möglichkeiten vorstellen. Entweder wird es eins mit dem Ungarntum und dann kann es die spezifischen Eigenschaften seiner Art in das staatliche und kulturelle Leben der Nation reinbringen. Oder es verschließt sich vor der Nation, verwandelt sich in eine platonische Kolonie des Großdeutschtums und es wird das unfruchtbare und traurige Dasein der in Feindesland sich selbst überlassenen Kolonie fristen.145 Eine andere Alternative gibt es in Herczegs Augen nicht. Entsprechend ist die Bereitschaft zur Assimilation lediglich das Anerkennen einer »welthistorischen Notwendigkeit«.146 Es ist gerade die Notwendigkeit einer überregionalen Zusammengehörigkeit, die Teilnahme an wirklicher Geschichte, die für die Schwaben den Handlungsraum der ungarischen Nation eröffnet. Gerade hierfür steht >1848< als Beispiel.147 UJeKcnwp und Bopflo. Die Praxis hat sich in verschiedenen Orthographien aber auch gewandelt. So schrieb J.W. Goethe in seiner berühmten Rede von 1771 »Schäkespeare« und »Schäckespeare«. Cf. GOETHE, Johann Wolfgang von: Schriften zur Literatur. In: Goethes Werke Bd. 12. Hamburg: Christian Wegner 1960, pp. 272-364, Anmerkungen p. 670. 144 Ibid., pp. 235-241. «s Übersetzt von E.K. HERCZEG, Ferenc: A nemet nemzetisegi kerdes (negy üjsägcikk) [Die deutsche Nationalitätenfrage. Vier Zeitungsartikel]. Budapest: Singer es Wolfner, 1902, p. 6. 146 »A sväbok hajlandösäga a magyarosodäsra egy vilägtörtenelmi igazsäg ösztönszerü megismerese-böl fakad.« (Übersetzt von E. K.) HERCZEG 1902, p. 6. 147 HERCZEG 1902, p. 6. Dementsprechend kann es Herczeg zufolge auch keine Zwangsungarisierung geben, sondern nur eine freiwillige.148 Die Unzufriedenheit, die es bei einem Teil der Banater Bevölkerung gibt, entstamme nicht den wirklichen Nöten der Ba-nater Deutschen, sondern sei das Ergebnis pangermanischer Propaganda. In diesem Sinne wird das Verhältnis von deutscher Nation und deutscher Nationalität durch ein hypertrophes Bild beschworen: »Wenn der Ozean schwillt, rauscht auch die Seeschnecke auf dem Kamin.«149 Die im Bild enthaltene Vergrößerung und Verkleinerung sind gängige rhetorische Griffe im journalistischen Kampf gegen die »pangermanische Gefahr«. Während die Bedeutung der banaterdeut-schen Beschwerden heruntergespielt wird (»am Kamin«), bekommt die gesamt-: deutsche Gefahr eine bedrohliche Dimension (»Ozean«). Es ist bemerkenswert, dass sich Herczeg in seinem Aufsatz ebenso auf den banaterdeutschen Bauern beruft wie Müller-Guttenbrunn. Nur sind es bei ihm, dem gefeierten ungarischen Schriftsteller, Klima und Geografie und nicht Geschichte, die diesen bestimmen und zur Grundfigur einer ebenfalls konservativen Argumentation machen. A beláthatatlan nagy sikságon eiszórt falvakban és civis-városokban élve, a legú-jabb idökig extenzív gazdaságot folytatva, gabonát és bort termelve, lovat neveleve: a sváb gondolkozása, jelleme, de még a vérmérséklete is gyokeresen átalakult. A děli égboltozathoz, az alföldi éghajlathoz, a zsiros magyar földhöz, az új kornye-zethez alkalmazkodó életmód és taplaikozás megtette a népre a maga hatását: a bánsági sváb ma nem hasonli! sem bajorhoz, sem szászhov, sem württembergihez, sem semmiféle német felekezethez, de igenis hasonlit a keleteurópai nagy sikságok lakóihoz és édesrokona mindenekelött az alföldi magyar embernek. í Zerstreut auf der unermesslich weiten Ebene und bis zur jüngsten Zeit externe Landwirtschaft betreibend und Wein produzierend, haben sich das Denken, der Charakter, ja selbst das Temperament der Schwaben von Grund auf verändert. Die Lebensweise, die sich dem südlichen Himmel, dem Klima der Tiefebene, dem fetten ungarischen Boden, der neuen Umgebung anpasste, hat das ihre getan: Der Banater Schwabe ähnelt heute nicht dem Bayer, dem Sachsen, dem Württemberger noch irgendeiner deutschen Gemeinde, sondern dem Bewohner der großen osteuropäischen Steppen und ist am meisten mit dem Ungar der Tiefebene verwandt150 I Die Zugehörigkeit der Schwaben zum Deutschtum ist hingegen nach Herczegs Meinung eine »papierne Verwandschaft«.151 Obwohl in Herczegs CEuvre die regionale Zugehörigkeit zum Banat oder gar zum Schwabentum keine vordergründige Rolle spielt, tauchen in einigen Werken dennoch Aspekte der »deutschen Nationalitätenfrage« auf, so etwa die symbolische Geografie des Banats, der Wechsel der Identitäten oder die Figur des Renegaten, beispielsweise im historischen Roman A hét sváb (Die sieben Schwaben) und in den Lebenserinnerun - »A Bánságban soha nem magyarositott senki.« (Übersetzt von E.K.) Herczeg 1902, p. 16. ,49 »Hadagad az oceán, akkor zügni kezd a kandallón fekvötengeri esiga.« HERCZEG 1902, p. 19. 150 Übersetzt von E.K. HERCZEG 1902, p. 6. 151 »(...]papírrokonság[...]«Cf. HERCZEG 1902, p. 16. 90 Edit Király gen. In den literarischen Texten erscheinen jedoch diese Elemente der Nationalitätenfrage ganz anders konfiguriert.152 8.3 Die sieben Schwaben Der Roman A hetsvab erschien zuerst Anfang 1914 in Herczegs belletristischem Wochenblatt Uj Idök als Fortsetzungsroman (Nr. 1-22, 1914). Der Erstausgabe 1916 bei Singer Et Wolfner, einem der erfolgreichsten ungarischen Verlage der Jahrhundertwende, als dessen Hausautor Herczeg galt, folgten schon im nächsten Jahr zwei weitere. Bei dem Entschluss, diese zu dramatisieren, dürfte die Entdeckung ihrer ursprünglich unbeabsichtigten Aktualität, die schon von den ersten Rezensenten 1916 allseits hervorgehoben worden war,'53 mit eine Rolle gespielt haben. Die dramatisierte Fassung, 1918 unter dem Titel -4 feke-te lovas (Der schwarze Reiter) entstanden, hat Herczeg in direkter Auflehnung gegen die vermeintlich antinationalistische Tendenz der Zeit und als Kritik an der Gleichgültigkeit gegenüber territorialen Fragen verfasst. Ihre Uraufführung wurde 1919 während der kommunistischen Räterepublik von Georg Lukäcs, dem Kommissar für Unterrichtswesen, wegen seiner nationalistischen Tendenz nicht zugelassen. Sie erfolgte daher erst nach der Niederschlagung der Kommune am 5. Dezember 1919 im Ungarischen Nationaltheater in Budapest und wurde zu einem großen Erfolg. Sie wurde von Politikern gerühmt und im Rahmen der Revisionspolitik gefeiert und rezipiert.154 Der Roman gehört zu einer Reihe von historischen Romanen, die Herczeg verfasst hat, unterscheidet sich aber von diesen in der Wahl seiner bürgerlichen Helden und in deren zum Teil durchaus ökonomischen Motivation. Schon der jüngere Schriftstellerkollege Kosztolänyi hebt in seiner Rezension aus dem Jahre 1916 den miniaturisierenden Charakter des Romans hervor, der Geschichte in intime Familiengeschichte verwandelt.155 Das Verhältnis von >klein< und >groß<, von intimer und öffentlicher Geschichte scheint einen wichtigen Aspekt des Romans abzugeben, wobei man >klein< als lokale, persönlich erlebte und >groß< als nationale oder europäische Geschichte interpretieren kann. 152 Das Banat und vor allem Werschetz/Vršac spielt in folgenden Werken Herczegs eine Rolle. Romane: Fenn és Lenn; Gyurka és Sándor; Gyurkovics Milán mandátuma; A Gyurkovics fiúk; A Gyurkovics-lá-nyok; A hét sváb; Dramen: A dolovai nabob lánya; A Gyurkovics-lányok; Oeskay brigadéros, Novelle: Új-Vineta; Ahoi én gyermek voltam;Tizenhárom levé!; A turkesztán; Zubovics Fedor; A fehértemplo-mi osszeeskuvés; Az Lirményházi harang; Versec usw. Cf. NĚMETH Ferenc: Dél-Bánát Herczeg Ferenc müveiben. In: BAGI, Ferenc (szerk.): Herczeg Ferenc tanácskozások 1998-2002. Újvidék [Novi Sad]: Atlantis 2003, pp. hier p. 54. 'S3 Cf. KOSZTOLÄNYI, Dezsö: Herczeg Ferencz. A hét sváb. In: Világ (4.6.1916), pp. 23 f. VOINOVICH, Gé-za: Herczeg Ferencz. A hét sváb. In: Budapešti Szemle 180 (1919), pp. 231-234. MOHÄCS1, Eugen. In: Pester Lloyd (Morgenausgabe, 28.7.1916). LENGYEL, Ernö. In: Pešti Napló (11.6.1916), pp. 19-20. 154 5je wurde z.B. von dem Kultusminister, István Haller, als »nationale und patriotische Literatur« gelobt. Cf. Figáró (17.12.1919), p.l. 155 Cf. »Törtenelmi regényt írt, mely intim esaládi regeny.