Hermeneutik leinen Text auf seine Bedeutung hin zu befragen ldie Bedeutung der einzelnen Worte aus dem Kontext erschließen, in dem sie stehen; die Bedeutung des Gesamttextes dann aus der Bedeutung der einzelnen Worte konstrieren. lBibelexegese lSchleiermachers Überlegungen zu Platoninterpretationen: die Person des autors konstituiert die Einheit des Werkes und ermöglicht dadurch das Verstehen. Hans Georg Gadamer (1900 - 2002) Wer bin Ich und wer bis Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge Atemkristall. 1973 lPaul Celands Gedichte erreichen uns und wir verfehlen sie. Er selbst hat sein Werk als Flaschenpost vestanden. ...Jenseits allen Anspruchs, durch wissenschaftliche Untersuchungen zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen, versucht das vorliegenden Buch, die Erfahrungen eines Lesers in worte zu fassen, den solche Flaschenpost erreicht hat. Gadamer zu Celans Atemkristall lEs sind Entzifferungsversuche, wie die von fast unleserlich gewordenen Schriftzeichen. Niemand zweifelt, da stand etwas. Man muss vieles erwägen, erraten, ergänzen – und schließlich wird man entziffert haben, wird lesen und hören – und vielleicht richtig. Niemand kann meinen, vor solcher sorgfältigen Entzifferung etwas über die Botschaft dieser Verse wissen oder sagen zu können, ja, auch nur über die Sprache, in der sie geschrieben sind. Gadamer zu Celans Atemkristall lDer Leser, der hier von langem Umgang Zeugnis ablegt, meint "Sinn" in diesen dunklen Schriftzügen gefunden zu haben, nicht immer einen eindeutigen Sinn, nicht immer einen "vollständigen" Sinn, oft hat er nur Stellen entziffert und vage Vermutungen, wie sein Verstehen (nicht etwa der Text) zu heilen sein könnte. Wer meint, er "verstünde" Celans Gedichte bereits, mit dem rede ich nicht. Er weiss nicht, was hier Verstehen ist. Gadamer Hermes der Götterbote richtet der die Botschaft der Götter an die Sterblichen aus. Sein Verkünden ist offensichtlich kein bloßes Mitteilen, sondern Erklären von göttlichen Befehlen, und zwar so, dass er diese in sterbliche Sprache und Verständlichkeit übersetzt. Die Leistung des Hermes besteht grundsätzlich darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen Welt in die eigene zu übertragen. lH. G. Gadamer, 1061 Verstehen ein nicht abschließbares Geschehen. lGadamer warnt vor einer zu groß gewordenen Wissenschaftsgläubigkeit oder Rationalisierung der Vernunft im 20. Jh., was er etwas verkürzt mit „Methode“ bezeichnet. lDas Verstehen im wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang, um neue Deutungsversuche bereichert, lkeine Einholung eines vom Autor gemeinten Sinns Susan Sontag: Against Interpretation, 1964 Motto: Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. Oscar Wilde in einem Brief Diese Überbetonung des Inhaltsbegriffs bringt das ständige, nie erlahmende Streben nach Interpretation mit sich. Und umgekehrt festigt die Gewohnheit, sich dem Kunstwerk in interpretierender Absicht zu nähern, die Vorstellung, daß es tatsächlich so etwas wie den Inhalt eines Kunstwerks gibt. Sontag Die Arbeit der Interpretation ist im Grunde eine Übersetzungsarbeit. Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nieht, daß X in Wirklichkeit A ist - oder bedeutet? Daß Y in Wirklichkeit B ist? Daß Z in Wirklichkeit C ist? Der Text wird durch den Interpreten nicht wirklich ausgelöscht oder neu geschrieben, wohl aber verändert. Freilich kann er das nicht offen zugeben. Er gibt vor, ihn nur verständlich zu machen, indem er seine wahre Bedeutung aufdeckt. Sontag Bis zu welchem Grade die Interpreten den Text auch ändern (ein anderes nur zu bekanntes Beispiel sind die «religiösen» Deutungen des eindeutig erotischen Hohelieds Salomons durch Rabbiner und Christen): sie müssen den Anspruch, erheben, einen Sinn daraus abzulesen, der bereits vorgegeben ist. Alle wahrnehmbaren Phänomene werden, wie Freud sagt, als manifester Inhalt klassifiziert. Dieser manifeste Inhalt muß untersucht und beiseite geräumt