Das Ratsel in Musiis >Tonka< 435 Christine Ocrtel Sjogren, The Enigma of Musil's -Tonka'. In; Modern Austrian Literature 9, 3/4 (1976), pp. 100-113. Aus dem Englischen ubcrsctzi von Hclga E(;ncr. DAS RATSEL IN MUSILS >TONKA< Von CHRISTINE OERTEL SJOGREN Der Mittelpunkt von Musiis Erzahlung >Tonka< ist das Geheimnis Tonka. Der Titel gibt zu verstehen, dafi sie von zentraler Bedeutung ist; doch hat der Autor sie fiir unser Verstandnis eigenartig unzuganglich gemacht, indem er zwischen Leser und Geschehen eine Art Erzahler eingeschaltet hat (im folgenden als E bezeichnet), von dessen Standpunkt aus die Geschichte erzahlt wird.' Es gibt keinen Grund fiir E, die Geschichte zu erzahlen, wenn nicht den, sich dariiber klar zu werden, was Tonka ihm bedeutet haben konnte, die Frage, die das „zentrale Problem", dieser Novelle ist.^ Das unzuverlassige Gedachtnis des Erzahlers stellt fiir unsere Einsicht in Tonka das ernsteste Hindernis dar, woran uns Annie ReniersServranckx erinnert: „Das Verwirrcnde, Mehrdeutige, Diffuse, Marchenhaft-Unwirkliche der Wirklichkeit [...] treten in der Erinnerung gesteigert hervor."^ Ohne weiteres fallen E einige Bilder ein, wenn er sich an Tonka erinnert: Zaun, Vogel, Sonne, Bauernmadchen. Wie Hieroglyphen bedeuten sie Tonka fiir ihn: „Das war Tonka.'"' Aber wenn E von seinen Erlebnissen berichtet, scheinen ihm selbst seiche lapidaren Bruchstiicke nicht mehr real: „Das war gar nicht Tonka, mit der er gelebt hatte" (299). Sie bleibt fiir ihn ein Paradox, einfach und durchsichtig, aber unergriindlich (272). Indessen kann sich ihre Zweideutigkeit eher von E.s subjektiver Vorstellung herleiten als von den objektiven Tatsachen, denn er „lebt in einer gespaltenen Welt [... ] zwischen Gefiihien, Traumen und Erinnerung auf der einen und Logik und Verstand auf der anderen Seite"^. Die Metapher, die er zweimal benutzt, um Tonkas auKergewohnliches Wesen auszudriicken, ist die einer an einem Sommertag allein niederfallenden Schneeflocke (296). Das Bild der Schneeflocke ruft Assoziationen mit Liebiichkeit, Reinheit und Wunder und mit Einsamkeit und „Beziehungslosigkeit" * hervor. Es ist als Symbol fiir eine Wahrheit jenseits aller rationalen Definicrbarkcit verstanden worden' - und auch als Hinweis auf die Jungfrau Maria, die der Legende zufolge im Sommer Schnee fallen lieR.^ Fiir E erscheint Tonka durch das Bild der Schneeflocke geheiligt, er versetzt sie dadurch abseits in eine mystische Sphare, wo sie als Opfer fungiert und ihm zu geistiger Selbsterkenntnis verhilft: „Sie wird korperlich zerstort, damit sie in der Phantasie des Helden erhoht, fast geheiligt werden kann."^ Es ist jedoch fraglich, ob auch der Autor Tonka in metaphysischen Begriffen gesehen haben will. Die Metapher ist nicht tragfahig, denn selbst E lafSt das Bild schliefilich als bedeutungslos fallen: „Aber im nachsten Augenblick war dies gar keine Erklarung" (298). Moglicherweise ist das Bild der Schneeflocke nur ein Trick, durch den sich E betriigt, indem er in ein schones Wunder verwandeln mochte, was eigentlich der hafiliche Tod einer realen Person war. Gegen Ende der Erzahlung denkt E an sic als an eine Botschaft, ein Signal wie von einem fernen Ufer („es hatte ihn etwas gerufen" 299), eine Erinnerung an geistige Werte.'" Er fiihlt sich aufgefordert festzustellen, was sie bedeutet: „Tonka kennen, hiefi in einer bestimmten Weise auf sie antworten miissen, ihr entgegenrufen, wer sie sei" (290). Ihr Wesen wird fiir ihn zu einem intellektuellen Problem, das er nicht losen kann: „Das ist ein Gesicht, das ist etwas, das da ist, einzig und allein und ewig da ist, und deshalb gleichsam nicht da ist. Oder was ist das?" (290) Die folgende Interpretation von >Tonka< beruht auf der Oberzeugung, dal? E ein unvoUkommener Berichterstattcr ist, dessen Ansichten nicht unbedingt die des Autors sind. Den satirischen Ton, den Annie Reniers-Servranckx an einer bestimmten Stelle'^ feststellt, kann man auch bei einer ganzen Anzahl anderer Falle spiiren; er deutet daraufhin, dafi der Autor, so wie vielleicht auch der Erzahler, nicht immer von den Gefiihlsregungen iiberzeugt ist, die beschrieben werden. Unser Eindringen in die Geschichte, wegen der indirekten Form der Mitteilung schon kompliziert genug, wird durch die Darbietung als Riickblende und durch die dichte und paradoxe Bildersprache noch weiter behindert, wie Ulrich Karthaus bemerkt: „Die Schwierigkeit einer Analyse liegt [... ] in der Struktur der Erzahlung: die Bildersprache erlaubt keine ,eindeutigen' Auslegungen, sie will funktional verstanden werden." '^ Zudem kann man die Erzahlung auch aus religioser, psychologischer, symbolischer, impressionistischer oder phanomenologischer Sicht le- 436 Christine Oertel Sjogren Das Ratsel in Musils >Tonka< 437 sen. Da der Autor wenig Hilfestellung fiir eine „richtige" Interpretation gibt und statt dessen ein Gefiige voUer Mehrdeutigkeit bietet, dessen zentrales Ratsel nie gelost wird, lafit sich vielleicht iiberhaupt keine einzelne endgiiltige Erklarung finden. Die folgende Analyse iibersieht die mystischen und metaphorischen Dimensionen, aus denen sich die Imagination des Erzahlers speist; sie versucht lediglich eine Auslegung der Geschichte im strikt menschlichen Bereich, urn zu ermitteln, ob es eine Deutung Tonkas auch auf existenzieller Stufe geben konne. Von den Einmischungen des Kommcntars sorgfaltig befreit und auf die bJofien Fakten der Handlung reduziert, ist >Tonka< die Beschreibung einer besonderen Begegnung zwischen Mann und Frau. E und Tonka Ziehen sich gegenseitig an, leben einige Jahre lang zusammen, konnen aber in ihrem Verhaltnis nicht gliicklich werden. Eine Krise entsteht, als Tonka ein Kind erwartet, das E.s Berechnungen zufolge nicht sein Kind ist. Er macht viele Versuche, die Identitat des Vaters festzustellen, wahrend Tonka beharrlich beteuert, dafi es keinen anderen Mann gegeben hat. Die Frage nach der Vaterschaft wird niemals beantwortet. Das Kind wird entweder abgetrieben oder tot geboren, und Tonka stirbt an einer Geschlechtskrankheit oder an anderen Komplikationen bei der Geburt.'^ Fiir Tonka war die Beziehung zu E unfruchtbar, sie endete mit einem totgeborenen Kind und dem eigenen Tod; E behauptet, durch die Begegnung mit Tonka ein besserer Mensch geworden zu sein. Er zeigt sich zufrieden dariiber, da£ er lebt und bei seinen wissenschaftlichen Forschungen Erfolge erzielt hat, die in einer Erfindung zum Nutzen der Menschheit kulminiert haben;''' doch fiihlt er auch, da(? das Leben, das er in seiner Arbeit findet, nicht authentisch ist („nicht sein eigentliches Leben", 293), und die lakonische Erwahnung seiner Erfindung lafit sogar Zweifel an ihrer Aktualitat aufkommen. Die Ereignisse werden nur dann bedeutsam, wenn wir die beiden Personen verstehen und die Art ihrer Beziehung erfassen. E.s Charakter eignet sich eher fiir eine unmittelbare Priifung als der Tonkas, well der Autor uns erlaubt, E.s Gedanken und Erinnerungen zu lesen und dadurch mit seinem Bewufitseinsfeld vertraut zu werden. Tonka dagegen, als Erscheinung in E.s Gedanken dargestellt, wird fast ausschliefilich durch E.s Wahrnehmung gesehen. Wir bekommen am besten einen Zugang zu der Bedeutung Tonkas fiir E, wenn wir die Strukturen seiner Denkweise erkennen. Zu diesen kommen wir durch Betrachtung seines Charakters, mit besonderer Riicksicht auf gewisse friihe Erfahrungen, die grofSen Einflufi auf ihn ausiibten. Als Kind ist E erfuUt von der Kraft edler und romantischer Ideale, als deren Symbole „sch6ne braune und gescheckte Pferde" und „Ritter in einem Zaubergarten der Abenteuer und Befreiungen" fungieren (294). Eines Tages jedoch kann er vor einem Kruzifix seinen Hut nicht mehr Ziehen, und es ist klar, dafi er seinen Kinderglauben verloren hat: „er war schon klug und glaubte nicht" (294). Sein gleichzeitiger Gewinn an Denkvermogen ist verbunden mit einem Verlust an spontaner Handlungsfahigkeit, was dadurch angedeutet wird, dafi er seinen Mantel nicht mehr zuknopfen kann, um sich vor der Winterkalte zu schiitzen. Als junger Mann verwirft er alle auf Menschlichkeit zielenden Werte zugunsten eines zerstorerischen Zynismus: „Er war fiir Zerstorung der Gefiihle, war gegen Gedichte, Giite, Tugend, Einfachheit" (278). Die Begebenheit, die zwischen dem idealistischen und dem zynischen Lebensabschnitt liegt, ist der Schock bei der Entdeckung, dafi seine Mutter vermutlich eine ehebrecherische Beziehung zu Hyazinth, einem Freund der Familie, unterhalt. Unmittelbar nach dieser Erfahrung tritt E fiir die Strenge eines intellektuellen wissenschaftlichen Lebens ein, ein rebellischer Protest gegen Hyazinths pseudoidealistische Heuchelei. Als Symbol fiir sich selbst wahlt er das des freifliegenden Vogels, der niemals singt und sich niemals auf einem Zweig niederlafit: „Singv6gel brauchen einen Ast, auf dem sie sitzen, und der Ast einen Baum, und der Baum braunblode Erde, er aber flog, er war zwischen den Zeiten in der Luft" (278). Indem er sich der Kunst („Singvogel") und der Natur („die braunblode Erde") iiberhebt, fiihlt sich E losgelost von der konkreten Welt und deren Zeitdimension. Wahrend er auf diese Weise normaler menschlicher Wirklichkeit entfremdet ist, trifft erTonka, und dabei erscheint ihm wiederdas Biid vom Pferd, womit ein erneutes Aufleben seiner idealisierenden Kraft angezeigt wird: „Auch das Pferd gehort dazu, der Rotschimmel, den er an eine Weide gebunden hatte" (264 f.).'^ UnterTonkas Einflufi gewinnt E wieder Kontakt mit Natur und Kunst. Das Madchen stimmt auf besondere Weise mit den Elementen iiberein;'^ es wird von Tonka gesagt, sie stehe „im Schutz des Mondes" (266), wahrend der Wind mit ihr „so sanft" umgeht, „als miifite er eine Suppe kiihlen" (266). In ihrer Gegenwart werden die Fragmente der Aufienwelt, die E bis dahin hafilich, un- 438 Christine Oertel Sjogren Das RatscI in Musils >Tonka< 439 scheinbar und traurig voneinander getrennt erschienen (271), zu etwas Gliickspendendem integriert: „jedes einzelne war hafilich, und alles zusammen war Gliick" (272). Wie Tonka E zuriickfiihrt zum Einssein mit der Natur um ihn, so eroffnet sie ihm auch durch ihre Kunst des Gesangs den Bereich einer Totalitat. Mit ihren einfachen Volksliedern vermittelt sie ihm „irgendeine Sprache des Ganzen" (271), die E auf eine Weise beriJhrt, die er nicht erklaren kann („Nun war cr es, der nicht ausdriicken konnte, was mit ihm geschah", 271), weil dies Erleben den begrenzten Wahrnehmungsbereich des Verstandes iiberschreitet. Indem er in ihr Singen einstimmt, erfahrt er trotz eines zynischen Widerwillens ein Einssein seiner Gefiihle mit der aufieren Wirkiichkeit: „und wenn alles auch dumm war, war der Abend eins mit ihren Empfindungen" (271). Der superrationale Skeptiker E findet in Tonka eine Realitat jenseits aller Theorie: „man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt" (283). Er findet in ihr auch eine Qualitat, die iiber menschliche Moral hinausreicht: „das geheimnisvolle Wesen ihrer Giite, das vielleicht auch einem Hund hatte zukommen konnen" (298).''' Obwohl die bindende Kraft zwischen Tonka und E nicht eigentlich erodsch odtt geistig ist,'^ hat sie eine Giiltigkeit, die aui^ einer Anziehung zwischen Geist und Natur beruht, einer Schwerkraft, der hier fast kosmische Unausweichlichkeit zugeschrieben wird. Tonka folgt ihm „so selbstverstandlich, wie der Wind mit der Sonne wegzieht oder der Regen mit dem Wind [278]. [...] Sie war Natur, die sich zum Geist ordnet" (279). Was auch immer im Hinblick auf Tonka