Wolfgang Mülle r-Fun k (Wien) Polyphems Kinder Kulturelle Irrfahrten zwischen Zentren und Peripherien 1. Prelude , Horkheimers und Adornos berühmter Text über die Dialektik der Aufklärung (1944) ist zumeist im Hinblick auf ihre modernitäts- aber auch mythenkritische Dimension hin befragt und vornehmlich als philosophischer Grundlagentext einer kompromisslosen Selbstkritik westlicher Rationalität interpretiert worden. Aber durch eben diese Infragestellung der Aufklärung, die in der Deutung der Autoren zum Kernstück westlich-kapitalistischer Zivilisation avanciert, wird auch der Blick auf jene freigegeben, die ihr zum Opfer fallen: die Me_nschen_an' der Grenze, an den Rändern, an den Peripherien. Poiyphem, der Fremde und Barj/ bar, der die griechischen Sitten und Sprache nicht kennt, wird bei Homer, dem ersten Autor, der Vico zufolge menschlich zu denken begann,1 zum Monster. Dass die realen wie imaginären Bewohner in den peripheren Räumen dieser Welt ihr menschliches Antlitz einbüßen, ist auch noch um die Neuzeit gang und gäbe. Die Atlanten um 1500 zeigen uns, wie die_Rjnd^r^esejJAye[t von Unge-heuern, Hybriden und fuTditerregenden Schauerwesen bevölkert sind. Sie lassen sich aus heutigefTerspéktive als Fremdbilder "begreifen,- die-aus -archaischer Angst vor dem Fremden und einem unhinterfragten und anscheinend unhinter-fragbaren Überlegenheitsgefühl erwachsen sind. Auf diese Weise lässt sich die Dialektik der Aufklärung auch als ein philosophischer Basistext für postkoloniale Studien lesen. Oder besser: als ein Text, in dem es um das Verhältnis von Zentren und Peripherien in jenem dramatischen Kulturgeschehen geht, das mit der Formel der Dialektik der Aufklärung umschrieben wird. Nicht alles Periphere ist automatisch kolonial oder postkolonial. Die Antarktis ist gewiss peripher, aber - weil nahezu unbewohnt - keine Kolonie. In modernen Nationalstaaten gibt es periphere, rurale Räume, aber weder das Waldviertel, noch die Provence wird man als kolonial bzw. postkolonial bezeichnen können. Für eine erste Orientierung genügt es zu sagen, dass Kolonialismus oder Semi-kolonialismus eine markante Form von Fremdheit und kultureller Differenz beinhalten müssen, um jene Reaktionsbildung in Gang zu setzen, die ich als Kombination aus elementarem Schrecken und zivilisatorischem Überlegenheitsgefühl 1 Cf. Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker [1744]. Dt. von Erich Auerbach. Mit einem Nachwort von Wilhelm Schmidt-Biggemann. New York: de Gruyter 2000, nn 47-t;n 18 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 19 bestimmt habe. Insofern ist der monströse Fremde, den man in Schach halten, unterdrücken, zähmen oder zivilisieren muss, eine extreme Variante in jenem global gewordenen interkulturellen Szenario, das in den Kategorien von Zentrum und Peripherie beschrieben werden kann. Es ist in die Texte jener Literatur eingeschrieben, die von den Erfahrungen dieser Dialektik der Aufklärung an den Rändern zehren. Im folgenden Beitrag werden dabei zwei Autoren miteinander kontrastiert: für den habsburpisch-kakanischfrt Kontext Joseph Roth für den südamerikanischen Gabriel Garcia Marquez. Homers Odyssee zeigt, dass der zivilisatorisch Tiefstehende, der eigentlich gar kein Mensch ist, nicht unbedingt weit weg sein muss. Der Raum, den die Griechen real wie symbolisch bevölkerten, war durchaus überschaubar. Das bedeutet aber auch, dass Zentrum und Peripherie nicht ausschließlich geografische oder, ökonomische Kategorien sind. Die Realität moderner Großstädte mit ihren M ig-, rationswellen zeigt, dass Zentrum und Peripherie sich an ein und demselben Ort befinden und dass sie gleichsam Platz tauschen können. ' OdysseusTdlfFÄrchetyp westjTcher Kultur und literarische Folie für ein philosophisches Werk, ist ständig unterwegs. Er, der sich als Repräsentant einer überlegenen Kultur weiß, hat keinen festen Ort. Das Zentrum ist mobil, sein Schiff, das ihn über fremde periphere Inseln nach Hause bringt: Heimkehr ins Zentrum, obschon die Insel Ithaka, deren Herrscher er ist, wiederum eine Peripherie griechischer Kultur ist. Monstren und mythische Ungeheuer säumen seinen gefährlichen Weg. Ähnlich hat man sich bis in die Moderne hinein die Ränder dieser Welt vorgestellt, allenthalben mit Menschenfressern bevölkert. Die gefährliche Fahrt, die Odysseus wagt, der anders als die »Meerschäumer« der Neuzeit (Carl Schmitt) noch ein Binnen-Meerfahrer ist, liest sich wie eine rite de passage: man durchstreift die gefährliche, prinzipiell menschenferne Peripherie, um sich der Überlegenheit der eigenen Kultur, die deren Herrschaftsanspruch legitimiert, zu versichern. Die übliche f^gur dieses stellvertretenden Triumphes über die gefährlichen peripheren Kulturen da draußen ist der Seefahrer. Aber die Erschließung fremder Räume kann auch territorial vonstatten gehen, zu Fuß, zu Pferd, zu Kamel. Afrika, der Kaukasus, aber auch der Nahe Osten sind in den Augen der Europäer solch verlockend und erschreckend fremden peripheren Räume. Im Kontext der Habsburger Monarchie sind es jene Regionen, die durch sprachliche Differenz, fremde Volkskultur, ökonomische Rückständigkeit charakterisiert werden: Gali-zien, Transsylvanien, Bosnien. Anders als Niederösterreich und Tirol haftet ihnen etwas pittoresk und zugleich elementar Fremdes an, ein Hauch von Orient und von den asiatischen Rändern Europas. 2. Die Entzauberung der Entzauberung: Romantik und Aufklärung Moderne in beiden Aspekten - als historischer Zustand (Modernität) und als Bewegung (Modernismus) - enthält ein Bündel von großen Erzählungen (Lyotard2) und Metaphern (Blumenberg3). Modernismus und Modernität lassen sich in ihrer wechselseitigen Verquickung im Sinne eines Prozesses der Säkularisierung als Ausgang aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) beschreiben, eine Definition, die Hans Blumenberg sehr treffend als Formel »voreiliger Selbstzufriedenheit«4 bezeichnet hat, als ein historisches procedere wachsender Rationalität und Selbstreflexion, als fortschreitende Entzauberung der Welt, oder um es anders zu formulieren, als Prozess der Delegitimierung von mythischen, magischen und religiösen Haltungen, Ideen und Mentalitäten. So kann man sagen, dass die Moderne, wenigstens in ihrer frühen aufklärerischen Version, das Versprechen des Endes der Illusionen und Täuschungen enthält, die von den Manipulationen und Täuschungsmanövern herrschsüchtiger Priester herrühren. Diese Geschichte gehört zur narrativen Matrix am Eingang der Moderne, sie findet sich in Francis Bacons Novum Organon5 ebenso wie bei dem französischen Enzyklopädisten Condorcet6 oder in Wielands Roman Agathon7. Aus dem historischen Blickwinkel der Aufklärung ist jeder Rekurs auf die Höhle des Mythos problematisch: »Der Weg in die Höhle zurück ist der des Menschenfeindes.«8 TAufklärung ist die eine SäulejJer Moderne, Romantik als die Avantgarde der nachfolgenden ästhetischen Avantgarden die andere.\W\e Hans Blumenberg herausgestellt hat, protestiert die Romantik ge'ferTcfrildee, dass alle Phänomene, die nicht von der Vernunft kontrolliert und beherrscht werden können, schlicht Betrug seien. In Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen ist die Höhle, wie 2 Cf. Lyotard, Jean Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien et al.: Bühlau 1986, eap. 9. 3 Cf. Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. 4 Ibid., p. 549. 5 Bacon, Francis: Neues Organon. Lateinisch u. Deutsch. Hg. von Wolfgang Krohn. Teilbd. 1. Hamburg: Feiix Meiner 1990, p. 101 (§ 39): »Vier Arten von solchen Idolen* halten den menschlichen Geist gefangen. Ich habe sie der besseren Darstellung wegen mit Namen versehen: die erste Art soll als Idol des Stammes bezeichnet werden; die zweite als Idol der Höhle; die dritte als Idol des Marktes; die vierte als Idol des Theaters.« 6 Caritat Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hg. von Wilhelm Alff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, p. 47: »Aber es läßt sich nicht übersehen, wie die Kunst sich vervollkommnet, die Menschen zu täuschen, um sie ausbeuten zu können und eine auf Furcht und wahnhafte Hoffnung gegründete Verfügungsgewalt über ihr Denken sich anzumaßen.« - Bei Condorcet lässt sich übrigens sehr schön zeigen, wie nahtlos das neue Narrativ des Fortschritts und die Bewertung der Kulturen Hand in Hand gehen. Cf. ibid., p. 49: »Seit unvordenklichen Zeiten sind einige Völker auf einer der beiden Stufen [Ackerbau und Viehzucht, W.M.