« Kosztolányi Dezsö 1916, pp. 23 f. Literarische Grenzinszenierungen am I Der Vergleich mit Müller-Guttenbrunns Banater historischen Romanen, vor allem mit dem Roman Der große Schwabenzug (1913) ist naheliegend, da dieser fast zeitgleich erschien und ebenfalls als Produkt der Suche nach einem Gründungsmythos der Banater Schwaben gelesen werden kann. Doch während bei Müller-Guttenbrunn die Kolonisierung des Banats und das Massensterben infolge der schlechten klimatischen Verhältnisse und der Pest im 18. Jahrhundert zu Urszenen der banaterdeutschen Geschichte werden, macht Ferenc Herczeg die Revolution und den Freiheitskrieg von 1848 zu einer Art Initiationserlebnis. Prekärerweise »argumentieren« beide Romane ähnlich, sie interpretieren ein kollektives Opfer als jene symbolische Handlung, die das Territorium in einen nationalen Raum verwandelt. Doch tun sie das mit konträrer Zielsetzung und mit anderen literarischen Mitteln. Die im Titel enthaltene Anspielung auf die Sage von den sieben Schwaben, die große Helden sein wollen,156 sich dabei aber tölpelhaft benehmen, bezieht sich hier auf sieben schwäbische Helden des ungarischen Freiheitskrieges von 1848/49, deren Kreis im Frühsommer 1848 über Nacht in den Mittelpunkt der revolutionären und kriegerischen Ereignisse gerät. Der durch den Titel evozierte Dummenschwank wird hier als Negativfolie benutzt: Die sieben Schwaben, von denen schließlich allein Jani Graf (sein Name ist eine offenbarer Anspielung auf die Familie Herzog) am Leben bleibt, werden als zivile Helden der Geschichte dargestellt. »Toll« sind in Herczegs Roman nicht in erster Linie die Schwaben, sondern die Zeiten. Es ist die Revolution mit ihren im Banat unerhörten Ideen von Freiheit und Völkerverbrüderung, die im Roman als »die große Tollheit«157 bezeichnet wird. Es kommt zur Umkehrung der gewohnten Verhältnisse, als die deutschen Bürger von Werschetz/Vrsac (und Weißkirchen/Bela Crkva) zu den Waffen greifen, um ihr eigenes Leben, ihr Hab und Gut und schließlich ihre Stadt und ihre Gesetze zu verteidigen. In dieser langen Reihe von immer entfernteren Zielen steht als Letztes die Idee des ungarischen Freiheitskrieges, deren fliehenden Vertretern, den drei Generälen Czecz, Figyelmessy und Stein, Jani Graf nach der Niederlage von Vilägos im Jahre 1849 zur Flucht verhilft. Die Opferbereitschaft der Schwaben in den Zeiten des großen Umsturzes wird im Roman mit primären ökonomischen Interessen, mit einer Vorliebe für Beständigkeit und mit einer grundsätzlichen Anständigkeit begründet, wodurch sie sich allmählich immer weiter von ihrer üblichen Untertanenmentalität entfernen. Im Freiheitskrieg wird das Anrecht der Schwaben auf das von ihnen bewohnte und bewirtschaftete Land wiederholt diskutiert. Wie am Anfang des Romans Jani Graf in seiner Rede an die deutschen Bauern sagt, haben ihre Väter das Banat nicht durch ihr Blut, sondern durch ihren Schweiß erworben.158 1 BECHSTEIN, Ludwig: Neues deutsches Märchenbuch. Pest: Hartleben4 1865. »[...] a >nagy bolondsäg< [...]« HERCZEG 1919, p. 425. ' ezaföW ittaminek. Apäinkmeghödftottäk, nem a verük, hanem a vereitekük hulläsaval «Ibid p.438f. 92 Edit Király Literarische Grenzinszenierungerl am Beispiel der iDonaui 93 Die Zugehörigkeit zum Land bekommt erst durch die Teilnahme am Krieg eine neue Kraft. Das Heimatrecht der Schwaben wird im Drama von 1848 erworben. Wie Oberst Maderspach im Roman formuliert: Bis jetzt habt ihr auf dem geschenkten Boden nur wie Gäste gelebt, doch jetzt zahlt ihr dafür mit eurem Blut, wie vor 1000 Jahren die Ungarn dafür gezahlt haben, ab jetzt könnt ihr von euch sagen: das hier ist unser Land, wir sind hier zuhause.159 Heimat ist nach der Logik seiner Ansprache nur durch Blutopfer zu erwerben, die Zugehörigkeit zur Nation nur in der allgemeinen Mobilisierung des Freiheitskrieges. Die Ideen der Heimat und der Nation werden in historischen Kataklysmen, doch nicht nach völkischen oder ethnischen Kriterien geschmiedet - das geht aus dem Roman hervor. Im Roman wird dieser Gedanke unter anderem durch die Gestalt des berühmten serbischen Renegaten, Damjanich exemplifiziert, einer jener Generäle des ungarischen Freiheitskrieges, die bei Arad am 6. Oktober 1849 von den Kaiserlichen hingerichtet worden sind. Damjanich wurde von den »seinen«, d.h. von den Serben, die auf der Seite der Kaiserlichen gegen die Ungarn gekämpft hatten, als der große Renegat bezeichnet. Der Roman unterstreicht sein slavisch-serbisches Aussehen und Temperament. Wenn Damjanich zwischen seinem Fußvolk reitet, schaukelt seine »vollbärtige flache Visage oberhalb der Köpfe seiner Soldaten, als wäre es ein Heiligenbild, auf seinem Gesicht war der Ausdruck von finsterer Kraft und slavischer Rätselhaftigkeit zu sehen«.160 Dennoch oder auch gerade deswegen schwärmen Schwaben wie Ungarn für diese »Perle der Soldaten«161. Denn in großen historischen Kataklysmen ist nationale Zugehörigkeit nicht an ethnische Herkunft, sondern an die persönliche Entscheidung gekoppelt. Dieses Konzept der alles verändernden historischen Kataklysmen wird im Roman durch die stabilen Gesetzmäßigkeiten bäuerlicher Arbeit und durch die im Banat geltenden ethnischen Hierarchien und notwendigen ethnischen Abgrenzungen konterkariert. In seinem ethnischen Zuschreibungssystem, in dem vor allem drei Banater Ethnien, die Serben, die Deutschen und die Ungarn, mit deutlicher Semantik versehen sind, stellen die Serben und die Schwaben die Hauptopposition dar. Ihre Gegenüberstellung wird an der symbolischen Topografie der Orte ausbuchstabiert. Die Beschreibungen der serbischen und der schwäbischen Stadtteile von Werschetz/Vršac charakterisieren stellvertretend ihre Bewohner. Die serbische Stadt ist verwinkelt, in ihren Winkeln vermodern Überreste der türkischen Zeit; die schwäbische Stadt hingegen besteht aus 159 »Eddig mint vedégek éltetek itt az ajandekföldön, de most vérrel fizettek meg érte, akár ezer évvel ezelött a magyarok, most már elmondhatjátok: ez az ország a miénk, itthon vagyunk.« ibid. p. 517. 560 »[Damjanich] [IJóháton jött a gyalogosok közt, és korszakállas, lapos és széles ábrázatán, amely úgy ringott a katonái feje fölött, mint a réc szentkép a processzióban, a komôr erö és a szláv titokzatosság kifejezése ült.« Ibid, p. 502 f. 161 »[...] katonák gyöngye [...]«. Ibid. p. 556. pfeilgeraden langen Straßen mit nummerierten Häusern ohne Geheimnis, ohne Andenken.162 Die Topografie der Stadt wird in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck für die Zweckrationalität der Deutschen einerseits und für die unberechenbaren und irrationalen Seiten des serbischen Lebens andererseits. Die schwäbische Mentalität wird am Anfang des Romans mit einer gewissen Ironie beschrieben. Es ist von der »Banater Arbeitswut«163 die Rede, von der Gewohnheit, Gegenstände anzuhäufen, die nicht verwendet werden,164 oder von der »fürchterlichen Hast« und vom »brutalen Lärm der Deutschen«, mit dem sie »das ganze Banat aufgescheucht und verbittert haben«.165 Die Hygiene wird sogar auf die Landschaft übertragen: Die Straßen sind sauber und offen, der Wind und der Sonnenschein können frei durch sie hindurchziehen.166 Offenheit erscheint aber nicht nur als räumliches, sondern auch als moralisches Charaktermerkmal der Deutschen. Die verwinkelten Straßen der serbischen Stadt und die Sümpfe des Banats sind hingegen topografische Metaphern für den serbischen Charakter.167 Dieser erscheint als gefährlich, unberechenbar und wild.168 Während aber die schwäbischen Helden des Romans im Laufe der Handlung eine Entwicklung durchmachen, bleiben sich die »Serben« immer gleich. Denn die nüchterne, nur auf die Arbeit bedachte Mentalität der Schwaben wird durch ihre Kampfbereitschaft, ihre Begeisterung und ihr Heldentum überhöht und zu militärischen Ehren erhoben. Die Serben hingegen erfüllen nur alle Erwartungen, die man ihnen gegenüber gehegt hatte. Neben dieser grundlegenden Opposition gibt es auch einen ökonomisch geprägten Konflikt zwischen den beiden Ethnien. Denn die früheren Einwohner des Landes, die Serben, sind den Schwaben wirtschaftlich eindeutig unterlegen. Serben und Rumänen sind die Tagelöhner und Diener der Deutschen - eine ethnische Hierarchie, die sich perpetuiert, indem diejenigen von ihnen, die einen bestimmten Besitzstand erreicht haben, nicht mehr als Serben (bzw. als Rumänen) gelten. Die von der serbischen nationalen Bewegung heraufbeschworenen Unruhen im Banat drohen gerade diese stabile ethnische Hierarchie durcheinander zu bringen und das Herr-Knecht-Verhältnis umzukehren. Umgekehrt mobilisiert die Schwaben gegen die Serben der Wunsch, ihr Eigentum und die bestehenden Besitzverhäitnisse zu verteidigen. Sie sind daher auf eine entsprechende »A girbe-gurba rácváros melie, amely már a temesvári vilajet idejében is Ott állott a maga helyén, és amelynek zegzugaiban itt kallódott török emlékek poshadnak, négy nyílegyenes, hosszú utcát tüztek ki a katonai mernökök: ott laknak a sváb telepesek. A németvárosnak nines se titka, se emléke [...].« Ibid. p. 426. »[...] bánsági munkaduh [...]« Ibid. p. 428. »[...] az özvegyasszony mindig vásárol, hogy több legyen, de semmit sem használ, hogy el nem pusztuljon.« Ibid. p. 427. »Rettenetes sietségukkel és brutális lármájukkal a németek folriasztották és elkeseritették az egész Bánságot, amely addig oly édesdeden sutkérezett virágos mocsarai között.« ibid. p. 426. »[...] tiszta és nyíit, utcáit szabadon járhatja a szél és a napfény [...]« p. 426. »[...] amely addig oly édesdeden sutkérezett viragos mocsarai között [...]« Ibid. p. 426. »[...] ijesztó külsejü martalócok, akik farkasokká vadultak a török háborúkban [...]«, »[...] prédára éhes, vérre szomjas csöcselekf]« Ibid. p. 436. 