zweideutig erscheint, die Wirkiichkeit ihrer Liebe zu E steht aufier Zweifel. Von ihren Empfindungen erfahren wir nicht durch den Dunstschleier von E.s Wahrnehmung hindurch, sondern direkt vom Autor, der uns in diesem Punkte einen der seltenen Einblicke in Tonkas Gefiihl gestattet: „Hinter ihrer Stirn war es plotzlich heiK geworden und ihr Herz kiopfte. [...] Sie [... ] ertappte sich mit einem Mai bei dem Wunsch, seinen Kopf in den Arm zu nehmen und seine Augen zuzudecken" (272). „Sie [...] fiihlte: das war jetzt die Liebe" (275). Im Vergleich damit ist E.s Liebe fiir Tonka nicht so klar umrissen, obwohl er seine Gefiihle mit bildreichen Worten ausschmiickt, die erneut die Anziehung der beiden komplementaren Gegensatze Geist und Natur, hier mit „.See/e" und „frisches Wasser" bezeichnet, erkennen lassen. Ohne die Erregung einer grofJen romantischen Gefiihlswallung ist er ihr mehr zugetan, als er wei{5: „Tonka liebte er, weil er sie nicht liebte, weil sie seine Seele nicht erregte, sondern glatt wusch wie frisches Wasser; er tat es mehr, als er glaubte" (278). Dcnnoch: Die Form seines Antrags Tonka gegeniiber zeigt eine Unvollkommenheit in E.s Einstellung, die eine echte Gemeinschaft zwischen den beiden verhindert. Kurz nachdem E Tonka darum gebeten hat, mit ihm zu leben, scheint der Anblick der Tagebuchfragmente des Novalis bei E Befiirchtungen iiber die Verantwortung, die er auf sich geladen hat, wachzurufen: „betreten" (276)'^ eilt er zuriick zu Tonka, um sich von personlichen Verpflichtungen zu befreien und seine Unabhangigkeit ihr gegeniiber zu erklaren. In seinem Bericht an den Leser verniedlicht er zwar diese Rede, als ware ihr Inhalt belanglos, „wie eben ein sehr jungcr Mann spricht" (276). Jedoch enthiillen schon die blofien Andeutungen, die er dann vorbringt, seine Riicksichtslosigkeit gegen das Madchcn, dessen Leben in seinen Handen liegt: er erklart ihr sein Bediirfnis nach Freiheit und spricht von seinem grofien Geist und seinem Ehrgeiz; er bringt seinen Abscheu fiir Gefiihle zum Ausdruck, und schliefilich kiindigt er noch seine Absicht an, anderen Frauen zu begegnen, die fiir ihn wahrhaft bedeutsam sein wiirden. Somit ist sein Entschlu(5, sich mit Tonka zu vereinen, durch den Mangel an Verbindlichkeit eingeschrankt. DaK er sie nicht heiraten will, ist das auiJere Zeichen fiir seine Vorbehalte, sie uberhaupt als Geliebte anzucrkennen („Er brachte es nicht iiber sich, das Licht hinter Tonka zu stellen" 293). Tonka ist trotzdem zufrieden, E nahe zu sein und seine Interessen zu teilen; aber wahrend sie ihre Arbeit und ihre Studien mit Vergniigen verfolgt, gerat E mit seiner Forschungsarbeit und seiner eigenen menschlichen Entwicklung in eine Sackgasse. Schon bevor Tonka schwanger wird, ist seine Beziehung zu ihr problematisch, „in einer merkwiirdigen Spannung gleich weit von Verliebtheit wie Leichtfertigkeit" (279 f.). E.s Mutter, die Ursache seines Kindheitstraumas, stellt sich energisch gegen die Liaison. Noch immer iibt sie einen nicht abzuschatzenden Einflufi auf E aus und argumentiert, dal? Tonka ungebildet sei und deshalb kein Format, keine Verlafilichkeit und keine Grundsatze habe. Aufierdem trifft E.s Mutter immer wieder die Stelle, an der E am meisten verwundbar ist, namlich seine Unsicherheit, was die Tugend der t 440 Christine Oertel Sjogren Das Ratsel in Musils >Tonka< 441 Frauen anbetrifft, eine Unsicherheit, fiir die sie selbst verantwortlich ist. Sie deutet mit ihrem geringschatzigen und unglaubigen Liicheln an, dafi Tonka sexuell haltlos sei: „Gott, jedermann weifi, dieses Geschaft...?!" (268) Obwohl er den Wunsch seiner Mutter kennt, mit ihm und seinem moglichen Erfolg eine Leere in ihrem eigenen Leben auszufiillen, wird er doch durch ihren Willen gefesselt und durch ihre Einstellung beeinfluKt: „Er stimmte ihrem Stolze im Grunde zu" (276). Sensibel, wie er fiir ihre Fragen ist („die [... ] mit scharfer Spitze tastenden Erkundigungen seiner Mutter" 278), behauptet er mit seiner schUefilichen Abreise von Zuhause doch nicht wirkUch seine Selbstandigkeit, denn er schneidet die Verbindung mit seinen Eltern nicht ab, sondern ladt durch seine Briefe und Besuche zu fortgesetzten Attacken gegen Tonka ein. Als er um finanzielle Unterstiitzung bittet, hort er, dafi kein Geld verfiigbar sei, als er aber Tonkas Schwangerschaft erwahnt, wird ihm eine Geldsumme angeboten, um damit Tonka abzufinden. Obwohl er protestiert, dafi er nicht von Tonka getrennt werden kann, erkennt er in seiner Mutter eine starke AUiierte an („ein machtiger Feind war ihm verbiindet", 286). Die Formulierung legt nahe, daK er und seine Mutter sich zusammen gegen Tonka verschworen haben! Obgleich E.s Mutter ein machtiger Gegner Tonkas ist, ist sie nur ein Element in der Atmosphare der Feindseligkeit. Mordansky, E.s Freund,^" verleumdet Tonkas Moral, ohne iiberhaupt etwas von ihr zu wissen. Auch sind Tonkas Verwandte alle von Unmoral befleckt, was moglicherweise auf Tonka iibertragen sein diirfte. Gegen Tonkas etwaige moralische Verderbtheit spricht aber einfach die unbestreitbare „Wahrheit ihrer Person" (289), die nicht bewiesen, sondern ledighch erfahren und dann angenommen werden kann, wie Erich Heintel betont.^^ Auch E.s Verwandte agieren gegen Tonka, indem sie iiber das Vermachtnis der Grofimutter herfallen „wie Wolfe, die einen gefallenen Kameraden auffrafien" (274), ohne fiir Tonka, die lange Zeit gegen geringes Entgelt die alte Dame gepflegt hatte, irgend etwas von Wert iibrigzulassen. Nach E.s Meinung war „auch der Himmel [... ] gegen Tonka" (268). Diese Aussage darf nicht als ein Urteil des Autors angesehen werden. Sie mufi als deutende Erklarung E.s aufgefafit werden. Vielleicht ist es ein Versuch E.s, sich von Schuld an ihrem Ungliick loszusprechen, dadurch, dafi die Verantwortung dem Himmel zugeschoben wird. Ware ihr Ungliick von Gott gewollt, dann ware es ja unvermeidlich, und E ware vollig schuldlos. Bei der Beschreibung bestimmter Ereignisse verwendet E jedoch eine Bildersprache, die darauf hinweist, dafi er selbst, und nicht notwendigerweise der Himmel, ihr Grausames zugefiigt hat. Er setzt fiir die Verfiihrung den Zeitpunkt fest „wie ein Gerichtsvollzieher" (280), und als sie dann „in fiirchterlich einsamer Angst" (281) neben ihm liegt, nimmt er sie ohne Zartlichkeit oder Mitleid, nur um daraufhin die Frage zu stellen („ein undankbarer Gedanke", 281), ob sie sich etwa zu rasch hingegeben haben konnte. Auch spaterhin, wenn Tonka wegen ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten in „ein grofieshafiliches Geschaft" geht (283), wo sie vom friihen Morgen bis zum spaten Abend arbcitet, schilt E, der kein Geld verdient, mit ihr, weil sie nicht genug einbringt. Um solche Gesprache zu beschreiben, verwendet E das Bild der Peitsche, die er schwingt (279). Als Tonka im Laufe der Schwangerschaft durch die armlichen Lebensbedlngungen „ohne Licht und voll Sorgen" (284) verbliiht und verkiimmert, schlaft E nicht mehr bei ihr, denn er argert sich iiber sie: „er war wegen ihrer Diirftigkeit, an der er die Schuld trug, base auf sie" (284). Er stort sich auch an den schlechten Mahlzeiten in den Speisewirtschaften („zwischen Schmutz und Grobheit eine Kost, die er nicht vertrug", 287), und er nimmt sogar die bedriickende Atmosphare des Hospitals iibel, wo er Tonka besucht: „Die Bilder des Spitals qualten ihn" (297). Sein Interesse ist vollig auf sich selbst gerichtet, auch wenn er in die RoUe des Martyrers schliipft, der peinlich gcnau darauf sieht, „piinktlich, in Erfiillung einer Pflicht" (287), dafi Tonka die Mahlzeiten einhalt. Friiher hatte E.s Mutter eine ahnliche RoUe ijbernommen, als ihr Gatte krank geworden war: „Ihr Wesen war Pflicht" (276). Erich Heintel sagtdazu: „Wie bei der Mutter wird auch fiir ihn die Moral zu einem Auswelchen vor der Zumutung des Glaubens."^^ Vielleicht ist die Verwundung in der Kindheit die Ursache dafiir, dafi E Spuren odipaler Wiinsche nicht fallenlafit und auf ein infantiles Vertrauen in seine Mutter nicht verzichtet, selbst als er mit der Unechtheit ihrer Sphare bricht. Er eignet sich nicht nur die Scheinwerte Stolz und Ehrgeiz an, um dabei „einen Reifezustand der Weltlichkeit" (292) zu erreichen, sondern er iibernimmt die Falschheit selbst. Wenn er versucht, ein Gestandnis von Tonka zu erzwingen, geht er grob mit jhr um und mit schlauer Doppeldeutigkeit. Als es ihm nicht gelingt, sie gewaltsam 442 Christine Oerjel Sjogren Das Ratsel in Musils >Tonka< 443 zu einem Bekenntnis zu bringen („ihr das Gestandnis zu entreifien" 284), zeigt er sich „zah und lauernd" (284), bereit, ihr ein Bein zu stellen: „Zuweilen iiberfiel er sie noch immer aus dem Hinterhalt mit einer geheuchelt arglosen Frage, auf deren glattem Klang ihre Vorsicht ausgleiten sollte" (289). In der Offentlichkeit gibt er sich den Anschein der Besorgtheit, insgeheim „wunschte er Tonka [..,] tot" (288f.). Der Bart, den er sich gegen Tonkas Wiinsche wachsen lafit, verdeckt seine Gedanken, „weil er alles verstellte und verbarg" (289). Er nimmt ihn erst ab, nachdem Tonka ins Hospital gebracht ist und er es nicht mehr notig hat, sich zu verstecken: „Nun war er wieder mehr er selbst" (296). Der Gedanke an Tonkas Tod iibt eine Faszination auf ihn aus. Beim Anbhck ihres angeschwoUenen Bauchs mit seinen blauen und roten Adern sinnt er dariiber nach, „wie nah der Aufienwelt das Blut kreiste, als ob das den Tod bedeuten konnte" (294). An einer spateren Stelle des Textes scheinen seine dunklen Bilder sogar morderische Absicht anzudeuten. Bei der Beschreibung ihres Zimmers namhch notiert E die Abwesenheit von Nachbarn, die Undurchsichtigkeit der gegeniiberhegenden Fenster, die Schatten, den diisteren Hof und die bleierne Wirkung des Lichts, das die Dinge „tot aufleuchten" lafit (295). Als er den belastenden Kalender findet, erscheinen die Mobel in dem Zimmer „wie Mumien" (296) und wie Korper, die allmahlich von der Todeskalte bis zu den vereisten Fingerspitzen durchdrungen werden und deren Eingeweide nur noch „wie ein heifier Knauel alle Lebenswarme" (296) festhalten. E erlebt Tonkas Schwangerschaft und Krankheit wie ein Verwirrspiel, ein Mysterium und eine Quelle innerlicher Qual. Da es fiir die Tatsache der Schwangerschaft keinen objektiven Beweis einer Einwirkung von iibernatiirlicher Ordnung gibt, diirfte es uns geniigen, dienatiirlichen Moglichkeiten fiir Tonkas Empfangnis zu bedenken. Dabei ergeben sich eigentlich nur zwei. Die eine ist, dafi Tonka durch E schwanger wurde. Obwohl E dies abstreitet, ist es doch moglich, dafi er einfach in seinen zeitlichen Berechnungen einen Fehler macht. Dariiber hinaus hat er zusatzlich ein gewisses Eigeninteresse daran, sich der Verantwortung fiir die Schwangerschaft zu entziehen, weil sie ihn mit einer Krankheit belasten wiirde, die er gleichermafien zuriickweist. Als zweite Moglichkeit bleibt, dafi Tonka sexuellen Verkehr mit einem anderen Mann hatte. Wenn dies der Fall ist, dann war sie praktisch E gegeniiber untreu, und praktisch verweigert sie E die Wahrheit. Indessen braucht man sie auch dann nicht als „Hure und Liignerin" ^^ zu verurteilen, denn bei einem solchen Ehebruch waren ja viele mildernde Umstande denkbar. DaK sie die Untreue abstreitet, kann eher Furcht als Verlogenheit andeuten, wie Gerhard Friedrich impliziert: „[E.s] MiKtrauen nimmt ihr die Moglichkeit, sich zu aufiern, treibt sie in storrischen Eigensinn, aus dem nur Giite, Liebe, Glauben und Vertrauen sie erlosen konnten."