-F] stehengeblieben. Nicht nur, daß sie es nicht aus eigener Kraft zu weiteren Fortschritten gebracht haben - auch die Beziehungen, die sie zu anderen, auf sehr hoher Zivilisationsstufe stehenden Völkern eingegangen waren, der Verkehr, den sie mit ihnen aufnahmen, konnte bei ihnen nicht jene Umwälzung herbeiführen.« 7 Ein besonders schönes literarisches Beispiel für die exemplarische Entzauberung und Aufdeckung des Priestertrugs: Das berühmte Orakel in Delphi wird als eine geschickte theatralische Täuschung entzaubert. Cf. Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agaton. Erste Fassung (1766). Stuttgart: Reclam 1979, pp. 15-271. 8 Blumenhero 19R9. n 515 20 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 21 Blumenberg zu Recht betont, »der bevorzugte Sitz für eine Weisheit, die durch keine Anschauung der Natur gewonnen werden kann«9. Der Weg zurück in die Dunkelheit ist hier keineswegs als anti-humanistische Umkehr gedacht, vielmehr als ein Weg der Selbstbesinnung, als eine ästhetische Meditation über die blinden Flecken der Aufklärung. Dieses Dunkel - ob Höhle oder Dschungel*- bildet das Gegenstück zum Licht in Raum und Zeit. Es ist z.B. die Dunkelheit der Jahrhunderte zuvor, die Dunkelheit des Mittelalters, die Dunkelheit anderer (außereuropäischer Kulturen. Das Verhältnis der Romantik zu dieser Dunkelheit ist einigermaßen zwiespältig. Ihr progressiven Aspekt besteht in dem Versuch, einen realen oder virtuellen Beobachter der Moderne zu finden. Die Romantik mit ihrer Suche nach einer anderen, verlorenen Zeit lässt sich selbst als ein solcher Beobachtungskandidat in unserer eigenen Kultur begreifen: in Gestalt des Außenseiters mit dem Status des Sonderbeobachters. Diese poetische Intention ist eine konstante Struktur in der Moderne; es geht darum, die Würde all jener Kulturen und Subkulturen wiederherzustellen, die insbesondere im Gefolge der Etablierung der großen Narrative von Fortschritt, Aufklärung und Freiheit in den Verdacht des Dunklen und Primitiven geraten. Insofern konstituiert sich die Romantik selbst als Gegenbewegung zur historischen Aufklärung, zugleich aber als ein integraler Bestandteil der Moderne. Indem sie die Fantasie und Einbildungskraft rehabilitiert, transformiert und >sä-kularisierti sie die Bestände von Mythos und Religion.10 So besehen lässt sich die Romantik als eine zweite Aufklärung begreifen, als eine Aufklärung mit anderen und paradoxen MitteinVals eine >Kritik der reinen Vernunfü, die Dimensionen menschlicher Existenz diskursiv oder zumindest in den ästhetisch-expressiven Medien (Künsten) manifest macht: Das Unbewusste, das Unheimliche, Sexualität und Alterität. Moderne - Modernität und Modernismus - kann so als dynamischer Prozess verstanden werden, in dem Aufklärung und Romantik eine antagonistische und zugleich stimulierende Rolle spielen. Es ist der Logik der Entzauberung inhärent, dass in ihrem Verlauf die Aufklärung selbst entzaubert wird. Dieser Prozess kann mit dem CEuvre von Freud, Nietzsche und später mit der französischen >Postmoderne< verbunden werden. Die Moderne lässt sich dabei -etwa bei Derrida - als System einer verschwiegenen logozentrischen Metaphysik mitsamt einem hypertrophen Subjekt beschreiben. Am Ende verflüchtigt sich nach und nach das Pathos selbst in den modernen Künsten, denn auch sie werden vom Prozess der Säkularisierung erfasst. Theorien wie der Konstruktivismus führen vor, dass auch unsere rationalen Konzepte der Welt nur Konstrukte und Erfindungen darstellen. Wenn das zutrifft, dann beginnen die Unterscheidung zwischen Realität und Illusion und das 9 Blumenberg 1989, p. 551. 10 Paz, Octavio: Die andere Zeit der Dichtung [Los hiios del limol. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, cap. 3. Pathos der Wahrheit brüchig zu werden. Die Moderne erleidet schlussendlich dasselbe Schicksal wie die symbolischen Systeme des 18. und 19. Jahrhunderts. Der Prozess der Entzauberung unterminiert so die Grundbestände der Moderne selbst und bringt in beträchtlichem Ausmaß >postmoderne< Unsicherheit und Enttäuschung hervor. Enttäuschung meint auf der einen Seite den Abschied von hochgesteckten Erwartungen, die in den grand rěcits der Moderne formuliert worden waren, und auf der anderen Seite das Ende der Illusionen in Hinblick auf die Moderne selbst. Es ist das skeptische Element in der modernen Befindlichkeit, das auf sie selbst zurückschlägt. Von dieser Warte aus wird es möglich, die Anfänge, die Entwicklung und die Entzauberung der Moderne zu bedenken. Aus dieser Perspektive ist es nicht so entscheidend, ob dieser Prozess einer der Moderne innewohnenden Dynamik geschuldet ist, oder ob er einen Bruch im kulturellen Leben der Moderne darstellt. Die postmodernen Phänomene sind in jedem Fall Ausfluss des Projekts der Moderne, das seinem eigenen Selbstverständnis nach als ein nie endender Zustand der Veränderung begriffen werden kann. Marx' Definition der proletarischen Revolution als permanentem Prozess,11 die futuristische Definition der Avantgarde als unbegrenztem und grenzenlosem Unternehmen12 sowie die Selbstbeschreibung der Wissenschaften als Reise ohne Ziel mögen als Beispiele für die Selbstdarstellung der Moderne und des Modernismus als einer Bewegung gelten, deren einzige Bedeutung letztendlich die Bewegung selbst ist. Es bleibt nichtsdestotrotz unklar, was die Formel von der Entzauberung der Entzauberung wirklich meint. Sie kann mindestens zweierlei völlig Verschiedenes bedeuten: entweder einen stetigen Prozess rationaler Selbstreflexion oder eine Revision all jener Ideen, die die Moderne in polemischen Kontrast zu den Illusionen der Religion und des Mythos stellen; beide Interpretationen sind mit dem Verdacht verbunden, dass wir nunmehr in einer symbolischen Welt leben, die weniger transparent ist als jede andere historische Formation zuvor. In jedem Fall kann die kritische und selbstreferenzielle Geschichte der Dialektik der Aufklärung über ihre dunklen Seiteji nur aus einer Außenperspektive erzählt werden. Sie bedarf eines Beobachters, der auf plausible Art und Weise das kontrastive Narrativ zu erfinden und die Geschichte der Moderne aus dem 11 Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852). In: Marx-Engels Studienausgabe. Hg. von Iring Fetscher. Bd. IV: Geschichte und Politik 2. Frankfurt/M.: Fischer 1966, p. 37: »Proletarische Revolutionen [...] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbwahrheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhaft ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze.« u Cf. Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek: Rowohlt 1993, pp. 52-91; Asholt, Woifgang/Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart: Metzler 1995, p. 3; Wagner, Birgit: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. München: Fink 1996, pp. 46-52. 22 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 23 Blickwinkel ihres wirklichen oder auch nur vermeintlichen Opfers zu erzählen weiß, das ihren Regeln unterworfen ist. Solche Opfer, wie sie auffällig oft in der romantischen und nachromantischen Literatur vorkommen, können sowohl Mitglieder der modernen westlichen Kultur repräsentieren - das Kind, die Frau, marginalisierte soziale Gruppen - als auch kolonisierte Ethnien innerhalb und außerhalb Europas sein. * In jedem Fall haben Termini wie »Kultur* und »Zivilisation» die Menschen stets in zwei Gattungen gespalten' in die einen, die kultiviert und/oder zivilisiert sind, und in die anderen, die man zivilisieren und/oder kultivieren muss. Modernität bedeutet in jedem Fall, im Zustand der Zivilisiertheit zu leben. Demgegenüber befinden sich all die anderen im Zustand der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Sie neigen dazu, unzivilisiert und unterentwickelt zu sein. Sie gleichen Kindern, denen man die Standards der modernen Zivilisation beibringen muss. Der westliche Modernismus marginalisiert nicht nur die eigenen traditionellen symbolischen Formen, Werte und Mächte, vielmehr werden all die anderen nicht-okzidentalen Kulturen,automatisch mit dem Stigma der Primitivität und Unterentwicklung versehen. Die Narrative des Fortschritts und der Konflikt zwischen dem Westen und dem Rest der Welt sind nur die zwei Seiten ein und desselben Dramas der Moderne. Man kann dafürhalten (und an diesem Punkt Edward Saids Orientalismus zustimmen), dass die Entwicklung moderner westlicher Gesellschaften nicht denkbar ohne ihr Anderes ist: dem Dunklen und Primitiven in Raum und Zeit. Das Herz der Finsternis bildet den strategischen Gegenpol zum Prozess und Projekt der Aufklärung, die das ehrgeizige Ziel verfolgt, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Insofern besteht eine