94 Edit Kiráh militärische Unterstützung von außen angewiesen. Da die kaiserliche Armee 1848/49 die nationale Bewegung der Serben gegen die revolutionären Ungarn ausspielen möchte, unterstützen sie die Schwaben nur sehr halbherzig, was zur Folge hat, dass die Schwaben Verbündete der Ungarn, die Serben hingegen, zumindest zeitweise, Verbündete des Wiener Hofes sind. In Herczegs Schilderungen werden die Ebenen lokaler/regionaler und natio-naler/imperialer Interessen genau unterschieden. Der Roman stellt mit großer Umsicht dar, wie lokale Konflikte durch nationale Gegensätze in Bewegung gebracht bzw. von diesen hochgeschaukelt und überlagert werden. Das historische Sujet ist mit großem dramaturgischem Gefühl aufgebaut. Die Handlung ist voller Überraschungen, trotzdem erscheint ihr Verlauf als einheitlich und von einer inneren Konsequenz gekennzeichnet. Diese Einheitlichkeit liegt u.a. in der symbolischen Topologie des Romans begründet. Sie beruht auf der räumlichen Opposition zweier Prinzipien, die man als dunkel versus hell, nüchtern versus irrational, beständig versus eruptiv bezeichnen könnte. Es ist dieser Gegensatz, der den Charakter der Region auch als Grenzlandschaft prägt. Während auf der Banater Seite alles luftig, heil und heimelig ist, tummeln sich auf der anderen, der serbischen Seite der Grenze jene als dunkel und barbarisch charakterisierten Kräfte, die nach der symbolischen Geografie des Romans mal als Osten, mal mit einem zeitlichen Begriff als Mittelalter bezeichnet werden.169 Indem die Grenze, in diesem Fall die Donau, Gegensätze voneinander trennt, sorgt sie für die Ordnung der Region. Auf der einen Seite existiert eine eindeutige Hierarchie der Ethnien, auf der anderen deren Umkehrung. Der Metaphorik des Romans zufolge bedeutet die Eliminierung der Grenze Umsturz und Chaos. Denn nur die Grenze garantiert die gängige Hierarchie von Menschen und Dingen diesseits der Donau. Die größte »Schuld« der Habsburger gegenüber den Banater Schwaben liegt denn auch darin, dass sie die Tore für jenes gut abgeriegelte Segment menschlichen Daseins geöffnet hatten. Die Symbolik von Oben und Unten impliziert zugleich Übersicht bzw. deren Verlust. Es ist der Berg mit der Kapelle, wo die Hauptfiguren einander Treue schwören, er wird durch ihren jeweiligen Tod zum Ort der Erinnerung. Dort oben treffen sich die sieben Schwaben bei wichtigen Wendepunkten und Todesfällen. Oben, die Burgruine hoch oben, beleuchtete noch das rote Abendlicht, doch unten breitete sich schon die Dämmerung über der Stadt aus. Mehrere hundert schmale Rauchschwaden stiegen von den Dächern empor. [...] Und sie [Jani Graf und seine Gesellschaft] stiegen von der sonnigen, kühlen Höhe in die dunkle warme Tiefe hinunter.'70 "9 »Mindez olyan volt, mint egy rossz álom. A véres, mocskos és ostoba kozépkor visszatért megint, hogy legázolja a jelent. [...] Láthatatlan kezek kinyitották az ország déli kapuját, és beeresztették a Balkán szellemeit. A császár kapuôrei, a granicsárok hívogatták és uszítgatták öket.« Ibid. p. 457. '™ »Fönn, a magas várromot még sütötte a vörös esti fény, de lenn, a város már alkonyba borult. Sok száz vékony fustsáv szivárgott föj a háztetokrol. ['...] És mentek a napfényes, húvos magasból a ho-mályos, meleg melysegbe.« (Ubersetzt von E.K.) Ibid. p. 557. Literarische Grenzinszenierungen am Beispie! der >Donau< Der panoramatische Blick über die Landschaft, der die Erinnerung an historische Ereignisse in Gang setzt, inszeniert zugleich eine historische Bedeutsamkeit, die unten, in den Niederungen des Alltags, verloren geht. In diese räumliche Hierarchie der Daseinsformen wird denn auch die für Herczeg so relevante Unterscheidung von Nation und Nationalität eingefangen. Denn der Blick von oben wird nur anlässlich nationaler Kataklysmen und der damit einhergehenden Wendepunkte sowie der Erinnerung an diese geschildert. Außer dieser symbolischen Topologie dienen zwei Metaphernfelder zur Beglaubigung des historischen Sujets. Ein astrologisches, das Meteorenschwärme und auseinanderbrechende Himmelskörper den chaotischen Verhältnissen im Banat zuordnet, und das Bild des zerstückelten Körpers, dessen Teile ein selbstständiges Leben zu führen beginnen. Beide Metaphern beschreiben das Verhältnis der Teile zum Ganzem und legen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise den Verlust eines Zentrums in den Unruhen von 1848/49 aus. Während die Burschen mit geladenen Gewehren die streunenden kaiserlichen Reiter erwarteten, beobachteten sie die immer wieder auftauchenden Meteorschwärme am Himmelsgewölb. Es schien, als wäre auch das Banater Schwabentum ein solcher herrenloser Funkenschwarm, die entfesselten Reste eines auseinanderfallen Himmelskörpers.^71 Nicht nur die Schwaben, auch die kaiserliche Armee wird als peripherer Teil eines verlorenen Gesamtzusammenhanges metaphorisiert: Die kaiserlichen Garnisonen im Banat führten ein zweckloses und geheimnisvolles Leben wie der abgeschlagene Menschenkopf in den arabischen Märchen. Sie vegetierten in sich und erinnerten sich nur verworren daran zurück, dass sie früher einmal zu einem riesigen Körper gehört haben.172 Ähnlich wird auch das Auftreten eines neuen Kraftzentrums im Bereich der Astrologie metaphorisiert. Mit Damjanich' Ankunft im Banat gerät »die ausgestoßene und herrenlose schwäbische Stadt in das Kraftfeld eines neuenjungen Sonnensystems«'173. Abspaltung wie Affiliierung der Peripherie wird damit in kosmische Bilder eingefangen. Doch Astronomie ist nur ein Teil jenes naturwissenschaftlichen Metapherngefüges, das die historischen Ereignisse von 1848 im Banat auslegen soll. Markieren einerseits geografische Metaphern die historische Ebenen der 171 »A legenyek töltött karabellyal lestek a portyäzö csäszäri lovasokat, közben pedig az egboltozaton rol-fölbukkanö meteorrajokat neztek. Ügy tetszett, hogy a bänsägi sväbsäg is ilyen gazdätlan szikra-raj, egy szethullö egitest elszabadult törmelekei.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. p. 499. 172 »A csäszäri garnizonok olyan celtalan es titokzatos eieret eltek a Bänsägban, mint a levägott ember-fej az arab meseben. magukban vegetältak, es homälyosan emlekeztek vissza, hogy valamikor egy hatalmas testhez tartoztak.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. p. 485. 173 »November elsö napjän a kitaszitott es gazdätlan sväb väros egy üj, ifjü naprendszer vonzäsi körebe jutott.« Ibid. p. 502. (Übersetzung und Hervorhebung von E. K.) .1 96 Edit Király longue duree, so bezeichnen die meteorologischen die Flüchtigkeit der Ereignisgeschichte. Entsprechend metaphorisieren Wind und Wetter die Wechselhaftigkeit der historischen Ereignisse. Die serbischen und ungarischen Fahnen in Werschetz flattern im selben Wind, wenn sie auch zu völlig Unterschiedlichem aufrufen. Der beißende Wind von jenseits der Donau bringt auch Botschaft von der anderen, verdrängten, Umsturz bringenden Welt der Serben jenseits der Donau. 8.4 Herczegs Lebenserinnerungen Die Lebenserinnerungen von Herczeg erschienen 1933 bzw. 1939 im Singer es Wolfner-Verlag in Budapest. Der erste Band gibt einen Überblick über Herczegs Leben bis zur Veröffentlichung seines ersten Romans Fenn es lenn (Oben und unten) im Jahre 1890, der zweite über die Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Titel der beiden Bände, A värhegy (Der Burgberg) und A götikus hdz (Das gotische Haus), beziehen sich auf die Schauplätze zweier Lebensabschnitte und weisen zugleich auf die mit diesen Lebensabschnitten verbundenen Loyalitäten hin. Unter Burgberg ist der Berg oberhalb der Banater Stadt Werschetz gemeint, die Jahrhunderte lang Wohnsitz der Familie Herzog und in Kinder- und Jugendjahren ein wichtiger Schauplatz von Herczegs Leben war; als gotisches Haus hingegen wird das neugotische Gebäude des ungarischen Parlaments bezeichnet, in dem Herczeg viele Jahre lang als Abgeordneter tätig war. Beide Titel implizieren Herczegs Identifikation mit den für historisch gehaltenen Herrschaftsformen und ihren repräsentativen Bauten, doch sind mit ihnen auch zwei symbolische Endpunkte von Herczegs Leben angegeben, mit deren Hilfe man dieses unschwer als einen Weg vom Rande ins Zentrum Ungarns auslegen könnte. Die Lebenserinnerungensind aus anekdotenhaften Erinnerungssplittern und kleinen geografischen, ethnografischen und zeithistorischen Erklärungen zusammengefügt; ihr Mangel an großer epischer Form wird durch die Konstruktion modellhafter Räume ausgeglichen. Besonders der erste, teils der Banater Kindheit und Jugend gewidmete Teil der Lebenserinnerungen kann entsprechend als Versuch gelesen werden, ein verlorenes Territorium literarisch zu rekonstruieren. Im Burgberg wird der Ort der Kindheit als Erinnerungsraum imaginiert, der gerade durch seine Abgeschlossenheit zum Chronotopos eines historischen Bruchs wird. Als ein Stück von jenem an Wundern reichen »alten Ungarn«174, das es zur Zeit der Niederschrift der Lebenserinnerungen nicht mehr gibt, steht er für ein verlorengegangenes historisches Territorium. Die Lebenserinnerungen machen "4 »[...] a régi Magyarorszagon.