-^'' Das eine Beweisstuckchen ihrer moglichen Untreue ist das Zeichen im Kalender, das E so belastend findet; aber fiir sich genommen ist das Zeichen kein iiberzeugender Beweis. Da aber der Autor die entscheidenden Fakten durchaus nicht liefert, sind wir gezwungen zu schlieKen, dafi die Frage von Tonkas Empfangnis, die sowohl Gelehrte wie auch ihren Freund E gequalt hat, gar nicht zu beantworten ist und deshalb die Bedeutung der Novelle nicht wesentlich bestimmt. Wesentlich ist eher E.s Antwort auf Tonka im allgemeinen und auf ihre Schwangerschaft und Krankheit im besonderen. Wahrend Tonka an der SchwcUe zum Tod dahinsiecht, ist E mit seiner Erfindung beschaftigt und von seinen Phantasien ganz in Anspruch genommen. Obwohl er sie jeden Tag im Hospital kurz besucht, gibt er ihr keinen einzigen Grund zu leben, noch viel weniger die aufierordentliche Riicksichtnahme, die von den Arzten empfohlen wird (283). Schliefilich beansprucht er fiir sich, ihr Glauben zu schenken, aber nur in dem Sinne, dafi er ihr nicht mehr langer bose ist. Er bedenkt und iiberlegt, schwankt und zogert, fragt und leidet, aber die befreienden Worte der Liebe und des Vertrauens spricht er nicht aus: „Denn er glaubte ihr [... ] nicht so, dafi er fiir alle Folgen daraus auch vor seinem Verstand einstehen wollte. Es hielt ihn heil und an der Erde fest, dafi er das nicht tat" (297). Erich Heintei sagt dazu: „So bleibt er [...] in irdischer Gesundheit ein Glaubiger, der aber nicht glaubt. Ein solcher Glaube kann den Tod nicht iiberwinden."^' Intellektuelle Zuriickhaltung, wie E sie hier wahrt, ist nach Johannes Loebenstein die falsche Haltung gegeniiber Tod und Liebe; nach seiner Ansicht zeigt jede der drei Erzahlungen in Musils Trilogie >Drei Frauen<, „dafi gegeniiber den Bereichen von Liebe und Tod aller distanzierend-iiberlegene Abstand verstummen mufi" ^^. E.s Beunruhigung durch seine Unfahigkeit, Ton- 444 Christine Oertel Sjogren Das Ratsel in Musils >Tonka< 445 kas Wesen zu begreifen, erscheint ais eine erbarmlich unangemcssene Antwort auf das elementare Unheil, das ihr Leben bedroht. Er bleibt gefangen in der Sphare zeitloser Ideen, statt daK er zu handeln beginnt im Bereich empirischer Wirklichkeit, deren einzig Absolutes das Vergehen der Zeit ist. Wahrend er iiber Tonkas Beziehung zur Ewigkeit nachsinnt, wird er gewahr, daK die Zeit an sich im Hier und Jetzt die wesentliche Tatsache ist: „die Schwangerschaft riickte vor wie ein Zeiger, [... ] nur die Zeit ging vorwarts. [. •. ] Und die Zeit lief, die Zeit lief davon, die Zeit verlor sich" (295). Seine Beobachtungen gipfeln in einer klaren Aussage, daK namlich der Zeit gegeniiber dem Gedanken Vorrang zukommt, wo das Leben auf dem Spiel steht („die Uhr an der Wand war^e^f^ Leben ndher alsdie Gedanken", 295). Ungeachtetdieser selbstkritischen Wahrnehmung zieht er daraus keine Konsequenzen, indem er etwa tatkraftig Tonkas Leben zu retten oder sie wenigstens von dem Leiden an seinem Mifitrauen zu erlosen sucht. Er lost sich vielmehr nicht aus der Kette seiner Uberlegungen, die ihn in einem Zustand der Lahmung festhallen, bis es mit ihrem Leben zu Ende ist. Nach Tonkas Tod fiihlt er sich erleichtert, ruhig, befreit: „Die Spannung der letzten Wochen [...] hatte sich gelost" (299), aber plotzlich bricht in seine vermutliche Selbstzufriedenheit die Grimasse eines schreienden Kindes herein, die eine Variante des schrecklichen Lachelns seiner Mutter darstellt, „das wie ein Messerschnitt ansetzende Lacheln" (297). In dem verzerrten Gesicht des Kindes erlebt E wieder sein Kindheitstrauma der Eifersucht, der Unsicherheit, des Treuebruchs - nun verstarkt durch Geftihle der Schuld an Tonkas Tod und dem ihres Kindes." Im letzten Satz der Erzahlung gibt E zu, dafi sein Verhalten Tonka gegeniiber unzulanglich war, obwohl er auch jetzt noch seinen Irrtum als geringfijgig darstellt, indem er ihn als unausweichlich erscheinen lafit: „Wenn auch das menschliche Leben zu schnell flielk, als dafi man jede seiner Stimmen recht horen und die Antwort auf sie finden konnte" (299J. Tonka wird hier mit einer Stimme gleichgesetzt, die E aufruft, deri"'Bereich der rationalen Spekulation zu iibersteigen und sich ganz einzufiigen in die menschliche Wirklichkeit, die trotz Unsicherheit volligen Einsatz des Ich fiir das Du verlange. Werner Hoffmeister sagt dazu: „Als er seine Geschichte beendet hat, wissen wir mit ihm, dafi sein Versagen in seiner Unfahigkeit bestand, dem anderen Menschen mit der Gefiihlstotalitat der ganzen Person zu begegnen, in seiner Unfahigkeit, seine objektive, intellektuell-wissenschaftliche Denkweise im menschlichen Bereich zu suspendieren und dem Du mit der Gefiihlssicherheit des Glaubens und Vertrauens entgegenzutreten." ^* Er findet nicht die adaquate Antwort auf sie. Corinos Behauptung, dafi es fiir die Erzahlung eine autobiographische Grundlage gibt,^"* stiitzt die Vermutung, dafi >Tonka< mit kritischer Einstellung gegeniiber E gelesen werden soUte, da der Text wie Goethes >Werther< wahrscheinlich als ein Mittel zur Selbstreinigung des Autors geschrieben worden ist. In diesem Falle ware die Erzahlung als tragisch zu betrachten, nicht nur fiir Tonka, sondern auch fiir E, der nicht uneingeschrankt lieben kann und dem es deshalb nicht gelingt, zu wahrem Leben durchzudringen.^" Welche Bedeutung auch immer man der Beziehung zwischcn Musil und HermaDietzals Grundlage fiir die Erzahlung geben mag, >Tonka< braucht nicht als ein Geheimnis unter libernatijrlichen Vorzeichen betrachtet zu werden. E.s Begegnung mit Tonka, der jungen Frau, die ihn dazu befahigt, Geist mit Natur zu • einem Ganzen zusammenzufassen, vergegenwartigt den Anspruch an jede Liebesbeziehung, namlich Erlosung des Ego um den Preis der totalen Hingabe an einen anderen Menschen zu bewirken. 446 Christine Oertel Sjogren Anmerkungen Das Ratsel in Musils >Tonka< 447 ' Zur Beschreibung der hier benutzten Erzahltechnik vgl. Werner Hoffmeister, Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil, Den Haag 1965, S. 134, und meine Arbeit: Inquiry into the Psychological Condition of the Narrator in Musil's >Tonka<, in: Monatshefte 64 (1972), 153-161. ^ Annie Reniers-Servranckx, Robert Musil: Konstanz und Entwicklung von Thcmen, Motiven und Strukturen in den Dichtungen (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 110), Bonn: Bouvier 1972, S. 181. 3 Ebda. 183. •• Robert Musil, Tonka, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Adolf Frise: Prosa, Dramen, Spate Briefe, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 264. Alle weiteren Zitate aus >Tonka< sind dieser Ausgabe entnommen. [Hervorhebungen in Kursiven in den Musil-Zitaten stammen von der Autorin; Anm. d. Red.] ' Elizabeth Boa, Austrian Ironies, in: Modern Language Review 63 (1968), 127. *• Vgl. Gerhard Friedrich, Robert Musils >Tonka<, in: Die Sammlung 15 (1960/61), 654; „Beziehungslosigkeit, Fremdheit und Einsamkeit machen das Geschick Tonkas aus." ' Walter H. Sokel (Kleist's Marquise of O., Kierkegaard's Abraham, and Musil's Tonka: Three Stages of the Absurd as the Touchstone of Faith [ = Festschrift furBernhard Blume, Gottingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1967], S. 331) deutet die Schneeflocke als ein Symbol fiir „ein Wissen, das fiir das innere Leben des Menschen unendlich bedeutungsvoU ist, aber - well so vieldeutig und unbestimmt - ohne Sinn im objektiven ofFentlichen Bereich". E. Allen McCormick (Ambivalence in Musil's >Drei Frauen<: Notes on Meaning and Method, in: Monatshefte 54 [1962], 194) betrachtet die Schneeflocke als cin Bild fiir E.s „mystisches Eindringen in das Ratsel der Existenz und [... ] ein Einswerden, zu dem er auf nichtrationale Weise gekommen ist". * Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, Robert Musil: Eine Einfiihrung in das Werk, Stuttgart: Kohlhammer 1962, S. 118f. ' Ebda. 21. '" Nach Benno von Wiese (>Die Amseh, in: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen II, Diisseldorf: Bagel 1962, S. 304) sollen alle diese Bilder, die sich auf Tonka beziehen: Lichtschein, Ruf, Gedicht, Schneeflocke usw., als austauschbare uniibersetzbare Chiffren betrachtet werdcn: „Das Zcichen hat keinerlei ablosbaren, im dinglich Bildhaften erscheinenden Wert, sondern ist nur ein Hinweis auf den Chiff recharakter des Lebens iiberhaupt." Es ist gut festzuhalten, dafi die Austauschbarkeit von Bildern eines der Merkmale ist, die Musil an Rilkes Dichtung bewundert. Vgl. seine >Rede zur Rilke-Feier< (in: Robert Musil, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Adolf Frise: Tagebiicher, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg: Rowohlt 1955, S. 893): „In diesem[...] lyrischen Affektwird eines zum Gleichnisdesandern", „im Gefiihl dieses grofien Dichters ist alles Gleichnis", „das Metaphorische wird hier in hohem Grade Ernst". " Reniers-Servranckx, a. a. O. 186. '^ Ulrich Karthaus, Musil-Forschung und Musil-Deutung: Ein Literaturbericht, in: Deutsche Viertcljahrsschrift 39 (1965), 458. Oder wic Gerhart Bauniann es zum Ausdruck bringt (Robert Musil: Zur Erkenntnis der Dichtung, Bern-Miinchen: Francke 1965, S. 147): „Man kann allcszauberhaftodererniichtcrnd verstehen, und es bleibt offen, ob die Maske das Gesicht der Dinge verbirgt odcr deren Aussehen selbst maskcnhaft bleibt." '^ Kaiser und Wilkins (a. a. O. 120) deuten diese Krankheit als Syphilis. Karl Corino (Odipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse [= MusilStudien 4, Vom >T6rlel5< zum >Mann ohne Eigenschaften<, hrsg. v. Uwe Baur und DietmarGoltschnigg, Miinchen: Wilhelm Fink 1973], S. 169) versucht, die Vorfallc, die „in dcr Novelle vcrschleicrt" sind, aufzukliiren; er gibt einen Bericht iibcr die Ereignisse in der Begegnung zwischen Musil und Herma Dietz, die Corino fiir das Urbild Tonkas halt. Corino ist der Ansicht, da(5 sich Musil wahrend seiner Militardienstzeit selbst Syphilis zugezogen habe und dafi spater seine Freundin Herma schwanger geworden und von der Krankheit angesteckt worden sei. Musil wurde so schr von der Ungewifiheit geplagt, ob er der Urheber gewesen sein konnte oder ob Herma Ihm untreu war, dafi Herma „psychisch von seiner Unentschiedenheit zermiirbt" wurde. Sie liell eine Abtreibung vornehmen und starb im Hospital wie Tonka. Nach der Auffassung Corinos „qua!te [Musil] sie bis zu ihrem Tode mit Mifitrauen und peinlich-cifersiichtiger Inquisition". '•* Wilhelm Braun (An Interpretation of Musil's Novelle >Tonka<, in: Monatshefte 53 [1961], 84) 1st ein Repriisentant fiir die Auffassung, daft die Novelle einen gliicklichen Ausgang habe: „Eine Andcutung des Gottlichen war in das Leben des Helden gckommen, das ihn fiir immer andern sollte. Wir konnen damit die ganze Novelle als eine erzieherische Erfahrung des Helden ansehen. Er hat seine Erfindung beendet, er ist bereit fiirs Leben, aber cr war auch zu einem besscrcn Menschen gcwordcn." Der Irrtum bei ciner solchen Interpretation ist, so scheint mir, dafi sic sich Icdiglich auf E als den „Helden" konzentriert und weder das Schicksal Tonkas noch die moglichc Schuld E.s beriicksichtigt. " Mit der spateren Vcrschlechtcrung seines Vcrhaltnisses zu Tonka werdcn die Pferde in scincm Bcwufitseinsfcld zu Bildern dcr Degeneration. Sie sind nun zu Gegenstanden des Lottcriespiels crnicdrigt wordcn. E verliert auch alle seine Einsatze. "• Lida Kirchbergcr (Musil's Trilogy: An Approach to >Drei Frauen<, in: Monatshefte 55 [1963], 1979) will in Tonka sogar eine Allegorie der Natur sehen: „Als Natur ist Tonka die unvermeidbare Wahl des Naturwissenschaftlers im 448 Christine Oertel Sjogren Das Ratsel in Musils >ToniTonka< [ = Musil-Studien 4, Vom >T6rle(5< zum >Mann ohne Eigenschaften<, hrsg. v. Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg, Miinchen: Wilhelm Fink 1973], S. 47-88) ist der Meinung, dal! E wie ein moderner Joseph aufgefordert wird zu „glauben", selbst angesichts offensichtlicher gegenteiliger wissenschaftlicher Beweise. Heintel, der sich mit der allgemeinen Frage des „Glaubens" in Musils Werk befafit, hebt hervor, dal5 E den modernen Mann spiegele, dessen Glaube im Hinblick auf die moderne Naturwissenschaft mit einem zweifachen Dilemma konfrontiert wird. In seiner These (S. 79): „Es geht um dieOberwindungdes Gegensatzcs von Wissenschaft und Gefuhl", werden der „Wahrheit ihrer Person" und der „Sprache des Ganzen" im Hinblick auf Tonka grol5e Bedeutung beigemessen. " Heintel, a.a. O. 70. " Sicherlich stellt Walter Sokel (a. a. O. 329) die Alternativen zu kompromifilos einander gegeniiber: „Wenn sie nicht eine mystische Wahrheit verkorpert — und iibersteigt diese Moglichkeit nicht unsere Glaubensfahigkeit ? - dann muR sie eine Hure und eine Lugnerin sein." " Friedrich, a.a.O. 654. " Heintel, a.a.O. 75. ^' Johannes Loebenstein, Das Problem der Erkenntnis in Musils kiinstlerischem Werk, in: Robert Musil: Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Karl Dinklage, Ziirich-Leipzig-Wien; Amalthea 1960, S. 120. Vgl. auch S. 12; „Der Verstand [...] wird hier durch die absolute Position eines liebenden Menschen [...] beziiglich seiner eigenen Sinnhaftigkeit relativiert." ^' Das beharrliche Lacheln seiner Mutter ist eines der Schliisselsymbole in diesem Werk, wie Wilhelm Braun (a. a. O. 74) sagt: „Was im Gedachtnis des Helden vorherrscht, ist das Lacheln seiner Mutter." Es kehrt immer wieder „heimtiikkisch versteckt oder verkleidet" (268) auf dem Gesicht seiner Mutter, auf dem Gesicht der Arzte „mit dem Lacheln der Vernunft" (286), auf dem Gesicht des blonden Madchens in seinen Traumen und auf Tonkas Gesicht in seinen Traumen, als sie „mit einem unendlichen Lacheln" (293) den Ehebruch zugibt. Es zeigt, dafi E sich niemals von dem umgarnenden „Dornengerank" (262, 267) befreien konnte, das er in seiner friihen Kindheit als Eifersucht, Verdacht und Unzuverlassigkeit in der Liebe erfahren hat und das er spater mit Tonka wieder- erlebt. " Hoffmeister, a.a.O. 156. " Vgl. Anm. 13. 3" Vgl. Novalis: Schriften, hrsg. v. Richard Samuel u.a., Stuttgart: Kohlhammer 1960, Band II: Teplizer Fragmente, S. 606: „Das Herz ist der Schliissel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hulflosen Zustande um zu liebenund andern verpflichtet zu seyn." Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui und Rosmarie Zeller Band 27 • 2001/2002 ROSMARIE Z E L L E R Grenztilgung und Identitatskrise. Zu Musils TorleJJ und Drei Frauen Im Folgenden soUen Musils Erzahlungen in ihrem Bezug zum Literatursystem der Moderne analysiert und interpretiert werden, dies mag auf den ersten Blick ein unnotiges Unternehmen sein, ist es doch unbestritten, dass Musils Erzahlungen zur Moderne gehoren, auch wenn von »geschwachter Moderne« die Rede ist.' Auch wurde schon mehrfach auf das Problem der Identitatskrise hingewiesen.^ Andererseits kursieren so viele Auffassungen von dem, was Moderne sei, wozu eine unhistorische Benjamin-Rezeption, eine verkiirzte Rezeption der Schriften von Foucault und der grenzenlose Dekonstruktivismus das ihre beigetragen haben. Gemeinsam ist diesen Richtungen, dass sie nicht historisch arbeiten, was sich schon daran zeigt, dass gewisse Autoren so weit gehen, Musil fiir die Postmoderne zu reklamieren, wie wenn es moglich ware, dass ein Autor aus dem historischen System, dem er nun einmal notgedrungen angehort, aussteigen konnte und sich in ein anderes zu seiner Zeit noch gar nicht bestehendes System integrieren konnte.^ Andere wiederum setzen die Moderne bereits im 18. Jahrhundert an, was wenig erhellend ist. Dies alles wird moglich, well die Kriterien fiir die Epochenzuordnung aufierst vage und vor allem so beschaffen sind, dass sie nicht zu einer aussagekraftigen Abgrenzung zu anderen Epochen fuhren, zudem findet gerade bei den Richtungen, welche sich als diskursanalytisch verstehen, 1 So z.B. Christian Dawidowski: Die geschwachte Moderne. Robert Musils episches Friihwerk im Spiegel der Epochendebatte. Frankfurt a. M. 2000. 2 Siehe z. B. Martin Siegel: Identitatskrise als Beziehungskonflikt: Robert Musils Erzahlungen vor dem Problem gefahrdeter Intersubjektivitat. St. Ingbert 1997, wo aber nicht eigentlich die Identitatskrise analysiert wird. 3 Selbstverstandlich heifit das nicht, dass man einen Autor nicht immer wieder neu und aktualisierend lesen kann, aber zwischen einer solchen Lektiire und einer das Bedeutungspotential rekonstruierenden wissenschaftlichen Beschaftigung mit dem Text ware zu unterscheiden. Siehe U. Ecos Unterscheidung von »Gebrauch des Textes« und »Interpretation des Textes«, in: Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. Miinchen 1990, insbesondere S. 35 ff. 190 Rosmarie Zeller keine Unterscheidung zwischen kunstlerischen und philosophischen Ausdrucksformen statt, auf die es Musil gerade ankam/ Dass es moglich ist, epochale semantische Strukturen in der Terminologie der Literaturwissenschatr zu beschreiben, zeigen die Arbeiten von Marianne Wiinsch und Michae. Titzmann. Auf der Grundlage eines quantitativ grofien Materials beschreiben sie epochenspezifische semantische Strukturen. Sie fragen nach der semantischen Konstruktion von Welten und den in ihnen handelnden Personen. In ihrer Untersuchung Worn spdten »Realismus« zur »Fruhen Moderne • stellt Marianne Wiinsch eine Reihe von Transformationen zwischen Realismus und Moderne fest, welche die Konstruktion der Figur und das Normensystem betreffen.^ Wurde im Realismus das Nicht-Bewusste und Nicht-Mcralische aus der Person ausgegrenzt, werden in der Friihen Moderne die unbewussten und unrealisierten Bestandteile der Person zentral, zu welcher. auch Normverletzungen gehoren. Ja, es konnen auch psychopathologische Sachverhalte dargestellt werden, welche im Realismus aus der Literatur ausgegrenzt wurden. Auffallig gerade auch im Hinblick auf Musil ist, dass in der Epoche der Moderne die Identitat des Individuums am Ende der Jugendph:se nicht festgelegt ist, sondern dass das Individuum als Potentialitat konz:piert wird, aus der immer neue Existenzen generiert werden konnen. Dief kann andererseits zum Verlust der Identitat bzw. der Verunsicherung ode: Ungewissheit von Ich-Grenzen fiihren.'' Grenzziehung bzw. Grenztilgun: wird von Titzmann als zentral fiir die Literatursysteme des Realismus bz^ der Moderne betrachtet. Grenzziehung bzw. Grenztilgung wird von Titzmann als zentral fiir die Literatursysteme des Realismus bzw. der Modem; betrachtet.^ Sich auf Lotman beziehend, der ein Ereignis als Uberschreitur.. einer Grenze zwischen zwei semantischen Raumen definiert, stellt Titzma-r 4 Kennzeichnend fiir die Art von Kriterien, die verwendet werden, scheint mir die i^ Gefolge der Benjamin-Interpretation hochgespielte Figur des Flaneurs zu sein, ceseinerseits nie in seinen epochenspezifischen Kontext gestellt wird, er ist ja selbst n__wieder ein Produkt der epochalen Strukturen, und zum andern zur Analyse der mei-- ten Texte der Moderne nichts hergibt. Ahnlich ist der JVIoderne-Begriff Baudelaire;. wie er von H. R. Jaufi lanciert wurde, wenig erhellend fiir die konkrete Analyse se—antischer Strukturen. 5 Marianne Wiinsch: Vom spaten Realismus zur »Friihen Moderne«: Versuch eine? Modells des literarischen Strukturwandels, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle \iit~ rarischen Strukturwandels. Tiibingen 1991, S. 187-203. 6 Wiinsch: Vom spaten Realismus, S. 193. 7 Michael Titzmann: >Grenzziehung< vs. >Grenztilgung<. Zu einer fundamentalen Drferenz der Literatursysteme >Realismus< und >Friihe Moderne<, in: Flans Krah, ClauiMichael Ort (Hg.): Weltentwiirfe in Literatur und Medien. Phantastische WirkJic-- Grenztilgung und Identitatskrise 191 fxir den ReaHsmus Konstanz der Grenzziehung fest, wahrend die Friihe Moderne keine oppositionellen disjunkten semantischen Raume mehr kennt, sondern diese durch eine Wehstrukturierung ersetzt, welche auf graduellen Unterschieden beruht und damit auch eine klare Grenzziehung verhindert. Die Auseinandersetzung mit Grenzen, das Uberschreiten von Grenzen bzw. das Tilgen von Grenzen sieht Titzmann als zentral fiir die Literatur der Friihen Moderne: Um ein Experiment mit sich selbst handelt es sich aber in all diesen Fallen, wo das Subjekt, zufallig oder gewollt, die Grenzen in sich, die Grenzen gegen sein eigenes Unbewusstes und sein unrealisiertes Potenzial tilgt und sich auf einen Prozess der Selbstfindung und Selbstverwirklichung jenseits des tradierten Wert- und Normensystems einlasst: und damit um das Metaereignis einer Umstrukturierung der ideologischen Ordnung der Welt} Musil sieht die Auflosung des Festen, das Erproben von immer neuen Konstellationen und Moghchkeiten geradezu als Aufgabe der Dichtung: Wahrend sein [des Dichters] Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist bier von vornherein kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Losungen, Zusammenhange, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensablaufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.' Musils Gedanken kreisen dabei auch immer um die spezifische Rolle der Literatur Er hat immer wieder betont, dass die Literatur auf die Probleme der Zeit andere Antworten gibt als die Wissenschaft, die Philosophie oder die essayistische Abhandlung und dass sie dadurch insbesondere auch andere Erkenntnisse zu vermitteln vermag.'° Kunst kann durch ihre spezifischen Mittel wie die Betonung der Konnotation auf Kosten der Denotation und die Erzeugung von Vieldeutigkeit feste Bedeutungsstrukturen aufbrechen. In Uberlegungen zur poetischen Kraft eines Satzes von Hamsun in einem Tagebuchein- 10 keiten und realistische Imagination. Festschrift fiir Marianne Wiinsch. Kiel 2002, S. 181-209. Siehe auch Michael Titzmann: Das Konzept der >Person< und ihrer >Identitat< in der deutschen Literatur um 1900, in: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Friihmoderne. Passau 1989, S. 36-52. Titzmann: Grenzziehung, S. 197. Robert Musih Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. II,S. 1029. Siehe etwa die Uberlegungen zu Essay und Kunst in Profil eines Programms, GW II, S. 1317. 192 Rosmarie Zeller tragvon 1910 bemerktMusil, dass »der Associationskreis« des Originalsatzes durch seine Explikation dieses Satzes nicht erschopft wird, und er stellt zusammenfassend fest: »Diese Erklarung setzt voraus, dafi die specif, iiber das Begriffliche hinausgehende Wirkung des dichterischen Satzes auf mitschwingenden Associationen, Anklangen, Halb- und Vierteltonen ruht.«" Es stellt sich also die Frage, wie Musil die semantische Welt seiner Erzahlungen strukturiert, wobei jetzt schon angemerkt werden kann, dass das Problem von Grenze und Grenztilgung bis in die Wortwahl bzw. bis in die Metaphern hinein prasent ist. Torlefl und die Auflosung der Grenzen Die Auflosung klarer Grenzziehungen steht im Mittelpunkt der »Verwirrungen«, die Torlefi ergreifen. Gerade weil sich die scheinbar festen Grenzen zwischen dem Guten und Bosen, dem Erlaubten und Unerlaubten, aber auch dem Endlichen und Unendlichen auflosen, gerat Torlefi in Verwirrung. Torlefi erziihlt die Geschichte von Grenziiberschreitungen eines Ichs, das seine eigenen Grenzen nicht kennt. Wie in alien seinen Erzahlungen gibt Musil fiir etwas, was ein Epochenphiinomen ist, eine Art realistische Motivation, indem er einen Adoleszenten zum Helden wahlt,'^ dessen Leben noch nicht gefestigt ist, der sich aber nach Festigkeit sehnt: »Dann sehnte er sich danach. endlich etwas Bestimmtes in sich zu fiihlen; feste Bediirfnisse, die zwischen Gutem und Schlechtem, Brauchbarem und Unbrauchbarem schieden.