strukturelle Abhängigkeit der Aufklärung von ihrem Anderen. Das Ende des Dunkels bedeutet mit unbarmherziger Logik auch das Ende der Aufklärung. Aber die Dunkelheit ist überall, nicht nur in Afrika sondern auch in uns selbst, wie Kapitän Marlow in Conrads Heart ofDarkness (1902) erläutert: I've never seen anything so unreal in my life. And outside, the silent wilderness surrounding this cleared speck on the earth struck me as something great and invincible, like evil or truth, waiting patiently for the passing away of this fantastic invasion.13 Kapitän Marlow, der der Erzähler seiner »eigenen» Geschichte ist, deutet die Reise in den Urwald als einen Prozess archaischen Erinnerns und als tiefe Irritation modernen Bewusstseins: The prehistoric man was cursing us, praying to us, welcoming us - who could tell? We were cut off from the comprehension of our surroundings; we glided past like phantoms, wondering and secretly appalled, as sane men would be before an enthusiastic outbreak in a madhouse. We could not understand because we were too ,1 13 Conrad, Joseph: Heart of Darkness. London: Penguin 1994, p. 33. far and could not remember, because we were travelling in the night of the first ages, of those ages that are gone, leaving hardly a sign - and no memories. The earth seemed unearthly. We are accustomed to look upon the shackled form of a conquered monster, but there — there you could look at a thing monstrous and free. [...] No, they were not inhuman. Well, you know, that was the worst of it - this suspicion of their not being inhuman.14 Diese Reise beinhaltet all die wichtigen Irritationen moderner Rationalität, die sie zugleich ex negativo konstituieren: den Verlust von Orientierung und Gedächtnis, die Wiederkehr archaischer Gewalten, die Furcht, wahnsinnig zu ^ werden, die Begegnung mit dem realen oder vermeintlich Inhumanen, das sich als unbändig und machtvoll zeigt. Die nur zu bekannten Instrumente modernen Denkens erweisen sich als nutzlos, und es hat den Anschein, dass es Monster gebiert, die die zivilisierte Welt bedrohen. Ein tief sitzender Selbstzweifel kommt zum Vorschein, ob das Werk der Aufklärung stark genug ist, die dunklen Seiten der Wildnis zu bannen. Das Projekt eines spezifisch modernen Typus von Aufklärung könnte scheitern. Das wäre eine weitere Bedeutungsvariante der Formel von der »Entzauberung der Entzauberung«. Es wird an den Peripherien der modernen Welt sichtbar, dort, wo der Triumph der westlichen Zivilisation Hand in Hand mit der Krise der eigenen Kultur geht. Sofern die »Entzauberung der Entzauberung« auf eine kritische und selbstkritische Sondierung der Moderne abzielt, muss die Perspektive verändert und umgekehrt werden. In diesem Fall wird die Erzählung von Fortschritt und Zivilisation aus der Perspektive der Kolonisierten erzählt. Die bekannten Zweifel und Kritiken Montaignes und Rousseaus hinsichtlich der westlichen Kultur benötigen die Figur des authentischen pd natürlichen Menschen, der im Einklang und in Harmonie mit der Natur lebt. (»Der Amerikaner, der, den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine schlechte Entdeckung«, trägt Lichtenberg, der Spätaufklärer und Bewunderer Captain Cooks, eine Figur des Übergangs von der Aufklärung zur Romantik, in sein Sudelbuch ein.15 4, Mit diesem ironischen Kommentar beschreibt Lichtenberg den narrativen Kern und das narrative Muster, das die Kritik an der Moderne in ihren beiden Aspekten - als Befindlichkeit wie als Programmatik - begleitet und das mit der Formel von der Entzauberung der Entzauberung charakterisiert werden kann, die Hand in Hand geht mit der Delegitimierung jeder Art von Macht, die sich auf kulturelle Differenz gründet. Es ist erhellend, dass Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die in ihrer Dialektik der Aufklärung eine kritische Lesart einer Aufklärung ausgearbeitet und begründet haben und diese als unfreiwilligen »V Conrad 1994, p. 51. // 15 Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher Bd. II. Hg. von Wolfgang Promies. München: Hanser 1967/ Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1994, p. 166; cf. Müller-Funk, Wolfgang: Erfahrung und Experiment. Studien 7IJ Theorie und Geschichte Hp^ F^avkmu*; Rprlin- AkpHpmip-Vprl 199R n 139 7 TT 24 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 25 Umschlag in den Mythos interpretieren, sich in ihrer eigenen philosophischen Erzählung der Figur des Kolonisierten bedienen. Horkheimers und Adornos Buch deutet Odysseus als einen Vorläufer und Archetyp moderner bürgerlicher Rationalität.16 Er wird nicht nur als ein Kapitalist angesehen, dessen List Menschen wie Dinge in schiere Werkzeuge verwandelt, deren man sich zum eigenen Nutzen und züfr Maximierung des eigenen Profits bedienen kann, sondern er handelt auch wie der Repräsentant einer hegemo-nialen kulturellen Macht, der die Vertreter einer >natürlichen< und mythischen Kultur überlistet und austrickst. Polyphem, der Sänger (wörtlich: der Liederreiche), der archaische Riese und Menschenfresser, wird als der Typ des Barbaren gezeichnet, der die Regeln der Gastfreundschaft sowie die Technik moderner Identitätskonstruktion nicht kennt. Als primitiver Kannibale imaginiert und als fortwährende Bedrohung der vormodernen griechischen Kultur erfahren, wird er am Ende der Geschichte sinnfälligerweise geblendet. Die Blendung hat in Homers Epopöe einen doppelten Aspekt: Auf der einen Seite bedeutet sie die Kastration einer anderen Kultur durch eine, die sich als zivilisatorisch überlegen definiert, aber auf der anderen Seite legt sie nahe, dass die Blendung eine radikale Täuschung impliziert. Eine Aufklärung, die Klarheit und Transparenz versprochen hat, macht auf diese Weise ihre Opponenten blind und stumm. Aber mit diesem Akt reproduziert sie die Logik des Opfers. Sowohl die Kolonialherren wie auch die Kolonisierten wissen am Ende nicht mehr, wer sie sind, weil sie nicht verstehen, was mit ihnen geschehen ist. Die Blendung, Symbol der Niederlage und Bestätigung der Überlegenheit des Fremden, ist die Voraussetzung für die Anerkennung des machtpolitischen Sachverhalts, dass die Repräsentanten der modernen Welt die Herren und alle anderen Diener oder Knechte sind. Die einen sind die Eltern, die anderen die Kinder, die erzogen und geformt werden müssen. Polyphems Blendung, die auch als Akt der Entzauberung einer mythischen Macht interpretiert werden kann, markiert zugleich den Beginn des Projektes dessen, was Catherine Hall in ihrer erhellenden Studie über den Kolonialismus im Jamaika des 19. Jahrhunderts absichtsvoll doppeldeutig als »civilising sub-jects«17 bezeichnet hat. Mehr und mehr wird von Belang, ob die nichtmodernen Anderen als ganz andere Lebewesen mit monströsen Aspekten gesehen werden (so etwa die Argumentation der weißen Plantagenbesitzer) oder als schwarze Brüder und Schwestern, die Hilfe benötigen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen (so lautete das Argument der baptistischen Missionare). Man (Mann oder Frau) muss, um >gleichc zu werden, bestimmte Formen der modernen Zivilisation übernehmen, im vorliegenden Fall das Christentum, den Lebensstil 16 Cf. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.: Fischer 1969, 1988, pp. 50-87. 17 Hall, Catherine: Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830-1867. London: Pnlitv Pr ?nn? der weißen Mittelschicht, einen Standard von Hygiene, Schulerziehung und ein Standardrepertoire von Wissen. Das ist der zweite, symbolische Tod Polyphems. Aus dieser Perspektive bedeutet Moderne stets, die blutige und grausame Welt des Mythos zu bannen, vor allem die kulturell fremde, und sie durch eine andere christliche oder säkulare mit christlichen Werten zu ersetzen: Emancipation gave men and women iheii political, social and economic freedom. But only conversion gave them a new life in Christ, the possibility to be born anew, to be new black suBjects, washed clean of old ways - new black men and women.18 3. Die Kultur des Fremden: Künstliche Perlen und Korallen, die Alchemie telematischer Apparaturen Die Geschichte und Geschichten der Moderne aus der Perspektive der Kolonisierten zu erzählen, impliziert immer, sie als mysteriöse und rätselhafte Ereignisse Revue passieren zu lassen. Weil moderne Rationalität in Gestalt von Wissenschaft, Ökonomie, Verwaltung und Politik nicht das Ergebnis dynamischer Entwicklungen innerhalb solcher partikularer Kulturen ist (die nur das eine gemeinsam haben, dass sie sich nicht primär aus jener Kultur speisen, die die moderne Lebensweise hervorgebracht hat), muss Modernität zwangsläufig als etwas Fremdes erscheinen, als ein exterritoriales Phänomen aus einer anderen Welt. Es ist gerade dieser fremdartige Aspekt moderner Erfindungen, der sie im anderen kulturellen Kontext als Fremdkörper erscheinen lässt: Die außereuropäischen Kulturen sind gleichsam von der westlichen Kolonisation >geblendet<. Die Moderne erscheint als mysteriös, weil kein anderer Diskurs als ein mythischer zur Verfügung steht, um deren symbolische Formen in die eigene Kultur zu integrieren Er ist mythisch auch deshalb, weil die Geschichte der Moderne aus dieser Perspektive nur in Kategorien des Schicksals oder des Wunders erzählt werden will, kann und muss. Dass Moderne sich automatisch in ein mythisches Ereignis transformiert, hat mit dem Umstand zu tun, dass sie tatsächlich von außen kommt.19 18 Hall 2002, p. 124. 