werden, damit die wahre Bedeutung - der latente Inhalt - darunter sichtbar wird. Sontag: die Intepretation die Rache des Intellekts an der Kunst. Die Flucht vor der Interpretion scheint besonders ausgeprägt in der Malerei. Abstrakte Kunst ist der Versuch, keinen Inhalt im gewöhnlichen Sinn zu haben; da sie keinen Inhalt hat, kann es auch keine Interpretation geben. Pop Art erreicht mit entgegengesetzten Mitteln das gleiche Resultat; indem einen so marktschreierischen Inhalt wählt, ist auch sie letztlich nicht interpretierbar. Abstrakte Kunst Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, 1911 Nach Kinndisky verstärke sich der Charakter einer "spitzen Farbe" wie Gelb in der spitzen Form eines Dreiecks. Kandinsky beschreibt die verschiedenen Wirkungen von Form und Farbe und bildnerische Nutzungsmöglichkeiten im Sinne des "Prinzips der inneren Notwendigkeit". Pop Art Robert James Rosenquist, Hey! Let's Go For A Ride" 1961 Das Bild erinnert an Werbeplakate der 50er Jahre. ”I belive it is possible to bring something so close that you can see through it, so it comes to you right off the wall. I like to bring things into unexpected immediacy.” Verweigerung des Sinnes jene Revolution [in der Lyrik], die Eliot entthront und [Ezra] Pound auf den Schild gehoben hat - stellt eine Abwendung vom Inhalt im hergebrachten Sinne in der Dichtung dar; sie ist der Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem, was die moderne Lyrik zum Opfer des Interpreteneifers gemacht hat. Pound: Further Instructions Come, my songs, let us express our baser passions. Let us express our envy for the man with a steady job and no worry about the future. You are very idle, my songs, I fear you will come to a bad end. You stand about the streets, You loiter at the corners and bus-stops, You do next to nothing at all. You do not even express our inner nobilitys, You will come to a very bad end. And I? I have gone half-cracked. I have talked to you so much that I almost see you about me, Insolent little beasts! Shameless! Devoid of clothing! idle – sinn und zwecklos [aidl] Insolent little beasts! Shameless! Devoid of clothing! Susan Sontag Against Interpretation Gute Filme zeichnen sich stets durch eine Direktheit aus, die uns gründlich von der Interpretationsgier befreit. Während eine übertriebene Betonung des Inhalts die Arroganz der Interpretation provoziert, ist eine intensivere und umfassendere Beschreibung der Form dazu angetan, diese Arroganz zum Schweigen zu bringen. Was wir brauchen, ist ein Vokabular - ein beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular - zur Erfassung der Formen." Die beste Kritik ist die, in der inhaltliche Erwägungen mit formalen verschmelzen. (Walter Benjamins Aufsatz «Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskovs».) Sontag Against Interpretation Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990 (Chicago 1989) - gegen das Reden über Kunst und für das Betroffensein von Kunst. Botho Strauß im Nachwort zu Steiners Buch: "Überall, wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart des Logos-Gottes zeugt." Das Ziel ist eine Art von Erziehung, eine Definition von Werten, bei denen in größtmöglichem Maße auf ‘Meta-Texte’ verzichtet wird. gegen das berufsmäßige Schreiben ohne ‘Berufung’ George Steiner Interpretation schraube Dichtung auf das gewöhnliche Maß der Interpreten herunter. Steiner erinnert daran, daß eine Begegnung mit wirklicher Kunst immer etwas zu tun hat mit Erschütterung, ja Überwältigung, mit Staunen und Ehrfurcht. Das Kunstwerk, um ihm neu zu begegnen, sei zu behandeln wie ein Gast, ein Fremder, der plötzlich erscheint in unserem gewöhnlichen Alltag, dessen Ankunft Freude und leise Furcht begleiten. George Steiner Hat die Moderne den Tempel der Kunst zerstört, und sind wir deshalb zur Sisyphosarbeit des Interpretierens verdammt? Haben wir das ursprüngliche ‘Wort’ verloren und müssen uns durch sekundäres Geschwätz über diesen Verlust hinwegtäuschen?