«*^ Das heifit nichts anderes, als dass er Grenzen Ziehen mochte zwischen semantischen Welten, die so einfach nicht mehr abzugrenzen sind. Die erste Episode, die dies vorfiihrt, ist jene mit Bozena, welche auf die Verhaltnisse im Hause Beinebergs anspielt, wo ein Cousin Beinebergs Mutter den Hof gemacht haben soli. Durch diese Anspielungen wird Torlefi dazu veranlasst, an seine eigene Mutter zu denken und sie mit Bozena in Beziehung zu bringen, was ihn verunsichert. Musil stellt das hier noch in einer weit realistischeren Ma- 11 Robert Musil: Tagebiicher. Hg. von Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. 1. S. 219. 12 Der Aspekt des Torlefi als Schulroman wird hier nicht beriicksichtigt. Siehe dazu Matthias Luserke: Schule erzahlt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Gottingen 1999. 13 Musil: Tdrlefi, GW II, S. 42. Grenztilgung und Identitatskrise 193 nier dar als sparer in Drei Frauen, indem der Erzahler zunachst erklarend von den »Grenzen des Bewufitseins« spricht und dann das Wort an den reflektierenden Torlel? abgibt: Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewufitseins geschossen - blitzschnell oder undeutlich weit - am Rande - nur wie im Fluge gesehen - kaum ein Gedanke zu nennen. [...] Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck gebracht, dal$ hier gar keine Gemeinsamkeit besteht? [...] Dieses Weib ist fur micti ein Knauel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschopf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte ....'* Hier wird auf ktirzestem Raum die ganze Problematik sowohl der Personenkonstitution wie der Weltordnung thematisiert. Etwas, das sich an den Grenzen des Bewusstseins abspielt, das eigentlich gar nicht gedacht werden diirfte, dringt an die Oberfliiche, namlich die Einsicht, dass die Grenze zwischen der die geschlechtliche Begehrlichkeit reprasentierenden Bozena, die riiumlich im Schmutz der Erde angesiedeh ist, und seiner als Gestirn entfernt am Himmel lokalisierten Mutter nicht existiert, dass es keinen Abgrund gibt zwischen den morahschen Normen und dem Normverstofi, ein Bild, das auch in Tonka wieder auftreten wird. Noch am selben Abend wird Torlefi ein zweites Mai mit der Tatsache der Grenzverschiebung konfrontiert, als er von Basinis Diebstahl erfahrt, der ja dann seine Fortsetzung in den Vorgangen in der Dachkammer findet. Was Torlefi derart irritiert, ist, dass innerhalb der geordneten und moralischen Welt des Internats solche Verstofie gegen die ethischen Normen stattfinden, was Musil in raumlicher Metaphorik ausdriickt: Dann war es auch mogiich, dai5 von der hellen, taglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden fiihre. Dafi zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Gias und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestof^enen, Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gangen vol! briillender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Ubergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick iiberschreitbar aneinanderstofien ...P Diese Erfahrung fiihrt zu einer Erweiterung des Bewusstseins, in welches das vorher Ausgegrenzte einfliefit, was einmal mehr in raumlicher Metaphorik 14 Musil: Torlefi, GW II, S. 32 f., Hervorhebung R. Z. 15 Musil; Torlefi, GW II, S. 46 f., Hervorhebung R. Z. 194 Rosmarie Zeller ausgedriickt wird: »die verschwiegenen Verstecke« werden »aufgestofien«, diesen Regungen wird mit »einem Schlage ein Tor zum Leben« aufgerissen: Inneres und Aufieres vermischen sich.''' Das Leben, das Torlefi hier entdeckt, ist ein intensives oder gesteigertes Leben, das im Gegensatz steht zum eintonigen, mechanischen Leben der Schule.'^ Der tiirlose Torlefi, wie sein Name gedeutet wurde,^* entdeckt ein Tor nach dem andern, was seine Verwirrung erhoht, bis es zu einer eigentlichen Identitatskrise kommt im Zusammenhang mit den sexuellen Erlebnissen mit Basini, wo Torlefi sich »verzweifek an den Gedanken« klammert: »Das bin nicht ich! ... nicht ich! ... Morgen erst werde ich es sein! ... Morgen ...«," und spater sagt er zu Basini: »Das war nicht ich ... Ein Traum ... «^° Dass diese Identitatskrise nachts auftritt und mit einem Traum assoziiert wird, spater auch mit ToUheit oder Wahnsinn,^* ist ein Riickgriff auf die literarische Bildlichkeit der Romantik, die in einer Zeit, wo fiir die neuen Erkenntnisse der Entgrenzung des Individuums noch keine neuen Hterarischen Mittel zur Verfiigung standen^^ und andererseits die realistischen Vorstellungen ausgedient hatten, als Reservoir dien- te. Bereits in Torlefi wird ein in den Drei Frauen konstitutiv werdender Gegensatz zwischen der »realen, festen sonnenbeschienenen Welt«,^' die mit dem Verniinftigen gleichgesetzt wird, und einer Welt, welche mit dem Traum, mit dem sich der Vernunft Entziehenden assoziiert wird, aufgebaut. Es ist typisch fiir die semantischen Konstruktionen der Literatur der Friihen Moderne, dass es keinen scharfen Gegensatz von »verniinftig« und »unverniinftig« mehr gibt, sondern dass es graduelle Unterschiede auf der Skala zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft sind. Musil wird es spater das NichtRatioide nennen, was nicht einfach mit >Nicht-rational<, >wider die Vernunft- 16 »Empfindungen, die von aufien einfielen und Flammen, die ihnen von innen entgegenloderten.« (Musil: T6rlefi, GW II, S. 110) 17 Zum intensiven Leben siehe Titzmann: Grenzziehung, S. 192. 18 Lars W. Freij: >Turlosigkeit<. Robert Musils Torlefi in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dicliters. Stockholm 1972. 19 Musil: T6rlefi, GW II, S. 108. 20 Musil: Torlefi, GW II, S, 123. 21 »Es kam wie eine ToUheit iiber Torlefi, Dinge, Vorgange und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden.« (Musil: Torlefi, GW II, 64) Etwas spater meint Torlefi: »Ich mufi krank sein - wahnsinnig.« (Ebd., S. 88) 22 Doblin wird in Romanen wie Wallenstein und Berlin Alexanderplatz mit der Vervielfachung der Stimmen und Sprachen neue Mittel in den Roman einfiihren, die aber eigentlich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Tragen kommen. 23 MusibT5rlefi, G W I I , S . 51. Grenztilgung und Identitatskrise 195 ;leichgesetzt werden darf. Dieses Phanomen wird in Torlefi am Beispiel der imaginaren Zahlen vorgefiihrt, die »jenseits des Verstandes« liegen, wie es heifit. Torlefi irritiert, dass am Anfang und am Ende richtige Zahlen stehen, dass dazwischen aber etwas ist, was er mit einer Briicke vergleicht, von welcher nur die Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind »und die man dennoch so sicher tiberschreitet, als ob sie ganz dastunde*.^* In einer andern Auseinindersetzung mit Beineberg meint er: »Die Vorstellung des Irrationalen, des Imaginaren, der Linien, die parallel sind und sich im Unendlichen - also doch irgendwo - schneiden, regt mich auf.«^' Das Wesen des Irrationalen und Imaginaren ist es nicht, wie man meinen konnte, nicht-real zu sein, sondern zu- 2;leich real und imaginar oder rational und irrational zu sein. Auch diese Ertahrung wird als Entgrenzung beschrieben: In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmte Stelle komme, so ist es wie eine Liicke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmbare Weite sieht.^'' Sowohl Beineberg wie die Lehrer meinen, Torlefi habe Probleme, die auf dem Gebiet der Religion und des Glaubens liegen. So meint Beineberg, Torlefi spreche wie ein Pfarrer, ausgerechnet der Mathematik-Lehrer halt ihn dazu an, einfach zu glauben,^'' und als Torlefi im Schlussverhor erklart: »Ich sagte, dafi es mir an diesen Stellen scheine, wir konnten mit unserem Denken allem nicht hintiberkommen, sondern bediirften einer anderen, innerlicheren Gewifiheit, die uns gewissermafien hiniibertragt,«^^ greift sofort der Religionslehrer ein. Die Religion hat nicht die Losung ftir die Probleme von Torlefi, aber die Losung liegt in der Richtung, fiir die auch die religiosen Vorstellungen stehen. Das wird in Tonka auch offensichtlich, wo dieselbe religiose Terminologie verwendet wird. In der Person von Beineberg wird eine weitere Variante dieser Suche im Gebiet des Nicht-Rationalen eingeftihrt, die ostliche Philosophic und Religion mit ihren Meditationsriten, auch Beinebergs Hypnoseversuch muss als Versuch interpretiert werden, die verlorene Einheit der Seele wiederzufinden. In Musils Augen ist dies, das zeigt der Verlauf der Erzahlung, ein inadaquater, aber deswegen nicht vollig falscher Versuch, denn Beineberg geht es um etwas Ahnliches wie Torlefi. An solchen Stellen 24 Musil: Tfirlefi, GW II, S. 74. 25 Musil: Torlefi, GW II, S. 81. 26 Musil: TorM, GW II, S. 81 f., Hervorhebung R. Z. 27 Musil: Torlefi, GW II, S. 77. 28 Musil: TSrlefi, GW II, S. 135, 196 Rosmarie Zeller wird deutlich, wie sehr Musil nicht in Oppositionen, sondern in graduellen Unterschieden denkt, was im Mann ohne Eigenschaften dazu fiihrt, dass Ulrich nicht das Privileg der Wahrheit hat.^' Wenn der Direktor im Schlussverhor ungeduldig herausplatzt: »Nun dann sagen Sie uns doch endlich klipp und klar, [...] was es gewesen ist,«'° so macht Musil dem Leser^' noch einmal klar, dass man es so klipp und klar eben nicht sagen kann, dass die Erzahlung allein die adaquate Form ist, um diese beunruhigende Erfahrung der Entgrenzung des Ichs und der Welt darzustellen. Allerdings ist in den Augen Musils das Individuum nur liberlebensfahig, wenn es ihm gelingt, die Krise des Identitatsverlustes zu iiberwinden und eine neue um die Erfahrung des Nicht-Ratioiden erweiterte Identitat zu finden. Von Torlefi heifit es am Ende zusammenfassend: »Er wufite nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden.« Die Erlebnisse werden als »schwerer Traum« bezeichnet, der »verwischend iiber diese Grenzen hingeflutet« war. Das Wissen, »dafi fiebernde Traume um die Seele schleichen, die feste Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufrei6en«, bereichert ihn.^' Varianten von Grenziiberschreitungen Was im Torlefl als Pubertatskrise eines Jugendhchen dargestellt wird, wird in Drei Frauen als Erfahrung auch erwachsenen Mannern zugeschrieben, was die Aussage von Wiinsch bestatigt, dass sich das »Subjekt der Moderne als Potentialitat« erfahrt." Damit stellt sich aber ein neues Problem, welches Musil bis ans Ende seiner Schriftsteller-Karriere beschaftigen wird, wie kann man in der Realitat leben, wenn man sich selbst als ein Subjekt erfahrt, das immer auch anders konnte. In Drei Frauen bricht die Erzahlung jeweils dorr ab, wo das Subjekt entweder seine Identitat ganz verloren hat oder ein neues Ich gefunden hat. Wie es sich mit diesem Ich lebt, wird nicht mehr gezeigt, das wird Musil erst im Mann ohne Eigenschaften literarisch erforschen. Das Problem, welches sich in Drei Frauen stellt, ist, was geschehen muss, damit das Subjekt seine Potentiahtat entdeckt. Es muss zunachst einmal aus seiner 29 Es gehort ja zur Grundstruktur des Mann ohne Eigenschaften, dass man keine reinen semantischen Oppositionen erstellen kann. 30 Musil: TSrlefi, GW II, S. 135. 31 Wenn ich liier und im Folgenden vom Leser spreche, meine ich den Modell-Leser im Sinne von Umberto Eco (Die Grenzen der Interpretation). 