« HERCZEG 1985, p. 186. ____ Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonaui 97 rjje Zäsur, die zwischen ihrer Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit liegt, als das historische Trauma von Trianon175 identifizierbar. Werschetz/Vrsac, der Schauplatz von Herczegs Kindheitserinnerungen, wird zunächst als eine versunkene, nicht mehr greifbare Welt beschrieben. Die Stimmen, mit denen sich die Erinnerung ankündigt, sind als »Glocken einer ins Meer versunkenen Stadt« metaphorisiert. Das Meer als räumliche Metapher der Vergangenheit macht die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit zunichte. Obwohl es in der Wirklichkeit nicht mehr verfügbar ist, wird »das alte Ungarn« symbolisch erhalten. Die Verlagerung der Vergangenheit in die Tiefen der Meere ulid (wie an anderen Stellen) in die archäologischen Schichtungen des Erdborjens macht Dauer und Beständigkeit zu zentralen Fragen der Geschichte.176 Die Verräumlichung der Geschichte wie der eigenen Biografie ist ein allgemeines Kennzeichen des Burgbergs. Für Herczegs Schilderungen sind nicht das Fortschreiten der Zeit, sondern ihre Sackgassen und Nischen von Relevanz. Die Überlagerung und das Nebeneinander verschiedener Zeitspuren lassen die Landschaft des Banats als geschichtsgesättigt erscheinen. In den Tiefen des Banater Bodens werden der kaiserliche Beschluss wie dessen Boykott als archäologische Schichtungen greifbar. Unter der Puszta von Deliblat, der »imposantesten Wüste Europas«, wo alle Versuche, Bäume zu pflanzen und Grundwasser heraufzuholen, gescheitert sind, findet man unter dem Sand kunstvoll gebaute Gewölbe, unter dem Gewölbe aber, als man es durchbrach, glänzte ein klarer Wasserspiegel. Es hat sich herausgestellt, dass vor zweihundert Jahren die treuen Granitscharen die Brunnen verbaut und begraben haben, um Maria Theresia die Lust am Sand von Deliblatt zu nehmen. Sie befürchteten, die Kaiserin würde noch Schwaben ansiedeln.177 Ähnlich findet man die Reste jener Baumschule, die die Wiener Regierung zur Bindung des Sandes von Deliblat geschickt hat, als verwachsenes Unterholz wjeder.178 Der Wille zur Nutzung wie der zum Verwildern-Lassen sind unter dem Erdboden zu Allegorien historischer Vergeblichkeit erstarrt. Modellhaft ist das Banat aber hauptsächlich, indem es sich als die Grenze zwischen zwei grundverschiedenen Welten darstellt. Die Struktur dieser Grenz-laridschaft lässt sich mit Lotmans Konzept der komplementären Teilräume be- i7s Im Vertrag vonTrjanon 1919, einem der Pariser .-Vororteverträgei nach dem Ersten Weltkrieg (Österreich: St. Germair,, Deutschland: Versailles), verlor Ungarn etwa zwei Drittel seiner ehemaligen Gebiete. 1,6 Cf. RAULFF, Ulrich: Die lange Dauer. In: OERS.: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. Göttingen: Wallstein 1999, p. 13-49 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 9). 177 »[...] és a homokaiatt nagygonddal épített bolthajtásokattaláltak, a bolthajtások alatt pedig, mikor betorték, tiszta viztükör csillogott. Kitíínt, hogy kétszáz esztendôvel ezelôtt a hü granicsárok beépí-tették és betemették a kutakat, hogy elvegyék Mária Terézia kedvét a delibláti homoktól. Attól féltek, hogy a királynó svábokat találna oda telepiteni.« HERCZEG 1985, p. 186. 178 »Asivatag közepen osszevissza bozótot leltek. A bécsi kormány annak idején százezerszámra küldte a facsemetéket, a granicsárok azonban, akiket a fásítással megbíztak, egy helyre dobálták, ahol aztán egy részuk mégis gyökeret eresztett, amiböl sete-suta csalit lett.« Ibid. 98 Edit Kiräly 99 schreiben.179 Er ist im gegebenen Fall durch die topologische Opposition von Hoch und Tief gekennzeichnet und mit dem ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaar von Kraft versus Nichts besetzt. Diese semantisch aufgeladene topologische Ordnung wird bei Herczeg in dem topografischen Gegensatz von Berg und Tal bzw. von dies- und jenseits der Donau konkretisiert. Der Burgberg und der Strom sind für die Konstruktion dieser Grenzlandschaft bestimmend. 8.5 Der Burgberg Die Beschreibung des Turmes ist eingebettet in das panoramische Bild des Ba-nats, dem Schauplatz von Herczegs Kindheit, dem Ort seiner Herkunft. Sie wird mit einem Satz über die Ban-ater Ebene eingeleitet: »Die Banater Tiefebene ist hell wie ein Zimmer [...]«18°, der danach zu einer Beschreibung und Auflistung i der Werschetzer Bergkette überführt: »Die Heide endet am Fuß der Wersehetzer Bergkette. Die Berge schließen den- Horizont gleich einer Kulisse ab [...]«.181 Damit wird die gesamte Landschaft als Erinnerungsraum evoziert, als eine zeitlich und räumlich abgeschlossene Bühne. Mit dieser Rahmensetzung beginnt eine vollkommen subjektive und mythisierende Beschreibung bzw. Interpretation der lokalen Geografie. Diese scheint in keinerlei Beziehung zum »Hier und Jetzt« des Erzählens zu stehen. Sie hebt mit der Beschreibung des verfallenen Turmes an. Der Turm ist ein geheimer Mittelpunkt dieses geschlossenen Erinnerungsraums. Er erscheint als ein Rätsel. Er besitzt Kraft, obwohl er verfallen und halb zerstört, funktionslos und verlassen dasteht. Ein Grund für seine Anziehung scheint gerade in seiner Unzugänglichkeit, in seiner »Fremdheit«,182 zu liegen, der Turm ist kein Gegenstand des Alltags, sondern des Phantasierens: »Als Kind beschloss ich, I dass ich, wenn ich mal »groß bin<, das Schloss wieder aufbaue und dort wohnen werde, hoch oberhalb der Türme und Schornsteine der Stadt.«183 Es werden auch bei dieser Beschreibung die Ferne und die Höhe der Burgruine betont: Hoch oberhalb der Türme und Schornsteine der Stadt sollte der junge Herczeg einmal leben. Bezeichnenderweise steht hier nicht einer jener Türme, die in Werschetz ; von den kulturellen Leistungen der Schwaben zeugen, so etwa der Kirchturm, ' den sein eigener Großvater mütterlicherseits erbaut hat, sondern das Wahrzeichen einer längst vergangenen Zeit. Hierbei mag auch eine deutliche Distanz 79 LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. GRÜBEL, Rainer (Hg.). Frankfurt/Main 1973, p. 360. Zit. n. MARTINEZ, Matias/SCHEFFEL, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C H. Beck 42002, p. 140. ,so »A bänsägi röna olyan viiägos, mint egy szoba [...].« (Übersetzt von E.K.) HERCZEG 1985 p. 50. 181 »A rönasäg a verseci hegyläncnäl er veget. A hegyek [...] szinfalkent zärjäk el a läthatärt [...].« (Übersetzt von E. K.) Ibid. 182 »[...] idegenszerü kep [...]«. (Übersetzt von E.K.) Ibid. 183 »Gyermekkoromban elhatäroztam, hogy >majd ha nagy leszek<, akkor üjjäepitem a värkastelyt, es Ott i fogok lakni, magasan a väros tornyai es kemenyei fölött.« (Übersetzt von E.K.) Ibid. zum Ort und zu den Verhältnissen seiner Herkunft eine Rolle spielen. Denn die Anziehungskraft des historischen Turms beruht darauf, dass er aus diesen Lebenszusammenhängen herausragt. Auf der Spitze des Burgbergs steht, wie ein die türkische Sintflut überdauerndes antidiluviales Denkmal, die Turmruine einer uralten Burg. In meinem jungen Leben spielte der vom Alter silbergrau gewordene Turm, der sich als Symbol der Kraft, der Beständigkeit und des unzugänglichen Stolzes hart in das blaue Himmeisgewölbe über dem Banat bohrte, eine große Rolle. Sie war jene geheimnisvolle, zentrale Kraft, um die sich jahrzehntelang meine Phantasie drehte.184 Im Gegensatz zu dem Nützlichkeits-, Übersichtlichkeits- und Beschaulichkeitsprinzip, das die Straßen und das Leben der Schwaben formt, scheint die geheime Kraft der Burgruine gerade in ihrem zeichenhaften Charakter zu liegen, der nur in der Phantasie vollendet werden kann. Die geheimnisvolle Anziehungskraft des Turmes wird andererseits durch seine Umgebung erklärt. Denn die Beschreibung der Landschaft wechselt von der Beschreibung des Burgbergs in die Beschreibung einer anderen (schwindelerregenden und bedrohenden) Einbildung, »als wäre ich am Ende der Welt, am Ufer des Nichts.« Der Turm auf dem Burgberg von Werschetz wird im Verhältnis zu dieser gefährlichen Zone des Chaos hinter der Donau zu einem Wach- und Grenzturm. Es ist der Bezug zu der jenseits des Stromes lauernden Gefahr, dass er als »Symbol der Kraft, der Beständigkeit und des unerreichbaren Stolzes« eine phallische Gegenfigur zum jenseits der Grenze lauernden »Nichts« darstellt. 9 Die Donau als Grenze Die Vorstellung von der unteren Donau als Grenze der zivilisierten Welt blickt auf eine lange Tradition zurück. In der Schilderung seiner Orientreise im Jahre 1834 beschreibt der englische Reiseschriftsteller Alexander William Kinglake (1809-1891) die Donau bei der Überquerung der Flussgrenze bei Semlin/Zimo-ny/Zemun185 wie einen Todesfluss, von dessen anderem Ufer es kein Zurück gibt. Der Grund hierfür ist allerdings praktischer Natur: Der Pestkordon an der Grenze sorgte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür, dass jeder, der den Strom von Süden kommend überquerte, vierzehn Tage im Lazarett bleiben musste.186 184 »A Värhegy csücsän, mint a török vizözönt tüielt antidiluviäiis emlek, ösregi värkastely csonka tornya all. Az en ifjü eletemben a kortöl ezüstszürke torony, amely mint az erö, az ällandösäg, a hozzäfer-hetetlen büszkeseg szimböluma, kemenyen fürödik a kek bänsägi egboltba, nagy szerepet vitt. Ez volt a titokzatos központi erö, amely körül evtizedekig keringett a kepzeletem.