nur die großen Wortführer des Frühnaturalismus {Kritische Waffengänge 1882), sondern sie künden auch Vom höchsten Wissen, vom Leben im Licht (1900), und in ähnlicher Weise hat Bruno Wille vom >Materialismus< zu einem neuen Enthusiasmus gefunden. Selbst der angebliche Positivist Mach schildert als Initialerlebnis seiner Philosophie eine Situation, die als Erlebnis mystischer All-Einheit gedeutet werden kann: »An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden.«'9 Kurz: Die Komplementarität von (positivistischer) Rationalität und Mystik ist ein wesentlicher Bestandteil der geistigen Atmosphäre, der Musil entstammt. (Daß als Exponent dieser Komplementarität heute meist nur noch der der gleichen Atmosphäre entstammende Ludwig Wittgenstein zitiert wird, hat historische Gründe, denen hier nicht nachgegangen werden kann.) (Das Identitätsproblem) Ein zweites Problem, dessen Vorklärung für eine Deutung des Novellenzyklus unabdingbar ist, ist das der Identität. Dieser Begriff ist in den letzten Jahren wieder stark in Mode gekommen, aber seine Applikation auf Musils Werk entspringt nicht nur dem Wunsch nach Aktualisierung. Im Umkreis Musils geht der Anstoß für die Diskussion des Problems nicht nur, wie heute, von Psychologie und Sozialpsychologie aus, sondern ebenfalls von der naturwissenschaftlich motivierten Philosophie. Wenn unser Denken nur Fiktionen zum Zwecke der Selbst- und Arterhaltung produziert, dann stellt sich die Frage, wer das eigentlich ist, der denkt: was eigentlich das >Ich< ist. Für Ernst Mach ist auch das Ich nur »eine ideelle, denkökonomische, keine reelle Einheit . . . Das Ich ist unrettbar.»20 Auch von hier aus führt ein Weg zu Mystik und Ekstase. Hatte nicht etwa Schopenhauer das Leiden im principium in-dividuationis des Willens begründet? Wenn nun gar ein Naturwissenschaftler das Ich zur Fiktion erklärte, dann fielen >Wahrheit< und >Erlösung< zusammen. Während Hermann Bahr nicht ohne Schaudern kommentiert: »Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie auch uns zu vernichten«21, liegt für Mauthner hier die Möglichkeit zu mystischer Unio: ». . . das Ichgefühl ist eine Täuschung . . . Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen anderen Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen ... ich bin eins mit ihnen . . . Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom principium individuationis . . . >Daß ich Gott geworden bin<, Warum nicht?«22 Und auch Hofmannsthal erweist sich als gelehriger Schüler Machs, wenn er seinen Lord Chandos schreiben läßt, es gebe nun »unter den gegeneinanderspielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte«.23 »Genauigkeit« und »Seele«, naturwissenschaftlich orientierte positivistische Philosophie und Mystik bedingen einander also gerade durch den Ausschließlichkeitsanspruch, den die beiden Instanzen stellen. Insistiert man auf »Genauigkeit« im positivistischen Sinne, so beginnen die Bedürfnisse nach Wahrheit zu vagieren und ein unkontrollierbares Eigenleben neben der Welt erfolgskontrollierten Handelns zu führen; gibt man sich jedoch dem Bereich der »Seele« vorbehaltlos anheim, so verfällt man unabdingbar der Rache der Wirklichkeit. (Der Vermittlungsversuch: Dichtung als Methode) Musil hat zeitlebens um das Problem der Vermittlung gerungen: der Vermittlung zwischen flüchtiger Exorbitanz des »aZ« und der Kompaktheit und Unentrinnbarkeit des >normalen< Zustandes. Es versteht sich, daß das Problem in den verschiedenen Perioden seines Schaffens auch verschiedene Gesichter erhält. Andererseits ist der Motiv- und Konstellationsfundus, zumal wenn man Tagebücher und Vorarbeiten heranzieht, erstaunlich konstant, die verschiedenen Gesichter entstehen nur durch unterschiedliche Akzent- und Dominantensetzung. Schon im Erstling, den Verwirrungen des Zöglings Törleß, erscheint so das durchaus romantisch aufzufassende Motiv des »Heimwehs« als Sehnsucht nach einer halbvergessenen Welt der Einheit, das dann später in den Fragenkreis der »Erinnerung« - vom erzählerischen Problem der »Erinnerungstechnik« in Tonka bis hin zur mottohaften Erinnerung an das 132 '33