32 Musil: TSrlefi, GW II, S. 140, Hervorhebung R. Z. 33 Wiinsch: Vom spaten Realismus, S. 191. Grenztilgung und Identitatskrise 197 gewohnten Umgebung herausgenommen warden, es muss sich in einer Phase befinden, wo sich die festen Uberzeugungen und Lebensformen gelockert haben. Der Einleitungssatz zu Grigia konnte fiir alle drei Novellen gelten: »Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zogerte es weiterzugehn oder wollte seine Richtung andern. Es mag sein, dafi einem in dieser Zeit leichter ein Ungliick zustol?t.«^'* Diese Zeit ist fiir Homo die Trennung von seiner Frau und seinem Kind, von denen er friiher nie getrennt gewesen war, fiir den namenlosen Helden von Tonka ist es das Mihtarjahr, »denn niemals ist man so entblofit von sich und seinen eigenen Werken wie in jener Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewak alles von den Knochen reil?t«.^^ Fiir Ketten endlich ist es das Ende jenes Krieges gegen den Bischof, den er von seinen Vorfahren geerbt hat und der seinem Leben Sinn gab. Er ist dadurch so verletzbar geworden, dass ein Fhegenstich geniigt, um ihn bemahe sterben zu lassen. Das sind die aui?eren Anlasse, es gibt aber auch solche, die in der Person selbst Hegen, so hat Homo, schon bevor er in das Tal fahrt, die Erfahrung der »Selbstaufl6sung« gemacht. Er erkennt, dass die Liebe zu seiner Frau, von der er vorher nie getrennt gewesen war, trennbar geworden ist. Nicht zufalhg braucht der Erzahler den Vergleich mit einem Stein, in den Wasser sickert und der sich auf diese Weise langsam aufspaltet. Der Stein steht fiir das Feste, fiir das, was sich nicht verandert, was aber auch in seiner Erstarrung leblos ist. Homo nimmt also die Einladung zur Goldgraberexpedition in einem Moment an, wo er sich bereits in einem Zustand der Auflosung oder jedenfalls der Verletzlichkeit befindet. Sie ist vielleicht auch die Voraussetzung dafiir, dass er sich iiberhaupt auf die in den Bereich der Abenteuer gehorende Goldgraberexpedition einlasst. Die Grenztilgung, die hier stattfindet, wird auf der narrativen Ebene als Eindringen in eine fremde Welt beschrieben. Diese wird einerseits durch die geographische Entfernung, andererseits durch die zeitliche Entfernung charakterisiert, es ist ein friiherer Zustand der Welt, der sich in dem abgelegenen Tal teilweise erhalten hat. Die Dorfer sehen aus wie Pfahlbaudorfer, die Frauen haben zwar Kleider aus bilhgen Kattundrucken an, diese erinnern aber an alte Muster. Es ist eine uneigentliche Welt, in der die Menschen keine Beziehung zu ihren Urspriingen und den Elementen ihrer Herkunft mehr haben.'* Zugleich hat diese Welt auch Ziige des Marchenhaften und des Abenteuers. 34 Musil: Grigia, GW II, S. 234. 35 Musil: Tonka, GW II, S. 270. 36 Im Mann ohne Eigenschaften wird eine solche Welt mit dem Ausdruck »seinesgleichen geschieht« bezeichnet. 198 Rosmarie Zeller Homo gerat in einen »Marchenwald von alten Larchenstammen«-''' und die Bauern bringen »unheimlich schone [...] Marchengebilde« von Bergliristallen und Amethysten von den Bergen herunter. Das Aussehen der Gegend wird als »fremd vertraut« bezeichnet, womit deutlich gemacht wird, dass die Grenze zwischen »fremd« und »vertraut« ebenso getilgt ist wie die zwischen der Realitiit und dem Abenteuer oder die zwischen alt und modern.^^ In dieser Welt fallt auch eine weitere Grenze, die zwischen Mensch und Tier, nicht zufallig nennt Homo Grigia nach ihrer Kuh, bei der Heuernte warden die Frauen mit dem Pillendreher verglichen. Vielleicht miisste man diese Grenze auch anders benennen: als Grenze zwischen Kultur und Natur, wobei die letztere vom Text als »unmenschlich« charakterisiert wird.^' Den Reiz von Grigia macht gerade ihre Mischung aus Natur - sie wird mit einem giftigen Pilzchen verglichen - und Kultur aus: Homo staunt, »weil sie so sehr einer Frau glich. Man wiirde ja auch staunen, wenn man mitten im Holze eine Dame mit einer Teetasse sitzen sahe«.''° Auch die andern Frauen verfiigen iiber »eine so vorziiglich und leidenschaftlich gespielte Leidenschaft, daC diese Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter Hohe ihn sehr verwirrte*."" Die Tilgung von Grenzen fiihrt einerseits zur Verwirrung, andererseits hat sie die Intensivierung des Lebens zur Folge, so dass das Leben im Tal als »heller und wiirziger« erscheint.'*^ Die Auflosung von Homos Identitat macht ihn durchlassig fiir das Eindringen fremder Lebenserscheinungen, die ihm aber »kein neues, von Gliick ehrgeizig und erdfest gewordenes Ich« geben, sondern ihm das Gefiihl vermitteln, dass er bald sterben werde.'*-' Der Erzahler erklart: »Sein altes Leben war kraftlos geworden; es wurde wie ein Schmetterling, der gegen den Herbst zu immer schwacher wird.*'''' Das alte kraftlose Leben bewirkt nun keineswegs die Kraftlosigkeit Homos, sondern im Gegenteil eine Art Genesung, er Mfird mit einem Lahmen verglichen, der die Kriicken fortw^irft und einen gesteigerten Zustand der Gesundheit findet.''^ Die Zeit der Heuernte, 37 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 38 Musil: Grigia, GW II, S. 235. Die Blumen werden mit Talern verglichen, die da ausgeschiittet worden waren (ebd., S. 236). Es ist vom Goldgraberleben die Rede, von einer fiir »ihn bestimmten Zauberwelt« (ebd., S. 241). 39 Musil: Grigia, GW II, S. 245. 40 Musil: Grigia, GW II, S. 246. 41 Musil: Grigia, GW II, S. 239. 42 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 43 Musil: Grigia, GW II, S. 248. 44 Musil: Grigia, GW II, S. 248. 45 Musil: Grigia, GW II, S. 248. Grenztilgung und Identitatskrise 199 die er mit Grigia verbringt, wird als »Hochzeitstage und Himmelfahrtstage« bezeichnet, es handeit sich um eine Zeit intensiven Lebens, das durch eine Art Zeitenthobenheit charakterisiert ist, denn Homo verUert die zeitliche Orientierung, ja, er weifi manchmal nicht mehr, ob dies alles Wirklichkeit oder nur Spiel ist, Realitat und Imagination geraten durcheinander.'*^ Was hier dargestellt wird, ist ein langer Prozess der Selbstauflosung, der sich in der Schlussszene in der Hohle nochmals verlangsamt. Titzmann schreibt, dass die Grenze zwischen Leben und Tod zwar in den Texten der Moderne erhalten bleibe, da diese Grenziiberschreitung irreversibel sei, dass es aber »Prozesse der kontinuierHch-graduellen, quasi infinitesimalen Annaherung an den Tod« gebe.'*' Genau dies konnen wir hier beobachten. Von dem Augenbhck an, wo Homo in der ekstatischen Szene im Wald »sich selbst aus den Armen genommen« vorkommt, ist er auf dem Weg zur Selbstauflosung. »Aber er hatte sein Leben aufier Kraft gesetzt.«'"* Sein altes Leben, die alte Ordnung der Dinge, die er urspriinglich nicht verlassen wollte, ist wertlos geworden, aber es ist keine neue Ordnung an deren Stelle getreten, denn selbstverstandlich sind weder die Hochzeitstage mit Grigia noch das Goldgraberleben eine Alternative zu Homos altem Leben.'" Dass er am Schluss nach einem letzten Stelldichein mit Grigia in einer Hohle den Ausweg aus dieser nicht mehr findet oder nicht mehr finden will, ist eine aufierliche Begriindung fiir den Tod, die man als eine Referenz an die realistische Erzahlweise interpretieren kann: In Wirklichkeit stirbt er an der Unfahigkeit, das neue die Grenzen tilgende abenteuerliche Leben und sein altes Leben in Einklang zu bringen bzw. ein neues Leben zu finden, das die Elemente des abenteuerlichen Lebens integrieren wiirde. Das Identitiitsproblem wird in der Portugiesin gleich im ersten Satz gestellt, indem die Familie des Helden zwei Namen hat, einen deutschen und einen italienischen. »Sie hiefien in manchen Urkunden delle Catene und in andern Herren von Ketten«,'° sie leben in zwei Kulturen, in der deutschen und der italienischen. Der Name ist durchaus sprechend: sie »fuhlten sich nirgends 46 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 47 Titzmann: Grenzziehung, S. 191. 48 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 49 Siehe Titzmann: Grenzziehung, S. 197. »Das Metaereignis fiihrt im Falle des Misslingens - dann also, wenn die denkbare neue Weltordnung fiir das Subjekt nicht lebbar ist - zum Selbstverlust; sie wiirde, wenn das Subjekt, wie vielleicht Musils Claudine, damit leben kann, zur Selbstverwirklichung fiihren.« 50 Musil: Portugiesin, GW II, S. 252. 200 Rosmarie Zeller hingehoren als zu sich«, das heifit, sie sind alle Glieder einer Kette und als solche definiert. Jeder einzelne macht, was alle vor ihm auch so gemacht haben, sie fiihren Krieg und sie holen sich ihre Frauen von weit her. Der Herr von Ketten, der der Held der Erzahlung ist und immer mit dem deutschec Namen genannt wird, holte sich seine Frau aus Portugal. Sie bleibt ihm au: eine Weise fremd, die nicht nur mit ihrer ethnischen Fremdheit zusammenhangt, sondern auch damit, dass sie sich auf Biicher und vielleicht auf Zauberei versteht, wahrend Ketten ganz unintellektuell zu sein scheint. Aber aucn Ketten bleibt der Portugiesin fremd. Diese Erzahlung ist die einzige der drei. in der wir auch einiges aus der Perspektive der Frau erfahren. Fiir sie ist Keiten mit dem Wilden, der Natur, dem Wolf assoziiert, er hat also jene Eigenschaften, die in den beiden andern Erzahlungen den Frauen zukommen. Dass gerade dieser Herr von Ketten im Gegensatz zu seinen Vorgangern ir eine Identitatskrise gerat, hat nicht nur damit zu tun, dass unter seiner Herrschaft der Krieg zu Ende ist, sondern auch mit einer Neigung zum Fremden. Unheimlichen. Der Krieg gehort zur Welt der Kausalitiit und Vernunft: »Befehlen ist klar; taghell, dingfest ist dieses Leben [...]. Das andere aber i5t fremd wie der Mond. Der Herr von Ketten Hebte dieses andere heimlich. Er hatte keine Freude an Ordnung, Hausstand und wachsendem Reichtum.-" Obwohl Ketten dieses andere heimlich liebt, das im Text mit dem Geist unc mit der italienischen Namensform assoziiert ist,'^ will er es in seinem WeseE nicht zulassen, sondern flieht sozusagen vor seiner Identitat in den Krieg: »sein wahres Wesen war etwas, auf das man wochenlang zureiten konntc. ohne es zu erreichen.« Er bleibt immer nur kurz bei seiner Frau: »Ware er einmal langer geblieben, hiitte er in Wahrheit sein miissen, wie er war. Aber er erinnerte sich, niemals gesagt zu haben, ich bin dies oder ich will jenes sein. sondern er hatte ihr von Jagd, Abenteuern und Dingen, die er tat, erzahlt.-" Im Augenblick, wo dieses Tun nicht mehr moglich ist, well der Krieg nziz dem Bischof zu Ende ist, gerat er in eine tiefe Krise, denn nun hat ihm das Leben sein Ziel genommen: »was noch zu tun blieb im Leben dieses Ketten, war runden und ordnen, ein Handwerker- und kein Herrenziel.*^'' Nun miisste sich Ketten ein eigenes Ziel setzen, denn er kann sich nicht mehr an das vor. 51 Musil: Portugiesin, GW II, S. 259. 52 »[D]enn so wie jedes wohlgebaute Ding Geist hat, [...] hatten ihn auch die Catene." (Musil: Portugiesin, GW II, S. 258); »in den Stirnen safi die Gewalt der Catene« (ebi- S.259). 53 Musil: Portugiesin, GW II, S. 258. 54 Musih Portugiesin, GW II, S. 260. Grenztilgung und Identitatskrise 201 seinen Vorfahren liberkommene halten. Er miisste sich identifizieren, miissle sagen, »ich bin dies«.