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. 185 Semlin/Zemun/Zimony liegt Belgrad gegenüber am Zusammenfluss von Sava und Donau. Kinglake blickt zwar über die Donau in Richtung Belgrad, überquert jedoch die weniger breite Sava. iS6 »After coming in conduct with any creature or thing belonging to the Ottoman Empire it would be impossible for us to return to the Austrian territory without undergoing an imprisonment for fourteen days in the Lazaretto. We felt therefore that before we committed ourselves, it was important to take care that none of the arrangements necessary for the journey had been forgotten; I 100 Edit Király Als Herczeg in seinen Lebenserinnerungen auf seine Werschetzer Kindheit und Jugend in den 1870er zurückblickt, spricht er buchstäblich vom Nichts, das einem von der anderen Seite dieses bei ihm durch die griechische Bezeichnung Istros ins Mythische erhobenen Flusses anschaut. Ich hatte auch später, sooft ich in meiner Heimatstadt weilte, jene schwindelerregende und bedrohliche Vorstellung, ich sei am Ende der Welt, am Ufer des Nichts. Die Untere Donau, der Istros der Hellenen fließt, nicht weit von Werschetz, an seinem gegenüberliegenden Ufer ist Serbien, der Balkan, mit einem Wort dos unbekannte Nichts. Von drüben kamen ab und zu merkwürdige Menschen zu uns, als kämen sie von einem fremden Planeten. Sie trugen rote Mützen und lächerlich geschnittene Pluderhosen; an ihrer Halskette hing eine Uhr von der Größe einer Schildkröte; Zigaretten rauchten sie aus Bernsteinpfeifen vom Umfang eines Gewehrs. Sie waren aktive, ehemalige oder zukünftige Minister, manche von ihnen sogar Helden blutiger Balkan-Abenteuer, in Begleitung von Frauen, die auch rote Mützen und breite Kri-nolinen zu einer Zeit trugen, als diese bei uns längst schon aus der Mode gekommen ' sind. Sie brachten ihre Töchter in die Mädchenbildungsanstalt von Fräulein Kutka. Die serbischen Jungfrauen waren ziemlich wild, aber sehr fesch. Die feurigen und traurigen östlichen Augen mancher dieser Jungfrauen sind in meinen Erinnerungen noch immer nicht erloschen. Bei Fräulein Kutka lernten sie Klavierspielen und Tanzen, Französisch und Ungarisch Reden, und wenn sie alles konnten, kehrten sie wieder heim und verschwanden für immer im Nichts jenseits des lstros.K1 and in our anxiety to avoid such a misfortune we managed the work of departure from Semlin with nearly as much solemnity as if we had been departing this life. Some obliging persons from whom we had received civilities during our short stay in the place, came down to soy farewell at the river's side; and now, as we stood with them at the distance of three or four yards form the >compromised< officer, they asked if we were perfectly certain that we had wound up all our affairs in Christendom, and whether we had no parting request to make. We repeated the caution to our servants, and took anxious thought lest by any possibility we might be cut off from some cherished object of affection; - were they quite sure that nothing had been forgotten - that there was no fragrant dressing-case with its gold-compelling letters of credit from which we might be parting for ever? - No - every one of our treasures lay safely stowed in the boat, and we - we were ready to follow. Now, therefore, we shook hands with our Semlin friends, and they immediately retreated for three or four paces, so as to leave us in the centre of a space between them and the >compromised< officer; the latter then advanced, and asking once more if we had done with the civilized world, held forth his hand -I met it with mine, and there was an end to Christendom for many a day to come. We soon neared the southern bank of the river, but no sounds came down from the blank walls above, and there was no living thing that we could yet see, except one great hovering bird of the vulture race flying low and intent, and wheeling round and round over the Pest-accused city.« Cf. KINGLAKE, Alexander: Eothen. Oxford: Clarendon 1948, p. 8 f. 187 „|\jekem késóbb is, vaiahányszor a szulóvárosomban voltam, az a szédító és fenyegetó képzetem volt, mintha a világ végén, a nagy Semmi partján volnék. Versechez elég kozel van azAI-Duna, a hel-lének Isztrosz folyama, annak túlsó partján van Szerbia, a Balkán, szóval az ismeretlen Semmi. Odaátról, mint egy idegen planétáról, néha furcsa emberekjôttek a városunkba. Piros sapkát és nevetséges sza-bású plundrát viseltek; a nyakba veto láncukon akkora órát hordtak, mint egy kisebb teknósbéka; a cigarettét puskacsó vastagságú borostyánkó szipkából szívták. Aktív, volt vagy leendô miniszterek, némelyek véres balkáni kalandok hósei. Asszonyok is jottek velúk, azok is piros sapkát viseltek, és széles abroncsos szoknyában jártak még akkor is, mikor azt nálunk már régen nem hordták. A leányaikat hozták Kutka Mária kisasszony verseci leánynevelô intézetébe. A szerbiai szůzek megie-hetôsen vadak, de nagyon csinosak voltak. Egyik-másiknak tuzes és szomorú keleti szeme még ma Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der iDonaui 101 Herczeg charakterisiert den Ort seiner Herkunft als eine Weltrandgegend, wo sich das Diesseits der bekannten Welt mit dem Jenseits eines bedrohlichen und schwindelerregenden Fremden berührt. In der »mythische[n] Topographie«188 von Herczegs Landschaftsbeschreibung wird die Donau zur »Schwelle zum Anderen und zum Tod«.189 Denn der Balkan erscheint in seiner Darstellung als ein Ort »blutiger [...] Abenteuer«,190 ein Ort, auf dessen ewiges Einerlei auch die sich gegenseitig auslöschenden Bedeutungen der Attributkette »aktive, gewesene oder werdende Minister« hinweisen. Seine Schilderung des kleinen Grenzverkehrs um die Mädchenbildungsanstalt des Fräuleins Kutka folgt den klassischen Regeln der Fremdwahrnehmung. Fremde werden durch ihr Äußeres charakterisiert, als ein groteskes Ensemble merkwürdiger, nicht zusammenpassender Einzelheiten, wie Uhren »von der Größe einer Schildkröte« oder »Bernsteinpfeifen vom Umfang eines Gewehrs« oder Kri-nolinen, die »bei uns längst aus der Mode gekommen sind«. Einzig »ihre Töchter« werden durch die - gemeinhin für den Ausdruck der Seele gehaltenen - Augen charakterisiert. Im einseitig dargestellten Personenverkehr zwischen dem serbischen und dem ungarischen Ufer erscheinen die Serben als die Empfänger von kulturellen Gütern (Tanzen, Klavierspielen, Französisch- und Ungarisch-Unter-richt), die selbst nichts zu bieten zu haben. In Bezug auf die Grenze stellen Kinglake und Herczeg zwei grundsätzlich unterschiedliche Haltungen dar: Der eine überguert sie, der andere wähnt sich nur hinter ihr sicher. Doch so unterschiedlich auch Position und Anliegen der beiden Autoren sein mögen, die Grenze wird von beiden als eine tiefgehende, existenzielle Trennlinie dargestellt, die zwei einander diametral entgegengesetzte Welten von einander trennt. Kinglake betont etwa, dass er im Verlauf seiner Reise später nie mehr so »ultra-türkisch« aussehende Türken gesehen hätte191 wie gerade an der Grenze von Christentum und Osmanentum. Damit wird auch für ihn die Grenze zu einem fundamentalen Einschnitt, der keine Übergänge, sondern nur absolute Gegensätze zulässt. Für Herczeg jedoch ermöglicht die Darstellung der anderen Seite als »Nichts« eine heroische Hochstilisierung des »alten Ungarn«. sem csukódott le az emlékezetemben. Kutka kisasszonynál megtanultak zongorázni és táncolni, franciául és magyarul beszélni, és ha mindent tudtak, akkor meginthazamentek, és örökre eltüntek az Isztroszon túlisemmiben.« HERCZEG 1985, p. 50f. [Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.] !SS KOSCHORKE, Albrecht: Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1990, p. 15. ,8" KOSCHORKE 1990, p. 14. 190 HERCZEG 1985, p. 51. '" »[...] never have I seen such ultra-Turkish looking fellows as there who received me on the banks of the Save [. .]« KINGLAKE 1948, p. 9. 