19 In seinen kritischen Essays über den Nationalsozialismus hat Leo Trotzki geschrieben, dass die Deutschen Autobahnen bauen, aber mit gotischen Buchstaben schreiben. Trotzki, Leo: Porträt des Nationalsozialismus (10.06.1933). In: Ders.: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Auswahl aus Schriften über Deutschland. Hg. von Helmut Dahmer mit einer Einl. von Ernest Mandel. Frankfurt/M.: EVA 1971, p. 298: »Die Beibehaltung der gotischen Schrift im Gegensatz zur lateinischen ist eine symbolische Vergeltung für das Joch des Weltmarkts. Die Abhängigkeit von den internationalen - darunter auch jüdischen - Bankiers ist nicht um ein Jota gemildert, dafür ist es verboten, Tiere nach dem Talmudritual zu schlachten. Ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert, so sind die Straßen des Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt.« 26 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 27 Der Fremde kommt und bringt Dinge, die in der heimischen Kultur nicht üblich (common sense) sind. Die Figur des Fremden, der Person von außerhalb, des Wanderers von weither, entzündet die Fantasie des Einheimischen und des Siedlers von hier. Mit dieser epischen Introduktion setzt der berühmteste Roman des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez Cien aňos de sole-dad (1967) ein.20 Macondo ist ein winziges fiktives Dorf, weit entfernt von den Zentren der Zivilisation, umneben vom Urwald im nördlichen Teil Südamerikas, Der Roman erfindet einen neuen Gründungsmythos. Macondo ist das Werk des jungen, unternehmungslustigen Jose Arcadio Buendia, der seine eigene und einige andere Familien in die Wildnis geführt hat - eine besonders bizarre Version des gelobten Landes. Wir befinden uns nicht mehr im ersten Akt der Kolonialgeschichte, in dem die Kolonisatoren auf die autochthone indigene Bevölkerung treffen. Obwohl der Roman auf einem Gründungsmythos basiert, bildet die Welt von Macondo einen Kosmos, in dem Einheimische und weiße Immigranten bereits vermischt sind. Von Anfang an stellt das Dorf ihre gemeinsame >postkoloni-alei Welt dar, obschon ganzjdar ist, dass es eine kulturelle Hierarchie gibt. Macondo ist Territorium abseits der Zivilisation und steht in Opposition zu ihr. Es ist der Ort außerhalb des stählernen Gehäuses der modernen Bürokratie, archaisch, ein so patriarchales wie matriarchales System, das von Buendia und seiner Frau Ursula, dem Urvater und der Urmutter, einigermaßen autoritär regiert wird.21 Es ist eine anti-bürgerliche Welt, in der der sexuelle élan vital das unbändige Wachstum der Natur spiegelt. Es handelt sich um eine vorkulturelle und vorzivilisatorische Welt von Inzest und Promiskuität, in der mit anderen Worten die sexuellen Beziehungen noch nicht durch Ehe und Monogamie gebändigt sind. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass dieses Dorf zumindest zu Beginn keine Toten, sondern nur Lebende beherbergt. Insofern stellt sich Macondo als der Ort dar, der all die symbolischen Elemente entbehrt, die Giambattista Vico mit Kultur in Zusammenhang gebracht hat: die Ehe als eine symbolische Ordnung, die die Beziehung zwischen den Geschlechtern und den sexuellen Umgang miteinander regelt, die Rituale der Bestattung, die ein System kollektiven Erinnerns etablieren und Kultur als eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten konstituieren, und ein System des Rechts, das ein sicheres Leben innerhalb des Gemeinwesens verbürgt.22 Wildnis, der Radikalismus der Natur, wird als ein Platz vorgestellt, an dem Kultur ohne jede Bedeutung ist, keine Relevanz besitzt, ja überhaupt als Praxis unbekannt ist. Überspitzt ließe sich behaupten, dass die Menschen die Welt der Kultur und Zivilisation verlassen haben. Am Ende jedoch wird dieser abgeschiedene und isolierte Flecken am Rande der Welt, ein topos, der den Charme eines linken Anarchismus mit einer kruden Form von 20 Cf. Marquez, Gabriel Garcia: Hundert Jahre Einsamkeit. Aus dem Span, von Kurt Meyer-Clason. Köln: Kiepenheuer Ö Witsch 1979, p. 29ff. 21 Cf. Bachofen, 1: Mutterrecht und Urreligion. Hg. von Hans G. Kippenberg. Stuttgart: Kröner 1984, p. 98. 22 Cf. Vico 1744/2000, p. 51. archaischer Fantasie verbindet, in Gestalt von Regierungsbeamten, Soldaten und eines Geistlichen von der Zivilisation eingeholt. Es ist aufschlussreich, dass der Roman nicht mit der Geschichte der Gründung der hybriden Kolonie beginnt, sondern mit der Erinnerung des Romanhelden an ein Erschießungskommando, das er überlebt hat, sowie mit dem Besuch einer Gruppe von Zigeunern aus Makedonien, einer europäischen Peripherie in einem Melchiades, dessen Name mit einem der drei neutestamentarischen Könige aus dem Orient übereinstimmt« figuriert gleichsam als Bote aus einer fremden Welt. Bei seinem ersten Besuch erstaunt er sein Publikum mit dem Phänomen des Magnetismus, das den Begründer von Macondo glauben macht, dieses achte Weltwunder zur subterranen Goldsuche nutzen zu können. Als die Gruppe später an dieses Ende der Welt zurückkehrt, konfrontiert Melchiades die Einheimischen mit einem Teleskop, einem Vorläufer moderner Medien, der die Möglichkeit suggeriert, dass die Menschen imstande sein werden, all die Dinge der Welt zu sehen, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Es ist das Narrativ, das wir aus vielen italienischen Filmen des Neorealismo und von McLuhans Medientheorie her kennen: Es sind die modernen Wunder der Wissenschaft und der telemati-schen Kommunikation, die Einzug in dem winzigen Fleckchen Macondo halten. In einem sehr ironischen Sinn ist Macondo ein globales Dorf oder genauer: das globalisierte Dorfe, das integraler Teil der Welt wird. Ergebnis dieses Transfers ist, dass der Begründer der Kolonie in der Wildnis ein Laboratorium bauen lässt, das wiederum in der Welt von Macondo eigentümlich deplatziert, >fehl am Platz« ist. Dieses Laboratorium der Moderne ist als magische Zauberkammer imaginiert, in der Aureliane der Sohn, nach seinem Rückzug von seinen militärischen Abenteuern das Ende seiner Tage verbringen wird. Es handelt sich um einen männlichen Rückzug in einer genealogischen Erzählung, die eine Variante der Geschichte von der ewigen Wiederkehr des Gleichen darstellt. Aber zugleich wird der unvermeidliche Triumph der westlichen Zivilisation offenbar. Melchiades' Laboratorium verwandelt sich in ein symbolisches Exil. Die hundert Jahre Einsamkeit haben eine doppelte Bedeutung: Sie verweisen auf die melancholische Einsamkeit der Männer als Kriegsherren und als esoterische Träumer. Eine auffällige Anzahl von Männern im Roman sind nämlich Tagträumer, die jeglichen Kontakt mit der realen historischen Welt verloren haben. Im Kontext des sozialen Kosmos von Macondo ist die Welt der Wissenschaft nicht wirklich mit der etablierten modernen Welt der Ökonomie, der Politik und Technologie verbunden. Die Interpretation der modernen Naturwissenschaften als märchenhafte Wunderund mythische Begebenheiten ist ästhetisch außerordentlich produktiv. Als Gemeinwesen jedoch bleibt die fiktive Welt von Macondo den modernen Zeiten und ihren Repräsentanten gegenüber feindlich eingestellt. Hartnäckig weigert sie sich, modern zu werden. Insofern sind die hundert Jahre Einsamkeit mitsamt ihrem Scheitern und ihren Obsessionen eine Tragödie. Sie bringen eine 28 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 29 Welt der Missverständnisse zwischen den Geschlechtern mit sich und begründen einen Teufelskreis eines fortwährenden - zuweilen latenten, zuweilen manifesten - Bürgerkriegs, der nicht enden will. Aber Macondo stellt auch eine Gegenwelt zur Modernität des Kapitalismus und der Wissenschaft dar. Es ist, wie gesagt, eine typische Geschichte der Linken. Ihre versteckte Melancholie weist darauf hin, dass diese schon 1967 - und