^' Die Diskrepanz zwischen der Bagatelle eines Inseklenstichs und der Lebensgefahrlichkeit der daraus resultierenden Infektion ist ein ironischer Wink Musils, hier eine realistische Motivation liefern zu miissen fiir etwas, das aufierhalb solcher Motivationen liegt. Die Identitatskrise wird in diesem Fall auf der narrativen Ebene als Krankheit dargestellt, die zur aufieren Schv^rache fiihrt, bis hin zu korperlichen Veranderungen wie Jem Phanomen, dass Kettens Kopf kleiner geworden ist. Ketten erlebt eine Aufspaltung der Person in einen Korper und ein Bewusstsein, das diesen Korper als fremd empfindet. Dies fiihrt zur Vorstellung, dass »der Herr von Ketten und seine mondnachtige Zauberin« aus ihm herausgetreten seien und sich entfernt hatten: »er sah sie noch, er wufite, mit einigen grofien Spriingen wiirde er sie danach einholen, nur jetzt wufite er nicht, war er schon bei ihnen oder noch hier.«^^ Auch hier stellt Musil wiederum den Prozess der Annaherung an den Tod als zunehmende Selbstentfremdung dar. Aber Ketten beschliefit in einer Situation, die der Homos in der Hohle vergleichbar ist, zu leben: »Dann kam der Tag, an dem er mit einemmal wufite, dafi es der letzte sein wiirde, wenn er nicht alien Willen zusammennahm«.^^ Als erstes lasst er den Wolf toten, den die Portugiesin gezahmt hatte und den man als eine Art Stellvertreter von Ketten interpretieren muss.^^ Wenn er ihn toten lasst, ist das ein Zeichen, dass er sein altes, wildes Leben ablegen will. Es heifit denn auch, dass er wie ein »Hund im Gras lag«, also wie die geziihmte Variante des Wolfs.'' Auch hier wird also die Grenze zwischen Mensch und Tier getilgt, was in der gotteslasterlichen Bemerkung der Portugiesin am Ende nochmals deutlich wird: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden.«''° Schon vorher hiefi es vom langsamen Sterben der Katze: »An einem Menschen wiirde man dieses Hinschwinden nicht so seltsam empfunden ha- 55 Musil: Portugiesin, GW II, S. 260. Zu diesem Problem siehe die aus sprachtheoretischer Perspektive geschriebene Interpretation von Hermann Bernauer: Weshalb wird Ketten von einer Fliege gestochen? Zur Deixis in Musils Portugiesin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 733-747. 56 Musil: Portugiesin, GW II, S. 262. 57 Musil: Portugiesin, GW II, S. 262. 58 »Sie liebte diesen Wolf, weil seine Sehnen, sein braunes Haar, die schweigende Wildheit und Kraft der Augen sie an den Herrn von Ketten erinnerten.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 260) 59 Musil: Portugiesin, GW II, S. 263. 60 Musil: Portugiesin, GW II, S. 270. 202 Rosmarie Zeller ben, aber an dem Tier war es wie eine Menschwerdung.« Ketten kommt es vor, als sei sein eigenes Schicksal »in diese vom Irdischen schon halb geloste Katze ubergegangen«.^^ Die Totung des Wolfs kann man auch als Tat interpretieren und als Elimination des Stellvertreters, als erste Stufe der Genesung, die zu seiner Wiedereinsetzung als Herr fiihren soil. Unterdessen ist ein zweiter Rivale in der Gestalt des Jugendgeliebten der Portugiesin aufgetaucht, doch in Bezug auf ihn kann sich Ketten nicht zur Tat entschliefien, die ihm friiher so selbstverstandlich war, »allzu langsam kehrte das Leben in ihn wieder; er konnte die zweite Stufe der Genesung nicht finden«.'^ Eines Tages jedoch weifi er, was er machen muss, um gesund zu werden, sich einen Knabentraum erfiillen, namlich die steile Wand unter dem Schloss emporklettern. »[E]s war ein unsinniger und selbstmorderischer Gedanke,« sagt der Erziihler.^^ Er tut also etwas, das nicht in den Bereich der Rationalitat gehort, wie sein Krieg gegen den Bischof, sondern unsinnig ist, aus dem Bereich der Wunder^* und des Irrationalen stammt wie die Zeichen, die die Portugiesin an seinem Bett anbrachte, als er verletzt nach Hause kam, oder wie die kleine Katze. In diesem Kampf mit dem Tod kehrt das Leben in Ketten zurtick und er findet einen Teil seiner alien Identitat wieder: »Mit der Kraft war die Wildheit wiedergekehrt«, also jene Wildheit, die ihn ausmacht und die die Portugiesin ja liebte.''^ MusLl braucht hier das Modell der Wiedergeburt, um den Akt der Selbstfindung darzustellen, ein in der Literatur der Friihen Moderne haufig auftretendes Modell, wo der Held durch einen metaphorischen Tod hindurch muss, um zum eigentlichen Leben zu finden.^^ Ketten hat denn auch mit dem Erklettern der Mauer den Tod iiberwunden, und indem er ihn iiberwunden hat, hat er seine eigene Burg, deren Herrschaft ihm wahrend der Krankheit abhanden gekommen ist, wie ein Eroberer von aufien bezwungen: Er ist jetzt wieder Herr in seiner Burg. Bezeichnenderweise ist er jetzt auch bereit, den Rivalen. den jungen Portugiesen, umzubringen und damit die Ordnung in seinem Hause wiederherzustellen. Dies ist jedoch nicht mehr notig, denn der Portu- 61 Musil: Portugiesin, GW II, S. 267. 62 Musil: Portugiesin, GW II, S. 265. Beachte den Ausdruck »Leben«. 63 Musil: Portugiesin, GW II, S. 268. 64 »Ihm war zu Mut, es miifite ein Wunder geschehn.« (Musil: Portugiesin, GW II. S. 265) 65 Musil: Portugiesin, GW II, S. 269. 66 Siehe Marianne Wiinsch: Das Modell der »Wiedergeburt« zu neuem Leben in erzahlender Literatur 1890-1930, in: Karl Richter (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Festschrift fiir Walter Miiller-Seidel. Stuttgart 1983, S. 379^08. Grenztilgung und Identitatskrise 203 giese ist weg, die Portugiesin ist aber, entgegen Kettens Erwartung, noch da. Ketten ist damit wieder, wie am Schluss festgestellt wird, ein Glied der Catene geworden und hat nach der Entfremdung zu sich selbst und in die Reihe der Vorfahren zuriickgefunden, aber er hat das Fremde in seine Personlichkeit integriert, indem er es, das er heimlich liebte, durch die unsinnige Besteigung der Felswand gewissermai^en offentlich gemacht, nach aufSen getragen hat. Fiir ihn wird nun wie friiher fiir die Portugiesin der Ausdruck »Teufel« gebraucht.^^ Die Tat nahert ihn der Portugiesin an, darum ist sie auch noch da, auf der andern Seite hat er jene Wildheit zuriickerlangt, um derentwillen sie ihn geheiratet hat.*"^ Musil hat diese Variante einer Identitatskrise und Identitatsfindung im Mittelalter angesiedelt, dies erlaubt ihm, das Irrationale, dem die Manner in diesen drei Erzahlungen in Gestalt der Frauen begegnen und das die Krise hervorruft, in der Gestalt des »Marchenhaften« direkt darzustellen: Die Welt, in der die Portugiesin spielt, ist marchenhaft, die Portugiesin kann zaubern, Zeichen anbringen, die Religion spielt noch eine Rolle, gehort zur dargestellten Welt, alles Dinge, die in einer modernen Welt nur metaphorisch dargestellt werden konnten. Fiir Tonka wahlt Musil eine weder geographisch noch zeitlich entfernte Welt. Tonka spielt ganz in der dem Leser vertrauten Welt der Gegenwart und der Grofistadt. Der Held in Tonka hat keinen Namen, nicht einmal einen Gattungsnamen wie Homo oder Ketten, und er ist der jiingste der drei Helden. Als wir ihn kennen lernen, hat er noch nicht einmal das Studium abgeschlossen, er hat seine Karriere noch vor sich und wird als ein vielseitig Begabter charakterisiert, der sich taub stellte gegen alle Fragen, »die nicht klar zu losen sind, ja er war [...] ein fanatischer Jiinger des kiihlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeistes«.''' Er wird von alien drei Mannern auf der Textoberflache als der modernste dargestellt, obwohl in der semantischen Tiefenstruktur alle drei Manner moderne Subjekte sind. Das Fremde begegnet N. in Gestalt von Grenziiberschreitungen moralischer und gesellschaftlicher Normen und in der Form von Gefiihlen, welche Giite und Einfachheit reprasentieren. Tonka stammt aus einer Familie, in der die Gren- 67 68 69 »Unten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf nur der Teufel.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 269); »es begann sich die Legende zu bilden, dafi er sich [...] dem Teufel verschrieben habe [...], der in Gestalt einer schonen fremden Frau auf seiner Burg weile.« (Ebd., S. 258) Kurt Krottendorfer interpretiert den Schluss negativ (vgl. Kurt Krottendorfer: Versuchsanordnung. Das experimentelle Verhaltnis von Literatur und Realitat in Robert Musils Drei Frauen. Wienu.a. 1995, S. 188f.). Musil: Tonka, GW II, S. 283. 204 Rosmarie Zeller ze zwischen dem, was richtig und gut, und dem, was falsch und bose ist, verwischt ist. Tonka wachst bei einer Tante auf, zu der Kusine Julie zu Besuch kam. »Er wunderte sich ja dariiber, dafi man sich mit Kusine Julie an einen Tisch setzen [...] konnte, denn sie war doch eine Schande.«''° Ahnlich selbstverstandlich verkehrt man mit den Frauen aus der Strafanstalt, welche an den Waschtagen im Hause arbeiten und am selben Tisch essen, auch das im selben Haus gelegene Bordell wird schweigend geduldet. Es »fehlte also die Kluft; man konnte hinuber«, heifit es in einer Raum-Metapher, die die Grenztilgung thematisiert/' So ist es denn nicht weiter erstaunlich, dass N. nicht weifi, wie er das Verhalten von Tonka bewerten soil, wenn er sich fragt, ob »etwas, das weder sprechen kann noch ausgesprochen wird [...] gut, wertlos oder b6s« ist/^ Fiir N. ist das Verhalten von Tonka umso befremdlicher, als er aus einer gutbiirgerlichen Familie stammt, in der man keinen solchen Umgang pflegt, in der man »Grundsatze« hat und »gesellschaftliche Haltung« und weifi, was richtig und falsch ist. Nicht zufallig ist N.s Mutter eine Offizierstochter, welche »von Ehr- und Charaktervorstellungen gehalten« wird und »Festigkeit der Grundsatze« besitzt.'^'' Jemand, der wie Tonka ohne weiteres einem Menschen folgt wie ein Tier, »ware ihnen als ein Wesen erschienen, das sich in einem wilden Urzustand ohne Moral befindet«.''^ Musil verwendet hier einmal mehr die Bildlichkeit des Tiers, um das, was hier der »wilde Urzustand« genannt wird, gegen die Welt der Zivilisation, die in Tonka mit den Werten der biirgerlichen Gesellschaft und der Stadt gleichgesetzi wird, abzugrenzen. Was zunachst wie das Liebesverhaltnis von Sohn aus gutem Hause mit dem Dienstmadchen aussieht, erhalt in dem Augenblick eine ganz andere Qualitat, als Tonka schwanger wird und an einer Krankheit erkrankt, die vermuten lasst, dass er nicht der Vater des Kindes ist. Die »normale« Losung des Problems, die auch vom Text erwahnt wird, ware, dass N. in dieser Situation Tonka verlassen wiirde. N. dagegen verlasst sie nicht, sondern gerat in eine tiefe Krise, denn er will die einzig wahrscheinliche, der Vernunft entsprechende Moglichkeit, namlich, dass er »weder der Vater von Tonkas Kind noch der Urheber ihrer Krankheit war«, nicht akzeptieren. ' Was hier die Krise ausgelost hat, ist die Konfrontation mit einer Welt, »die 70 Mus: 71 Mus 72 Mus: 73 Musil: Musil: Musil: 74 75 76 Musi : Tonka, GW II, S. 270. :Tonka, GWII,S. 271. : Tonka, GW II, S. 280. : Tonka, GW II, S. 282. ; Tonka, GW II, S. 283. : Tonka, GW II, S. 283. : Tonka, GW II, S. 288. Grenztilgung und Identitatskrise 205 den Begriff Wahrheit nicht kennt. Das war die Welt des Gesalbten, der Jungtrau und Pontius Pilatus«, es ist die Welt der Marchen, des Aberglaubens, des Irrationalen/'' In diesem Fall werden nicht eigentlich die Grenzen getilgt - es kommen keine solchen Metaphern vor -, sondern es wird neben der »normaIen« Welt eine andere Welt angenommen, zu der Tonka gehort und in der andere Regeln gelten. Im Gegensatz zu Grigia und der Portugiesin, wo die Welt der biirgerlichen Normen einem friiheren zeitlichen Zustand entspricht, den der Held zur Zeit der Erzahlung hinter sich gelassen hat, baut Musil in Tonka ein Nebeneinander von zwei Welten auf, in welchen N. abwechslungsweise und doch gleichzeitig lebt: Am Tag geht er wie alle andern auch »nur den grofieren Wahrscheinlichkeiten nach«. In dieser Welt verfolgt er seine wissenschaftlichen Projekte. »Handel und Wandel ruhen darauf, dafi man nicht mit alien Moglichkeiten zu rechnen braucht, well die aufiersten praktisch nicht vorkommen«, erklart der Erzahler/^ Im aufieren Leben hat er Erfolg, seine biirgerliche Person festigt sich/' Am Abend dagegen lebt er in der Welt jener aufiersten Moglichkeiten, mit denen man normalerweise nicht zu rechnen braucht, in der Welt des Unwahrscheinlichen, aber Moglichen. So beginnt er in der Pferdelotterie zu spielen, denn es ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmoglich, dass man gewinnen kann. Er wird auch sonst aberglaubisch: »Er wurde in der Folge recht aberglaubisch; der Mensch in ihm, der abends Tonka abholte, wurde es, wahrend der andere wie ein Gelehrter arbeitete.