102 Edit Kiräly Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der>Donau< 103 9.1 Das Überqueren des Amazonas Der Turm wie der Fiuss werden in den Lebenserinnerungen öfters zu Marksteinen der eigenen Biografie. So etwa verdeutlicht jene symbolische Geografie, die Herczeg in seinen Memoiren seinem Lebensweg unterlegt, dass Herczegs Werdegang vom banaterdeutschen Patriziersohn zum ungarischen Schriftsteller kein nahtloser Übergang war, sondern auch einen Wechsel der Loyalitäten implizierte. Der Augenblick, in dem sein erster Roman vom Verlag Singer es Wolfner herausgegeben und von zwei Größen der ungarischen Literaturkritik gelobt wird, ist geografisch markiert: Und in diesem Augenblick verlor sich die Jahrzehnte lange Anziehungskraft des Werschetzer Burgbergs. Die Rothaut ist über den Amazonas geschwommen und hat eine neue Heimat für sich gefunden.132 Das Überschwimmen eines Flusses wird einige Seiten vorher als ein symbolischer Akt der Selbstvernichtung beschrieben und mit folgenden Worten auf die Situation des jungen Herczegs bezogen: Weg von der Vergangenheit, alle Ketten der Familie, der Erziehung und der Gewohnheit von sich schütteln, über den großen Fiuss schwimmen, wie ein verfolgter indianischer Krieger, und von der anderen Seiten nie mehr zurückschauen.193 Das Überschwimmen des Flusses wird schon an dieser Stelle als eine Initiation interpretiert. Die einige Seiten später erfolgte Identifizierung mit dem indianischen Krieger und die Benennung des Flusses als Amazonas machen jedoch die geografische Fremdheit der Allegorie besonders augenfällig. Herczeg beschreibt sich damit selbst am Ort seiner Ankunft als Fremden, als Exoten und identifiziert sich mit der Sichtweise der anderen Seite. Bei diesem Bild dürfte es sich weit weniger um seine ethnische Zugehörigkeit als vielmehr um seine Berufswahl handeln, denn wie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt: In jenem bürgerlichen Milieu, in dem ich verwurzelt bin, wird man mich für einen aus der Bahn geworfenen Menschen halten, so lange ich nur Schriftsteller bin. Wenn ich Abgeordneter werde, wird man mir glauben, dass ich nicht verlottert bin.194 Das Überschwimmen des Amazonas macht das eigentliche Sujet des Burgbergs aus. Denn wie Jurij M. Lotman formuliert: »Das Sujet kann [...] immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden - dem Überqueren der grundlegenden topolo- 192 »Es ebben a pereben vegleg megszünt a verseci Värhegy evtizedes vonzöereje. A rezborü ätüszott a nagy Amazon folyamon, es üj hazättaläit magänak.« Ibid. p. 227. 193 »Szakitani a mülttal, leräzni a esläd, a neveles es a megszokäs minden läncät, ätüszni a nagy folyön, mint az öldüzött rezbörü harcos, viszza se nezni többet a tülsö partröl [...]« Ibid. p. 225. 194 »Abban a polgäri környezetben, ahoi az en gyökereim vannak, pälyatevesztett embernek fognak tekinteni mindaddig, amig csak irö maradok. Ha kepviselö leszek, akkor e! fogjäk hinni, hogy nem vagyok züllött ember.« (Übersetzt von E.K.) Ibid. p. 300. gischen Grenze in seiner räumlichen Struktur.«195 Dieses Sujet ist in dem Bild der Banater Grenzlandschaft präfiguriert. Nur wird das Grenzbewachungsszenario bei der Darstellung seines Identitätswechsels zur Grenzüberquerung. Die geschlossene Welt der Familie, der Erziehung und der Gewohnheit wird verlassen, und jede direkte Kontinuität mit ihr wird aufgekündigt. Franz Herzog erlangt durch die Überquerung dieses Flusses seinen neuen Namen: Herczeg Ferenc. Diese Strukturierung der Lebensabschnitte im Burgberg durch eine symbolische Geografie, insbesondere durch die Symbolik des Flusses, wiederholt sich am Ende des Bandes Das gotische Haus. Als der Kriegsausbruch bekannt wird, bricht die Aufzählung der Tagesereignisse ab. Alles, was danach kommt, wird in Futurform berichtet und immer wieder mit der Formel »damals wussten wir noch nicht« eingeleitet. Auch hier steht der Fluss allegorisch für eine zeitliche Zäsur, allerdings geht es dabei um einen Blutstrom: »Ein breiter Blutgraben wird unser aller Leben in zwei Teile schneiden.«136 10 Müller-Guttenbrunn und Herczeg als Schriftsteller eines nationalen Landschaftskanons So unterschiedlich Müller-Guttenbrunns und Herczegs »symbolische Geografien« in ihrer politischen Tendenz und vor allem in ihrem literarischen Niveau auch sind, wenn man sie als Teil der Arbeit am Kanon der nationalen Landschaften versteht, lassen sie sich an manchen Punkten durchaus miteinander vergleichen. Zu diesen gehört, dass beide Autoren in ihren hier besprochenen Werken die Grenzlandschaft zu einem räumlichen Modell historischer Gegensätze erheben. Doch obwohl thematisch deutlich mit einer Region verbunden, sind sie vor 1918 keineswegs auch einer regionalen Öffentlichkeit verhaftet. Sowohl Müller-Guttenbrunns als auch Herczegs Werke erscheinen bei einem großen Verlagshaus auf dem jeweiligen nationalen Buchmarkt. Ihre literarische Zuständigkeit für eine gewisse Region, obwohl unterschiedlich stark ausgeprägt, wird im Rahmen der nationalen Archivierung von Landschaften rezipiert. Bei Müller-Guttenbrunn wird eine auf Diskontinuität gegründete Vorstellung von der Grenze zu einem zentralen Element des Kolonisten-Mythos, zu jener Trennlinie, die im Kampf gegen Natur und Unkultur immer weiter nach vorne gedrängt wird und zugleich zu immer neuem Kampf anfacht. In einigen Werken Herczegs hingegen wird die Grenze zur existenziellen Zäsur und einer Identitäten bestätigenden Trennlinie, während Vermengung, Vermischung bzw. die Umkehrung von Hierarchien diese gefährden. Während die Grenze und die Welten, die durch sie von einander getrennt werden, bei beiden Autoren im Allgemeinen sehr unterschiedlich besetzt sind, 195 MARTINEZ & SCHEFFEL 2002, p. 142. ;9r> »Egy szeles verärokfogja kettevälasztani mindannyiunk eletet.« (Übersetzt von E.K.) HERCZEG 1985, p.479. 104 Edit Király Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der >Donau< 105 ist bei beiden eine Verflechtung von Grenzlandschaft bzw. Identitätsvorstellungen zu verbuchen. Das Leben an der Grenze erscheint bei dem einen wie bei dem anderen an bestimmte, wenn auch unterschiedliche Männlichkeitsideale gekoppelt. »Ein Buch für Männer«, schrieb Müller-Guttenbrunn in sein Tagebuch am 10. August1907 über die Götzendämmerung und ließ dieses Männlichkeitsideal auch in der strammdeutschen Haltung seiner Figuren manifest werden. Auch bei Herczeg findet man verstreute Hinweise auf die Gleichsetzung von männlicher und nationaler Identität. Gerade in seinem die Götzendämmerung Müller-Guttenbrunns »erörternden« Artikel verbindet Herczeg nationale Tugend und Genderidentitäten. Im Zusammenhang der Homosexualitätskandale bei der preußischen Garde wird die Männlichkeit bzw. der weibische Charakter einzelner Nationen diskutiert. Während die Nachbarn der Ungarn allesamt als »listige slavische Weibernationen«197 veranschlagt und den männlichen und kämpferischen Ungarn gegenübergestellt werden, stellt er die militärischen und männlichen Tugenden der Deutschen im Zusammenhang mit dem Moltke-Harden-Prozess rundweg in Frage. Obwohl Müller-Guttenbrunns und Herczegs einschlägige Texte198 neben den Interessenlagen und Repräsentationsbedürfnissen zweier unterschiedlicher nationaler Öffentlichkeiten durchaus auch von einer, wenn auch begrenzten, gegenseitigen regionalen Wahrnehmung deutschsprachiger und ungarischsprachiger Banater Autoren zeugen, kommt ein weiterreichendes Konzept von Regionalität, das neben Abgrenzung auch die Vermischung oder das Nebeneinander von Lebensformen und ethnischen Merkmalen verzeichnen würde, bei ihnen nicht zum Tragen. 11 Károly Molters Müller-Guttenbrunn-Lektüre Als Beispiel für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Fragen der Assimilation wie mit Fragen ihrer literarischen Darstellung soll abschließend der Roman Tibold Morton von Károly Molter erörtert werden. Im Gegensatz zu den besprochenen, auf Oppositionen beruhenden Landschaftsbilder der unteren Donau wird hier auch der Strom eher als Berührungspunkt zwischen verschiedenen Ethnien verstanden. Károly Molter (1890-1981) gehört zu einer späteren Generation von ungarischen Schriftstellern als Herczeg. Er selbst hat sich der zweiten Generation der so genannten Nyugat-Schriftsteller zugerechnet.199 Mit dieser Selbstbestimmung wurde nicht zuletzt die innere Verbundenheit der siebenbürgisch-unga- 197 »[...] furfangos szláv asszony-nemzetek [...]« (Übersetzt von E.K.) Herczeg: Götzendämmerung. In: Azüjsäg (1.12.1907), p.2. 198 Müller-Guttenbrunns »Brief an den...«, »Die Glocken der Heimat« bzw. Herczegs Rezension »Götzendämmerung«, pp. 1 f. 199 Nyugat [Westen] - die bedeutendste moderne ungarische bürgerliche Literaturzeitschrift in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. rischen Literatur mit der ungariändischen Literatur ausgesprochen, denn Molter, von der Herkunft her Batschkaer Schwabe, war erst 1914 nach Siebenbürgen gekommen. Er debütierte dort in der Zwischenkriegszeit als ungarischer Stückeschreiber, Romancier und Feuilletonist. Im Gegensatz zu Herczeg ist Molters Weg nicht durch die glorreiche Bewegung von der Peripherie ins Zentrum, die Assimilation eines aus einer ethnischen Minderheit Stammenden an das dominante Ethnikum, gekennzeichnet, sondern durch den Wechsel von einer Peripherie zur anderen, aus einer ethnischen Minderheit in die andere. Entsprechend ist auch Molters Auffassung von Assimilation und ethnischer Abgrenzung von jener Herczegs deutlich unterschieden. Die schwäbischen Bauern und Handwerker sind in seinem autobiografisch inspirierten Roman Tibold Morton (Márton Tibold, 1938) weder durch ihre deutschen Traditionen gebunden, wie bei Müller-Guttenbrunn, noch sind sie durch Klima und Boden dem ungarischen Bauern verwandt geworden, wie bei Herczeg. In Molters Romanen sind es vielmehr die gemeinsame Erfahrung und die ähnlichen Interessen, welche die schwäbischen Handwerker mit dem ungarischen Milieu verbinden. Molters Schilderungen- des schwäbischen Milieus zeichnen sich denn auch durch ihre große Differenziertheit in Bezug auf die Vermengung von Sprachen, kulturellen Merkmalen und Rollenvorstellungen aus. Auch werden bei Molter die Ungarn keineswegs mit der ungarischen Herrenklasse gleichgesetzt.200 Über seinen Großvater sagt Martin, der sei wahrscheinlich deswegen 48er Honvéd geworden, weil ihn »das niedergeworfene, niedergetretene, oppositionelle Ungarntum« anzog.201 In Tibold Morton findet sich auch ein seltener Reflex von Müller-Guttenbrunns ungarndeutscher Rezeption. Das Werk zeichnet den Weg eines Batschkaer Schwabenjungen nach, der durch seine ungarische Schule in Kecskemét und das Universitätsstudium in Budapest den von seinem Vater vorbereiteten Weg der Assimilation geht.202 Der nie verheimlichte Plan der Eitern ist es, dem Sohn durch die ungarischen Schulen eine Stelle im staatlichen Dienst zu sichern. Dass Márton Tibold schließlich 1913 die Peripherie und nicht die Hauptstadt wählt und nach dem Ersten Weltkrieg als Lehrer in Siebenbürgen zum Minderheitenungar wird, ist bis zu einem gewissen Grad dem Zusammenfall der Umstände Cf. besonders den Anfang des Romans. »Talän az alulmaradö, letiport, az ellenzeki magyarsäg vonzotta.