es besteht kein Zweifel, dass der kolumbianische Romancier zu den prominentesten linken postkolonialen Autoren seiner Generation gehört - den Glauben an die Möglichkeit der Überwindung des westlich-kapitalistischen Modernismus und an die Errichtung einer neuen Welt verloren hatte. Am Ende verwandelt sich Macondo selbst in eine Welt, die prä- und postmodern zugleich ist. Melancholie ist, wie Wolf Lepenies schon früh gezeigt hat, die Antwort auf eine Situation, in der ehrgeizige soziale Gruppen sich von Einfluss und Macht abgeschnitten sehen.23 Die Melancholie in den ahos desoledad kann auch als Ergebnis der Unmöglichkeit gesehen werden, den erfolgreichen Westen mit einem alternativen Modell aus der »Dritten WeJt< zu konfrontieren, die zugleich die postkoloniale Welt der kolonisierten Menschen ist. Melancholie als seelisches Erscheinungsbild findet sich auch in der märchenhaften Welt des jüdisch-österreichischen Romanciers Joseph Roth. Roth, der in der galizischen Provinzstadt Brody geboren wurde, begann seine Karriere als linker Journalist und Schriftsteller in Wien und Berlin. Seit Mitte der 1920er Jahre entdeckte er seine eigenen >Wurzeln<: das habsburgische Imperium und -wie in Leviathan, einer seiner besten, 1939 posthum erschienenen Geschichten24 -die osteuropäisch-jüdische Welt. Das ist eine charakteristische Rückwende des Intellektuellen aus der Peripherie: von den Rändern ins Zentrum und dann - im Medium der Literatur - von dort zurück an die Ränder. Zu Roths Ehrgeiz gehört es, seinen Landsleuten an der Peripherie eine Stimme im Zentrum und ein Bündel von Narrativen zu geben. Die Stimme der Literatur ermöglicht es, die historische Situation zu begreifen, damit aber auch die Befindlichkeiten in den Zentren der Moderne, in denen Roth überwiegend sein Leben verbrachte: Wien, Berlin, Frankfurt, Paris. Der Kosmos von Progrody in Leviathan ist ganz anders als die Dschungel-Welt von Macondo, keine Wildnis frei schweifenden Begehrens und Fantasierens. Diese Gefühle werden zurückgehalten und konzentrieren sich auf den Besitz von Korallen. Denn Progrody ist kein einladender Platz, an dem man bleiben möchte, sondern ein Ort, der die Sehnsucht hervorbringt, wegzugehen oder von einer Welt fernab der Zivilisation und der Enge des traditionellen, beschränkten mun-duszu träumen. Dieser und ähnliche Orte in Roths epischem Universum (wie in Der Eichmeister, Hiob oder in Hotel Savoy) beziehen sich auf eine melancholisch-romantische Welt jenseits der bürgerlichen Ordnung, die von Schmugg- lern, Säufern, Seeleuten, Soldaten und jüdischen Kaufleuten und Thora-Lehrern bevölkert ist. Eine bunte, polyethnische Welt abseits der modernen Zivilisation, die von einsamen, randständigen, oft entwurzelten Männern bestimmt ist. Eine schrecklich anziehende Welt voll von maskulin getränkter Melancholie, die zugleich eine Irritation für jede Art von aufgeklärtem Bewusstsein darstellt. Progrody ist, nebenbei bemerkt, ein so imaginärer und fiktiver Platz wie Macondo, eine jüdische Siedlung an der Grenze und womöglich eine symbolische Landschaft an einer borderline: lontano da dove, »weit von wo«, wie Claudio Magris es ausgedrückt hat.25 Bs verkörpert in jedem Fall einen Ort jenseits der Zivilisation. Aber auch in diesem von der Moderne vergessenen Winkel der Geschichte kommt es zum Auftritt des Fremden; Melchiades könnte durchaus eine Figur in Roths epischem Panoptikum sein. Stattdessen lernen wir andere Personen kennen: so zum Beispiel Jenö Lakatos aus Budapest, den Gegenspieler des frommen Korallenhändlers Piczenik, der in Roths epischem Ensemble mehrfach als magischer Unheilsbringer auftritt. Er ist der Bote aus der bedrohlichen Welt kapitalistischer Ökonomie: Der Mann hieß Jenö Lakatos und stammte, wie man bald erfuhr, aus dem fernen tande Ungarn. Er sprach Russisch, Deutsch, Ukrainisch, Polnisch, ja, nach Bedarf und wenn es zufällig einer gewünscht hätte, so hätte Herr Lakatos auch Französisch, Englisch und Chinesisch gesprochen. Er war ein junger Mann, mit glatten, blauschwarzen, pomadisierten Haaren - nebenbei gesagt der einzige Mann weit und breit in der Gegend, der einen glänzenden steifen Kragen trug, eine Krawatte und ein Spazierstöckchen mit goldenem Knauf.26 Im Gespräch mit dem arglosen Korallenhändler erläutert Lakatos seine neuen Produktions- und Marktstrategien: »[...] wir sind nicht verrückt. Wir tauchen nicht auf die Gründe der Meere. Wir stellen einfach künstliche Korallen her. Meine Firma heißt: Gebrüder Lowncastle, New York.«27 In Roths Erzählung gibt es keinen Gründungs- und Siedlungsmythos, dafür aber einen genealogischen Mythos, der mit der jüdischen Überlieferung verbunden ist und eine vormoderne, archaische Welt repräsentiert. Der Leviathan ist gleichsam der heimliche Gott des Ostjudentums, der Herr über das Dunkel des Ozeans und über die begehrten Korallen. Das Begehren wird durch die Korallen gesteigert, zugleich aber fixiert und kontrolliert. Die unbestimmte Sehnsucht nach dem ganz Anderen jenseits des Wohlbekannten und Vertrauten ist in ihnen gleichsam magisch eingeschlossen und festgehalten und hat so ihren Platz in der traditionellen symbolischen Ordnung. Symbolische Formen und Formen der Machtausübung gehen dabei Hand in Hand. Piczenik, der kein sexuelles Begehren gegenüber seiner Frau verspürt, ist von dessen magischen Statthaltern, den Korallen, die den Frauen sexuel- 23 Cf. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, pp. 47ff., 197ff. 24 Roth, Joseph: Der Leviathan. In: Ders.: Der Leviathan. Erzählunaen. München: dtv 1983. dp. 168-196. 25 Magris, Claudio: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien: Europa-Verl. 1974. 26 Roth 1983, p. 188. 2' Ihirl n 190 30 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 31 le Anziehungskraft verleihen, wie gebannt.28 Die Korallen erscheinen als ein Begehren, das von weither kommt, aus den Tiefen des Ozeans. Sie werden als scheue organische Lebewesen imaginiert.29 Es braucht kaum gesagt zu werden, dass diese den Korallen angedichteten Eigenschaften auf die jüdische Bevölkerung bezogen sind, die sich angesichts fortgesetzter Erniedrigungen, Attacken und Pogrome bemüht, möglichst unauffällig zu leben. Es ist der jüdische Fischgott Leviathan, der von Gott den Auftrag erhalten hat, über den subterranen, ozeanischen Teil der Erde zu herrschen bis zum Ende aller Tage. Piczenik, der Korallenhändler, ist zugleich der Erzähler dieses Mythos des Anfangs, er ist der Geschichtenerzähler des Stetls. Die ökonomische Krise geht so mit der symbolischen einher. In seinem Essay Juden auf Wanderschaft (1927) erzählt Roth die Geschichte vom scheinbar unvermeidlichen Nieder- und Untergang der ostjüdischen Welt. Die Sehnsucht, das Stetl zu verlassen, ist gepaart mit dem Eintreffen westlicher, oft halbseidener oder undurchsichtiger Geschäftsleute aus Nordamerika, etwa in Hotel Savoy oder eben im Leviathan. Der elegante Exekutor der Moderne hat einen klingenden ungarischen Namen und ein unbekümmertes und selbstbewusstes Auftreten. Niedertracht des Siegers: Lakatos ist ein Dämon, ja mehr noch ein teuflischer Fremder:30 jemand, der die traditionelle Ordnung der Dinge durcheinander wirbelt (diaballein, das griechische Wort, auf das der Teufel zurückgeht, bedeutet durcheinanderwerfen«), ein Unruhestifter, der Chaos und Verderben in die Beziehungen der Geschlechter (Triumph der Schönheit) oder in die traditionelle Tauschökonomie bringt. In der traditionellen westlichen Entdeckungsfahrt wird dem fremden Eingeborenen stets eine monströse Dimension zugeschrieben. Bei Roth ist es hingegen der zivilisierte Fremde, der so verschlagen ist wie Odysseus bei Horkheimer und Adorno, der von Polyphem als ein Dämon aus dem Nirgendwo imaginiert wird. Der ungarische Odysseus, der sein Geschäft mit den falschen Korallen in der Nachbarstadt eröffnet, ruiniert seinen jüdischen Konkurrenten nicht nur ökonomisch, sondern auch symbolisch. In den Kategorien der Marx'schen Waren- und Geldanalyse verkörpert Leviathans Geschichtenerzähler eine vorkapitalistische Form von Geschäft und Austausch. Demgegenüber repräsentiert Lakatos den modernen Typ des kapitalistischen Subjekts, für den der spezifische Artikel ganz und gar sekundär ist. Sein Narrativ ist geheimnisvoll und nicht geheimnisvoll zugleich. Er handelt mit künstlichen Produkten, die aus Zelluloid gefertigt sind. Sein Geschäft trägt einen englischen Namen, »Lowncastle«, der nahe legt, dass es sich bei Lakatos um einen feschen nouveau riche handelt, der so >falsch< ist 28 Cf. Roth 1983, p. 169. 