« ^° Diese Aufspaltung macht sich auch in einer Veranderung des Aufiern bemerkbar, er meint namlich, dass er, wenn er sich nicht rasiere, mehr Gliick habe, und so lasst er sich einen Bart wachsen, wird also aufierlich gesehen entstellt wie der Herr von Ketten.*^ Dem entspricht, dass er mit Tonka in schlechten Restaurants essen muss, dass er in gesellschaftlichen Kreisen verkehrt, die ihm nicht angemessen sind. Aber wenn er nicht mehr bei der Arbeit ist, entsteht in seinen Traumen eine andere Welt, in der andere Zusammenhange und Normen herrschen, die ihren Sinn nicht immer freigeben.*^ Wie Torlefi versucht auch N. diese Erfahrungen schriftlich niederzulegen, sie dichterisch zu umschreiben, well ihnen letztlich nur so beizukommen ist, in Briefen an seine Mutter, die vom Erzahler als »unsinnige Antworten« bezeichnet werden. 77 Musil: Tonka, GW II, S. 274. 78 Musil: Tonka, GW II, S. 288. 79 Musil: Tonka, GW II, S. 299. 80 Musil: Tonka, GW II, S. 294. 81 »Der Bart entstellt ihn.« (Musil: Tonka, GW II, S. 295) 82 In den nicht abeeschickten Briefen an seine Mutter schreibt er: •1st das Geographic 206 Rosmarie Zeller Ab und zu macht sich N. klar, dass diese Welt seine eigene innere Welt ist, so wie auch Tonka mindestens teilweise eine Projektion von N. ist. Musil hat in dieser Erzahlung iiber weite Strecken die Form der PsychoErzahlung gewahlt und zum Teil eine Erinnerungsperspektive eingefiihrt, die alles in der Schwebe lasst." So wissen wir als Leser nicht, wer Tonka wirklich ist, ob sie letztlich nicht vielleicht jenes gewohnliche Madchen ist, fijr das N.'s Familie sie halt, oder ob sie ein geheimnisvolles Wesen ist, fiir das N. sie halt. Tonka habe furchtbar gelogen und habe nur eine Lebedame werden woUen, sagte ihm einmal ein anderes Madchen im Traum, vielleicht ist dies die Wahrheit.^'' Auf dem Hohepunkt der Krise verandert sich auch die Welt um ihn her, seine Umgebung erscheint ihm »unendlich und sinnlos«, er hat den Glauben an die Dinge verloren, er sieht »die Welt nicht [mehr] mit den Augen der Welt« an und so zerfallt sie in »sinnlose Einzelheiten«, ihr fehlt das Oben und Unten,*^ damit verschwindet jede Art von raumlicher Orientierung, es entsteht ein Chaos. Das sind alles Eigenheiten der Welt, die in Grigia und der Portugiesin der fremden Welt von Anfang an eigen sind,*'' wahrend dies m Tonka ein Effekt des veranderten Blicks, der veranderten Einstellung ist, ein Ausdruck dafxir, dass N.'s Grundsatze ins Wanken geraten sind, well er ahnL dass man vielleicht »anders durch die Welt gehen [kann] als am Faden der Wahrheit«.*^ So wird auch die Grenze zwischen Wahrheit und allem, was Nicht-Wahrheit ist, Liige, Marchen, Glauben und Aberglauben, zeitweisc verwischt. Diese fremde Welt, mit der N. konfrontiert ist, ist hier im Gegensatz zi; den beiden andern Erzahlungen ganz ins Innere der Figur verlegt. So beoder Botanik oder Nautik? Das ist ein Gesicht, das ist etwas, das da ist, einzig und ;_lain und ewig da ist, und deshalb gleichsam nicht da ist. Oder was ist das?« (Mu;_ Tonka, GW II, S. 297) 83 Leider wurde in der Musii-Forschung die fiir die Icomplexen Erzahlstrukturen erhe^lende Terminologie von Dorrit Cohn nicht rezipiert, was zu inadaquaten Besclire:bungen der von Musil verwendeten narrativen Mittel fiihrt. Dorrit Cohn; Trar_=parent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Prince:; z 1978. 84 Musil: Tonka, GW II, S. 304. 85 Musil: Tonka, GW II, S. 298. 86 Siehe z. B. die Erfahrung von Homo auf dem Schaukelstuhl, wo ein »auf- und nice r wallendes Gewirr von Ranken« entsteht (Musil: Grigia, GW II, S. 235). Oder : :. Schilderung von Kettens Heimat aus der Perspektive der Portugiesin: »Es war t:: : Welt, die eigentlich keine Welt war. [...] aber da sie das Geheimnis sah, fand sie es urcalles Erwarten hafilich und mochte fliehn.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 255) 87 Musil: Tonka, GW II, S. 298. I Grenztilgung und Identitatskrise 207 schaftigt sich N. standig mit der Frage, wie man sicli Tonka gegeniiber richrig verhalten soil, und er erwagt, dass er bedingungslos an sie glauben miisste, also so wie man in religiosem Kontext glaubt, doch das tut er nicht: »Denn er glaubte ihr blofi so, dafi er nicht langer unglaubig und bose gegen sie sein konnte, aber nicht so, dafi er fur alle Folgen daraus auch vor seinem Verstand einstehen wollte.« Und der Erzahler kommentiert: »Es hielt ihn heil und an der Erde fest, dafi er das nicht tat.«*^ N. hat zwar einen Zustand der Entfremdung erlebt, der ihn auch der Wirklichkeit zu entfremden droht. Er hat aber einen andern Weg gewahlt als Homo, dessen Ich gerade diese Erdenfestigkeit verloren hat und der einmal bezeichnenderweise mit einem Heiligen verglichen wird, der zum Himmel fahrt.*' N. dagegen hat dem Verstand nie voUig abgesagt, er ist ja am Tag immer seiner beruflichen Tatigkeit nachgegangen, hat sich auch in den ihm vertrauten Raumen bewegt und so kann er ins Leben zuriickkehren, als Tonka stirbt. Schon als Tonka ins Spital kommt, schneidet er sich den Bart ab und ist »wieder mehr er selbst*.'" Er macht sich bewusst, dass er geandert worden ist, dass er aber doch noch immer »er selbst« ist. Tonka, so wird dies hier dargestellt, hat Fahigkeiten in ihm geweckt, die ihm zuvor nicht bewusst waren, ja, die er geradezu geleugnet hat, die aber in ihm als Potentialitat angelegt waren. Nicht zufallig heifit es denn auch einmal, dass das Kinderherz in ihm aufgliihte, »fur das Grofimut, Giite und Glauben noch nicht Pflichten sind, um die man sich nicht kiimmert, sondern Ritter in einem Zaubergarten der Abenteuer und Befreiungen«." Das Abenteuer, das Homo in Form der Goldgraberei und Ketten in seinem Kampf mit dem Bischof und im Erklettern der Wand zu bestehen hat, ist in der modernen Welt N.s nicht mehr real, sondern nur noch als literarische Metapher vorhanden, so wie auch die Veranderung der Welt auf die veranderte Wahrnehmung zuriickgeht und nicht objektiv vorhanden ist wie in den beiden andern Erzahlungen. AUerdings wird auch bei Homo die Wahrnehmungsperspektive betont, wenn es heifit: »Das alles bemerkte Homo zum erstenmal in seinem Leben.«'^ N. ist es wie Ketten gelungen, das Fremde, jene aufiersten Moglichkeiten, die praktisch nicht vorkommen, zu integrieren, ohne schizophren 89 90 91 Musil: Tonka, GW II, S. 304, Vgl. auch: »Er hielt sich noch an der Erde fest« (ebd., S. 305). Vom Heu, auf dem die Begegnungen stattfinden, heifit es: »Man liegt schriig, und fast senkrecht wie ein Heiliger, der in einer griinen Wolke zum Himmel fahrt.« (Musil: Grigia, GW II, S. 249) Musil: Tonka, GW II, S. 303. Musil: Tonka, GW II, S. 300. 92 Musil: Tonka, GW II, S. 243. 208 Rosmarie Zeller oder wahnsinnig zu werden. Ich hake deshalb sowohl den Schluss der Portugiesin wie jenen von Tonka fiir positiv, fiir die Darstellung einer gelungenen Selbstfindung, in der die fremden Bestandteile in die Person integriert wer- Schluss Musil stellt in alien hier untersuchten Erzahlungen eine Identitatskrise dar, die dadurch entsteht, dass die Manner in sich Seiten entdecken, die vorher verdeckt waren, die aber einmal in der Kindheit vorhanden waren bzw. fiir TorlelS erst zum Leben erweckt werden. Das Mittel dieser Entdeckung ist eine Normverletzung, vorwiegend im Bereich der sexuellen Normen, die sich in Form verbotener sexueller Beziehungen im Torlefi, ehelicher Untreue oder der vom Biirgertum nicht akzeptierten Verbindung auf der narrativen Ebene manifestiert bzw. im Falle des Herrn von Ketten durch die Heirat mit einer Frau, die Kennzeichen einer Zauberin hat. Das Andere, das Fremde wird im Text mit Ausdriicken wie >marchenhaft<, >Nacht<, >wider die Vernunft<, >Geheimnis<, >Zauber< bezeichnet und haufig mit der Nacht korreliert, wahrend die Vernunft, die Wirklichkeit, die Kausalitat mit dem Tag korreliert ist. Die Begegnung mit dem Fremden stellt alle Arten von Grenzziehungen in Frage, jene zwischen Natur und Kultur, jene zwischen den biirgerlichen Normen und ihrer Uberschreitung, jene zwischen Rationalitat und Imagination, zwischen Vernunft und Aberglauben bzw. Glauben. Gelingt es den Helden nach der Krise, die im Falle von Kettens die Form des metaphorischen Todes, im Falle von N. die Form der aufiersten Entfremdung, der korperlichen Entstellung und des Verkehrens in unpassenden gesellschafthchen Gruppen annimmt, einen neuen Sinn zu fmden, leben sie nachher um die Erfahrung dieser durch Normiiberschreitungen gekennzeichneten Weir des anderen bereichert weiter, wahrend Homo, der offenbar keinen neuen Sinn finden konnte, im marchenhaften Tal sterben muss. In alien Erzahlungen gilt, was Wiinsch in ihrem Aufsatz feststellt, dass das alte Normsysterr. noch besteht und dass seine Transformation nur am Einzelfall ausprobier: wird, dass aber nicht generell ein neues Normsystem installiert wird. Mus:.; Erzahlungen brechen immer dort ab, wo der Held eine neue Identitat gefurden hat bzw. das Fremde integriert hat. Sie zeigen bezeichnenderweise nicr.:, wie es sich mit dieser neuen Identitat weiter lebt. Das Problem, wie man a.r.- 93 Vgl. dagegen Krottendorfer: Versuchsanordnung. Grenztilgung und Identitatskrise 209 iers leben kann, wird Musil in weit grofierem Ausmafi noch im Mann ohne Eigenschaften beschaftigen, aber er hat dieses Problem auch dort nicht ge-ost, auch wenn er dort in der Realisierung eines anderen Lebens weiter gejangen ist als in Torlefl und Drei Frauen. Die Analyse hat gezeigt, dass Musil die fur die Moderne durch NormTerlust, Grenztilgung und die dadurch entstehenden Identitatskrisen gekennzeichneten zentralen Welt- und Subjektstrukturen aufgreift und ihre Moglichkeiten literarisch exploriert. In seiner Darstellungsweise erprobt er ebenfalls neue Moglichkeiten: Der Gebrauch, den er vom Mittel der Verrremdung sowohl auf der Ebene der dargestellten Welt wie des sprachlichen Ausdrucks macht, zeigt, dass er weit entfernt ist von der realistischen Schreibueise, die es auf Wiedererkennen und nicht auf Erkennen der Welt angelegt hat.''' Ein Vergleich mit den gleichzeitigen Erzahlungen von Schnitzler und Thomas Mann beispielsweise zeigt bei aller Ubereinstimmung in Fragen der Figurenkonzeption und der Normiiberschreitungen doch die radikale Modernitat der Musil'schen Texte, die den Leser nicht mehr in der bekannten Welt und bei bekannten Vorstellungen abholen, sondern ihm eine verfremdete Welt darstellen. 94 In der Forschung gelten die literarischen Verfahren Musils in diesen Erzahlungen, die man aus einem unerfindlichen Grund »friihe Erzahlungen* nennt - Musil war ja immerhin bei ihrer Publikation schon 44 Jahre alt - als altmodisch realistisch, ein Urteil, das mir auf einem zu oberflachlichen Realismusbegriff zu beruhen scheint. Siehe zum Stand der Forschung zusammenfassend Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart 1995,S. 58f.