« (Übersetzt von E.K.) Ibid. p. 252. Schon von dem zeitgenössischen Kritiker Läszlö Kardos wurde die Verbindung von Minderheiten-Position und Assimilation als thematischer Komplex des Romans hervorgehoben, zugleich aber auch gerügt, weil Kardos die Darstellung der Assimilation als allzu »euphemistisch und retuschiert« empfand. »Der Weg aus dem Germanentum (sie!) zum Ungarntum« ist ihm zufolge nicht interessant, nicht glaubwürdig genug dargestellt. »Viszont nem szabad elhallgatnunk, hogy [...] az egesz asszi-miläciös rajz valahogyan eufemisztikussä, retusälttä lesz. Nagyon is sima, nagyon is zavartalan es töretlen vonalü ez az üt a germänsägböl a magyarsägba, s ennelfogva nem is elegge erdekes, nem is elegge hiteles.« KARDOS, Läszlö: Molter Käroly -Tibold Märton. In: DERS.: Väzlatok, esszek, kritikäk [Skizzen, Essays, Kritiken], Budapest: Szepirodaimi 1959, p.368f. Ursprünglich in: Nyugat 1 (1938), p. 303. i 106 Edit Kiráiy Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der »Donau* 107 zu verdanken. Seine tolerante und nationalismuskritische Haltung wird aber als Folge seiner inneren Entwicklung dargestellt. In einer Episode beschreibt Molter, wie Müller-Guttenbrunns Romane unter der deutschsprachigen Bevölkerung verbreitet wurden und welche Gefühle sie bei dem assimilationswilligen Teil der Schwaben hervorzurufen vermochten. Der Hauptprotagonist des Romans, der Student Martin (ungarisch Märton), bekommt Müller-Guttenbrunns Romane von einer ehemaligen Dorfnachbarin, die ähnlich wie er einsam in Budapest lebt. Die ehemalige Nachbarin holt im Zuge einer Diskussion die Bücher aus einer Lade hervor, um Martin von seiner Zugehörigkeiten zum Deutschtum zu überzeugen. Martin hat den Namen Möl-ler-Guttenbrunn [sie!] noch nie gehört. Der Streit zwischen den ehemaligen Dorfnachbarn entbrennt darüber, ob ein Schwabe zum Ungarn werden und, als Ausdruck größter Intimität, eine Ungarin lieben kann. In ihrer Debatte erörtern sie freimütig Körper- und Kleidungsmerkmale der beiden Ethnien auch mit Hinblick auf deren erotische Komponenten. Die Frau wird als massiv gebaut beschrieben und könnte durchaus als Göttin Germania durchgehen, wenn sie nur ein bisschen größer wäre. An anderer Stelle wird auf ihre Walkürengestalt Bezug genommen.203 Er ist hingegen durch sein längliches Gesicht als Schwabe gekennzeichnet. Dennoch ist Martin der Auffassung, dass nicht die äußeren Merkmale, sondern das Herz ausschlaggebend sei. Der Streit wird mit einem Liebesakt und mit einer anschließenden Müller-Guttenbrunn-Lektüre beendet, wenn auch nicht entschieden. Die erotische Besiegelung ihrer ethnischen Zusammengehörigkeit wird allerdings durch Martin, der die ehemalige Nachbarin im Liebesrausch nicht Suschen, sondern auf ungarisch Zsuzsikäm nennt, subversiv unterlaufen. j Nach diesem Kapitel folgt eine detaillierte Beschreibung von Martins Lektüre der beiden Müller-Guttenbrunnschen Heimatromane Glocken der Heimat und Meister Jakob und seine Kinder, die er nicht einzeln, sondern pauschal einer kritischen Prüfung unterzieht, um zu einem ambivalenten Schluss zu kommen: Anziehend findet Martin den bekannten Gegenstand, die Landschaft, das Dorfleben; dessen Darstellung hält er jedoch für allzu unschuldig. Wegen der Kleinformatigkeit der Darstellung bezeichnet er die Heimatromane als Heldenepen einer Landnahme in Schubladenformat.204 Doch die wichtigsten Kritikpunkte beziehen sich auf Müller-Guttenbrunns ethnische Voreingenommenheit. Der Erzähler schildert Martins Ambivalenz mit großer Umständlichkeit. Seine emotionale Teilnahme, soweit es um den Stoff, um die Milieuschilderung, und seine Alarmiertheit, wo es um die Kritik Ungarns geht: »Ihn quälten andauernd Widersprüche.«205 Die Feststellung, dass Müller- 203 MOLTER, Károly: Tibold Márton. Regény. Kolozsvár-Napoca: Dacia Könyvkiado 1984 [1938], pp.172-175. 2°4 Ibid. p. 176. 2°s »Folytonosan ellenmondások gyötörtek [...]« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 176. Guttenbrunns Darstellung anderer Nationalitäten hasserfüllt ist, löst den Zwiespalt auf und bringt Erleichterung: Und da kam die Wende, er empfand es geradezu als wohltuend, dass der Autor sich irgendwo im Ton geirrt hatte. Denn sein Buch kippte immer halsschreierischer in einen ganz billigen Hass gegen andere Völker. Märton ertappte ihn nach und nach bei einer Ungerechtigkeit nach der anderen. Da wurde er böse: Er merkte jetzt die kunstfälschende Agitation im Text. Wie dieser Guttenbrunn die Ungarn hasste [...], mit welch kalter Verachtung sprach er von den Serben und von dem »Walachenvolk«, das hinter dem Marosch sein Dasein fristete. Der Wiener Herr hatte keine Ahnung von dem sozialen Unterschied, der diese drei Arten trennte.206 Müller-Guttenbrunns Werke werden in Molters Darstellung im politisch und ideologisch besetzten Kontext nationaler Agitation verbreitet. Suschen hat die Bücher von ihrem Mann bekommen, der in Hamburg arbeitet und seine Familie ins Reich heimholen möchte, und gibt sie weiter, damit sie auch andere dazu bewegen. Die Themen von Martins und Suschens Auseinandersetzung kehren in einer anderen Episode des Romans wieder, in der zwei aus dem Ausland heimkehrende Familienmitglieder Martin zu seinem Deutschtum bekehren möchten. In einem äußerst heftigen Familienstreit wird der Vorwurf des Renegatentums von Martins Vater mit einer Ohrfeige erwidert. Die aus dem Ausland kommenden deutschnationalen Verwandten werden von den Einheimischen als Agenten und falsche Propheten wahrgenommen, deren Agitation (in Form von Stipendienversprechen) sich hauptsächlich an die studierende Jugend richtet. Doch die Agitation, die sämtliche Lebensbereiche zu politisieren sucht, stößt in der Handwerkerfamilie auf heftigen Widerstand.207 11.1 »Civis Danubius« Die Donau - bei Müller-Guttenbrunn und Herczeg ein geografisches Modell der Grenze - wird bei Molter weder als Grenze und noch als Verkehrsweg einer bevorstehenden großen wirtschaftlichen Eroberung beschrieben, sondern als »Landstraße der Völker«. Im Kapitel XXII seines Romans reist eine kleine Gesellschaft mit Märton Tibold von Palanka in der Südbatschka mit dem aus Wien kommenden Schiff nach Peterwardein/Petrovaradin. Märton erklärt seine Idee von der Donau als Völker verbindende Landstraße: m »Es akkor jött a fordulat, szinte jólesón érezte, hogy az író valahol elvetette a hangot. Mert könyve mind telibb torokkal csapott át egy egészen olcsó gyülöletbe más népek iránt. Márton apránként rajtakapta egyik igazságtalanságon a másik után. Erre felböszült: megérezte a muvészethamisító agitációt a szövegböl. Mennyire utálta ez a Guttenbrunn a magyarokat [...], aztán milyen hideg megvetéssel beszélt a >rácok<-ról és a Maroson tul tengödö >Walachen Volkt-ról. Fogalma se volt a bécsi úrnaka szociális különbsegröT, mely elválasztotta ezt a három fajtat.« (Übersetzt von E.K.) Ibid. p. 178. 207 Ibid. pp. 249-257. 108 Edit Király Haben Sie noch nie über die Bedeutung der Donau zwischen den Völkern nachgedacht? ANein der Name entsteht auf besondere Art und Weise: Wann und warum ist aus dem alten Ister die heutige Donau, Duna, Dunava und Dunärea mit ihrem gemeinsamen Stamm entstanden? Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, wie aus diesen mannigfachen Völkern ein freundschaftliches Bündnis entstehen soll, damit unsere Nachkommen stolz sagen können: Civis Danubius sum!208 Seine Rede wird durch die Ereignisse an Bord konterkariert. Bald nachdem Marten Tibold seine Ideen über die Vielvölker-Donau zum Besten gibt, kommt es auf dem Schiff zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den aus verschiedenen Ecken des Balkans kommenden Vertretern der Donau-Völker. Die Tam-bura, die zuerst schöne musikalische Unterhaltung versprochen hat, wird dabei zerbrochen. Mit dieser allegorischen Vorwegnahme des Ersten Weltkrieges wird der utopische Charakter von Tibolds Donau-Ideen hervorgekehrt. Die Donau erscheint wieder einmal als Projektionsfläche politischer Sehnsüchte und gleichsam natürliche Legitimation historischer Konstrukte. 