29 Cf. ibid., p. 170 30 Cf. ibid., p. 189f.: »[•■•] Piczenik sah, daß er etwas hinkte. Offenbar war sein linkes Bein kürzer, denn er trug am linken Stiefel einen doppelt so hohen Absatz wie am rechten. Er duftete gewaltig und betäubend- und man wusste nicht, wo eigentlich an seinem schmächtigen Körper die Quelle all seiner Düfte angebracht wie seine Produkte und die New Yorker Adresse.31 Zwischen dem Original und der Kopie, besteht - wenigstens auf den ersten Blick - kein Unterschied.32 Moderne bedeutet mit heutigen Worten den unaufhörlichen Triumph der Globalisierung, Racheakte inbegriffen. Roths Geschichten nehmen sich immer ein wenig simplifiziert aus. Das gilt auch für seine Verwendung von Metaphern und Symbolen, deren Bedeutung im Gegensatz zu Kafka fast ohne Rest auflösbar ist. Aber diese Simplizität ist in gewisser Weise selbst trügerisch. Wenn Moderne in mythischen Kategorien erfasst wird, dann wird der Mythos zum Medium, die Paradoxien der Moderne zu begreifen. Nach seinem vollständigen Ruin verbrennt Piczenik, all die falschen Korallen, die er zuvor in seiner Verzweiflung von Lakatos gekauft hat, und löst eine Fahrkarte nach Amerika. Er besteigt ein Schiff mit dem ironischen Namen Phoenix, das im Verlauf der Reise untergeht. Der Tod bedeutet jedoch - in Umkehrung seiner eigentlich untröstlichen Bedeutung - die Rettung, wenigstens von Piczeniks Erzählung. Im Tod findet Piczenik in den Tiefen des Ozeans den Ort seiner Sehnsucht, wo er bis zum Ende der Tage ruht:»[...] ich habe Nissen Piczenik gekannt, und ich bürge dafür, daß er zu den Korallen gehört hat und daß der Grund des Ozeans seine einzige Heimat war. Möge er dort in Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft des Messias.«33 Dies ist nun in der Tat ein sarkastisches, trickreiches und melancholisches Ende, aber immerhin eines, das symptomatisch ist für die Moderne, die nicht nur ihren Preis, sondern auch ihre Opfer hat. Es schien der Fall zu sein, dass der ökonomische und der symbolische Zusammenbruch Hand in Hand gehen. Zu guter Letzt aber wird offenkundig, dass nur die »Arbeit am Mythos«34 die adäquate Form liefert, -die dunklen Seiten einer blinden Moderne zu verstehen. Literatur verleiht Polyphem, den Menschen von Macondo and Leviathans Propheten und seiner Erzählgemeinde eine Stimme -Geschichten, die nicht Teil der offiziellen modernen Selbstdarstellung sind. Solche Geschichten sind imstande, die irrationalen Aspekte des modernen Rationalismus verstehbar zu machen. Aber sie sind nicht stark genug, der Geschichte eine andere Richtung zu geben oder den westlichen Modernismus in einer nicht-regressiven Weise zu überwinden. 3' Cf. Roth 1983, p. 189ff. 32 Cf. ibid., p. 190ff. 33 Ibid., p. 147. - Cf. auch Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Köln: Hohenheim 1981, p. 17: »Die Kabbalisten sagen nun, der Behemoth bemühe sich, den Leviathan mit den Hörnern oder Zähnen zu zerreißen, der Leviathan dagegen halte mit seinen Fischflossen dem Landtier Maul und Nase zu, daß es nicht essen und nicht atmen kann. Das ist, so anschaulich wie es eben nur ein mythisches Bild vermag, die Schilderung der Blockade einer Landmacht durch eine Seemacht, die dem Land die Zufuhren abschneidet, um es auszuhungern. So töten sich die beiden Mächte gegenseitig. Die Juden aber, sagen diese Kabbalisten weiter, feiern dann das festliche tausendjährige »Gastmahl des Leviathani, von dem Heinrich Heine in einem berühmten Gedicht erzählt.« 34 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 31984, pp. 291-326. Cf. auch Bohrer, Karl-Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. 32 Wolfgang Müller-Funk Poľyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 33 4. Kultur und Herrschaft Aufklärung meint das historische Projekt, das programmatisch und in seiner Me-taphorik darauf abzielt, Licht in das Herz der Dunkelheit zu bringen. Romantik ist jene symbolische Ordnung, in der moderne westliche Kulturen ihre Erfahrungen mit dem Anderen der Vernunft verarbeiten. Moderne kann als eine höchst widerspruchsvolle und komplexe Einheit verstanden werden. Die Romantik ist ganz allgemein gesprochen die Fortführung und die Widerlegung der Aufklärung. Den kulturellen Hintergrund der westlichen Romantik bildet die Irritation des modernen Bewusstseins und der Versuch, die dunkle und unterdrückte Seite in die moderne Kultur zu integrieren. Es ist die Erfahrung der dominanten westlichen Kultur mit ihrem Änderen, innen wie außen. In jedem Fall gibt es~eine ganze Reihe von Kulturen, die nur das eine gemeinsam haben bzw. hatten: dass sie in ihren politischen, ökonomischen und ästhetischen Strukturen nicht >eigentlieh< modern sind. Hartnäckig weigern sie sich, ihre Unreife und Rückschrittlichkeit zu überwinden. Kants Ausdruck von der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« beschreibt präzise die Fabel dieses grand rěcit. Der Zustand der Primitivität ist das Ergebnis der Unfähigkeit, von Freiheit und Verstand Gebrauch zu machen. In dieser Argumentation werden die Menschen für ihre Lebensumstände zur Rechenschaft und Verantwortung gezogen. »Unmündigkeit« zielt auf die mangelnde Kompetenz, für sich selbst zu sprechen. Das nicht-moderne Subjekt verfügt über keine eigene Stimme. Gerade deshalb sind die asymmetrischen Machtbeziehungen in das Verhältnis zwischen den modernen westlich säkularen und den anderen Kulturen, deren Stimme nicht zählt, eingeschrieben. Mehr noch^Weil sie keine_Stjmme haben, bedürfen sie eines >Fürsprechers<, der an ihrer Statt spricht.35 ' Diese ldee~st¥ňlTim~2eTrtmrn derGegner der Sklaverei: den armen unzivili- | sierten Schwarzen eine Stimme zu geben, ihre Stimme. Der Konflikt zwischen den humanitär eingestellten Missionaren und den schwarzen Kariben wurde genau zu demjjleitpunkt um/mneidlich, als die Enheimischen begannenLsich_auf ihren eigenen Fähigkeiten zu besinnen, für sich selbst zujDjgcrJen. ~ ^Diese Dialektik kann man fn naJiezjjIaJIeiMnjier-imperialen Konstellationen \J beobachten. Das späte Habsburger Reich etwa ist ein solches Feld von ver- u schTedenen Kulturen. Auch hier entsteht in und mit der Moderne eine kulturelle Rangordnung, die Zivilisierte und Unzivilisierte, Herren und Knechte scheidet, so wie man das anschaulich an den Novellen von JVlarie Ebner^Eschenbach sehen kann. Ihre männlichen oder weiblichen Protagonisten zeigen Verhaltensweisen und Attitüden, die eine gewisse Ähnlichkeit mit denen der englischen Plantagenbesitzer aber auch der Abolitionisten haben. Die liberalen Aristokraten sind Deutschösterreicher, die Dienstboten hingegen Tschechen. In einer ihrer bekann- Cf. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? In: Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (Ha.): The Postcolonial Reader. London. New York: Routledoe 1995. od. 24-28. testen, in Südmähren angesiedelten Novellen Er läßt die Hand küssen (1886) diskutiert eine alte Gräfin mit ihrem Nachbarn über ihre Dienstboten, die sie als ihre Schützlinge ansieht. Es wäre besser_für_diese naiven, leichtgläubigen und argjvöjinischen Menschen, wenn sie nicht die Wahl hätten, ihre eigenen Herren liHJSzWäliTeTrTT^ die Stockschläge noch akzeptierten und freiwillig aufs »Amt« gingen, um die Strafe entgegenzunehmen. Es ist ein Akt des Vertrauens, den Herren als einen wirklichen Führer seiner selbst zu betrachten, und die Stockschläge als billige Bestrafung und als Ansporn zu interpretieren, ein ordentlicher Mensch zu werden: Die Gräfin richtete die hohe Gestalt empor und holte tief Atem. >Gestehen Sie, daß es für diese Leute, die so töricht vertrauen und mißtrauen, besser wäre, wenn ihnen die Wahl ihrer Ratgeber nicht freiständen iBesser wär's natürlich! Ein bestellter Ratgeber und - auch bestellt - der Glaube [!] an ihn.i iTorheitli zürnte die Gräfin. >Wieso? Sie meinen vielleicht, der Glaube lasse sich nicht bestellen? ... Ich sage Ihnen, wenn ich vor vierzig Jahren meinem Diener eine Anweisung auf ein Dutzend Stockprügel gab und dann den Rat aufs Amt zu gehen, um sie einzukassieren, nicht einmal im Rausch wäre es ihm eingefallen, daß er etwas Besseres tun könnte, als diesen meinen Rat zu befolgen.«36 In Ebner-Eschenbachs kritischer Geschichte endet die herrschaftliche Bestrafung fatal und letal.37 Unterdrückung funktioniert nur so lange, als der Unterdrückte die ihm/ihr zugeschriebene Inferiorität akzeptiert, um selbst zivilisiert zu werden, zuweilen auch mit drakonischen Methoden und Prozeduren, wie sie etwa im Plantagensystem auf Jamaika gang und gäbe waren. Dies ist auch der Grund, weshalb die Gräfin nicht bloß die Leichtgläubigkeit sondern auch das Misstrauen ihrer Schützlinge erwähnt, die nun - nach der Beseitigung der Grundherrschaft - die >0pfer< falscher Führer geworden sind. Dieses System, ob-schon durch und durch feudalistisch, wird hier zur Durchgangsstation auf dem Weg in die moderne Zivilisation. Wie im Falle der außereuropäischen Kolonien beginnt die Emanzipation mit dem Recht, sich die eigenen Führer und Herren auszusuchen, gewissermaßen mit dem Recht auf Leichtgläubigkeit und Misstrauen, mit dem Zusammenstoß verschiedener Zivilisationen. Neu im Hinblick auf die Moderne ist der Umstand, dass kulturelle Herrschaft hier eine spezifische und universalistische Legitimation erhält. Die moderne westliche Kultur ist die einzige, die erfolgreich und global für sich in Anspruch nimmt, als Modell und Maßstab für alle anderen zu dienen. Modernität avanciert zum Maßstab kultureller Hierarchisierung, die den ver- 36 Ebner-Eschenbach, Marie v.: Er läßt die Hand küssen. In: Dies.: Meistererzählungen. Zürich: Manesse 1953, pp. 120-151, hier p. 122f. 3? Ibid. 34 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 35 schiedenen ethnischen Gruppen ihren Platz zuweist, und dies nicht nur im British Empire: der weiße Siedler, die Menschen vom indischen Subkontinent, die schwarzen Kariben, die Schwarzafrikaner. Auch im Kontext der Habsburger Monarchie steht implizit außer Zweifel, dass Galizien weniger »zivilisiert« und >ent-wickelti ist im Vergleich zu Böhmen und zu Deutschösterreich, ebenso wie Bosnien. Dieser Maßstab der modernen Kultur rtat europäische Wurzeln, beschränkt sich im Wesentlichen auf einige wenige europäische Binnenkulturen: England, Frankreich, das protestantische Deutschland. Die Differenz zu diesen drei europäischen Kulturen und der Abstand von ihnen entscheiden über den jeweiligen Platz in der kulturellen Rangordnung. Für die Zukunft der europäischen Integration aber auch einer friedlichen globalen Welt wird von Belang sein, diese rohe symbolische Hackordnung zu überwinden. Für deren Wirksamkeit ist von entscheidender Bedeutung, dass diese hierarchische Ordnung von beiden Seiten akzeptiert wird, von den zivilisierten« wie den >Unzivilisierten<, die Anstrengungen unternehmen müssen, ihren misslichen Status zu verbessern, um einen Platz in der Champions League der Moderne zu ergattern. Die Moderne lässt sich als ein Intermezzo zwischen erwachsenen und nicht-erwachsenen Kulturen charakterisieren. Oder in Abwandlung des klassischen Diskurses der Aufklärung und der Moderne, als ein Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern. Gerade deshalb ist der antikoloniale Kampf zutiefst von den Narrativen der Moderne geprägt. Demgegenüber mag der traditionelle AntiModernismus, der mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein einflussreich war, mag die Erniedrigung und die Wut der Benachteiligten befriedigen, bietet aber generell gesprochen keine Möglichkeit, als ein würdiges menschliches Exemplar modernen Selbstbewusstseins anerkannt zu werden. Die Wut des Fundamentalisten, europäisch wie außereuropäisch, hat entschieden damit zu tun. Kultur kann als einj^jLjmme^.CHxfJ^ verstanden werden, die Dif- ferenz. Ausschluss und Rangordnung erzeugen und ein systematisches Feld mit klaren_Grenzen schaffen. Die heutige Kulturwissenschaft die~dle^Einzeldiszipli-nen in den Humanwissenschaften, verbindet und damit überschreitet, interpretiert Kultur nicht mehr als einen Überbau, sondern als ein dynamisches Geflecht, dem in der Konstituierung von Herrschaft und Macht eine entscheidende Bedeutung zukommt. Hegels Konzept des Selbst und des Anderen ist philosophisch und universal.38 Es nimmt keine Notiz von den Differenzen in Geschlecht, Ethnie, Sprache und Religion. Aber dieser Umstand unterminiert nicht automatisch den Wert dieser Analyse, erfordert aber Modifikationen. Zu offensichtlich ist, dass die Form und die Zukunft der Ausübung von Macht und Herrschaft davon abhängt, wie und in welchem Ausmaß kulturelle Differenzen wirksam sind. 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, pp. 145-155. Cf. Müller-Funk, Wolfgang: Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: Ders./Plener, Peter/Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (Kultur - Herrschaft - Differenz 1), pp. 14-32. Kultur ist jener symbolische Raum, in dem Nationen, Regionen und Subkulturen erfunden werden, die alle Souveränität für sich reklamieren. Die Wiederkehr des Kulturalismus, der die Möglichkeit neuer fremdenfeindlicher Partikularismen wie die Option für kulturelle Diversität einschließt, ist genauso wie die »Globalisierung« ein und derselben Modernität geschuldet, in der es zunehmend wichtig wird, sich selbst zu bestätigen. Der Wahlspruch aller Avantgarden seit Rimbaud, absolut modern zu sein, ist mittlerweile zum heimlichen kategorischen imperativ in postmodernen Zeiten geworden, in Zeiten also, in denen Moderne eine simple aber praktisch wirksame narrative Struktur der Gesellschaft geworden ist. Die Entzauberung bedeutet, dass wir skeptisch geworden sind, ob die grand récits der Moderne wirklich wahr sind und stimmen; nichtsdestotrotz sind sie noch immer recht machtvoll auf der symbolischen wie auf der realen Ebene. Modernität bleibt die Regel und der Maßstab kultureller Evaluierung, auch wenn es zutreffen mag, dass sich deren Kriterien verändert und pluralisiert haben mögen. Sie sind nicht mehr vollständig klar. Die Modernität der Vereinigten Staaten, Westeuropas und Japans dürfte divergieren, aber die Notwendigkeit von Modernität hat sich kaum verändert. 5. Zwischenbilanz Kultur, Herrschaft und Moderne befinden sich in einem komplexen Dreieck. Modernität ist das Kriterium kultureller Rangfolge, wohingegen die symbolischen Formen der Kultur mit den Formen von Herrschaft und Machtausübung korrelieren und w'ce versa. Kolonialismus kann als radikale Asymmetrie in diesem Spannungsfeld angesehen werden. Jenny Sharpe hat deshalb das »koloniale Subjekt« folgendermaßen definiert: I use >eolonial subject< specifically for the Western educated native in order to emphasize 1) the subject status that class of natives acquires by acceding to the authority of Western knowledge, 2) the restriction of sovereignty to the colonizers alone, and 3) the denial of subject status to natives belonging to the subordinate or subaltern class.39 Es stellt sich die Frage, inwiefern die Machtverhältnisse im innereuropäischen Zusammenhang als quasi-kolonial beschrieben werden können. Lässt sich das österreichische Kaiserreich als ein Empire in Analogie zum Britischen Weltreich beschreiben? Ich vermute, dass manche Ähnlichkeiten verblüffend sind. Mittlerweile wird im Kontext der britischen Cultural Studies die Beziehung zwischen England auf der einen, Wales, Schottland und Irland auf der anderen Seite in Kategorien der Postcolonial Studies beschrieben. Es gibt eine Einschränkung von Macht, und es gibt auch das Eingeständnis der eigenen Unterlegenheit. Zugleich 39 Sharpe, Jenny: Figures of Colonial Resistance. In: Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995, pp. 99-104, hier p. 102. 36 Wolfgang Müller-Funk wird offenkundig, dass diese Unterordnung innerhalb des Rahmens der westlichen Kultur stattfindet, auch wenn die sprachlichen, religiösen und ethnischen Differenzen von Bedeutung sind: Thus, partly because each nationalism was engaged in the struggle for the conversion of culturally ambiguous peasants with neighbouring rival nationalism, the self-image and self-presentation of the new nation-states was in terms of the model of a closed, localised culture: idiosyncratic and glorifying in its idiosyncrasy, and promising emotional and aesthetic fulfilment and satisfaction to its members. [..J The struggle in which each nationalism was engaged had two enemies: rival nationalisms and rootless cosmopolitianism, whether it be the cosmopolitianism of a non-ethnic Empire claiming apostolic but not ethnic vindication or the cosmopolitianism of an international socialism or liberalism.40 So besehen erweisen sich der außereuropäische Kolonialismus und die innereuropäische Kolonialisierung, etwa im Osten Europas, als zwei verschiedene Typen der Unterordnung und der Asymmetrie kollektiven Selbstbewusstseins. Das kulturelle ranking, das sich vom Kriterium der Modernität herleitet, gestattet es, ganz spezifische Differenzen von Macht und Herrschaft herauszuarbeiten. Auch in kolonialisierten, unterdrückten oder vermeintlich auch wirklich benachteiligten Kulturen gibt es nicht nur Herren und Knechte, sondern eine Vielzahl intermediärer Konfigurationen: Verwalter, Administratoren, Siedler aus der überlegenen Ethnie, deren soziale Position ganz augenscheinlich vom kulturellen Kontext abhängt. Der irischstämmige Beamte oder indische Verwalter ist im Kolonialsystem dem weißen Briten untergeordnet, aber er ist ein Herr für die Schwarzafrikaner. Die kulturelle Rangordnung ist ganz augenscheinlich an das Narrativ des Fortschritts geknüpft. Eine niedere Rangstufe in der ethnischen Hierarchie bedeutet gleichzeitig, dass die jeweilige Gruppe im dramatischen Spiel der modernen Zivilisation weit zurückliegt. Das Projekt der Moderne sieht sich konfrontiert mit dem Vorhandensein kultureller Differenzen. Es bewertet die anderen Kulturen im Hinblick auf deren Kompatibilität mit der eigenen kulturellen Tradition und deren Vermögen, sich selbst in ein modernes symbolisches Feld zu verwandeln. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen legen es nahe, verschiedene Aufgaben der Kolonisatoren festzulegen: moderne Infrastrukturen, Schulen und moderne Bürokratie für die einen, Mission und Elementarunterricht für die anderen. In seiner Kulturtopologie Land und Meer hat Carl Schmitt den entscheidenden Unterschied zwischen maritimer und territorialer Herrschaft herausgearbeitet. Repräsentiert der territoriale Typus die traditionelle Form von Herrschaft, so bringt der maritime Abenteurer eine neue Form von politischer Dominanz hervor. Schmitt, der nationalsozialistische fellow traveller und prominente Berater Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 37 des Hitler-Regimes, interpretiert nach 1945 die Weltgeschichte als einen Kampf zwischen Land- und Seemacht. Diese Deutung legt nahe, Hitlers totale Niederlage als Ausdruck des unwiederbringlichen Niederganges der Landmächte in ihrem Kampf mit der angloamerikanischen Seemacht zu deuten. Seit dem 16. und 17. Jahrhundert hat Schmitt zufolge ein dramatischer Wandel stattgefunden, eine Hinwendung zum Meer, die von einer eher anrüchigen Gruppe von Menschen in Gang gesetzt wurde, die vorn Meer fasziniert waren: Piraten, Koisaren, Abenteurern, Schmugglern, Glückssuchern, Walfängern und Siedlern, die in Amerika eine neue Heimat fanden.41 Der historische Triumph von »God's own country« bedeutet den Sieg der Seeabenteurer über die alte, abgelebte kontinentale Form von Macht und Herrschaft. Der Abschied vom sicheren Ufer und der Aufbruch ins Ungewisse der offenen See wird zur radikalen Metapher für Modernität, auch in den Augen der Daheimgebliebenen: der Europäer. Die kulturelle Rangfolge wird im innereuropäischen Kontext zunehmend virulent. Die Habsburger Monarchie, die Erbin des Heiligen Römischen Reiches, wird von Schmitt als ein »kat'echon« gedeutet, als eine Macht, die das Tempo des historischen Fortschritts retardiert, zurückhält (griech. katechein). Insofern ist die österreichische Herrschaftskultur im Zentrum Europas weniger modern, avanciert und entwickelt als die westliche (das Britische Imperium, Preußen-Deutschland, die USA), aber >zivilisierter< und weiter >fortgeschritten< als der Osten Europas und der imaginäre »Balkan«. Die politische und kulturelle Ungleichheit gründet nicht allein auf dem Kontrast zwischen Europa und Außereuropa. Es gibt in Europa ganz eigene, mehr oder weniger anerkannte Parameter der Diskriminierung: - der Unterschied zwischen See- und Landmacht; - der Kontrast zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen westlichen Christentum und Orthodoxie, zwischen Christentum und Islam; - der Gegensatz zwischen deutsch und nicht-deutsch; - Standards der industriellen und politischen Entwicklung, die nach und nach für die Diskriminierung zwischen Zivilisierten und Nicht-Zivilisierten essenziell werden. Diese kulturelle Asymmetrie wird bestätigt, weil Fortschritt und Modernität fundamental für den modernen Glauben geworden sind, d.h. für den Glauben in Modernität und Fortschritt. Die einzige Möglichkeit, die beschämende Stellung als underdogzu überwinden, besteht demnach darin, sich zu ändern. Die prekäre Verbindung von Kultur, Modernität und Herrschaft führt - Macht des »mimetischen Begehrens«42 - zur Beschleunigung des Prozesses. Dieser stellt selbst ein Hauptcharakteristikum von Modernität und Modernismus dar. Dies gilt cum grano salis für alle Systeme - Politik, Ökonomie, Technologie, Medien, Künste - 40 Gellner, Ernest: Language and Solitude. Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma. Cambridge: Cambridqe Univ. Pr. 1998, p. 37f. 41 Schmitt 1981, cap. 7, p. 40. 42 Girard. René: Das Heiliqe und die Gewalt. Frankfurt/M.: Fischer 1992, DD. 211-247. 38 Wolfgang Müller-Funk Polyphems Kinder. Kulturelle Irrfahrten 39 und bildet noch immer den Rahmen in einer Welt, die wir heute als postkolonial und postmodern bezeichnen. Der Kampf um Selbstbewusstsein bedeutet in postmodernen Zeiten der Entzauberung, als modern anerkannt zu werden; es ist eine Entzauberung, die zuerst in den Zentren vor sich geht und die zugleich die Peripherien zwingt, diesen Prozess weiter voranzutreiben: ohne den nunmehr überkommenen pathetischen Glauben an das Narrativ des Fortschritts, wonach die Moderne der Weg zum eigenen Heil darstellt. Joseph Roths Heid endet am Meeresgrund und Garcia-Marquez' Aureliano Buendia stirbt, bevor er die alche-mistischen Schriften entschlüsselt hat. Der Tod der vormodernen Kulturen ist so in die moderne Welt eingeschrieben.43 Er modifiziert unsere moderne Befindlichkeit, aber es besteht keine Aussicht auf Rück- oder Wiederkehr, außer in der Erinnerung und Reflexion. Moderne Rationalität hat ihr Gegenstück in der Romantik und in ihrer Sehnsucht nach dem Dunkel, das nicht unter Kontrolle zu bringen ist. Dass die nichteuropäischen Kulturen dunkel kath' exochen sind, dürfte eine romantische Obsession sein. Aber es-ist auch unübersehbar, dass die kolonisierten und >postkolonisierten< Anderen, die auf die eine oder andere Weise die Objekte und >Subjekte<44 der Unterwerfung, Erniedrigung und Unterdrückung waren, eine Stelle von Alterität einnehmen, die für die westliche Zivilisation und ihre universalistischen Ansprüche wichtig ist. Das Dunkle und das Kolonisierte, das sich im kolonialen Blick in der Figur des Schwarzafrikaners verdichtet, haben das eine gemeinsam, dass sie das Opfer eines bestimmten Typs von Moderne wurden, die Fortschritt als eine Zunahme von Kontrolle und Selbstkontrolle bestimmt. Diese Beziehung zwischen Aufklärung und Kontrolle, die Michel Foucault in seinem Werk beleuchtet hat, veranschaulicht die Obsession westlicher Modernität im Hinblick auf Macht und Herrschaft, wie Homi Bhabha ausführt: An important feature of eolonial discourse is its dependence on the concept of >fixity< in the ideologieal construction of otherness. Fixity is the sign of cultural/ historical/racial differenee in the discourse of colonialism, is a paradoxical mode of representation: it connotes rigidity and an unchanging order as well as disorder, degeneracy and daemonic repetition.45 Das ist auch das Herzstück von Horkheimers und Adornos Argument: Die Kontrolle, die der Herr ausübt und die immer auch Selbstkontrolle einschließt, unterdrückt nicht nur den monströs verzeichneten Anderen, Polyphem, sondern den Polyphem in uns selbst, der im Licht der Aufklärung zwangsläufig der Dä-monisierung anheim fällt.46 Insofern verdankt die westliche Kultur dem fiktiven Lichtenberg'schen Beobachter, der Kolumbus entdeckte, ein beträchtliches Maß an Einsicht und die Überwindung eines voyeuristisehen Blickes, der so charakteristisch für das kolonisierende Subjekt gewesen ist.47 Auf das generelle Thema bezogen, heißt dies, dass kulturwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich das Zentrum aus der Perspektive der Peripherie fokalisieren muss, nicht so sehr wegen allfälliger moralischer Entschädigung als vielmehr, weil nur durch den Blick der Peripherisierten und Kolonialisierten der Konnex zwischen Kultur und Herrschaft zutage tritt, der im Seiostbiid der jeweiligen Herrschaftszentrum wie selbstverständlich perspektivisch verschluckt wird. Dieser Blick mag auch seine Trübungen haben, dann nämlich wenn die ln-terdependenz zwischen beiden Perspektiven unterschlagen wird und das Fremde, das sowohl das Zentrum wie die Peripherie sein kann, sich zum dämonischen Fremdbild verhärtet. 43 Gehrke, Claudia (Hg.): Oer Tod der Moderne. Eine Diskussion mit Jean Baudrillard u.a. Tübingen: Konkurs-bueh Verl. 1983, pp. 137-163. 44 »Subjekt! bedeutet bekanntlich »unterworfene 45 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London: Routledge 1994, p. 66. - «* Cf. auch Kristeva. Julia: Fremde sind wir uns seihst. Frankfurt/M.: Suhrkamn 1990. nn. 11-49. 47 Bhabha 1994. D. 76.