12 Zusammenfassung Neben der fortschreitenden Vereinheitlichung von Zoll- und Steuerregelungen und dem Ausbau von Verkehrsnetzen spielen bei der Konstruktion des nationalen Raumes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts symbolische Praktiken eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Anleitungen zu solchen symbolischen Raumkonstruktionen lassen sich auch literarische bzw. trivialliterarische Werke lesen, die Landschaftsbeschreibung mit Narrationen nationaler Krisen und zivilisatorischer Kämpfe überblenden. Mag aber auch diese Literatur die Grenzregion zu ihrem landschaftlichen Hintergrund haben, sie entstand, wie es sich erwies, nicht in den Grenzregionen, sondern in den jeweiligen politischen und literarischen Zentren, auch sollte durch sie nicht eine regionale, sondern die nationale Identität gefestigt werden. Die Grenzregion spielte dabei die Rolle eines Modells und war letztendlich austauschbar. Den spezifischen ethnischen Dilemmen der Grenzregion trugen jene literaturpolitischen Abgrenzungen Rechung, die zwischen Assimiationsfreudigen und die Assimilation ablehnenden Autoren wirksam wurden. Die Hypertrophien der gegenseitigen Darstellung (als Renegat oder als Verbrecher) wie auch die demonstrative Ablehnung der Wahrnehmung verweisen auf die tatsächlichen Dilemmen, die sich Intellektuellen einer nationalen Minderheit stellten und auf jene Entscheidungen, die Identitätsbildend für sie wurden. Im vorliegenden Aufsatz wurde nachgezeichnet, wie konkrete geografische Orte in den diskursiven 208 »)Nem gondolkodott még a Duna népkózi fontosságán? Már a neve isfurcsa keletkezés: mikor és mi-ért lett az osi Isterból a mai közös tövü Donau, Duna, Dunava és Dunärea. S nem gondolkodott még azon, hogyan leszünk itt majd annyiféie népboí baráti szovetséggé, hogy mondják majd utódaink buszkén: Civis Danubianus sum!<« Ibid. p. 276. (Übersetzt von E. K.) Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der »Donaui 109 Raum nationaler Diskurse eingefügt werden. Besonders prekär erscheint hierbei das Beispiel eines Flusses wie der Donau, die in unterschiedlichen nationalen wie auch übernationalen Erzählungen vorkommt und sowohl als Verbindungsais auch als Trennungselement figuriert. In Adam Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen und Zeitungsaufsätzen werden gerade im Zusammenhang mit der Donau die Zugehörigkeit der Banater Schwaben zur deutschen Geschichte und ihre Distanz gegenüber dem ungarischen Staat herausgearbeitet. Die Donau ist dabei nicht nur jener Verkehrsweg, über den die großen »Schwabenzüge« nach Ungarn gelangt sind, sondern auch der Inbegriff eines Grenzflusses, der immer schon die Demarkationslinie im Kampf zwischen Kultur und Barbarei bildete, mithin den landschaftlichen Hintergrund für den Mythos des deutschen Kolonisten im Südosten Europas abgibt. Der Gegensatz von staatlicher Ordnung und Chaos, wie er sich im Krieg zwischen Römern und Barbaren, Babenbergern und Awaren, später von Habsburgern und Türken manifestiert, wird gerade am Beispiel der Donau in den ökonomisch und kulturell markierten Gegensatz von Stromregulierung einerseits und Bewahrung des »Urzustandes« andererseits überführt. Die Regulierung wird dadurch zu einer in der Region nur von Deutschen und Österreichern wahrgenommenen Kulturmission stilisiert, die Donau hingegen zu einer Figur kultureller und ökonomischer Abgrenzung. Der historische Roman Der große Schwabenzug zeigt zugleich, wie diese Figur am Vorabend des Ersten Weltkriegs jederzeit auch in einen kriegerischen Gegensatz umgedeutet werden kann. Eine ganz andere Landkarte der Identitäten entwirft der deutschstämmige ungarische Autor Ferenc Herczeg in seinem historischen Roman Die sieben Schwaben. Die Zugehörigkeit der Banater Schwaben zu Ungarn wird hier durch ihre Teilnahme an dem ungarischen Freiheitskrieg von 1848 erklärt und beglaubigt. Untertanen werden durch Blutopfer zu Staatsbürgern. Ihr ursprünglich rein ökonomisches Verhältnis zum Banater Boden wird im historischen Kataklysmus von 1848 zu Patriotismus verklärt. In diesem Roman, wie auch in Herczegs Lebenserinnerungen spielt die Donau als Grenzfluss eine markante Rolle. Ihre Schilderung fügt sich in jene Tradition mythisierender Donau-Darstellungen, die den Unterlauf des Flusses als eine Art Todesfluss imaginieren, dessen Überquerung ins Totenreich führt. Gefahren drohen nur von jenseits des Flusses, und die Donau als Grenze erscheint als Garant jener ethnischen Hierarchie zwischen Deutschen und Serben, die in Herczegs Werken als die Ordnung des Banats schlechthin angesehen wird. Die Grenze und der Grenzfluss erscheinen somit sowohl in Müller-Guttenbrunns als auch in Herczegs Werken als jene bedeutungsgeladene Linie, auf die hin die Verhältnisse des ethnisch gemischten Banater Gebietes geordnet werden. Der nationale Raum wird durch seine Abgrenzung von anderen Nationen definiert. Müller-Guttenbrunns wie auch Herczegs einschlägige Texte werden in der jeweiligen deutsch-österreichischen beziehungsweise in der ungarischen Öf- 110 EditKiräly__ -.——-—--■ :I m fentlichkeit als nationale Modeilfäiie gelesen. Dennoch zeigt eine genauere Untersuchung des literarischen und politischen Feldes, in dem beide Autoren agieren, dass trotz der Ausschließlichkeit ihrer jeweiligen Öffentlichkeiten und sogar ihrer zur Schau gestellten gegenseitigen Abneigung durchaus auch die gegenseitige Rezeption in Werken beider festzustellen ist. Gerade die Gegenläufigkeit ihrer jeweiligen Lektüren scheint den wahrhaft regionalen Aspekt ihrer Tätigkeit darzustellen. Gegenmodelle werden nicht in den großen Werkstätten der nationalen Öffentlichkeit, sondern im begrenzten Bereich der Minderheitenliteratur entworfen. Das trifft etwa auf die Werke des deutschstämmigen siebenbürgisch-un-garischen Autors Käroly Molter zu, der in seinem in der Zwischenkriegszeit veröffentlichten Roman Märton Tibola'-die Donau als eine Landstraße der Völker schildert, die sich an der utopischen Schnittstelle einander ausschließender Nationalismen befindet. i vf i ! Margit Feischmiot (Budapest/Pecs) Die Verortung der Nation an den Peripherien Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie1 Die Verortung der Nation, bzw. die Strategien der Nationalisierung des Territoriums eines Staates, wird im folgenden Artikel am Beispiel der Denkmalerrichtung in dem ungarischen Teil der Österreich-ungarischen Monarchie dargestellt werden. Der Zeitraum umfasst die Jahrzehnte nach dem Ausgleich 1867 bis zur Jahrhundertwende als die wichtigste Periode für die Inszenierung der Nation durch Denkmäler und Statuen in Ungarn. Das Ziel war die Erfindung und zugleich die monumentale Darstellung einer Tradition, die einerseits die Unabhängigkeitsbestrebungen von Wien und der Monarchie, andererseits die Besetzung des Territoriums des ehemaligen ungarischen Königreichs und ihre Umwandlung in ein ungarisches Vaterland (magyar haza) legitimieren konnte. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen Denkmäler, die in multiethnischen Grenzgebieten Ungarns errichtet wurden: die Millenniumssäulen, die 1896 zur Erinnerung an die »Landnahme« an sieben Punkten des Landes in ähnlicher Form aufgestellt wurde (siehe Illustration 1), und zwei städtische Denkmäler, Meisterwerke des ungarischen Historismus, nämlich das Freiheitsdenkmal in Arad (auch rumänisch und ungarisch Arad), und die Matthias Corvinus Statue in Klausenburg/Cluj/Ko-lozsvär (siehe Illustration 2 und Illustration 5). Auch das spätere Schicksal dieser Denkmäler und Statuen möchte ich verfolgen, vor allem mit der Absicht, ihre wechselnden Rollen in der Gedächtnispolitik, sozialen Erinnerung und in der Inszenierung der jeweiligen Nation in einem multiethnischen Raum zu erörtern. 1 Theoretische Vorbemerkungen Räume können auf unterschiedliche Art und Weise mit kulturellen Zeichen und Symbolen ausgestattet werden und werden dadurch im sozialen Sinne konstruiert. Ausgehend von seinen afrikanischen Feldforschungserfahrungen formulierte Edmund Leach, ein Klassiker der britischen Sozialanthropologie, dass Räume in jeder Gesellschaft mit bestimmten Narrativen verknüpft sind2. Vermittelt ' Der Aufsatz wurde mit der Unterstützung des Nachwuchsstipendiums der Ungarischen Akadamie der Wissenschaften Bolyai Jänos erstellt. Ich danke den Organisatorinnen und Teilnehmerinnen der Konferenz »Räume und Grenzen in der Österreich-ungarischen Monarchie von 1867 bis 1918« für ihre Fragen und Kommentare zu meinem Vortrag, die meine Argumentation geschärft haben, und besonders Alexandra Miliner, Wladimir Fischer und Edit Kiräly, die auch die Lektoratsarbeit dieses Textes besorgt haben. 1 Cf. LEACH, Edmund: Conclusion. In: PLATTNER, Stuart/BRUNER, Edward M. (Hg.): Text, Play and Story. The Construction and Reconstruction of Seif and Society. Proceedings of the American Ethno-logical Society 1983. Washington: American Ethnological Society 1984, pp. 356-364.